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Quelle: Projekte des Romans nach der Moderne, hgg. U. Schulz-Buschhaus/K. Stierle, München, Fink, 1997 (Romanistisches Kolloquium, 8), S. 331–368; außerdem in: Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte, hg. J. Vogt, München, Fink, 1998, S. 523–548 (gekürzte Version).

Funktionen des Kriminalromans in der post-avantgardistischen Erzählliteratur

Nach allgemeinem Empfinden hat der Epochenbegriff ,Postmoderne‘ so erfolgreich wie bedenklich gewirkt. Beide Wirkungen gehören zusammen, und zwar durchaus mit Notwendigkeit. Tatsächlich werden Epochenbegriffe meist in dem Maß problematisch, in dem sie Karriere machen. Der Erfolg pflegt ihnen jeweils ein Prestige zu verleihen, das enorme Anziehungskraft auf nahe und ferne Phänomene ausübt, die von dem Glanz des erfolgreichen Konzepts gewissermaßen zu profitieren hoffen: Im Fall der ,Postmoderne‘ wären dafür beispielhaft etwa Symposien und Sammelbände, welche Titel tragen wie „Baltasar Gracián – Dal Barocco al Postmoderno“ oder „Flaubert and Postmodernism“. [1] Wenn der Epochenbegriff, vom Wind des Erfolgs getrieben, solcherart expandiert, läuft er indes Gefahr, seine – ursprünglich vielleicht erkennbaren – definitorischen Umrisse zu verlieren. Je mehr er sich an Phänomenen einverleibt, um so mehr löst er sich gleichzeitig auf: Wenn ein Begriff alles okkupiert hat, ist er schließlich zu einem Nichts geworden.
Bei dem Epochenbegriff ,Postmoderne‘ gibt es außer den Paradoxien, die mit konzeptuellen Erfolgsgeschichten grundsätzlich verbunden sind, freilich noch andere Unbequemlichkeiten. Zu ihnen zählt vor allem die Schwierigkeit, halbwegs zuverlässig das Ante festzulegen, von dem das Post der ,Postmoderne‘ sich lossagen möchte (soll). Impliziert ist in dem Begriff ja das Bewußtsein, die Epoche der Moderne sei alt geworden und bedürfe eines Gegenentwurfs oder zumindest einer radikalen Erneuerung. Undeutlich bleibt dabei jedoch, wie dies altgewordene, überwundene oder vergangene Ante der ,Postmoderne‘ zu definieren wäre. Hier existieren tiefgehende Differenzen, die insbesondere den Sprachgebrauch verschiedener Literaturen bzw. Kulturen betreffen. Wenn man im Deutschen von ‚Moderne‘ spricht, denkt man an Jürgen Habermas und dessen hochgradig moralisierten Begriff von einem „unvollendeten Projekt“, das aus der Aufklärung hervorgeht, in eine Zukunft zunehmend herrschaftsfreier Verständigung führt und des Beifalls wie der Partizipation aller Gutgesinnten sicher sein kann. [2] Etwas ganz anderes ist dagegen der ,Modernism‘, auf den sich die englische bzw. amerikanische Rede vom ,Postmodernism‘ bezieht. Dieser Begriff bezeichnet ohne besondere moralische Implikationen eine in der Tat vergangene Kunstepoche, welche in ihrem literarischen Sektor durch Autoren wie T S. Eliot, Virginia Woolf, Ezra Pound, Aldous Huxley usw. repräsentiert wird. [3] Noch entschiedener vergangen erscheint die Kunstepoche, die in der spanischen und lateinamerikanischen Literatur den Titel ,Modernismo‘ trägt. Dort versteht man unter ,Modernismo‘ paradoxerweise ungefähr das Gleiche, was in Italien ,Decadentismo‘ heißt [4] : also eine Tendenz der Fin-de-Siècle-Dichtung, für die im spanischsprachigen Raum Rubén Darío oder der frühe Valle-Inclán der Sonatas,in Italien etwa D’Annunzio einstehen.
Aus der Verschiedenartigkeit der Konzepte von ,Moderne‘ und ,Modernismus‘ folgt unvermeidlich, daß beispielsweise Deutsche, Spanier oder Nordamerikaner jeweils auch etwas Verschiedenes intendieren, wenn sie von ,Postmoderne‘, ,Postmodernismo‘ oder ,Postmodernism‘ sprechen. Für den spanischen Betrachter muß bereits die Dichtung der zwanziger und dreißiger Jahre in die Kategorie des ,Postmodernismo‘ fallen. [5] Der nordamerikanische Betrachter ist geneigt, Symptome von ,Postmodernism‘ in aller Nachkriegsliteratur zu sehen, welche mehr oder weniger explizite avantgardistische Züge erkennen läßt. [6] Der deutsche Betrachter, der sich an Habermas’ Begriff eines aufklärerisch-emanzipatorischen „Projekts der Moderne“ orientiert, hält dagegen ,postmoderne‘ Autoren, die solch ein Projekt ad acta legen wollen, in der Regel für böse Menschen oder mindestens für Zyniker. [7] Durch diesen Umstand, das heißt: einen besonders emphatischen Umgang mit dem essentiell normativ verstandenen Begriff ,Moderne‘, erklärt sich wohl die merkwürdige Aufgeregtheit, welche die – anderweitig recht entspannt geführte – Debatte über eine Distinktion Moderne/Postmoderne in Deutschland zur Zeit ihrer größten Animation geprägt hat. [8]
Welche Mißverständnisse aus der Distinktion Moderne/Postmoderne erwachsen können, zeigt sich nicht zuletzt an den Tafeln oppositionell entworfener Charakteristika, die zu diesem Thema immer wieder erstellt worden sind. Eine solcher Tafeln, welche Brian Mc Hale nach Helmut Lethen als Ausdruck der communis opinio präsentiert, ordnet die Gegensätze etwa folgendermaßen:
„Hierarchy – Anarchy
Presence – Absence
Genital – Polymorphous
Narrative – Antinarrative
Metaphysics – Irony
Determinacy – Indeterminacy
Construction of a world-model – Deconstruction of a world-model
Ontological certainty – Ontological uncertainty“. [9]
Wenn man diese Charakteristika mit den Poetiken der europäischen Literaturgeschichte zu vermitteln sucht, ergibt sich, daß der Idealtyp des ,Postmodernism‘ sein realhistorisches Analogon erstaunlicherweise eben in der klassischen Moderne findet. Züge wie „Anarchy“, „Polymorphous“, „Indeterminacy“, „Deconstruction of a world-model“ verweisen unverkennbar auf die Programmatik der ,historischen Avantgardebewegungen‘ Futurismo und Surréalisme. Als besonders irritierend erweist sich das Charakteristikum „Antinarrative“. Bei ihm kommt man nicht umhin zu erinnern, daß gerade der Kampf gegen die Erzählung ein Grundmotiv aller Poetiken der Moderne gebildet hat: Man denke an Valérys Spott über die „Marquise qui sortit à cinq heures“, aber auch an die Anstrengungen der modernen Historiographie, eine – wie es hieß – ,vormoderne‘ „histoire événémentielle“ in eine „histoire des structures“ oder eine „histoire des mentalités“ zu verwandeln. Wenn Peter Szondi 1973 die „These“ äußert, „eine moderne Historik“ verlange, „daß narrative Geschichtsschreibung in Beschreibung überführt werden muß“ [10] , dann ist das ja alles andere als eine revolutionäre Forderung, sondern Resümee einer damals längst Tradition gewordenen epistemologischen Entwicklung.
Identifiziert der ,Postmodernism‘ sich auf den üblichen Distinktions- und Oppositionstafeln mit dem, was man in Deutschland gemeinhin klassische ,Moderne‘ nennt, so ereilt den ,Modernism‘ ein noch kurioseres Geschick. Als ein Komplex von „Hierarchy“, „Presence“, „Narrative“, „Metaphysics“, „Determinacy“, „Construction of a world-model“, „Ontological certainty“ hat er offenkundig nichts mit Marinetti und Breton, aber auch sehr wenig mit Joyce, Proust oder Kafka zu tun. Was ein solcherart definierter ,Modernism‘ idealtypisch bezeichnet, ist vielmehr jener Gestaltungswille, der Balzacs Comédie humaine zugrunde liegt, und selbst Homers Ilias würde den Bedingungen dieser ,Modernismus‘-Definition ausgezeichnet entsprechen. So entsteht der Eindruck, daß der ,Postmodernism‘ in der für Literatur, Kunst und Wissenschaft konstitutiven Innovationskonkurrenz hier nur dadurch zu seiner Modernität gelangt, daß er den ,Modernism‘ als sein Ante in einen Inbegriff von Traditionalität zurückverwandelt.
Trotz der evidenten Verbreitung solcher Mißverständnisse und Manipulationen ist die Emergenz der Moderne/Postmoderne-Distinktion meines Erachtens jedoch keine Angelegenheit, die als schlechthin müßig, weil bloß modisch, abgetan werden kann. Auf jeden Fall hat sie ihre Bedeutung als ein Symptom. Symptomatisch zeigt die Karriere des Begriffs ,Postmoderne‘ zunächst den Effekt gleichsam automatisierter Innovationszwänge in einer Situation, in der entsprechende Innovationsressourcen nicht mehr verfügbar scheinen und entsprechende Innovationsziele kaum in Sicht sind. [11] In solchen Lagen bildet die Addition des ,Post‘ das geeignetste (um nicht zu sagen: bequemste) Mittel, erschöpfte Konzepte zu verabschieden, ohne dabei schon wissen zu müssen, in welcher Richtung das Neue, das ihnen folgen soll, denn genau zu suchen wäre.
Symptomatisch wirkt der Erfolg der Post-Konzepte aber noch in einer anderen Hinsicht. Wenn man die Erzählliteratur etwa der letzten zwei Jahrzehnte betrachtet, wird nämlich in der Tat offenbar, daß diese Erzählliteratur kaum mehr in dem Sinn stolz auf ihre ,Modernität‘ ist, wie das einst der französische ,Nouveau Roman‘ auf eine ganz selbstverständliche Weise war, indem er sich mit programmatischem Innovations- und Fortschrittsanspruch in die Tradition einer kunstautonomen Avantgarde einreihte. Was die Post-Konzepte hier verraten, sind die Krise und die Erschöpfung von ,Modernität‘ unter einem bestimmten Gesichtspunkt: dem Aspekt jenes systematischen Progredierens, das seit langem die ,raison d’être‘ aller Avantgarden ausmacht. [12]
Mit dem Prinzip der Avantgarde scheint die rezente Literatur – gleichgültig ob sie sich als ‚modern‘, ,postmodern‘ oder ,postmodernistisch‘ präsentiert – tatsächlich in die Krise geraten zu sein. Indizien dafür liegen in großer Zahl vor. Auf einer sehr elementaren Ebene kann man sie bereits an der eigentümlichen Gestalt mancher Werkbiographien beobachten. Dabei ist gerade das Œuvre von Autoren, die mit guten Gründen als Theoretiker verschiedener Avantgarde-Bewegungen gelten dürfen, besonders aufschlußreich. Ich denke etwa an einen der gewitztesten und kenntnisreichsten Autoren des Novecento, der 1963 als kluger Theoretiker der ,neo-avanguardia‘ berühmt und seit 1980als noch klügerer Praktiker einer romanesken Post-Avantgarde noch berühmter wurde (meines Erachtens, nebenbei gesagt, ganz zurecht [13] ). Nicht völlig anders sieht das Verhältnis zwischen Literaturtheorie und narrativer Praxis bei Julia Kristeva aus. Jedenfalls hat sie mit Les Samouraïs 1990einen (überaus lesenswerten) Roman publiziert, der keinerlei Verpflichtung zu einer ,Révolution du langage poétique‘ anerkennt und statt dessen autobiographisch getönte Geschichten erzählt, die einerseits wohl mit Simone de Beauvoirs Les Mandarins rivalisieren sollen und andererseits auf noch ältere Verfahrensweisen eines ,roman à clef‘ zurückgreifen, wie er in den Salons des Dix-Septième an der (preziösen) Tagesordnung war. [14]
Am frappantesten erscheint in diesem Zusammenhang vielleicht der Parcours, den das Werk von Philippe Sollers genommen hat: etwa von Drame – dem Roman, der „als poetologisches Traktat“ strikt autorepräsentativ sich selbst zum Gegenstand nimmt [15] – über Femmes bis Le Secret mit seinen karnevalesk inszenierten Anleihen bei verschiedenen Erzählgattungen und Ideologien. Der Fall Sollers ist im übrigen auch deshalb bezeichnend, weil der eminent gesprächige Autor sich zum Thema einer Krise der Avantgarde gerne in Interviews äußert. So vertritt er schon 1980die Meinung, die Geschichte der europäischen Avantgarden sei längst an ihr Ende gekommen, da sie im Grunde durch einen bestimmten historischen Moment, die zwanziger Jahre, geprägt bliebe:
Mais, aujourd’hui, dire que cette expérience d’avant-garde se poursuit, c’est fallacieux. C’est devenu académique, l’avant-garde, vous comprenez. Le poète d’avant-garde est parfaitement prévu sur l’échiquier, il n’a plus aucune fonction subversive, on lui demande de faire son petit truc et de ne pas poser de questions, d’être un tout petit peu hermétique, érotique, ésotérique, formaliste, mais de ne pas poser de questions gênantes. C’est pour ça que je ne suis plus d’accord avec ce concept d’avant-garde. [...] L’art est toujours contestataire; il l’était en 1920-25 sousla forme de l’avant-garde; il ne l’est plus aujourd’hui sous cette forme. [16]
Und wie der Interviewer Sollers darauf zu bedenken gibt: „Vous êtes classé dans le Robert comme écrivain d’avant-garde[...]“, antwortet der solcherart Klassifizierte prompt: „Justement, si le dictionnaire le dit, c’est que c’est faux“, um anschließend ein neues und im Horizont der Tel-Quel-Poetik überraschendes Selbstkonzept zu verkünden: „Je suis un romancier à la Balzac!“ [17]
Selbstverständlich ist bei solchen Positionswechseln der Charme der Boutade in Rechnung zu stellen. Indessen bedeutet der poetologische Progress von Tel-Quel zu Balzac nicht nur eine halb spielerisch lancierte Provokation für das Milieu der ,rive gauche‘, sondern läßt sich durchaus als überlegte Replik auf Probleme und Aporien avantgardistischer Ästhetiken begreifen. Derart hat Sollers zweifellos recht, wenn er in dem Interview den Abstand unterstreicht, der seine (damalige) Gegenwart von den Erfahrungsprämissen des Futurismus und des Surrealismus trennt. In diesem Abstand ist nämlich eine Geschichte enthalten, welche den einst transgressiven Postulaten der historischen Avantgarden im gleichen Maß Fortüne wie Banalisierung beschert hat. Das heißt: In demselben Umfang, wie die seinerzeit revolutionären Forderungen einer Konvergenz von Kunst und Leben – teils erfolgreich – verwirklicht wurden, haben sich ihre Versprechen von Glück und Befreiung trivialisiert, wenn nicht falsifiziert.
