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Quelle: Italienische Studien 17, 1996, S. 3–7.

IN MEMORIAM

Hans Helmut Christmann (1929–1995)

Die Trauer, welche der Tod Hans Helmut Christmanns am 21. Juli 1995 ausgelöst hat, betrifft Freunde, Kollegen und Schüler innerhalb, aber auch jenseits der Wissenschaftsdisziplin „Romanische Philologie“. Besonders intensiv ist sie von all jenen empfunden worden, die mit Christmann bei der Herausgabe unserer Zeitschrift Italienische Studien zusammengearbeitet haben. Die Zusammenarbeit begann im Jahr 1979, als es Bruno Londero, dem Gründervater dieses Periodikums, gelang, seine Schöpfung durch die Einrichtung eines zunächst vierköpfigen Redaktionskomitees zu konsolidieren. Sie endete 1992, als Christmann sich zurückzog, indem er das Resultat der langjährigen Konsolidierungsarbeit, zu der er vielleicht am meisten beigetragen hatte, für erfolgreich und nunnmehr [sic!] gesichert erklärte. Die Erklärung wurde von den übrigen Redakteuren mit zwiespältigen Gefühlen aufgenommen, in denen eine gewisse Genugtuung hinter dem Schmerz der Trennung zurücktrat. Und gewiß wäre der Schmerz noch heftiger gewesen, wenn man deutlicher geahnt hätte, daß die Motive des Rückzugs nicht allein im Erfolg der Zeitschrift lagen, sondern wohl schon zu den Indizien von todbringender Krankheit und Depression gehörten.
Die IS schulden Hans Helmut Christmann großen Dank, und daher möchte ich meinen Versuch einer (unvermeidlich partiellen) Würdigung des Wissenschaftlers wie des Kollegen mit Erinnerungen an die gemeinsame Wiener Herausgebertätigkeit beginnen. Sie bestätigte von Anfang an die Eindrücke, welche ich als Hamburger Student und wissenschaftliche Hilfskraft bereits in den späten sechziger Jahren empfangen hatte: zum einem bei der gelegentlichen Lektüre von Christmanns Schriften, die mit fesselnden Darstellungen auch dem etwas einseitig engagierten Literaten „Grundlagen und Entwicklung“ der „strukturellen Sprachwissenschaft“ verständlich machen konnten; zum anderen beim Gespräch mit den Redakteuren des Romanistischen Jahrbuchs, die nicht müde wurden, dem Examenskandidaten die Akkuratesse der Christmannschen Typoskripte als schlechthin mustergültiges Exempel zu empfehlen. Tatsächlich hatte Christmanns Selbstverpflichtung zur Akkuratesse in der Zwischenzeit noch zugenommen und sich wie durch Osmose auch auf Typoskripte oder Disketten ausgedehnt, welche er dem Redaktionskomitee bloß als Vermittler präsentierte, aber gar nicht selber verfaßt hatte. So umgab ihn die Aura unbedingter Zuverlässigkeit, welche sich im Großen wie im Kleinen bewährte und am Ende jedem Diskussionsbeitrag autoritative Geltung zu verschaffen wußte. Daneben war unverkennbar, daß Christmann ebenfalls über eine stille, doch energische Durchsetzungsfähigkeit verfügte, wie sie bei dem von ihm verkörperten Typus des Gelehrten nicht ganz selbstverständlich zu erwarten ist. Sie dürfte für die Kommissionen, an denen Christmann als Wissenschaftsorganisator etwa im Zuge der Universitätsgründungen von Augsburg, Trier oder Bayreuth partizipierte, viel Gutes bewirkt haben. Bei unseren Redaktionssitzungen hatten Christmanns Autorität und Beharrlichkeit zur Folge, daß von ihm empfohlene Typoskripte wohl auch dann nicht abgelehnt worden wären, wenn sie sich weniger akkurat und substantiell dargeboten hätten, als sie das in aller Regel taten.
Daß Christmann die Gestaltung der IS während 13 Jahren maßgeblich geprägt hat, erwies sich für die Zeitschrift als ein Glücksfall. Freilich wäre es vermessen, in dieser Tätigkeit mehr als eine Marginalie unter den Verdiensten, die Christmann zukommen, sehen zu wollen. Was ihn im Rahmen seiner Disziplin meines Erachtens zu einer einzigartigen Erscheinung machte, war vielmehr die Duplizität der wissenschaftlichen Traditionen, an denen er überaus produktiv teilhatte. Diese Duplizität, die Christmanns Oeuvre wesentlich bestimmt, läßt sich wohl am besten durch die Namen seiner hauptsächlichen Lehrer bzw. Inspiratoren kennzeichnen. Es waren das einerseits Erhard Lommatzsch, andererseits Eugen Lerch. Der erste vermittelte Christmann das Erbe der romanischen Philologie und Sprachwissenschaft im strengeren Sinn. Wie sehr Christmann diesem Erbe treu geblieben ist, zeigt die Weiterführung des Altfranzösischen Wörterbuchs nach Adolf Tobler und Erhard Lommatzsch, ein Unternehmen, dessen aus der Spannung zwischen Philologie und Sprachwissenschaft resultierende Schwierigkeiten er im übrigen sehr scharfsinnig durchdacht hat. Die Arbeit am Altfranzösischen Wörterbuch brachte als willkommenes Nebenprodukt außerdem eine Reihe von Berichten über „Neue Ausgaben alt- und mittelfranzösischer Texte“ hervor, die zunächst in den Romanischen Forschungen, später in der Zeitschrift für französische Sprache und Literatur veröffentlicht wurden. Unter dem bescheidenen Titel verbergen sich kleine Essays, welche zum Informativsten und Intelligentesten zählen, was man über die mittelalterliche Literatur Frankreichs sowie deren philologische, aber auch literarhistorische und kulturgeschichtliche Probleme zur Zeit lesen kann.