Auf besonders eklatante Weise gilt dieser Sachverhalt für die Slogans des Futurismo. Was etwa Marinetti zu Beginn des Jahrhunderts erträumte und agitatorisch betrieb, ist schließlich überwältigende Wirklichkeit geworden, um damit allerdings jegliches ,bonheur‘ zu verlieren, das wohl allein in dessen ,promesse‘ bestand. Man denke an die bemerkenswert rasche Realisierung des radikal modernisierten Kriegs, der zu den Zwecken von Extermination gleichsam subjektlos und industriell geführt wird („la guerra sola igiene del mondo“), die systematische Vernichtung von Natur („Ogni bosco di pini pazzamente innamorato della luna ha una strada futurista che lo attraversa da parte a parte“), die Omnipräsenz von Reklame („Cartelloni multicolori sul verde dei prati“), endlich die Dramaturgie des „Teatro di Varietà“, die ihre Erfüllung und Perfektion in der Fernseh-Ästhetik der Tagesschau bzw. des Telegiornale findet („cumulo di avvenimenti sbrigati in fretta e di personaggi spinti da destra a sinistra in due minuti“). [18]
In ähnlicher Art realisierte sich der surrealistische Wunsch, die Textproduktion aus den Fesseln der ‚Institution Literatur‘ zu befreien und in alltägliche Lebenspraxis zu überführen. [19] Als eine Folge dieses Wunsches mag die vorher ungeahnte Zunahme mehr oder weniger spontaner autobiographischer Erfahrungsberichte betrachtet werden. Solche Berichte hatten in der deutschsprachigen Literatur während den siebziger Jahren Konjunktur, führten in Italien ungefähr gleichzeitig zu einem Kult des „vissuto“ und des „privato“, über den sich Alberto Arbasino mokierte [20] , und dauern in Frankreich an, gewissermaßen nobilitiert durch Strömung und Begriff der ,Nouvelle Autobiographie‘. [21] Die Probleme, die solche – an sich begrüßenswerte – Zunahme der Praktizierung des Schreibens zur Folge hat, sind jene, welche unvermeidlich mit allen literarischen Partizipationsideen entstehen. In einer Welt, in der nach dem Projekt der Avantgarden tendenziell jeder schreibt, wird tendenziell kaum noch gelesen, da die universale Produktivität uns eben vor dem Laster der Rezeptivität bewahrt. So mag sich Ludmilla, die Figur der idealen Leserin in Calvinos Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore, im Kontext dieser Problematik geradezu als Projektion eines zunehmend frustrierten auktorialen Begehrens erklären lassen. Zur Traumgestalt wird sie wohl deshalb, weil sie – entgegen den avantgardistischen Poetiken der ,écriture‘ und des ,scriptible‘ – die immer seltener anzutreffende Entschlossenheit bekundet, sich auf das Lesen zu beschränken und die – in gewisser Hinsicht – prä-avantgardistische Grenzlinie, die sie von den Autoren trennt, nicht zu überschreiten. [22]
Daneben gibt es Aporien, welche speziell die neueren, kunstautonomen Avantgarden betreffen. Wie sie sich unter dem Aspekt der Rezeption darbieten, deutet Sollers an, wenn er bemerkt: „Le poète d’avantgarde est parfaitement prévu sur l’échiquier, [...] on lui demande de faire son petit truc“. In der Tat geht es hier um das Stigma der Vorhersehbarkeit, das der avantgardistische Autor loszuwerden versucht, indem er bemüht ist, Findigkeit und Kraft für Innovationen unter Beweis zu stellen. Falls ihm das gelingen sollte, hat er sich bei einem für ihn zuständigen, spezialisierten Publikum von Kennern, professionellen Kritikern und Interpreten jedoch keineswegs als unvorhersehbar erwiesen, sondern regel- und funktionsgerecht dessen Erwartungen entsprochen. Dies rezeptionsästhetische Paradox hängt damit zusammen, daß im modernen Funktionssystem (in der „Institution“) Literatur eben die Durchbrechung des Erwartungshorizonts, da ästhetisch gefordert, einen Erwartungshorizont sozusagen zweiter Potenz bildet. [23] Als prekäre Folge der funktionsspezifischen Verdopplung oder zumindest Flexibilisierung des Erwartungshorizonts ergibt sich dann eine merkliche Schwächung avantgardistischer Anstößigkeit oder – mit anderen Worten – Skandalisierungskompetenz. Tatsächlich könnte man in der Skandalisierungskompetenz ja so etwas wie den Prüfstein für die Lebendigkeit und die Wirkungschancen von Avantgarden erblicken. Das heißt: Wo sie zu skandalisieren verstehen, wirken sie lebendig; wo provozierte Skandale ausbleiben, laufen sie dagegen Gefahr, ihre Avantgarden-Identität aufzugeben. Daß es mit der Lebendigkeit aktueller Avantgarden nach diesem Kriterium nicht zum besten bestellt ist, zeigt beispielsweise die Tatsache, daß der einzige nennenswerte Skandal, den die Literatur in der Bundesrepublik Deutschland während der letzten Jahre hervorgebracht hat, von Botho Strauß’ Anschwellendem Bocksgesang ausgelöst wurde, also einem Essay, der in mancher Hinsicht geradezu das Antonym eines Avantgarde-Textes darstellt.
Den produktionsästhetischen Aspekt der avantgardistischen Aporien macht demgegenüber ein Phänomen aus, das Theodor W. Adorno auf den Begriff gebracht und als „Kanon des Verbotenen“ bezeichnet hat. [24] Was Adornos Formulierung meint, stimmt ungefähr mit Roland Barthes’ Konzept des nicht mehr ,Schreibbaren‘ überein: [25] ein Ensemble von Motiven und Verfahrensweisen, die in den „code culturel“ eingegangen sind, als konventionell erscheinen und sich daher – angesichts des Innovationspostulats moderner Kunst und Literatur – für den anspruchsvollen Schriftsteller verbieten. Ein solches Ensemble verbotener, weil formal abgegoltener Möglichkeiten dehnt sich im Lauf der Geschichte unablässig aus und „saugt, mit anwachsendem kritischen Bewußtsein, immer mehr in sich hinein“. [26] Je mehr an Traditionsbestand der „Kanon des Verbotenen“ indes absorbiert und als aktuell verwendbare Möglichkeit ausschließt, desto geringer wird für den Künstler oder Literaten das Material, das noch Originalität und Authentizität verheißen kann. Wo jedes Wort oder jeder Klang authentisch und – wenn möglich – unverbraucht artikuliert sein sollen, ist bald die Grenze zum Verstummen erreicht. So läßt sich speziell an der neueren Musikgeschichte beobachten, wie Adornos Maxime „Was in den Verfahrungsweisen das geschichtlich einmal Errungene opfert, regrediert“ [27] – gleichsam als das avantgardistische Grundgesetz – den Spielraum der Innovation eben durch deren beständiges Postulat progressiv einschränkt: Dem Beispiel Anton Weberns würde dabei in der Literatur etwa das Samuel Becketts entsprechen.
In diesem letztlich historistisch motivierten Dilemma, das den Künstler bzw. Literaten mit dem Zwang zur Innovation konfrontiert und ihm zugleich das Material zur Innovation entzieht, liegt nun – soweit ich sehe – der entscheidende Grund für einen poetologischen Wandel, der zumal die narrative Literatur der letzten Jahrzehnte tatsächlich einschneidend geprägt hat. Es ist das ein Wandel, der in der Distinktion Moderne/Postmoderne – wie gesagt – nur partiell aufgeht und statt dessen eine spezifischere Unterscheidung zwischen Avantgarde und Post-Avantgarde reklamiert. Wenn die Radikalisierung des Avantgarde-Prinzips den Autor mit Wirklichkeits- und Kommunikationsverlust bedroht, muß eine Literatur nach und jenseits der Avantgarde darauf bedacht sein, sowohl Referentialität wie Lesbarkeit (bezeichnenderweise die ,bêtes noires‘ der Tel-Quel-Poetik) [28] zurückzugewinnen, ohne die Erfahrung der Avantgarden schlicht zu ignorieren.
Erkennbar wird diese Bemühung post-avantgardistischer Literatur in erster Linie an ihrem erneuerten Umgang mit den Gattungen. Eben die Überwindung und Aufhebung der Gattungen hatte ja das Telos einer ,longue durée‘ moderner Literatur gebildet. Man könnte sie seit dem Ende des – auch literarischen – ,Ancien Régime‘ in drei idealtypische Etappen gliedern, bei denen es jeweils um eine bestimmte Art der Befreiung von klassischen Gattungsordnungen wie schließlich vom Generischen überhaupt geht: [29] zunächst um eine Befreiung gattungsmischender Wirklichkeitsdarstellung, wie sie Erich Auerbach nachgezeichnet hat; dann um eine Befreiung des zugleich individuellen und (möglichst) universalen Ausdrucks, wie sie von Benedetto Croce theoretisiert wurde; am Ende um eine Befreiung des Signifikanten, oder allgemeiner: des sprachlichen (literarischen) Zeichens, von der Referenz, wie sie sich im Kampf der zumal französischen Avantgarde gegen die ,illusion référentielle‘ manifestiert. Unverkennbar ist, daß die hier skizzierte Entwicklung den Weg zu einem immer radikaler konzipierten ästhetischen Nominalismus öffnet: etwa vom ,Roman‘ über das ,Poème en prose‘ zum ,Livre‘ und zum ,Texte‘. [30]
Der Gewinn, den die nominalistische Auflösung des Generischen für die moderne bzw. avantgardistische Literatur bedeutet, ist offenkundig die Ermöglichung von Authentizität. Der Preis, der dafür zu zahlen war, bestand – wie wir gesehen haben – in der Aphasie, welche von einem stetig wachsenden Kanon der Verbote (Restriktionen) heraufbeschworen wurde. Sobald sich dieser Preis nach der Einschätzung gerade auch avantgardistischer Autoren – etwa der einleitend erwähnten Eco, Sollers, Kristeva – als zu hoch erweist, hat die Stunde der Post-Avantgarde geschlagen und mit ihr die einer vielfältig inszenierten Rückkehr zu den Genera. Nur durch die – wie auch immer distanzierte – Anerkennung des Generischen scheint es nämlich möglich zu sein, aufs neue Wirklichkeit zu erschließen und über sie mit einem lesenden (nicht allein dem seinerseits schreibenden) Publikum zu kommunizieren.
Dabei ist zu berücksichtigen, daß es an Gattungen auch im Zeitraum moderner Literatur durchaus nicht mangelt. Die Entwicklungslinien eines gattungsauflösenden poetologischen Nominalismus, welche wir gerade skizziert haben, betreffen ja lediglich einen bestimmten Sektor oder ein bestimmtes Niveau literarischer Produktion, das heißt: jenen Bereich, den man früher ,hohe Literatur‘ zu nennen pflegte und den Vittorio Spinazzola in einem bedenkenswerten Versuch rezeptionstheoretischer Feldgliederung für die neueren Verhältnisse als die „fascia“ einer „letteratura avanguardistico-sperimentale“ klassifiziert hat. [31] Was die unter diesem höchsten oder – wie ich lieber sagen möchte – außerhalb dieses speziellsten Bezirks situierten Felder der „letteratura istituzionale“ oder der „letteratura d’intrattenimento“ angeht, läßt sich jedoch keineswegs von einem Verschwinden, sondern eher von einer Proliferation der Genera sprechen. So impliziert die Reprise des Generischen, die von post-avantgardistischen Romanen vollzogen wird, zugleich notwendigermaßen auch eine Kontaktaufnahme mit den vormals verschmähten Bereichen romanesker Konvention zumal im Umkreis der Unterhaltungsliteratur.
In Italien sind solche Kontakte zwischen Romantexten von Kunstanspruch und der Sphäre des literarisch Unterhaltenden nicht selten übel vermerkt worden. Beispielsweise beklagt der Kritiker Gian Carlo Ferretti sich in einem Pamphlet Il best seller all’italiana 1983 über eine Poetik opportunistisch ,hybrider‘ Mischungen, welche er an drei so verschiedenartigen Romanen wie Giuseppe Pontiggias Il giocatore invisibile (1978), Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979) und Umberto Ecos Il nome della rosa (1980) aufspürt und moniert. [32] Das gleiche Phänomen der Approximation anspruchsvoller und unterhaltender Literatur spielt eine gewichtige Rolle in manchen amerikanischen Diskussionen des ,Postmodernism‘. Allerdings wird die ,Hybridisierung‘ dort kaum getadelt, sondern in der Regel – wie von Leslie Fiedler – als ein Zeichen kraftvoller (und prononciert amerikanischer) Erfrischung gerühmt. [33] Kulturspezifisch attribuierbar ist dabei aber wohl nur die Verschiedenheit der Wertungstendenzen; das Phänomen selber ergibt sich dagegen einigermaßen unabhängig von nationalliterarischen Traditionen. Vor allem gilt es zu betonen, daß die Konstitution der Post-Avantgarde durch die Aneignung von Schemata der Unterhaltung sicher nicht allein als Angelegenheit eines kommerziellen Kalküls gedeutet werden kann. Sie hat auch ihre historisch-strukturellen Gründe, bei denen die Aporien des avantgardistischen Nominalismus und die aus ihnen folgenden Rekurse auf Gattungsfiguren nicht weniger Gewicht besitzen als die – am Ende ja gleichfalls legitime – Sorge um einen Publikumserfolg.
Bei der Reprise von Gattungsfiguren, welche die Identität des Komplexes post-avantgardistischer Literatur ausmacht, fällt nun auf, daß durch sie ein bestimmtes Genus in außerordentlichem Umfang privilegiert wird. Es handelt sich, wie man heute kaum noch hervorzuheben braucht, um den Kriminalroman. Offensichtlich ist der Kriminalroman mitsamt seinen Korollarformen (Spy-Novel, Thriller usw.) nicht nur in der „letteratura d’intrattenimento“ des 20. Jahrhunderts das Erfolgsgenus schlechthin: zum einen, was die Diffusion unmittelbar gattungsgerechter Texte anbelangt, zum anderen aber auch (und mehr noch) im Hinblick auf Kombination wie Integration im Rahmen anspruchsvollerer und komplexerer Erzählprojekte. [34]
Ein solcher Befund gilt – soweit ich sehe – für die verschiedenen Sprachbereiche westlicher Kultur ohne wesentliche Unterschiede. So ist symptomatisch, daß die drei italienischen Romane, denen Ferretti ihren ,hybriden‘ Kompromiß-Charakter zum Vorwurf macht, in der Tat den Rekurs auf Schemata des Kriminalromans gemeinsam haben. Bei Ecos Il nome della rosa und bei Giuseppe Pontiggia, der das Gattungsschema in Il giocatore invisibile mit ähnlichen Intentionen verwendet wie Patrick Modiano oder Antonio Tabucchi in Il filo dell’orizzonte,erscheint das evident, während Calvino in einigen Fragmenten und im Marana-Plot der Rahmenhandlung von Se una notte eher auf Elemente des Agentenromans zurückgreift. [35] In einem Überblick, den Pascal Bruckner den Lesern der FAZ am 29. April 1989 über Tendenzen der französischen Gegenwartsliteratur zu verschaffen sucht, wird vermerkt: „Auffällig auch, wie beliebt die Bauform des Kriminalromans ist. Prägt sie bereits das Werk des jungen Klassikers Patrick Modiano, dem sie zur Darstellung von Gedächtnisschwund und Verrat dient, so verhelfen ihr Jean Vautrin, René Belletto, Tony Duvert und Jean Echenoz zu neuer Popularität“. [36] Des weiteren sieht Bruckner den „Thriller im eigentlichen Sinn“ als „das letzte noch verbleibende Instrument ätzender Gesellschaftskritik“, wofür er „Autoren wie Daniel Pennac, Jean-Pierre (recte: Jean-Patrick) Manchette, A. D. G., Didier Daeninckx“ ins Feld führt. [37] Kaum anders präsentiert sich die Lage in Spanien und Lateinamerika. Das Panorama spanischer Literatur seit 1975, das Dieter Ingenschay und Hans Jörg Neuschäfer herausgegeben haben, widmet dem „Kriminalroman“ bezeichnenderweise einen eigenen Abschnitt zwischen „Roman“ und „Lyrik“. [38] Dabei zeigt sich freilich, daß der Kriminalroman auch hier nicht auf die orthodoxen Gattungsexemplare im engeren Sinn einzuschränken ist; denn unter den Autoren, die im Abschnitt „Roman“ tout court vorgestellt werden, haben zumindest Eduardo Mendoza (La verdad sobre Savolta, El misterio de la cripta embrujada)und Antonio Muñoz Molina (El invierno en Lisboa, Beltenebros, Los misterios de Madrid) ebenfalls wiederholt Elemente des populären Erzählmodells benutzt. Den gleichen ,Embarras de richesse‘ bietet Lateinamerika, wo man selbstverständlich zunächst an Jorge Luis Borges denkt, der nicht nur in gewisser Weise der Ahnherr aller post-avantgardistischen Literatur war, sondern – in eben diesem poetologischen Kontext – auch ein unermüdlicher Kritiker, Theoretiker, Sammler und Autor von Detektiverzählungen. [39] Ansonsten genügt es, exempli causa auf Carlos Fuentes’ Spy-Novel-Pastiche La cabeza de la hidra oder auf den ausgezeichneten Thriller Dos crímenes von Jorge Ibargüengoitia (1979) hinzuweisen sowie die eminente Position hervorzuheben, welche als Kriminalromanautor ersten und zweiten Grades Mario Vargas Llosa beanspruchen darf: einmal als Verfasser von Kriminalromanen, die wie ¿Quién mató a Palomino Molero? oder Lituma en los Andes mehr oder weniger unmittelbar im Sinne des Gattungsüblichen zu lesen sind, ein andermal als Verfasser von schwierigeren Erzählwerken wie La ciudad y los perros oder Conversación en la Catedral,in denen Kriminalromanelemente höchst raffiniert als Bestandteil breiter angelegter narrativer Konstruktionen eingesetzt werden.
Eine Aufzählung wie die gerade umrissene birgt indessen ihre Gefahren. Sie riskiert vor allem, einen falschen oder jedenfalls partiell täuschenden Eindruck zu vermitteln: etwa den Verdacht, im Rekurs auf das Gattungsschema des Kriminalromans läge ein romaneskes Verfahren vor, das Ergebnisse zeitigte, welche dann auch ihrerseits Anzeichen von Schematismus trügen. Natürlich ist ein solcher Verdacht nicht ganz unbegründet; denn von selbst versteht sich, daß die Reprise bestimmter Genera immer auch einen Umgang mit bestimmten Schemata impliziert, ja – in der Distanzierung vom nominalistischen Ideal der Avantgarden – implizieren will. Trotzdem stößt man bei näherer Betrachtung des reichen Inventars post-avantgardistischer Kriminalromane, die oft eher Meta- bzw. Anti-Kriminalromane zu nennen wären, auf eine erstaunliche Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Effekte. Sie erklären sich dadurch, daß die Reprisen aus dem Arsenal der Gattungstradition ja mit immer wieder anderen Absichten durchgeführt werden: in der Intention des Pastiche, der Verfremdung, der Parodie, der Kombinatorik, der Umkehrung, der Falsifikation usw.
Derart ist ein bemerkenswert reiches Repertoire von Typen der Verwendung des Kriminalromans entstanden, und es wäre wohl der Mühe wert, dies Repertoire einmal – wenigstens ansatzweise systematisierend – typologisch zu gliedern. Dabei kann man vermuten, daß ein Typologisierungsversuch am Leitfaden distinkter Funktionen sich wahrscheinlich produktiver erweisen wird als eine Gliederung nach distinkten Formen. Das hängt damit zusammen, daß gerade die interessantesten Romantexte, die hier zur Debatte stehen, von vornherein als kombinatorisch-synkretistische Fügungen angelegt sind, bei denen stets mehrere Formen zusammenspielen. Eben dieser Umstand setzt auch allen Ansprüchen auf eine Systematik Grenzen, welche dem Ideal geschlossener Konsistenz genügen könnte. Ohnehin ist mit den folgenden Hinweisen nicht mehr als eine noch reichlich grobe Skizze beabsichtigt, die vor allem in die Richtung eingehender Einzelanalysen detaillierter auszuarbeiten wäre.
Die erste und in gewissem Sinn fundamentale Funktion, welche vom Genus des Kriminalromans in der neuesten Literatur erwartet wird, besteht offensichtlich in einer Steigerung des romanesken Interesses. Was durch Reprisen von detektivischen bzw. kriminalistischen Erzählkomponenten überwunden oder abgewehrt werden soll, läßt sich vielleicht am besten durch den Titel des ,polemischen Essays‘ Against Dryness von Iris Murdoch erfassen: Er wendet sich gegen die ,Trockenheit‘ jener experimentellen Literatur, welche ihr Ziel einer Entlarvung der ,illusion référentielle‘ manchmal ja schon deshalb verfehlt, weil sie solche Illusionen nicht einmal provisorisch – zum Zwecke überzeugender Falsifikation – zu schaffen versteht. [40] Daß der Kriminalroman in diesem Kontext vorrangig der Steigerung wie der Vervielfältigung spezifisch romanesker (und anderweitig ausgedörrter) Attraktivität dient, ist etwa an dem Umstand abzulesen, daß ihm post-avantgardistische Autoren mehr als irgendetwas anderes das Moment der Geheimnisspannung zu entlehnen pflegen, um es, dann sowohl in großräumigen wie in kleinräumigen Bögen von Suspense einzusetzen. Dabei wirkt bezeichnend, daß der Ansatzpunkt für die Reprisen keineswegs unbedingt bei den fortgeschrittenen Phasen der kriminalistischen Gattungsevolution liegen muß; vielmehr scheinen gelegentlich gerade ältere – und nicht zuletzt populäre – Formen willkommen, falls sie im Gegenzug zur modernen „dryness“ nur einen hinlänglich faszinierenden ,Mystery‘-Effekt versprechen.
So täuscht beispielsweise Umberto Eco in Il nome della rosa moderne Erwartungen auch dadurch, daß er bei seinem Rekurs auf das Genus des Kriminalromans mit charakteristischer Unbefangenheit sehr weit zurückgeht. Il nome della rosa ist für die Tendenzen post-avantgardistischer Narrativik ja schon insofern repräsentativ, als hier durchaus verschiedenartige Gattungen und Themen kombiniert werden: der historische Roman mit seiner Dokumentation einer vergangenen Kultur; die politische Allegorie, welche den geschichtlichen Kräften einen geheimen Aktualitätsbezug gibt; der ,Conte philosophique‘ über Erkenntnistheorie, Semiotik und den ,richtigen‘ Gebrauch der Wissenschaft. [41] In der handlungsbestimmenden, das heißt: diegetisch ausschlaggebenden, Komponente des Kriminalromans setzt Eco – dem wir unter anderem „Studi sul romanzo popolare“, betitelt Il Superuomo di massa,verdanken (Milano 1976) – indes bemerkenswert massierte Spannungswirkungen ein. Teils sind sie dem Repertoire des Gothic Novel entnommen und teils orientieren sie sich – zumal in der Technik ,suspendierender‘ Kapitelübergänge [42] – an Eugène Sue. Was das strikt Detektivische betrifft, ist der intertextuelle Verweis auf Conan Doyles Erzählungen von Sherlock Holmes und Doctor Watson unverkennbar, deren Struktur jedoch in die konzeptistische Richtung des ,pointierten Rätselromans‘ fortentwickelt wird. Genauer gesagt: Als Modell dient für Eco das wohl spannungsträchtigste Schema der ,klassischen‘ Detektiverzählung, die Geschichte einer Mordserie, die nach dem Plan einer bestimmten, angekündigten Figur verläuft (oder zu verlaufen scheint). Für dies Schema gibt es einerseits ein literarisch hochgradig kanonisiertes Beispiel, Borges’ ,Ficción‘ La muerte y la brújula;doch hält Eco sich in der Praxis seiner weiträumigeren Suspense-Konstruktion eher an andere und weniger kanonisierte Vorbilder, nämlich Agatha Christies ingeniöse Versionen des Schemas in Ten Little Niggers oder The A. B. C Murders. [43]
Noch ausgeprägter erscheint das Interesse, gleichsam die gesamte Geschichte des Kriminalromans im Sinne einer synkretistischen Massierung und Steigerung von Spannungseffekten zu benutzen, bei dem – ansonsten kaum mit Eco zu vergleichenden – jungen französischen Autor Daniel Pennac. Interessant ist unter diesem Gesichtspunkt bereits Au bonheur des ogres (1985), ein Roman, in dem es – wie bei Eco oder Agatha Christie – ebenfalls um einen Serienmord geht, der sich in der Überraschungspointe des Romanendes dann als ein besonders makaber (und konzeptistisch) inszenierter Serienselbstmord herausstellt, bei dem die letzte detektivische Frage nicht die Identität des eventuellen Mörders, sondern „l’identité de la dernière victime“ betrifft. [44] Nach den Regeln der Gattungskonvention strebt Pennacs erster Kriminalroman durchaus eine dem Üblichen entsprechende diegetische Konsistenz an; doch entfernt er sich von früheren Usancen eben durch den Synkretismus seiner Effekte, die jeweils auch intertextuell explizit gemacht werden. Das Netz von Intertextualität, in das der Roman eingespannt ist, umfaßt etwa dank dem Schauplatz der Ereignisse – einem Kaufhaus – Zolas Au Bonheur des Dames,sodann die wiederholt angesprochene Epilepsie Dostoevskijs und seines Fürsten Myschkin oder das Motiv von Michelangelo Antonionis Film Blow-Up,„la photo qui cause“, und mit ihm Cortázars Erzählung Las babas del diablo. [45] In einem engeren kriminalistischen Sinn ist für den Roman vor allem der Anschluß an die Traditionen des französischen Roman-feuilleton konstitutiv, wie er einmal – mit opportunen Reminiszenzen von Sue oder Gaston Leroux – durch das Resümee der Ereignisse als „feuilleton sanglant“ unterstrichen wird. [46] Daneben durchziehen den Roman leitmotivische Hinweise auf Carlo Emilio Gaddas L’affreux pastis de la rue des merles (Quer pasticciaccio brutto de via Merulana),um offenbar programmatisch den Ehrgeiz anzudeuten, die Elemente des Roman-feuilleton in einen Roman tout court zu integrieren. [47]
Das gleiche Programm lassen Pennacs weitere Romane La fée carabine (1987) und La petite marchande de prose (1989) erkennen. Dabei wird das Resultat einer so fesselnden wie narratologisch bedenkenlosen Apotheose des Erzählens [48] , auf der Pennac durch manche ,mise en abyme‘ insistiert, in La fée carabine noch einmal gesteigert: zunächst durch die erneute Multiplikation romanesker Modelle, welche nur andeutungsweise umrissen ist, wenn man an Simenons polizeiliche Behördenidylle erinnert, an die unglaublichen Metamorphosen von Gaboriaus Detektiv M. Lecoq, das Rachemotiv aus Dumas’ Le Comte de Monte-Cristo oder die Koinzidenzen in Sues Les Mystères de Paris. Der Aspekt narratologischer Bedenkenlosigkeit erwächst aus dem Umstand, daß Pennac die Perspektive seines Ich-Erzählers Benjamin Malaussène, der er in Au bonheur des ogres orthodox folgt, in La fée carabine einigermaßen inkonsistent mit einer Perspektive auktorialer Allwissenheit vermengt. Die Funktion, welche durch solchen, nun auch perspektivischen Synkretismus bedient wird, liegt auf der Hand: Allein die Perspektive auktorialer Allwissenheit erlaubt es, den Ich-Erzähler in sensationelle Koinzidenzen à la Sue zu verwickeln, die ihm selbst noch nicht bewußt sein können, oder – wichtiger noch – Mordfälle zur Steigerung von deren Eklat jeweils aus dem Blickwinkel des Opfers zu berichten. Im übrigen thematisiert der Autor dies Verfahren, das beispielsweise für den tatsächlich virtuos arrangierten Knalleffekt des Romanbeginns – die Ermordung eines robusten Polizeiinspektors durch eine scheinbar hilflose alte Dame [49] – benötigt wird, am Ende in einer ‚mise en abyme‘, welche autoreflexiv zum Anfang zurückkehrt. Durch sie wird die perspektivische Inkonsistenz des Erzählens gleichzeitig der Kritik („Y a quèque chose qui cloche“) [50] ausgesetzt und mit einer Reihe übergeordneter Gründe gerechtfertigt. Dabei sind die hier angeführten Gründe im Sinne einer Hierarchie geordnet, welche ihr größtes Gewicht vor den Erwägungen psychologischer Ambivalenz und kreativer Freiheit bezeichnenderweise den Interessen einer gleichsam reinen Narrativität zuweist, die nichts anderes bezwecken möchte, als die Lust nach dem, was folgt, zu wecken: „Raconte, oncle Thian, la suite, bordel, LA SUITE!“ [51]
Demzufolge hat das Spannungsinteresse, das der post-avantgardistische Roman aus dem Kriminalroman gewinnt, nicht weniger mit Aspekten des ,discours‘ als mit solchen der ,histoire‘ zu tun. Besonders deutlich erscheint dieser Sachverhalt, wenn die Rätselhaftigkeit, welche den Ausgangspunkt des Kriminalromans bildet, nicht so sehr auf dem Problem eines schwer zu lösenden Falles beruht, sondern eher der labyrinthischen Anlage des Erzählens selbst zu verdanken ist. Damit entsteht eine gewissermaßen generalisierte Art des Suspense, bei der sich das Schwergewicht von den inhaltlichen Momenten zu den formalen der narrativen Struktur verlagert.
Ein exzellentes Beispiel dafür liefert der meines Erachtens originellste und wohl auch gelungenste Roman von Carlo Fruttero und Franco Lucentini: A che punto è la notte (1979). [52] Wie schon der vorangegangene Roman La donna della domenica (1972)gehört dieser Text in den thematischen Zusammenhang der ,erzählten Stadt‘ [53] , hier: der Stadt Turin, deren gesellschaftliche Komplexität – wenn man so will – am Leitfaden einer Detektion erschlossen wird. Das geschieht in La donna della domenica noch verhältnismäßig linear: Jedenfalls liegen am Beginn des zweiten Groß-Kapitels die entscheidenden Daten des „delitto di via Mazzini“ vor, [54] und bereits im ersten Satz des ersten Kapitels wird dem Leser die Gestalt des Mordopfers mit der Ankündigung eben dieser diegetischen Rolle präsentiert: „Il martedì di giugno in cui fu assassinato, l’architetto Garrone guardò l’ora molte volte“. [55] Dagegen bleibt in A che punto è la notte die Frage, um was es eigentlich geht, ungewöhnlich lange offen; denn die panoramatische Vervielfältigung der Handlungsstränge, die sich in La donna della domenica im Gefolge des Mordfalls entwickelt, geht hier dem zentralen Verbrechen – einem „Attentato al plastico, con probabilità di morti e numerosi feriti“ [56] – schon rätselhaft desorientierend voraus. So wird der Leser bis zum Beginn des fünften Groß-Kapitels über fast zweihundert Seiten hinweg mit ganz verschiedenartigen Ereignissen, Figuren und Milieus konfrontiert, ohne deren Zusammenhang durchschauen zu können. Die Spannung erwächst demnach nicht erst aus der in der Tat bestürzenden Frage, wer dem auf gnostische Abwege geratenen Priester don Pezza nach dem Leben getrachtet haben mag, sondern aus der noch irritierenderen Frage, welche Art von Geschehnissen die häretische Gemeinde von Santa Liberata, die Leute vom Verlag „Edizioni Arte e Pensiero“, die Sphären der „Torino bene“ um die Signora Guidi wie der „Torino male“ um die Bande der „Biellesi“, die Leitung der FIAT und einen unscheinbaren „venditore di matite“ [57] überhaupt zu einer geschlossenen Romanhandlung vereinen wird.