Mit dem Namen Eugen Lerchs verbindet sich dagegen die vor allem von Karl Voßler (und indirekt auch von Benedetto Croce) initiierte Reformbewegung der ‚Idealistischen Neuphilologie‘. Ihr verdankt Christmann wohl in erster Linie die disinvoltura, mit der er auch im Rahmen der Sprachwissenschaft seinen textanalytischen und literarhistorischen Neigungen nachgegangen ist. Überdies durfte die Tradition der ‚Idealistischen Neuphilologie‘ Christmann in seinem Interesse an Fragen der Sprachtheorie, ja Sprachphilosophie, und an Phänomenen der Wissenschaftsgeschichte bestärkt haben. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang neben dem 1974 publizierten und mit Recht berühmt gewordenen Buch über Idealistische Philologie und moderne Sprachwissenschaft die mehrfach ergänzten und variierten Beiträge zur Geschichte der These vom Weltbild der Sprache, die 1967 mit einer Mainzer Akademie-Veröffentlichung eingeleitet wurden. Auch den Einzug der generativen Sprachwissenschaft in die deutsche Hochschullandschaft hat Christmann aufmerksam begleitet, wobei die Rezeptionsbereitschaft allerdings bald einer eher skeptischen Zurückhaltung Platz machte. Sie wird manifest, wenn der Philologe etwa 1975 die „Generative Sprachwissenschaft in deutscher Sprache“ zunehmend kritisch unter dem Aspekt von ‚Performanz‘ und ‚Kompetenz‘ ihrer Übersetzer betrachtet.
Angesichts solcher Ernüchterung ist es sicherlich kein Zufall, daß Christmann in den achtziger Jahren mit wachsendem Engagement Themen aufgegriffen hat, welche Philologie, Sprachwissenschaft und Sprachunterricht in ihrer jeweiligen Geschichte betreffen. Als wohl kultiviertester und gedankenreichster Historiker der Neuphilologien wie der allgemeinen Sprachwissenschaft wurde Christmann damit auch einem breiteren Publikum bekannt, und in der Tat ergibt sich ein „embarras de richesse“, wenn man aus der Fülle der diesbezüglichen Schriften einige als besonders lesenswert empfehlen möchte. Sie sind ohne Ausnahme exemplarisch gelungen, da Christmann hier einen Gegenstandsbereich und eine Darstellungsform gefunden hat, in denen er seine spezifischen Fähigkeiten – die immense Belesenheit, den theoretischen Scharfsinn, die philologische Akkuratesse, nicht zuletzt auch ein beneidenswertes schriftstellerisches Talent – zur Exzellenz entwickeln konnte. Als Beispiele für viele andere mehr möchte ich lediglich die verschiedenen Studien über Ernst Robert Curtius erwähnen, etwa die 1987 publizierte Untersuchung Ernst Robert Curtius und die deutschen Romanisten, welche nachzuweisen vermag, daß die akademische Zunft auf den – wenn man so will – genialischen homme de lettres keineswegs so kritisch reagierte, wie es Richards’ Fazit von „popular acclaim, professional reserve“ behauptet hat. Schlechthin für ein Meisterwerk halte ich die kleine Monographie Frau und „Jüdin“ an der Universität: Die Romanistin Elise Richter (Wien 1865 – Theresienstadt 1943). Es ist das ein Text, in dem gerade die philologische Nüchternheit der Darstellung literarische Qualitäten gewinnt und eine Erschütterung bewirkt, welche die vorsätzlich pathetischen großen Worte, mit denen man die Geschichte des nationalsozialistischen Genozids und seiner Kulturvernichtung üblicherweise zu bewältigen sucht, sonst oft peinlich verfehlen.