Mit dieser Technik, welche die Vielfalt der ,Mystères de Turin‘ zunächst anscheinend beziehungslos koexistieren läßt, haben die beiden Autoren (von denen der eine ja ein ausgezeichneter Borges-Kenner und -Übersetzer ist) sich möglicherweise an den Romanen von Mario Vargas Llosa inspiriert, die mit bemerkenswerter Konstanz von La ciudad y los perros bis El hablador ähnliche Verfahren speziell narrativer Verrätselung erproben. Da ich über den Sinn solcher Verfahren bei Vargas Llosa an anderer Stelle schon ausführlich gehandelt habe [58] , kann ich mich hier auf ein paar resümierende Hinweise beschränken. Sie beziehen sich auf die strukturell besonders elaborierten Romane La ciudad y los perros und Conversación en la Catedral. Beide sind bereits vom Plot her Kriminalromane, insofern als der erste Roman die Frage aufwirft, wer unter den Zöglingen der Kadettenanstalt für den Tod des Esclavo verantwortlich ist, während in dem anderen Roman die Frage gestellt wird, von wem und vor allem mit welchem Motiv die Nachtklub-Sängerin „La Musa“ ermordet wurde. Momente mysteriöser Rätselhaftigkeit prägen beide Romane indes auch schon, bevor ihr kriminalistischer Plot – jeweils ungefähr in der Mitte der erzählzeitlichen Ausdehnung – manifest wird. In solchen Momenten werden immer wieder die Identitäten von Sprechern und mit ihnen die chronologische Kollokation ihrer Sprechakte verborgen gehalten, ohne sich jedoch prinzipiell einer späteren Rekonstruktion zu entziehen.
In La ciudad y los perros hat das zur Folge, daß eine der Hauptgestalten des Romans, der „Jaguar“, für den Leser in einer unentscheidbar ambivalenten Beleuchtung erscheinen muß. Zum einen zeigt sich der ,Caudillo‘ der Klasse in den Abschnitten, die ihn namentlich identifizieren, als ein Ausbund böser und faschistoid wirkender Aggressivität, mit der keinerlei Empathie möglich ist. Zum anderen wird dieselbe Gestalt vom dritten Kapitel an aber auch sozusagen inkognito vorgestellt, und zwar als Subjekt der Ich-Erzählung eines Jugendlichen niedrigster sozialer Herkunft, dessen Geschichte eine sympathetische Einfühlung von seiten des Lesers nicht nur nicht verhindert, sondern geradezu herausfordert. Damit entstehen Unsicherheiten, welche die Erzählstruktur – wie gesagt – kriminalromanhaft verrätseln und zugleich über die Rätselhaftigkeit der bloßen Erzählstruktur hinausreichen, um progressiv die Selbstsicherheit und Selbstgerechtigkeit psychologisch wie moralisch klassifizierender Urteile zu unterminieren.
Am kompliziertesten ist die Verrätselung der Erzählstruktur in Conversación en la Catedral gestaltet. In diesem Roman, der wohl den Höhepunkt von Vargas Llosas Schaffen darstellt, betrifft der kalkulierte Informationsentzug nicht nur die Identität eines Sprechers. Er wird vielmehr beinahe durchgehend auf sehr viele verschiedene Sprecher ausgedehnt und verdunkelt überdies nicht nur Identitätszuordnungen, sondern mehr noch die Zeitebenen der kunstvoll ineinander geschobenen Äußerungen. [59] So werden Gesprächsfragmente, in denen es um die Motivation des Mords an der „Musa“ geht, wiederum gleichsam inkognito im ersten Teil des Romans zu einem Zeitpunkt mitgeteilt, an dem von dem Mord selbst, der erst später berichtet wird, noch keineswegs die Rede gewesen ist. Derart erweist sich am Ende eben die Erzählstruktur als ein detektivisches Problem, das der neugierige und analytisch engagierte Leser nur dann – approximativ – zu lösen weiß, wenn er sich selber gewissermaßen zum Detektiv und den Text zum Gegenstand einer Indizien sammelnden doppelten oder mehrfachen Lektüre macht. [60]
Eine zweite Funktion, die der Kriminalroman für post-avantgardistische Erzähler erfüllen kann, verhält sich zu der gerade skizzierten in mancher Hinsicht gegenläufig. Neben der Anlage labyrinthischer Geheimnis-Konstruktionen kann das Kriminalroman-Schema gleichfalls die Interessen einer sozialen und/oder politischen Enquête befördern. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich vor Jahren beschrieben, wie sich der Kriminalroman etwa seit Dorothy Sayers, Chandler oder Simenon dem ‚realistischen‘ Roman anzugleichen und damit zu nobilitieren suchte. [61] Heute könnte man die Perspektive bei der Wahrnehmung eines solchen Befundes umkehren und andersherum behaupten, daß der traditionelle ,realistische‘ Roman, dessen mimetischen Ansprüchen ein weitverbreitetes Mißtrauen begegnet, vorzugsweise in der Form detektivischer Investigationserzählungen überlebt und allen realismusfeindlichen oder -skeptischen Anfechtungen standgehalten hat.
In der Tat gibt es eine ausgeprägte Traditionslinie von Kriminalromanen, die als ihre wesentliche Aufgabe weniger die virtuose Erzeugung von Spannungseffekten als vielmehr die Erschließung signifikativer, doch nicht unbedingt evidenter Realitätsverhältnisse begreifen. Dabei handelt es sich um Romane, die insbesondere an zwei Archetypen orientiert sind: an der Schilderung des Berufsalltags der Polizei, wie sie wenigstens in (gewiß idyllisierten) Ansätzen Simenons Maigret-Serie bot, und am Bericht von den abenteuerlichen Arbeiten eines professionellen Privatdetektivs, wie er – trotz mancher extravagant konzeptistischen Sprach- und Handlungspointen – in Chandlers Marlowe-Serie vorlag. Von beiden Modellen ist eine enorm produktive Wirkung ausgegangen, deren Folgen an zahllosen Beispielen in verschiedenen Literaturen zu belegen wären. So bewegen sich im Kontext dieser Überlieferung etwa Sciascias frühe Mafia-Romane Il giorno della civetta und A ciascuno il suo, [62] aber auch seine realhistorischen Investigationen nach Art von La scomparsa di Majorana oder L’affaire Moro. [63] Mit ähnlichen Absichten einer sozialen und politischen Analyse, diesmal der Nach-Franco-Zeit, wird das Chandlersche Kriminalroman-Schema in Spanien von Manuel Vázquez Montalbán benutzt, während ein Autor wie Rubem Fonseca mit Hilfe des gleichen Schemas in A grande arte den Großstadtdschungel Rios erforscht.
Gemeinsam ist den Romanen, welche sich einer solchen Traditionslinie verpflichtet fühlen, daß sie in der Regel keine übermäßigen Spannungseffekte auslösen können (und wollen). Das war schon bei Simenon so, und zwar mit einer gewissen Notwendigkeit. [64] Sie ergibt sich aus der Intention der auf gesellschaftliche und staatliche Verhältnisse gerichteten Enquête, statt sensationeller Ausnahmefälle in erster Linie das Typische und Wahrscheinliche zu treffen. Außerdem pflegt die Enquête, wird sie analytisch ernstgenommen, ja vom Bekannten zum Unbekannten fortzuschreiten, so daß sie gerade unter den Bedingungen moderner Anonymität nicht im Rahmen jenes geschlossenen Personenkreises verharren kann, wie er von der Poetik des Roman-feuilleton und zumal des pointierten Rätselromans à la Agatha Christie gefordert wurde. Demnach kommt der Kriminalroman, der um eine seriös durchgeführte (simulierte) Investigation zentriert ist, kaum umhin, eine der Grundregeln des traditionellen Detektivromans – des ,Whodunit‘ – zu verletzen, welche in dem Postulat bestand, als Täter bei der finalen Rätsellösung auf keinen Fall eine Gestalt zu präsentieren, die erst spät in die Erzählung eingeführt wurde und in ihr nicht von Anfang an eine Rolle spielte. [65]
Gegenüber solchen und ähnlich fungierenden Konventionen des spannungsorientierten Rätselspiels muß der enquêteorientierte Kriminalroman sich nun nachlässig, ja kritisch verhalten, sofern er die realistischen Ansprüche seiner Wirklichkeitsexploration mit vollem Ernst verfolgt. Tatsächlich führt ein Roman wie Sciascias Il giorno della civetta bei der Suche nach den Schuldigen von den rasch identifizierten Killern (‚Sicari‘) der sizilianischen Provinz dann auch folgerichtig in die Anonymität des politischen Systems, in dessen Rahmen die alten Regeln des ,Whodunit‘ nicht länger funktionieren. Charakteristisch erscheinen unter diesem Aspekt vor allem die Enqueten, mit denen Vázquez Montalbán seinen Privatdetektiv Pepe Carvalho beauftragt. Sie laufen gewöhnlich auf Ergebnisse hinaus, die nichts sonderlich Überraschendes haben, wobei Carvalhos Investigationen um so weniger an Suspense und Sensationen mit sich bringen, je stärker sie zur Erfassung dessen streben, was in und um Barcelona während eines bestimmten Zeitraums als ökonomisch, politisch oder psychologisch repräsentativ gelten darf. [66] Bezeichnend ist hier, daß Vázquez Montalbán die Regeln des Rätselspiels selbst dann außer Acht läßt, wenn die Prämissen einer relativ geschlossenen Gesellschaft wie in Asesinato en el Comité Central die Befolgung (und Ausbeutung) der Pointierungskonventionen an sich nahelegen würden [67] : So identifiziert der Roman über den Mord im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, da er sich vorrangig für eine Darstellung typischer politischer Positionen interessiert, ohne besondere Berücksichtigung faktischer Indizien einen Mörder, der erst am Ende der Untersuchung – und überdies ohne jeglichen Eklat – in den Vordergrund der Geschehnisse tritt. [68]
Freilich ist es kaum gerechtfertigt, in dieser Abschwächung der Spannungseffekte einen Kunstfehler zu sehen. Sie geht vielmehr – bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich – aus dem poetologischen Realismus-Programm bestimmter Kriminalromane hervor, welches sich nur in seltenen Fällen – wie etwa in Vargas Llosas bedeutendsten Romanen – mit den Interessen eines extrem gesteigerten Suspense vereinbaren läßt. Wenn die Kombination der beiden auseinanderstrebenden Poetiken ohne eine jener Vargas Llosas vergleichbare schriftstellerische Anstrengung unternommen wird, können dagegen Resultate zustande kommen, die den Eindruck von eher schmerzlicher als provozierender Dissonanz erzeugen. Ein Beispiel dafür wäre meines Erachtens der rezente Roman Los misterios de Madrid (1992) von Antonio Muñoz Molina. [69]
Es handelt sich um einen Roman, in dessen Mittelpunkt das moderne Madrid steht, in etwa analog zu dem modernen Barcelona Vázquez Montalbáns oder dem modernen Turin des Autorenpaars Fruttero – Lucentini. Gesehen wird die mörderische Metropole mit den Augen des biederen Amateur-Detektivs Lorencito Quesada, der ein andalusischer Provinzler ist und sich am Ort seiner Nachforschungen, die einem aus der Heimatstadt geraubten Christusbild gelten, keineswegs mit der in der Investigatorenrolle üblichen Souveränität bewegt, sondern mit dem stets aufs neue manifestierten Erstaunen des ahnungslosen Zugereisten. [70] In diesem verfremdenden Blick, den der – sympathisch – zurückgebliebene Andalusier auf das modernisierte Madrid wirft (wie Montesquieus Perser einst auf Paris), liegt der gute Einfall des Romans, welcher sich bei manchen Beobachtungen auch aufschlußreich bewährt: so wenn Lorencito Quesada erfährt, daß im avancierten Kapitalismus ein Supermarkt für ekklesiastische Artikel und Devotionalien nach den gleichen ,Stilprinzipien‘ organisiert ist wie ein Sex-Shop. [71]
Kraß durchkreuzt werden solche Absichten einer realistisch entschleiernden Sicht, die das geschichtlich Spezifische der internationalen Metropole erfassen soll, jedoch durch die Elemente des Roman-feuilleton, wie sie schon in der Sue-Anspielung des Titels impliziert sind. Diese Elemente der Mystères de Paris sorgen in den Misterios de Madrid nicht nur für aufregende Peripetien der Handlung, sondern haben vor allem zur Folge, daß die Metropole sich im Lauf der Ereignisse gerade nicht – wie es den in Einzelheiten durchaus wahrgenommenen historischen Tendenzen entsprechen würde – als ein Ort der Anonymität erweist. Vielmehr wird Lorencito in und durch Madrid von einem Plot betroffen, der ihn in außerordentlich enge Zusammenhänge involviert, deren eigentliche Drahtzieher – nach den Gattungskonventionen der „revelación sorprendente“ [72] – am Ende doch wiederum in der andalusischen Provinz auszumachen sind. So ordnet sich das metropolitane Chaos, das Muñoz Molina zunächst anzuvisieren scheint, schließlich mit der beruhigenden Versicherung. „el mundo es un pañuelo“ [73] , und aufgelöst wird der Plot, in dem nichts mehr anonym bleibt, in der Märchenmanier des Populärromans durch die Offenbarung verheimlichter Familienbande und die Restitution einer unehelichen Tochter in ihre Erbschaftsrechte.
Gewiß läßt die Geschwindigkeit, mit der Muñoz Molina dies märchenhafte Dénouement im Stil des Dix-Neuvième inszeniert, oder besser: absolviert, auch Untertöne von Parodie erkennen. Das ändert indessen nichts an der Tatsache, daß der Plot seines Romans – gleichgültig ob er ernst oder parodistisch gemeint ist – die Tendenz von dessen Realitätsschilderung aufs schärfste dementiert. Wo sich einerseits – wie behauptet wird – eine Welt anonymer Beziehungslosigkeit auftun soll, herrscht andererseits – wie durch die Geschichte selbst offenbar wird – doch ein Netz vertrauter familialer Beziehungen, das auch dann noch etwas Anheimelndes besitzt, wenn es gegenüber kriminellen Versuchungen nicht immun bleibt. [74] Nun habe ich diesen immanenten Widerspruch der Misterios de Madrid vor allem deshalb so nachdrücklich betont, weil er wohl nicht allein einem schriftstellerischen Defizit des jungen spanischen Autors anzulasten ist. In ihm zeigt sich vielmehr ein strukturelles Problem, das aus der semiotischen Divergenz erwächst, welche sich zwischen zwei verschiedenen Funktionen und Traditionslinien des Kriminalromans ausgebildet hat. Bezeichnenderweise ist das gleiche Problem – obwohl auf einem zweifellos höheren erzählerischen Niveau – nämlich ebenfalls in Pennacs La fée carabine zuregistrieren. Auch hier wird zum einen mit der Absicht geradezu soziologischer Dokumentation die Schilderung des entfremdeten Lebens in der Metropole Paris anvisiert. [75] Zum anderen erfährt die Schilderung von Fremdheit und Beziehungslosigkeit aber ein kontinuierliches narratives Dementi, da jede der sensationellen Peripetien, wie sie sich von Kapitel zu Kapitel einstellen, mit neuen Koinzidenzen eben auch neue Beziehungen offenbart. So findet der Leser bei Pennac selbst angesichts von Drogenkrieg und Immobilienspekulation einen sicheren Trost darin, daß keine Unübersichtlichkeit der Realität vor der Übersichtlichkeit standhält, welche ihm die garantierte Beziehungsdichte des Roman-feuilleton bzw. des pointierten Rätselromans zu schenken vermag.
Demnach ist nicht zu übersehen, daß Kriminalromane bei aller – zeitweiligen – Stimulation von gespannter Unruhe zum Schluß unweigerlich auf einen Effekt märchenhafter Beruhigung hinauslaufen, und das um so mehr, je älter die – teils eminent unterhaltsamen – Gattungsmodelle sind, in deren Tradition sie sich einschreiben. Aus diesem Umstand resultiert nun eine weitere – und spezifisch moderne – Funktion des Kriminalromans. Gemeint ist die Bereitstellung eines Schemas, dessen Beruhigungseffekt die Umkehrung und Falsifikation durch den Widerspruch pointiert beunruhigender Anti-Kriminalromane provoziert.
Was im Kriminalroman provozieren muß, ist freilich nicht nur die tröstliche Wirkung des engen Beziehungsnetzes, das typische Kriminalroman-Plots – gegen den Lauf der gesellschaftlichen Entwicklung – zu knüpfen pflegen. Aspekte, die einem kritischen Bewußtsein anstößig erscheinen mögen, bietet auch und vor allem der fundamentale Optimismus, welcher von der Gattungsstruktur ausgeht. Dieser gleichsam generisch angelegte Optimismus hat damit zu tun, daß der traditionelle Kriminalroman – gleich welcher formalen Variante – stets eine Aufklärung (als konkreten Vorgang) erzählt und dadurch ineins die Aufklärung (als geschichtliche Errungenschaft) verifiziert. Wenn man so will, bestätigt der Detektiv – sei’s durch seinen Scharfsinn, sei’s durch seinen arbeitsamen Fleiß – die permanente Wiederholbarkeit eines Erkenntnis- und Ordnungsprozesses, der – einmal historisch vollzogen – immer wieder erfolgreich erneuert werden kann.
Am deutlichsten kommt dies Moment einer Allegorie sichergestellter Aufklärung in der Verdopplung des Happy-Ending zum Ausdruck, das im Kriminalroman normalerweise eintritt. Wenn das glückliche Ende des Kriminalromans zum einen die rechte Moral gegen das Unmoralische restituiert, sichert es nämlich andererseits immer auch den richtigen Gebrauch der Vernunft gegen alles Unvernünftige und Absurde. Im Nachvollzug von Aufklärung ergänzen sich dabei – mehr oder weniger lückenlos – die bürgerliche Rechtsordnung und die bürgerliche Erkenntnisordnung, so daß der traditionelle Kriminalroman wie kaum eine zweite Erzählform das Bild eines harmonischen Zusammenwirkens aller positiven Ordnungen entwerfen kann, durch deren heilsamen Fortschritt jegliche Bosheit, Torheit oder Absurdität regelmäßig zunichte gemacht wird.
Eben diese Allegorie sichergestellter Aufklärung, der das Genus gewiß einen guten Teil seines – auch ideologischen – Erfolgs verdankt, hat nun den ideologiekritischen Einspruch all jener Autoren hervorgerufen, welche die Geltung und die Permanenz von Aufklärung – aus durchaus verschiedenartigen Gründen – nicht für sichergestellt erachten mögen. Solcher Einspruch stammt meist von Erzählern, die sich mit kritischem und ästhetischem Anspruch von den Üblichkeiten der Gattungsroutine distanzieren, und er betrifft sowohl die Garantie des moralischen wie jene des gnoseologischen Happy-Ending. Eine wesentliche Rolle hat bei dieser gattungsimmanenten Ideologiekritik das Werk Leonardo Sciascias gespielt. In seinen frühen Mafia-Romanen negiert Sciascia speziell die Konvention des moralischen Happy-Ending, und zwar dergestalt, daß die Negation sich wie eine Art falsifizierender Konsequenz aus den ‚hard-boiled novels‘ Hammetts oder Chandlers darstellt. Das heißt: Sciascia meint gleich den Amerikanern einen gesellschaftlichen Zustand zu sehen, in dem das organisierte Verbrechen der bürgerlichen Ordnung nicht mehr entgegensteht, sondern in dieselbe tendenziell integriert ist. Anders als bei den Amerikanern ergibt sich daraus bei Sciascia indes, daß auch die der episodischen Störung des sozialen Gleichgewichts folgende Rückkehr zur Ordnung am Romanende eine Rückkehr zur Normalität des Verbrechens bedeutet. Angesichts solcher Verbrechensnormalität wandelt die Position des Detektivs sich von der eines Retters in die eines unheilträchtigen Außenseiters, [76] der entweder – wie in Il giorno della civetta – zuentmachten oder – wie in A ciascuno il suo und Il contesto – zu eliminieren ist.
Dabei korrigieren Sciascias Mafia-Romane die Tradition der Kriminalromane Hammetts und Chandlers nicht allein, indem sie dem Detektiv das Privileg des Erfolgs und der Unsterblichkeit nehmen, sondern mehr noch durch die spezifische Motivkonstellation, in der sie den Detektiv jeweils scheitern lassen. Was bei Hammett und Chandler das „surprise ending“ ausmachte, die Entdeckung einer Hintergrundswelt verborgener erotischer Leidenschaften jenseits des Romanvordergrunds der organisierten Kriminalität, wiederholt sich bei Sciascia nämlich mit einer bedeutenden und eben kritischen Modifikation. [77] Was die Zuschreibung des zentralen Mordfalls betrifft, wird auch hier wie in den amerikanischen Romanen ein Motivations- und Interpretationswechsel vom organisierten zum privaten Verbrechen vollzogen. Allerdings ereignet er sich jetzt nicht mehr in der ideal endgültigen Erkenntnis des Detektivs, sondern wird gegen dessen Erkenntnis, die der Leser für die gültige halten muß, durch eine Manipulation der etablierten Macht erpreßt. Den Mächtigen in der Mafia wie in der Politik geht es nämlich darum, die Existenz organisierter Kriminalität (der ‚Mafia‘) zu leugnen und den zentralen Mordfall statt dessen aus den Leidenschafts- und Ehrenmotiven der sizilianischen Folklore, das heißt: als „omicidio passionale“ und als „questione di corna“, zu erklären. [78] Was früher als „surprise ending“ zu den Manipulationen des kriminalistischen Gattungskanons gehörte, wird von Sciascia demnach als diegetisch tatsächliche Manipulation in das Innere der Romanwirklichkeit versetzt, so daß sich mit der Anklage eines mafiosen politischen Zustands die ideologische Entlarvung eines romanesken Ablenkungsmanövers verbindet.
In den späteren Romanen Il contesto und insbesondere Todo modo wird von Sciascias Kontestation des normalen Kriminalromans dann auch das gnoseologische Happy-Ending in Mitleidenschaft gezogen. Vor allem in Todo modo widerspricht dem erkenntnistheoretischen – neben dem moralischen – Optimismus der Gattungsüberlieferung eine merkwürdig opak bleibende Handlungsfolge. In deren Verlauf kommt es bei einem für Führungskräfte aus Wirtschaft und Politik veranstalteten Seminar ‚geistlicher Übungen‘ zu mehreren, dem Ambiente des Seminars entschieden unangemessenen Morden. Als Ereignisse werden diese Morde ganz nach den Gattungsregeln jeweils mit einem starken Verblüffungseffekt durchaus plastisch und folgerichtig erzählt; doch bleibt die übliche Aufklärung der rätselhaften Verbrechen, welche an sich gerade die anfängliche Plastizität der Erzählung in Aussicht stellt, am Ende höchst frustrierendaus. So vermag der detektivische Ich-Erzähler das Motiv der Morde lediglich in vagen Hypothesen anzudeuten, während er sich zum Schluß selber einen letzten Mord (am Täter der vorangegangenen Morde?) zuschreibt, ohne daß dem Leser klar würde, ob er dies Geständnis ernst nehmen darf oder als eine weitere – ironische oder symbolische – Mystifikation auffassen soll. [79] Dazu kommt, daß der Roman unter der Ebene kriminalistischer ‚action‘ noch eine andere Ebene des ,conte philosophique‘ präsentiert, in dessen Kontext der laizistische Ich-Erzähler bzw. Detektiv und der (diabolisch?) kluge Priester don Gaetano am Leitfaden der philosophischen Opposition Voltaire – Pascal über Aufklärung, Geschichte, Kirche und Apokalypse diskutieren: [80] freilich in einem Stil jeweils nur andeutender Suggestivität, der das Ergebnis der Debatten ebenso wenig zur abschließenden Evidenz gelangen läßt wie die Frage nach den Mordmotiven und der Identität der Täter.
Dabei ist Sciascia keineswegs der erste, der das Thema des ‚scheiternden Detektivs‘ von den moralischen zu den erkenntnistheoretischen Aspekten der detektivischen Enquête generalisiert und vertieft hat. Als Archetyp für diese Variante des Scheiterns von Aufklärung kann wohl Borges’ bereits erwähnte Erzählung La muerte y la brújula gelten. In ihr erleidet der Detektiv Lönnrot zunächst deshalb Schiffbruch, weil die eigene, ingeniös systematische Rekonstruktion der Verbrechen von Lönnrots Gegenspieler, dem Gangster Red Scharlach – gemäß einer bei Borges häufig entwickelten Erzählfigur – zum Ausgangspunkt und Instrument einer überlegenen Konstruktion zweiten Grades gemacht wird. Daß Scharlach Lönnrot überlegen ist, hat – näherhin betrachtet – seinen speziellen Grund dann in der unterschiedlichen Einstellung, welche die beiden Antagonisten gegenüber dem Zufall („azar“) an den Tag legen. [81] Während der unterlegene Detektiv den Zufall zugunsten des Systems verdrängt, weiß der Verbrecher den Zufall zu nutzen, indem er gerade ihn als Basis seiner Gegenkonstruktion akzeptiert: „El primer término de la serie me fue dado por el azar“. [82]
In einem gehaltvollen Aufsatz hat Hinrich Hudde 1978 (also zu einer Zeit, als viele der hier behandelten Romane noch nicht vorlagen) gezeigt, wie die Motive von La muerte y la brújula in der europäischen (Kriminal)Literatur rezipiert worden sind: [83] etwa in Robbe-Grillets Les gommes,in manchen Romanen Friedrich Dürrenmatts oder eben in jenen Leonardo Sciascias. An der Tendenz dieser Rezeptionsakte läßt sich ablesen, daß der „scheiternde Detektiv“ unter anderem – wie Dieter Wellershoff formuliert – als „eine Zentralfigur des nouveau roman [...] dessen Absicht [...] repräsentiert, die Fremdheit der Welt zu erhalten oder wiederherzustellen.“ [84] Daneben, ja in erster Linie, macht das Mißlingen detektivischer Analysen indes auf die Grenzen aufmerksam, welche aller Rationalität bei ihrem Versuch gesetzt sind, Kontingenz zu domestizieren. So stellen die – unmittelbar oder mittelbar von Borges beeinflußten – neueren Anti-Kriminalromane unter den verschiedensten Gesichtspunkten immer wieder die Selbstgewißheit rationaler Systematik in Frage. Gegen sie werden mitunter explizit die Unberechenbarkeiten des Zufalls ins Feld geführt, wie das mehrfach bei Dürrenmatt oder in einem Kommentar von A ciascuno il suo geschieht, der folgendermaßen die Souveränität des detektivischen ,Scharfsinnshelden‘ in Zweifel zieht: „Gli elementi che portano a risolvere i delitti che si presentano con carattere di mistero o di gratuità sono la confidenza diciamo professionale, la delazione anonima, il caso. E un po’, soltanto un po’, l’acutezza degli inquirenti.“ [85]
Ansonsten machen die Anti-Kriminalromane aus ihren Mordfällen gerne ein Labyrinth, das der aufklärungswilligen Analyse keinen gangbaren Ausweg mehr bietet. Ein solches Labyrinth sollte – wie ich vermute – Georges Perecs unvollendeter Roman „53 jours“werden. [86] Möglicherweise hätte er den intrikatesten „roman policier“ der Gattungsgeschichte ergeben, dessen Ende auf die Unentscheidbarkeit einer Spiralkonstruktion immer weiterer Machinationen à la Borges hinausgelaufen wäre. [87] Als unentscheidbar können die Mordfälle jedoch auch in durchaus realistisch intendierten Romanen angelegt sein: Man denke an Vargas Llosas Conversación en la Catedral,wo die Motive für Ambrosios Verbrechen (und mit ihnen die Bewertung seines homosexuellen Verhältnisses zu Don Fermín) selbst nach den Indizien der verborgensten Dialogfragmente nicht restlos zu klären sind, oder an La ciudad y los perros,wo sorgfältig kontradiktorisch verteilte ,Clues‘ den „Jaguar“ als Hauptverdächtigen des Mords im gleichen Ausmaß belasten wie entlasten. [88] Gleichfalls als ein Labyrinth kann – nach einer weiteren Anregung von Borges [89] – die Zeitlichkeit der Existenz verstanden werden. Auf ihm, dessen eher lyrische Vergegenwärtigung weniger elaborierter Erzählmittel bedarf, scheint Antonio Tabucchi zu insistieren, wenn er seinen Detektiv Spino am Ende von Il filo dell’orizzonte ins Dunkel und in die Leere schreiten läßt. [90]
Eine sehr eigentümliche Position kommt im Zusammenhang dieser Gattungskonstellation schließlich den Romanen von Umberto Eco zu, deren Rang – wie ich finde – im allgemeinen sowohl überschätzt als auch (häufiger noch) vehement unterschätzt wird. Es ist möglich, daß künftige Generationen (falls diese anachronistische Wendung in Anbetracht der Ungewißheit über die Zukunft zumindest unserer Lesekultur erlaubt scheint) in Eco nicht einen der ganz großen Autoren des späten 20. Jahrhunderts sehen werden, da ihm die Kunst der dichten (und unübersetzbaren) Prosa, über die Schriftsteller wie – sagen wir – Calvino, Cortázar oder Claude Simon verfügen, offenkundig verwehrt ist. Dagegen wird der Ruhm Ecos als eines bedeutenden und exemplarisch aufschlußreichen Romanciers der Epoche meines Erachtens lange bestehen bleiben; denn es läßt sich schwerlich ein zweiter Autor finden, der die heute aktuellen Probleme und Möglichkeiten von Poetik, Epistemologie oder Philosophie mit vergleichbarer Bewußtheit, Intelligenz und Fantasie in Romanen zu verarbeiten wüßte.
Bei Ecos romanesken Texten erscheint mir nun bemerkenswert, daß sie ihre gattungsgeschichtliche Prämisse im Hinblick auf den Kriminalroman speziell in dem gerade skizzierten Phänomen aufklärungsnegierender oder jedenfalls -problematisierender Anti-Kriminalromane besitzen. Daß sie sich auf eben diesen Moment der Gattungsgeschichte beziehen, belegt unter anderem die unverkennbare Präsenz von La muerte y la brújula im Plot von Il nome della rosa,wobei die Borges-Erzählung hier ein ähnliches intertextuelles Gewicht hat wie in Ecos zweitem Roman Il pendolo di Foucault die andere Borges-Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis tertius oder Thomas Pynchons The Crying of Lot 49. [91] Angesichts der Beziehungen zu Borges und Pynchon fällt indessen nur um so stärker auf, daß Eco die Detektion in Il nome della rosa keineswegs in der gleichen Weise und vor allem nicht im gleichen Ausmaß scheitern läßt, wie das sonst in den Anti-Kriminalromanen unserer Epoche zu geschehen pflegt. Zwar folgt Guglielmo di Baskerville bei seinen Analysen der Mordserie lange einer falschen, das heißt: der apokalyptischen Fährte, und zwar gelingt es ihm auch nicht, die Katastrophe des Bibliotheksbrandes sowie der Vernichtung des Aristoteles-Manuskripts abzuwenden. Was ihm dagegen durchaus gelingt, ist die nachträgliche Klärung und Deutung der dunklen Ereignisse, welche zur Katastrophe geführt haben, und so bleibt der Leser am Romanende eben vor jener Unentscheidbarkeit aporetischer Sachverhalte bewahrt, die ihm durch andere Romane von ähnlicher Struktur seit langem zum Erwartungshorizont geworden ist.