Daß Christmann in seiner umfangreichsten Curtius-Studie Wert darauf legt, den gelegentlich extravaganten homme de lettres mit der akademischen Zunft der Romanisten und ihrer ‚normal science‘ zu versöhnen, mag in einem tieferen Sinn bezeichnend sein. Christmann vereinte nämlich auf ungewöhnlich intrikate Art die beiden typologischen Pole in ein- und derselben Person. Er war ein homme de lettres, dem schriftstellerische Kunstfertigkeiten zu Gebote standen, die mit jenen Curtius’ rivalisieren konnten: Bezeugt wird das von seiner Fähigkeit zur konzisen Formulierung selbst komplexer Sachverhalte auf engstem Raum, wie sie insbesondere an den schon erwähnten Berichten über Editionen alt- und mittelfranzösischer Texte gewinnbringend zu studieren ist, des weiteren auch von parodistischen oder lieber noch pastichierenden ‚Exercices de style‘, die wohl nur im privaten Freundeskreis zirkulieren durften. Gleichzeitig fühlte Christmann sich indes der romanistischen Zunft zugehörig. Sie hatte ihn durch eine brillante akademische Karriere an den Universitäten Mainz, Saarbrücken und Tübingen sowie durch (dann abgelehnte) Berufungen nach Freiburg und München ausgezeichnet, und umgekehrt war auch Christmann stets bereit, in die Zunft und überhaupt in die universitäre Gemeinschaft eine bewußte Solidarität zu investieren.
Das Gefühl solcher Solidarität brachte Christmann zum Ausdruck, indem er mannigfache Aufgaben der Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftsförderung, zumal im Rahmen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, übernahm. Es äußert sich gleichfalls in der Bescheidenheit, mit der Christmann just die prononciert zünftigen, aber außerakademisch eher unscheinbar wirkenden Textsorten kultivierte: beispielweise in zahlreichen Rezensionen, die nicht zuletzt den IS zugute kamen, oder in Beiträgen für Festschriften, in denen ich mir einen Beitrag des durchaus hoffärtigen homme de lettres Curtius nur schwer hätte vorstellen können. Mit diesen und anderen Zügen läßt Christmanns Arbeitsethos eine geradezu handwerkliche Demut erkennen, die ihn etwa von den (demgegenüber eher George nahen) Ansprüchen eines Curtius radikal unterscheidet. Wenn ich recht sehe, handelte es sich dabei um die Demut eines Gelehrten, der sein Werk im Dienst an einer großen und dauernden Institution, als welche er die deutsche Universität verstand, gleichsam aufgehoben glaubte.
Daraus folgt, daß der Niedergang dieser Institution, dem wir seit vielen Jahren mehr oder weniger hilflos beiwohnen, niemanden tiefer berühren und deprimieren mußte als eben Christmann. Wie sehr er zur Melancholie neigte, wissen wir unter anderem von Walter Jens, der im Vorwort zu der Christmann 1994 gewidmeten Festschrift Lingua et Traditio die „Depression als Gesprächsthema zwischen zwei Stigmatisierten“ erwähnt. Daß solche Melancholie auch etwas mit dem desolaten Zustand der deutschen Universität und zumal ihrer geisteswissenschaftlichen Fächer zu tun hatte, gab Christmann oft selber zu verstehen, wenn er traurig konstatierte, „daß das Deutsche seine Position als anerkannte Sprache der Wissenschaft und besonders der Philologie verloren hat“, oder wenn er – sich in die Perspektive Horst Rüdigers versetzend – „die in den 60er und 70er Jahren deutlich gewordene Abkehr des öffentlichen Interesses von der geschichtlich-philologisch bestimmten humanistischen Kultur“ zugleich diagnostizierte und bedauerte.
Vor allem über das letztere Phänomen, das inzwischen ja nicht nur die außeruniversitäre Öffentlichkeit charakterisiert, sondern die Identität der Philosophischen Fakultäten von innen auszehrt, habe ich mit Christmann nach unseren Redaktionssitzungen in diversen Wiener Cafés häufig diskutiert. Christmann neigte dazu, für viele Mißstände die neo-marxistischen Umtriebe, wie sie 1968 einsetzten, verantwortlich zu machen. Ich ließ mich mehr von Adorno leiten und vertrat die Ansicht, daß die seinerzeitigen Umtriebe so neo-marxistisch nicht gewesen seien, wie ihre Anführer beteuern mochten. Eher habe in der Studentenrevolte eine Art List der (mir unsympathischen) abräumenden Vernunft gewirkt, die das Ziel verfolgte, einen Komplex sogenannter bürgerlicher Bildung gewissermaßen aus dem Weg zu räumen, damit Universitäten wie Individuen demnächst gefügiger den Direktiven der ökonomischen und politischen Macht gehorchen könnten. Wenn ich solches – mit durchaus gespielter Selbstsicherheit – geäußert hatte, pflegte Christmann mich zunächst perplex, dann entschieden mißbilligend anzuschauen, und es dauerte nicht lange, bis die heftigste, ja erregteste Diskussion zustande gekommen war. Daß diese Diskussion seit 1995 nun nie mehr fortgesetzt werden kann, ist mir eine der traurigsten Erfahrungen des Tempus fugit geworden, zumal ich mich, was die diskutierten Thesen anbelangt, durch Christmanns – wenigstens partiell optimistischen – Widerspruch heute nur zu gerne korrigieren ließe.
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