Daß Ecos Romane den modernen bzw. postmodernen Erwartungshorizont unentscheidbarer Aporien resolut durchbrechen, ist nun nicht allein daraus zu erklären, daß sie sich jenseits der Avantgarde situieren. Wenn Il nome della rosa zur wenigstens halbwegs gelungenen Detektion zurückfindet, gibt es dafür auch noch ein anderes und letztlich wohl gewichtigeres Motiv: Ecos mit großem und oft nicht recht wahrgenommenem Ernst verfolgten Versuch, das Ethos von Aufklärung in einer Welt zu rehabilitieren, die sich immer häufiger über Dialektik, Ohnmacht, ja Infamie der Aufklärung beklagt. Demnach muß in Il nome della rosa als Kriminalroman eine Aufklärung – wenn nicht praktisch, so doch rational – gelingen, damit in dem Conte philosophique, den Il nome della rosa gleichfalls entwickelt, auch die Aufklärung gerettet werden kann. Eben um die Rettung der Aufklärung als eines Entwurfs menschlicher Geschichte geht es nämlich – sozusagen figural – in einem Gespräch zwischen Guglielmo und Jorge da Burgos, bei dem Jorge die Furcht verteidigt, während Guglielmo als Anwalt eines befreienden Lachens auftritt, mit Argumenten, die er offenbar anachronistisch Michail Bachtin verdankt. [92] Und als Vertrauen in die Erkenntnisfähigkeit des Menschen soll Aufklärung bewahrt werden, wie Guglielmo seinem Schüler Adso den Gang seiner detektivischen Rekonstruktion mitteilt. Für die Methodik dieser Forschungen haben neben den mittelalterlichen Nominalisten – erneut anachronistisch – Karl Popper oder Ludwig Wittgenstein Pate gestanden, Wittgenstein insbesondere dort, wo Guglielmo auf die erkenntnisgenerierende Kraft selbst ,irriger Ordnungen‘ („ordini errati“) und Hypothesen verweist: „L’ordine che la nostra mente immagina è come una rete, o una scala, che si costruisce per raggiungere qualcosa. Ma dopo si deve gettare la scala, perché si scopre che, se pure serviva, era priva di senso. Er muoz gelîchesame die Leiter abewerfen, sô Er an ir ufgestigen ist [...] [...] Le uniche verità che servono sono strumenti da buttare“. [93]
Womöglich noch resoluter bekräftigt Eco die Erkennbarkeit der Zeichen und die Interpretierbarkeit ihrer Beziehungen in Il pendolo di Foucault. Anders als Borges’ Tlön-Erzählung oder Pynchons The Crying of Lot 49 läßt dieser Roman ja keinerlei Zweifel an dem Verhältnis von (karger) Realität und (abundanter) Simulation zu, die bei dem mysteriösen ,Plan‘ eines universalgeschichtlichen Komplotts, auf den sich die drei Verlagsangestellten Casaubon, Belbo und Diotallevi zu ihrem Verderben einlassen, zusammengekommen sind. So werden die widersprüchlichen Dechiffrierungen der vermeintlichen Templer-Botschaft, von der alles Unheil seinen Ausgang nimmt, hier keineswegs im Status der Unentscheidbarkeit belassen, sondern nach dem Grad ihrer Verläßlichkeit bewertet und markant unterschieden. Dabei erweist sich die ‚tiefe‘, geschichtsphilosophisch konspirative Interpretation als eine ganz und gar unverläßliche, während die ‚flache‘, von der praktischen Evidenz des Alltags bestimmte – und überdies weibliche – Lektüre, welche in dem Text einen simplen Wäschezettel identifiziert, verläßlich Recht behält. Deshalb endet der epistemologische Kriminalroman trotz allen Unheils, das in ihm durch tiefgründige Verschwörungstheorien ausgelöst wird, erneut bei letztlich hoffnungsvollen Positionen: einer (paradoxalen) Metaphysik des erfüllten Augenblicks, die an essayistische Schriften von Octavio Paz denken läßt, [94] und einer Erkenntnistheorie, welche die Beobachtung der Oberflächen empfiehlt und zu einem Fazit gelangt, das mit listiger Volte Feminismus und Rationalismus ineins setzt: „Nessuna direzione profonda delle correnti sotterranee. [...] Superfici. Superfici. Superfici di superfici su superfici. La saggezza della Terra. E di Lia“. [95]
Was von diesem Fazit auf Distanz gebracht werden soll, ist – wie schon in Il nome della rosa – eben jene Spekulation einer „direzione profonda delle correnti sotterranee“, die aus der – nach Eco fatalen, aber kaum zu stillenden – Sucht nach geheimen ‚Plänen‘ und Ordnungen hervorgeht. Ihr liegt die Faszinationskraft eines analogischen Denkens zugrunde, das in Il pendolo di Foucault wiederholt mit dem Begriff des „demone“ oder der „psicosi della somiglianza“ (durchaus im Sinne von Michel Foucaults vorklassischer Episteme) bezeichnet wird. [96] Wenn man Ecos zweitem Roman als einem Conte philosophique und einer Art historischer Enzyklopädie folgen will, dann ist diese ,Psychose der Ähnlichkeit‘, welche gegen die augenscheinliche Differenz der Zeiten immer wieder paranoide Zusammenhänge schafft, von der Antike bis in die jüngste Moderne produktiv gewesen: von den Schöpfungs- und Läuterungsvisionen der Gnosis, die hier ein Simon Magus redivivus vertritt, über Hegel und Marx bis zu den Erlösungsprojekten, welche noch in den siebziger Jahren die Brigate Rosse für das weltbeherrschende Ungeheuer des SIM, des „Stato Imperialista delle Multinazionali“, entwarfen. [97]
Wesentlich bleibt für die Gestalt des Romans indessen, daß er gegenüber allen solchen Theorien von Erlösung und (notwendigermaßen vorausgehender) Verschwörung einen kritischen Abstand behauptet. Es ist das der Abstand der (in diesem Fall historisch-enzyklopädischen) Detektion, die in Il pendolo di Foucault zwar ebensowenig wie in Il nome della rosa auf der Handlungsebene triumphiert, doch vor den Augen des Lesers unbezweifelbare Evidenz erlangt. [98] Gleichsam als Aufklärungsallegorie hat die Detektion ihren Gegenstand wie ihren Widerpart im Bereich der ,Pläne‘ und Komplottideen, welche nach den ideologiekritischen Implikationen des Romans für die Geschichtsphilosophie (Hegel) nicht weniger konstitutiv sind als für den Feuilleton-Roman (Sue). [99] Dabei bildet die literarische Domäne dieser Komplottideen neben dem Roman-feuilleton in der Gegenwart vor allem der Spy-Novel bzw. Agenten-Thriller, der sich vom traditionellen Kriminalroman einerseits durch seinen höheren Grad an Abenteuerlichkeit und andererseits durch den Umstand unterscheidet, daß er die Zurechenbarkeit von Komplotten und Gegen-Komplotten – ohne die verläßliche Erkenntnis detektivischer Instanzen – zunehmend undurchschaubar macht.
Tatsächlich nimmt die Handlung (nicht die enzyklopädische Dokumentation) in Il pendolo di Foucault dann auch den Duktus eines Spy-Novel an, und zwar in eben dem Maß, wie die drei Protagonisten die Simulation ihres „Piano“ ausdehnen und dadurch den Agenten jener Kräfte anheimfallen, die – wie der Geheimbund der „Templi Resurgentes Equites Synarchici“ – das simulierte Komplott als ein real wirksames und endgültige Macht versprechendes Geschichtsprinzip (miß)verstehen. Im gleichen Kontext ist vielleicht bezeichnend, daß noch Ecos insgesamt handlungsärmerer dritter Roman L’isola del giorno prima von den romanesken Attraktionen der beiden früheren Bücher just manche Anklänge an den Spionageroman bewahrt hat. In diesen Anklängen mag man den Ausdruck von Fixierungen sehen, die gerade für den dezidierten Aufklärer von (expliziter) Abwehr und (impliziter) Faszination begleitet sind. Immerhin hat auch in L’isola del giorno prima die aufklärerische Abwehr den Vorrang vor der esoterischen Faszination. Was hier an mehr oder weniger okkulten Spionageaktivitäten zur Sprache kommt, verläuft nämlich zum einen – auf der ersten, Handlungsebene von Robertos ‚Mission‘ für den Kardinal Mazarin [100] – völlig ergebnislos im Sand. Und zum anderen wird es – auf der Ebene von Robertos Roman über seinen Doppelgänger Ferrante [101] – in den Bereich purer Fiktion verwiesen: als fantastische Halluzination der Intrigen von Spionen und Doppelspionen, welche zu jener barock-ingeniösen ,ars moriendi‘ (dem eigentlichen Thema des Romanschlusses) gehört, mit der Roberto sich in der Einsamkeit des Ozeans auf den Tod vorbereitet.
1 Vgl. hierzu die Kongreßakten Baltasar Gracián – Dal Barocco al Postmoderno,Palermo 1987, und Flaubert and Postmodernism,Lincoln/London 1984.
2 Vgl. zu ihm neben der berühmt gewordenen Rede aus dem Jahr 1980 vor allem den Abschnitt „Der normative Gehalt der Moderne“, in J. Habermas, Der philosophische Diskurs derModerne,Frankfurt a. M. 1985, S. 390–425.
3 Charakteristisch für die englischsprachige Begriffsverwendung wirkt etwa der folgende Beginn eines Aufsatzes über den britischen Gegenwartsroman: „Until well into the 1970s, contemporary British fiction was regarded as ,postwar‘ rather than ,postmodernist‘. To be sure, modernism had come to be perceived as a closed historical epoch, and this is a perception that dates from as early as the 1940s.“ R. Todd, „Confrontation Within Convention: On the Character of British Postmodernist Fiction“, in T. D’haen/H. Bertens (Hrsg.), Postmodernist Fiction in Europe and theAmericas,Amsterdam/Antwerpen 1988, S. 115–125, hier S. 115.
4 Vgl. zu diesem Paradox der Epochennomenklatur – „una bizzarria su cui varrebbe la pena di riflettere“ – die Bemerkungen von M. G. Profeti, Importare letteratura – Italia e Spagna, Alessandria 1993, S. 87.
5 Zu den besonderen spanischen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff des „post-moderno“ vgl. auch A. Gómez-Moriana, „La anti-modernización de España – Prolegómenos a la historiografía (literaria) española del siglo XX“, in E. Pfeiffer/H. Kubarth (Hrsg.), Canticum Ibericum – G.R. Lind zum Gedenken, Frankfurt a. M. 1991, S. 318–330, hier S. 318ff.
6 Dieser Neigung pflegen sich deutsche Amerikanisten, für welche der englischamerikanische Sprachgebrauch kanonische Geltung besitzt, ohne weitere Umstände anzuschließen. So definiert H. Ickstadt die literarische „Postmoderne“ bezeichnenderweise nicht durch ihre Antinomie zur Moderne, sondern durch ihren Gegensatz zum „Realismus“; vgl. „Die unstabile Postmoderne oder: wie postmodern ist der zeitgenössische amerikanische Roman?“, in K. W Hempfer (Hrsg.), Poststrukturatismus – Dekonstruktion – Postmoderne,Stuttgart 1992, S. 39–51: „Der Roman der amerikanischen Postmoderne hat alle Gewißheiten des literarischen Realismus radikal problematisiert.“ (S. 42)
7 Eine solche Haltung prägt außer Habermas’ eigener, in Der philosophische Diskurs der Moderne vorgetragener Kritik z. B. zahlreiche Beiträge des lesenswerten Sammelbandes von J. Rüsen/E. Lämmert/P Glotz (Hrsg.), Die Zukunft der Aufklärung,Frankfurt a. M. 1988. Freilich fällt auf, daß die ästhetische Postmoderne in diesem Band weitaus milder beurteilt wird als die Manifestationen einer philosophischen oder geschichtswissenschaftlichen Postmoderne. Vgl. etwa die Aufsätze von H. R. Jauß, „Das kritische Potential ästhetischer Bildung“, ebd. S. 221–232, und vor allem von P. Glotz, „Über die Vertreibung der Langeweile oder Aufklärung und Massenkultur“, ebd. S. 215–220, der Adornos Theorie moderner Kunstautonomie mit einem resoluten Plädoyer für „aufklärerische Massenkultur“ widerspricht, zu der er – den zumal in seinen späten Romanen durchaus anspruchsvollen – John Le Carré ebenso zu rechnen scheint wie Johannes Mario Simmel oder die populären Sänger Udo Lindenberg und Peter Maffay.
8 Aufschlußreich ist hier ein Vergleich zwischen dem in Anm. 7 zitierten Sammelband, der eine vom „Kulturforum der Sozialdemokratie“ veranstaltete Tagung dokumentiert, und den Kongreßakten eines „Convegno di studi“ über „Modern/postmodern“, welches das toskanische „Istituto Gramsci“ im März 1986 durchgeführt hat. Während in dem deutschen Band der tiefe Ernst beeindruckt, mit dem die Kontribuenten ihre „Kämpfe an der semantischen Front“ (ebd. S. 9) – gegen freilich abwesende Gegner – austragen, überrascht der italienische Band bei ähnlichen Themen durch einen Ton bemerkenswerter Gelassenheit und Konzilianz. Symptomatisch dafür erscheint unter anderem der Beitrag des Philosophen Maurizio Ferraris, der zum einen die – tatsächlich unübersehbare – konzeptuelle Nähe von Adorno und Derrida betont („tra la dialettica negativa e il decostruzionismo non intercorrono distinzioni concettuali“) und zum anderen mit der skeptisch relativierenden Feststellung schließt: „[...] i modernisti dovrebbero essere molto riconoscenti nei confronti dei postmodernisti, l’ostracismo verso i quali costituisce ormai l’unica pointe di un discorso di ricostruzione del moderno. Cosa scriverebbe ormai Habermas senza Derrida?“. M. Ferraris, „Il postmoderno e la decostruzione del moderno“, in G. Mari (Hrsg.), Moderno postmoderno,Milano 1987, S. 117–129, hier S. 124 und 129.
9 H. Lethen, „Modernism Cut in Half: The Exclusion of the Avant-Garde and the Debate an Postmodernism“, in D. Fokkema/H. Bertens (Hrsg.), Approaching Postmodernism,Amsterdam/Philadelphia 1986, S. 233–238, hier S. 235; zitiert nach B. McHale, „Some Postmodernist Stories“, in T. D’haen/H. Bertens (Hrsg.), Postmodernist Fiction S.13–15, hier S. 19.
10 Vgl. „Für eine nicht mehr narrative Historie“, in R. Koselleck/W.-D. Stempel (Hrsg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik V), München 1973, S. 540ff.
11 Über das „Problem des ständigen Neuheitsschwundes“ als das zentrale Problem, mit dem es das „soziale System Kunst“ zu tun hat, äußert sich grundsätzlich erhellend N. Luhmann, „Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst“, in H. U. Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hrsg.), Stil – Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements,Frankfurt a. M. 1986, S. 620–672, hier S. 629.
12 Vgl. dazu als eine epochal bedeutsame Stellungnahme unter vielen anderen den Abschnitt „El ocaso de la vanguardia“ in Octavio Paz’ Vorlesungen (Charles Eliot Norton Lectures) Los hijos del limo – Del romanticismo a la vanguardia,Barcelona/Caracas/México 31981, S. 147–227,bes. S. 211: „Hoy somos testigos de otra mutación: el arte moderno comienza a perder sus poderes de negación. Desde hace años sus negaciones son repeticiones rituales: la rebeldía convertida en procedimiento, la crítica en retórica, la transgresión en ceremonia.“
13 Womit ich zu meiner Freude die Meinung von Leonardo Sciascia teile, der 1987in einem französischen Interview gegen „l’envie et la jalousie de la critique“ über den Welterfolg eines Konkurrenten so generös wie tapfer erklärt: „Le Nom de la rose est visiblement le livre d’un homme intelligent qui a tenté le pari d’écrire un roman. Eco a réussi ce roman de manière brillante.“ (J. Dauphiné, Leonardo Sciascia – Qui êtes-vous?,Paris 1990, S. 150)
14 In der Transparenz solcher Verschlüsselungen besteht offenkundig der wesentliche Reiz von Kristevas Roman, zumal dann, wenn er Kultgestalten der Pariser Intelligenz wie Lacan, Barthes oder Foucault – durchaus den Interessen eines Nachrichtenmagazins entsprechend – in (teils erzählten, teils imaginierten) kompromittierenden Situationen präsentiert; vgl. Les Samouraïs, Paris 1990, S. 204ff.(Lacan als ‚cocu battu et content‘), S. 219ff.(Barthes beim ‚sexual harassment‘ eines jungen Chinesen) oder S. 182ff.(Foucault masturbierend im Enfer der Bibliothèque Nationale). Dabei fällt auf, daß Gestalten, denen Frau Kristeva nur geringe Sympathie entgegenbringt, in der Regel durch die Attribution deutscher Namen gestraft werden: So heißt Foucault „Scherner“, während sich Althusser des Namens „Wurst“ erfreut.
15 Zu den Intentionen, Strategien und Problemen dieses Textes vgl. die so kritische wie detaillierte Analyse von K. W Hempfer, Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis – Tel Quel und die Konstitution eines Nouveau Nouveau Roman,München 1976, S. 71–95.
16 P. Sollers, Improvisation,Paris 1991, S. 175.
17 Ebd., S. 176.
18 Vgl. F. T .Marinetti, Teoria e invenzione futurista,Milano 1968, S. 71, 260f.und 268ff.
19 Vgl. zu dem nach Peter Bürger zentralen Aspekt der surrealistischen Programmatik den Abschnitt „Die Negation der Autonomie der Kunst durch die Avantgarde“ in Bürgers Theorie derAvantgarde,Frankfurt a. M. 1974, S. 63–75.
20 Vgl. In questo stato,Milano 1978, S. 97ff.Hauptsächlicher Angriffspunkt von Arbasinos temperamentvoller Polemik ist hier die einheimische „letteratura agghindata e casereccia“, welche der politischen Intensität ihrer Epoche nicht gewachsen scheint; doch wenden sich die Sarkasmen mitunter auch gegen die nordamerikanische Variante des gleichen Phänomens, eine „narrativa nata e prodotta e consumata interamente all’interno dei corsi di ,creative writing‘ nelle università provinciali“, die als ihre Lieblingsthemen Folgendes pflegt: „discussioni su diritti civili conculcati nel ,gran mondo‘, care memorie di rivolte giovanili, adulteri di ,faculty wives‘ bovaristiche, ricerca di una propria identità non ancora precisata“.
21 Vgl. dazu D. Ruhe, „Wie neu ist die ,Nouvelle Autobiographie‘? Aspekte der Gattungsentwicklung in Frankreich und Deutschland“, in Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 18 (1994), S. 353–369sowie den Sammelband von A. Hornung/E. Ruhe (Hrsg.), Autobiographie & Avantgarde,Tübingen 1992
22 Vgl. I. Calvino, Se una notte d’inverno un viaggiatore,Torino 1979, S. 93.Nach Werner Helmichs treffender Einschätzung verkörpert Ludmilla in der Lesertypologie des Romans die „Lektürekonzeption“ einer „völligen Offenheit und Erfahrungsbereitschaft gegenüber jedem neuen Text“, während ihre Schwester Lotaria das Prinzip einer strikt theorieorientierten, klassifizierenden Lektüre repräsentiert, die in letzter Instanz der „politischen Zensur“ den Weg bereitet; vgl. „Leseabenteuer – Zur Thematisierung der Lektüre in Calvinos Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore“,in U. Schulz-Buschhaus/H. Meter (Hrsg.), Aspekte des Erzählens in der modernen italienischen Literatur,Tübingen 1983, S. 227–248,hier S. 232.Bemerkenswert (und wohl auch bezeichnend) ist, daß Habermas bei seiner Interpretation des Romans die Akzente umgekehrt setzt und statt Ludmilla, „deren Leben im Lesen aufgeht“, eher Lotaria positiviert, der er den Heroismus des vergeblichen Widerstands „gegen den Sog eines unwiderstehlichen Textgeschehens“ zuschreibt; vgl. „Philosophie und Wissenschaft als Literatur?“, in J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken,Frankfurt a. M. 1988, S. 242–263,hier S. 259f.
23 Das Paradox ähnelt in gewisser Hinsicht dem Dilemma des klassischen Detektivromans, der bei seinen Mordrätselspielen ja die Gewohnheit ausgebildet hatte, den Täter stets in der „most unlikely person“ zu identifizieren, die er dadurch für den gewitzten literaturkundigen Leser jedoch gerade zur „most likely person“ machte: Was auf der Ebene der Wirklichkeitsreferenz höchste Unwahrscheinlichkeit war, verwandelt sich auf der Ebene der Textstruktur unter der Hand in höchste Wahrscheinlichkeit. Vgl. dazu T. Todorov, Poétique de la prose,Paris 1971, S. 97–99, bes. S. 98 („Introduction au vraisemblable“).
24 Vgl. als die vielleicht deutlichste unter verschiedenen Präsentationen dieses Konzepts die „Thesen über Tradition“ in Ohne Leitbild – Parva Aesthetica,Frankfurt a. M. 1967, S. 29–41, hier S. 33.
25 Zum „code culturel“ als „la quintessence, le condensé résiduel de ce qui ne peut être réécrit“ vgl. R. Barthes, S/Z, Paris 1970, S. 104f.
26 Adorno, Ohne Leitbild S. 33.
27 Ebd. S. 34.
28 Zur für die Tel-Quel-Poetik konstitutiven Unterscheidung zwischen positivierten „textes ,illisibles‘ et non-référentiels, relevant de l’,écriture‘“ und negativierten „textes ,lisibles‘“ et référentiels, relevant de la ,littérature‘“ vgl. das Resümee von R. Barthes, „Linguistique et littérature“, in Langages 12 (1968), S. 3–8, und die Kritik von C. Kerbrat-Orecchioni, „Le Texte littéraire: non-référence, auto-référence, ou référence flctionnelle?“, in Texte 1(1982), S. 27–49, bes. S. 29.
29 Vgl. dazu ausführlicher Verf., „Critica e recupero dei generi – Considerazioni sul ,Moderno‘ e sul ,Postmoderno‘“, in Problemi 101 (1995), S. 4–15, hier S. 79.
30 Dementsprechend sieht Adorno auch in der Musikgeschichte „die Arbeit musikalischen Fortschritts“ von den „musikalischen Topoi“ weg auf einen „bis zum Äußersten gesteigerten Nominalismus“ hin gerichtet; vgl. dazu den Aufsatz „Der mißbrauchte Barock“, in Ohne Leitbild S133–157, hier S. 156 und 138.
31 Vgl. das Kapitel „Letteratura, paraletteratura, arciletteratura“ in Spinazzolas Buch La democrazia letteraria,Milano 1984, S. 139–166, hier S. 146f. Eine (partielle) Kritik an der auf soziale Schichten bezogenen Vertikalität dieser Gliederung enthält mein Aufsatz „Livelli di stile e sistema dei generi letterari nella società di massa“, in G. Petronio/U. Schulz-Buschhaus (Hrsg.), Livelli e linguaggi letterari nella società delle masse,Trieste 1985, S. 41–48, hier S. 44f.
32 Ein engagiertes Resümee dieses Buchs, das Ferrettis Vorwürfe noch weiter zuspitzt, gibt G. Borghello, „Il fascino discreto del best seller“, in Livelli e linguaggi S. 131–145.
33 So insbesondere in Fiedlers berühmt gewordenem Essay „Cross the Border – Close the Gap“, in Playboy (1969), S. 230–258, bei dem schon der Publikationsort metonymisch füt ein explizites Programm literarischer ,Hybridisierung‘ einsteht.
34 Das letztere Phänomen habe ich durch einige typische Spielarten skizziert in dem Aufsatz „Kriminalromane jenseits des Krimi“, in die horen 32,4 (1987), S. 7–16.
35 Dem Spy-Novel nähert sich Se una notte vor allem im ersten („Se una notte d’inverno un viaggiatore“), vierten („Senza temere il vento e la vertigine“), sechsten („In una rete di linee che s’allacciano“) und siebten („In una rete di linee che s’intersecano“) Fragment sowie in den Kapiteln IX und X der Rahmenhandlung. Zur Fälschergestalt des Ermes Marana, der auf der Ebene poetologischer Allegorie die Ästhetik eines Borges beschwört, vgl. den leider unvollendeten Aufsatz von E. Leube, „Ermes Marana und seine Väter – Zu Ursprung und Bedeutung des ,Fälschers‘ in Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore“,in A. Kablitz/U. Schulz-Buschhaus, Literarhistorische Begegnungen – Festschrift B. König, Tübingen 1993, S. 213–223; zum Charakter des Romans als – mit Nabokovs Pale Fire vergleichbarem – „metafictional anti-detective novel“ vgl. S. Tani, The Doomed Detective – The Contribution of the Detective Novel to Postmodern American and Italian Fiction,Carbondale/Edwardsville 1984.
36 P. Bruckner, „Jeder schreibt für sich allein“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 100 (1989), Beilage: Bilder und Zeiten.
37 Ebd., vgl. außerdem die materialreiche Übersicht von A. Wortmann, „Der französische Kriminalroman der 80er Jahre“, in W Asholt (Hrsg.), Intertextualität und Subversivität- Studien Zur Romanliteratur der achtzigerJahre in Frankreich,Heidelberg 1994, S. 219–230.
38 Vgl. D. Ingenschay/H. J. Neuschäfer (Hrsg.), Aufbrüche – Die Literatur Spaniens seit 1975,Berlin 1991, S. 168–191 (mit drei Beiträgen von A. Buschmann, der in die Thematik einführt, von H. Stenzel über Manuel Vázquez Montalbán und von J. Sieß über Juan Madrid).
39 Dabei reicht die Spannweite seiner diesbezüglichen Schriften von den frühen Rezensionen in der Zeitschrift El Hogar,die mit Vorliebe britische Kriminalromane zum Gegenstand nehmen, über die zusammen mit Bioy Casares unter dem Pseudonym H. Bustos Domecq verfaßten Seis problemas para don Isidro Parodi bis zu La muerte y la brújula,gewissermaßen dem Archetyp der zukunftsträchtigen Thematik vom „Scheitern des Detektivs“ (H. Hudde, „Das Scheitern des Detektivs – Ein literarisches Thema bei Borges sowie Robbe-Grillet, Dürrenmatt und Sciascia“, in Romanistisches Jahrbuch 29 (1978), S. 372–342).
40 Vgl. I. Murdoch, „Against Dryness – A Polemical Sketch“, in M. Bradbury (Hrsg.), The Novel Today – Contemporary Writers on Modern Fiction,Manchester 1977, S. 23–31, sowie dazu W. Wolf, „Radikalität und Mäßigung: Tendenzen experimentellen Erzählens“, in A. Maack/R. Imhof (Hrsg.), Radikalität und Mäßigung – Der englische Roman seit 1960,Darmstadt 1993, S. 34–5 3, hier S. 49f.
41 Die thematischen Funktionen dieser Gattungskombination werden scharfsichtig angedeutet von U. Schick, „Erzählte Semiotik oder intertextuelles Verwirrspiel? – Umberto Ecos Il Nome della rosa“,in Poetica 16 (1984), S. 138–161, hier S. 160f. Gegenüber den politischen Aktualitätsbezügen des Romans verhält die Interpretin sich freilich ein wenig reserviert. Das ist ihr gutes Recht; doch sollte sie für solche Reserven nicht die – im Grunde aufmerksamkeitsweckende – Versicherung des ‚Herausgebers‘ Eco „Trascrivo senza preoccupazioni di attualità“ ins Feld führen. Daß dieser Satz essentiell ironisch, ja antiphrastisch gemeint ist, wird spätestens deutlich, wenn der ‚Herausgeber‘ seinen ‚inkommensurablen‘ historischen Abstand von der „storia di Adso da Melk“ durch den vorgeblichen Triumph der ‚Vernunft‘ in der Moderne begründet: „e provo conforto e consolazione nel ritrovarla (la storia, U. S.-B.) così incommensurabilmente lontana nel tempo (ora che la veglia della ragione ha fugato tutti i mostri che il suo sonno aveva generato)“. (Il nome della rosa, Milano 61981, S. 15)
42 Vgl. als ein besonders frappantes Beispiel den Übergang von der „Quinta“ zur „Sesta“ des „Quinto Giorno“, ebd. S. 361f. Natürlich sind solche Enjambement-Effekte in der Erzählgliederung nicht schlechthin eine Erfindung des Feuilleton-Romans, aus dem Eco sie übernommen haben dürfte, sondern charakterisieren in weniger eklatanten Formen auch schon den narrativen Rhythmus etwa von Ariosts Orlando furioso oder Graciáns Criticón.
43 Diesen Hinweis verdanke ich dem opulent gelehrten Aufsatz von F-R. Hausmann, „Umberto Ecos Il Nome della rosa – Ein mittelalterlicher Kriminalroman?“, in „[...], eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? – Mediävistische Notizen zu Umberto Ecos Mönchsroman „DerName derRose‘,Darmstadt 1987, S. 21–52, hier S. 49.
44 Vgl. D. Pennac, Au bonheur des ogres,Paris 1994, S. 253 und S. 271, wo dementsprechend die finale Erwartung des Detektivs auch paradoxerweise dem Opfer gilt (das freilich in der Vergangenheit ein Verbrecher war): „Moi, j’y suis. Et la victime? Elle est là, la victime?“
45 Vgl. ebd. S. 201. Allerdings spielt das letztere Motiv hier eine ganz andere – und zwar detektivisch hilfreiche – Rolle als in Antonionis Film, wo es den detektivischen „Glauben, durch immer genaueres Hinsehen [...] etwas entdecken zukönnen“, falsifizieren soll. Zum Verhältnis von Antonionis Film und Cortázars Erzählung vgl. V. Roloff, „Film und Literatur – Zur Theorie und Praxis der intermedialen Analyse am Beispiel von Buñuel, Truffaut, Godard und Antonioni“, in P. V. Zima (Hrsg.), Literatur intermedial,Darmstadt 199 S, S. 269–309, hier S. 303.
46 Bezeichnenderweise bietet dieser Passus außer den Assoziationen von Les mystères de Paris und Le fantôme de l’Opéra auch eine Erinnerung an den „python neurasthénique“ in Emile Ajars (Romain Garys) Gros-Câlin; vgl. Pennac, Au bonheur des ogres S.110f.
47 Vgl. ebd. S. 137, 144f., 150, 210 und besonders S. 147, wo der Ich-Erzähler und Protagonist gleichsam mit Gaddas Detektiv Francesco Ingravallo identifiziert wird.
48 Wie sie Calvinos Ludmilla gefallen würde, die ihren aktuellen Lektürewunsch ja einmal mit den Worten umreißt: „– Il romanzo che più vorrei leggere in questo momento [...] dovrebbe avere come forza motrice solo la voglia di raccontare, d’accumulare storie su storie, senza pretendere d’importi una visione del mondo;“ vgl. Se una notte S. 92.
49 Vgl. D. Pennac, La fée carabine,Paris 1994, S. 16.
50 Ebd. S. 309.
51 Ebd. S. 310. Die poetologische Bedeutung dieses Romanendes unterstreicht Pennac in Comme un roman,Paris 1992, S. 159 und S. 54 (dort sogar mit einem überraschenden Valéry-Zitat).
52 Daß ihm nicht zuletzt Umberto Eco einiges verdankt, wird durch ein kleines Hommage im ,Foucaultschen Pendel‘ festgehalten, wenn der Verleger Garamond das folgende Buch präsentiert: „E ora guardate questo: apparentemente un romanzo a sfondo criminale, un best seller. E di che cosa parla? Di una chiesa gnostica nei dintorni di Torino“. Vgl. Eco, Il pendolo di Foucault,Milano 1988, S. 208.
53 Vgl. zu diesem Sujet die inzwischen klassische (und überaus ertragreiche) Studie von V. Klotz, Die erzählte Stadt – Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin,Reinbek bei Hamburg 21987 (München/Wien 11969).
54 Vgl. C. Fruttero/F. Lucentini, La donna della domenica,Milano „1975, S. 42.
55 Ebd. S. 8.
56 Vgl. C. Fruttero/F. Lucentini, A che punto è la notte,Milano 1979, S. 173.
57 Dessen wahre Identität sich posthum, d. h. nach seiner Ermordung, dann bezeichnenderweise als die eines „maresciallo dei carabinieri“ enthüllt; vgl.ebd. S. 338 (die Pointe einer zumal perspektivisch höchst effektvoll erzählten Episode).
58 Vgl. „Verrätselung und Ambivalenz – Funktionen des Kriminalroman-Schemas bei Mario Vargas Llosa (insbesondere in La ciudad y los perros)“,in Romanistisches Jahrbuch 43(1992), S. 318–335.
59 Vgl. dazu meine Interpretation des Romans in dem Sammelband von V. Roloff/H. Wentzlaff-Eggebert (Hrsg.), Der hispanoamerikanische Roman,Darmstadt 1992, Bd. 2, S. 146–15 6, sowie J. M. Oviedo, Mario Vargas Llosa: la invención de una realidad,Barcelona/Caracas/Méxiko 31982, S. 206–266, bes. die Abschnitte „Las ondas dialógicas“ (S. 249ff.) und „Las aperturas del tiempo y la realidad“ (S. 256ff).
60 Das bedeutet, daß auch Conversación en la Catedral,obgleich ein Roman von prononciert realistischer Intention, unverkennbare Züge eines „metafictional antidetective novel“ im Sinne S. Tanis (bei dem von Vargas Llosa freilich nicht die Rede ist) aufweist. Vgl. S. Tani, The Doomed Detective S.113: „By now the detective is the reader who has to make sense out of an unfinished fiction that has been distorted or cut short by a playful and perverse ,criminal‘, the writer“.
61 Verf., Formen und Ideologien des Kriminalromans, Frankfurt a. M. 1975, S.106–181.
62 Vgl. zu ihnen ebd. S. 196–204sowie meinen Aufsatz „Sciascias beunruhigende Kriminalromane“, in Italienische Studien 1(1978), S. 43–53
63 Die außerdem natürlich auf das Vorbild des „cas authentique“ von Poes The Mystery of Marie Rogêt verweisen. Zu der von ihm ausgehenden Gattungstradition vgl. K. Maurer, „Le cas authentique – La ,vérité‘ dans le roman policier en Occident et en Orient du Mystère de Marie Rogêt d’Edgar Poe au Meurtre du canal d’Amsterdam de Seichô Matsumoto“, in Revue de littérature comparée 68 (1991) S. 193–206. Zu Sciascias Umgang mit dieser Tradition vgl. neuerdings die gründliche Untersuchung von A. Bruni, „La scomparsa di Majorana“,in M. Picone/P. De Marchi/T. Crivelli (Hrsg.), Sciascia, scrittore europeo, Basel/Boston/Berlin 1994, S. 181–207
64 Diese Notwendigkeit wird auf bezeichnende Weise verkannt in einer 1938publizierten Simenon-Rezension von Borges, die indes für Borges’ Interesse am Detektivroman, das speziell dem geregelten Spiel des pointierten Rätselromans gilt, aufschlußreich ist. Vgl. J.-L. Borges, Textos cautivos – Ensayos y reseñas en „El Hogarr“,Barcelona 1986, S. 236f.:„En Inglaterra el género policial es como un ajedrez gobernado por leyes inevitables. [...] París, en cambio, ignora todavía esos rigores“.
65 So verlangt es auch die Rezension von Borges, ebd. S. 237: „El misterioso criminal [...] tiene que ser una de las personas que figuran desde el principio [...]“. Damit reklamiert Borges die Beachtung eines ,Gesetzes‘, das schon 1924im Detective Story Decalogue von R. A. Knox gleichsam das Erste Gebot bildete und dann später (etwa durch S. S. Van Dines Twenty Rules for Writing Detective Stories)immer wieder bekräftigt wurde. Vgl. P. G. Buchloh/J. P. Becker (Hrsg), Der Detektivroman,Darmstadt 1973, S. 82und 87.
66 Zur Thematisierung „des gesellschaftlichen und ideologischen Wandels im Spanien der transición“,die Carvalhos Investigationen jeweils mit sich bringen, vgl. H. Stenzel, „Manuel Vázquez Montalbán: Die Kriminalromane – Pepe Carvalho auf der Suche nach der Identität des postfranquistischen Spanien“, in D. Ingenschay/H. J. Neuschäfer (Hrsg.), Aufbrüche S. 175–184, hier S. 179.
67 Vgl. M. Vázquez Montalbán, Asesinato en el Comité Central,Barcelona 1981, S. 42f., woes zum „planteamiento del problema“ heißt: „– Parece un caso de novela inglesa“.
68 Zur ersten Dialogszene, in welcher der Leser direkte Bekanntschaft mit dem Mörder und Verräter Esparza julve macht, vgl. ebd. S. 229ff.
69 Über die detektivisch-kriminalistischen Elemente in Muñoz Molinas früheren Romanen Beatus ille (1986), El invierno en Lisboa (1987)und Beltenebros (1989)unterrichtet S. Kleinert, „Antonio Muñoz Molina: Die Begegnung von Kunst und Verbrechen“, in D. Ingenschay/H. J. Neuschäfer (Hrsg), Aufbrüche S. 153–1 S 159.
70 Der Konstellation eines solchen Kulturkontrastes zwischen Metropole und Provinz verdankt der Roman seine komischen Züge, die mitunter an ein französisches Vaudeville wie Labiches La Cagnotte erinnern.
71 Vgl. A. Muñoz Molina, Los misterios de Madrid,Barcelona 1992, S. 86ff., 98und 103ff.
72 Dieser Begriff bildet die Überschrift des vorletzten Romankapitels (S. 175).
73 Vgl. ebd. S. 82 sowie S. 90oder 139 (zur überraschenden Rekurrenz der immer wieder gleichen Romanfiguren).
74 Damit ergibt sich hier der gleiche widersprüchliche Sachverhalt, den V. Klotz in Sues Mystères de Paris beobachtet, wenn er zu deren Plot treffend konstatiert: „Wo [...] das Willkürgesetz der Intrige jäh die Menschen zusammenführt und zerstreut, haben die anders begründeten Willkürgesetze städtischer Kommunikation abgedankt. [...] Früher oder später sind all diese Asozialen, Proletarier, Aristokraten und vereinzelten Kleinbürger miteinander bekannt, wenn nicht gar verwandt – unterm Druck der Fabel“. (Die erzählte Stadt S. 127)
75 So insbesondere durch die Darstellung der (de)urbanisierenden Transformation des Quartier von Belleville. Als – letztenendes verbrecherischer – Promotor des „devenir Bellevillois“ tritt ein Architekt und Immobilienspekulant in Erscheinung, der als „archicélèbre“ gilt: „On lui doit, entre autres, la reconstruction de Brest (architecturalement parlant, le Berlin-Est français)“. (D. Pennac, La fée carabine S. 45)
76 Besonders eklatant kommt das am Ende von A ciascuno il suo zum Ausdruck, wo der Außenseiterstatus des „povero Laurana“ durch don Luigis zynisches (und unter dem Gesichtspunkt der Moral natürlich antiphrastisch zu verstehendes) Schlußwort „– Era un cretino –“ vom Konsens der Gesellschaft gleichsam besiegelt wird; vgl. L. Sciascia, A ciascuno il suo,Torino 1971 (1966), S. 134.
77 Vgl. dazu ausführlicher Verf., „Sciascias beunruhigende Kriminalromane“ S. 46ff.
78 Zum politischen wie mafiosen Opportunismus, der das Deutungsmuster des „omicidio passionale“ begünstigt, vgl. L. Sciascia, Il giorno della civetta,Torino 1972 (11961), S. 35: „L’omicidio passionale si scopre subito: ed entra dunque nell’indice attivo della polizia; l’omicidio passionale si paga poco: ed entra perciò nell’indice attivo della mafia“.
79 Vgl. L. Sciascia, Todo modo, Torino 1974, S. 12 2.
80 Zu den Positionen dieser Auseinandersetzung vgl. C. Cazalé Bérard, „Riscrittura come ironia da Pirandello a Sciascia“, in M. Picone/P. De Marchi/T. Crivelli (Hrsg.), Sciascia, scrittore europeo S. 67–92, bes. S. 72ff., und R. Dedola, „Sciascia e l’enigma: ovvero un sogno che nasce in Europa“, ebd. S. 229–245, bes. S. 235ff. Frau Dedola sieht in don Gaetano den Agenten einer tatsächlich teuflischen ,Manipulation‘ des ,Christentums‘ (vgl. ebd. S. 239), aus der sich der Ich-Erzähler – wie aus einer „tentazione totalitaria“ (ebd. S. 241) – durch einen Gewaltakt befreit.
81 Vgl. dazu Verf., „Das System und der Zufall – Zur Parodie des Detektivromans bei Jorge Luis Borges“, in E. Pfeiffer/H. Kubarth (Hrsg.), Canticum Ibericum S.382–396, bes. S. 393ff.
82 J. L. Borges, Ficciones,Buenos Aires 171973, S. 155. Dagegen hatte der Systematiker Lönnrot die Hypothese des Empirikers Treviranus mit dem Argument zurückgewiesen: „En la que usted ha improvisado, interviene copiosamente el azar“ (S. 45)
83 Vgl. H. Hudde, „Das Scheitern des Detektivs“.
84 Vgl. Literatur und Lustprinzip,Köln 1973, S. 131; zitiert nach Hudde, „Das Scheitern des Detektivs“ S. 336.
85 L. Sciascia, A ciascuno il suo S. 53.
86 Vgl. zu ihm A. Gelz, „Georges Perec, Stendhal und die Zukunft der Literatur“, in W. Asholt (Hrsg.), Intertextualität S161–170, hier S. 165ff. Auf die Gestalt der in „53 jours“entwickelten labyrinthischen Konstruktion selbst geht Gelz jedoch kaum ein, sondern widmet sich den evidenteren Intertextualitätsbeziehungen, die der Roman mit Stendhals La chartreuse de Parme unterhält.
87 Eine solche Poetik unentscheidbarer Lösungen findet sich innerhalb des Romans als ,mise en abyme‘ bereits durch die Texte des Kriminalromanautors Serval angedeutet. Dabei besteht Servals „manière de faire“, die offenkundig an die Verfahrensweise von Borges’ Herbert Quain – dem Autor des imaginären Kriminalromans The god of the labyrinth – erinnert, in Folgendem: „une fois la solution trouvée, une autre, absolument différente, est donnée en quelques lignes; c’est le fin mot de l’affaire, son rebondissement final [...], sa chute, qui laisse le lecteur, perplexe ou ravi, en face de deux hypothèses tout aussi acceptables bien que diamétralement opposées“. (G. Perec, „53 jours“,Paris 1989, S. 62£, und J. L. Borges, Ficciones S78f. ([Examen de la obra de Herbert Quain]).
88 Vgl. Verf., „Verrätselung und Ambivalenz“ S. 325ff. und S. 331f.
89 Vgl. dazu den Schluß von La muerte y la brújula in Ficciones S.158.
90 Vgl. A. Tabucchi, Il filo dell’orizzonte,Milano 1986, S. 105. Hinweise zu den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des letzten Satzes „Poi è avanzato nel buio“ gibt E. Schulze-Witzenrath, „un giallo molto sui generis.. Antonio Tabucchis Il filo dell’orizzonte“,in Italienische Studien 16 (1995), S. 177–192.
91 Zur Präsenz dieser ,Hypotexte‘ in Il pendolo di Foucault vgl. Verf., „Sam Spade im Reich des Okkulten – Umberto Ecos Il pendolo di Foucault und der Kriminalroman“, in D. Borchmeyer (Hrsg.), Poetik und Geschichte – V. Zmegač zum 60. Geburtstag, Tübingen 1989, S. 486–504, hier S. 495ff.
92 Vgl. U. Eco, Il nome della rosa S.476ff.
93 Ebd. S. 495.
94 Für sie plädiert Belbos Erzählung von jenem Moment der Wahrheit, in dem er als Halbwüchsiger mit einem lang ausgehaltenen Trompetenton die Grenzen von Raum und Zeit überwand, einem „momento in cui non c’è più rinvio, e i conti sono pari“ (U. Eco, Il pendolo S. 502).
95 Ebd. S. 507.
96 Vgl. ebd. S. 286oder 418.
97 Vgl. ebd. S. 252. Zu den praktisch-politischen Folgen dieser rezentesten Erlösungsprojekte äußert sich etwa Leonardo Sciascia, L’affaire Moro,Palermo 1978,bes. S. 132ff.
98 Deshalb hat Eco sicherlich recht, wenn er selber seinen Roman einmal als einen „testo pedagogico“ („che dice di stare attenti“) bezeichnet; vgl. S. Kleinert, „,La narrativa oggi è come una storiografia critica dell’immaginario(– Ein Gespräch mit Umberto Eco“, in Grenzgänge 1 (1994), S. 65–83,hier S. 72. In diesem oft überdeutlich artikulierten pädagogischen Engagement ist wohl eine begrüßenswerte (und durchaus modeferne) Konstanz des Willens zur Aufklärung, zugleich aber auch eine gewisse literarische Schwäche von Ecos zweitem Roman zu sehen.
99 Daher liegt es für Eco auch nahe, Hegel polemisch mit Sue zu vergleichen; vgl. Il pendolo S. 389.Noch entschiedener bezieht Eco gegen die „grandi affreschi di tipo hegeliano“ im Gespräch mit Frau Kleinert Stellung, wo er unter anderem meint: „[...] ci si accorge che paranoico era ugualmente Hegel che vedeva tutta la storia universale come un immenso romanzo cosmico, un bellissimo complotto del Geist.“ Vgl. zu diesen Äußerungen S. Kleinert, „Ein Gespräch“ S. 71 und 74.
100 Zur Eröffnung dieser Mission, welche das „problema del Punto Fijo“bzw. das „mistero delle longitudini“ betrifft, vgl. U. Eco, L’isola del giorno prima,Milano 1994, S. 173ff.
101 Vgl. dazu ebd. S. 344ff. oder 366ff.
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