Kriminalroman und Post-Avantgarde
Beginnen wir mit zwei Beispielen. Beim ersten ist der Schauplatz ein
Provinznest im Norden Perus, geprägt durch die Gringos der International
Petroleum Company und durch die Militärs einer peruanischen Luftwaffenbasis. Im
Jahre 1954 wird in der Nähe dieses Ortes die (besonders im Genitalbereich)
gräßlich verstümmelte Leiche eines desertierten Rekruten gefunden. Neben der
abstoßenden Grausamkeit des Mordes erregen bald noch andere Umstände Perplexität
und Neugier. So stellt sich heraus, daß der Ermordete, wenige Monate bevor er
desertierte, als Freiwilliger eingetreten war. Insbesondere erstaunt und empört
der hochfahrende Widerstand, den der Kommandant der Basis allen polizeilichen
Untersuchungen entgegensetzt, indem er auf die autonome Gerichtsbarkeit der
Armee verweist. Trotzdem gelingt es den beiden Polizisten – dem schlichten
Sergeanten Lituma, der Reflektorgestalt der Erzählung, und dem Teniente Silva,
Litumas bewundertem Vorgesetzten –, nach einigen überraschenden Peripetien,
Licht ins Dunkel zu bringen, was hier vor allem bedeutet: den Widerstand des
Kommandanten zu brechen; denn der Kommandant selber wird zum Schluß als
Auftraggeber eines Verbrechens überführt, das dem Geliebten seiner Tochter galt.
Das zweite Exempel bilden Ereignisse, die sich an sieben Novembertagen
des Jahres 1327 in einer norditalienischen Benediktinerabtei abspielen. Dort
kommt es zu einer Serie rätselhafter Morde ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als
die Abtei zum Ort von Geheimverhandlungen zwischen der Partei des Papstes und
dem oppositionellen Franziskanerorden ausersehen ist. Da alle Mordopfer in
Stellungen und Lagen gefunden werden, welche Assoziationen an die Apokalypse
vermitteln, empfängt man zunächst den Eindruck, die Folge der Untaten solle das
Nahen des Weltgerichts beschwören. Am Ende enthüllt sich den wiederum zwei
Detektiven – dem scharfsinnigen Frater William von Baskerville und seinem naiven
Sekretär Adson, dem Erzähler der Geschichte – indessen, daß die apokalyptische
Spur eine falsche Fährte, einen „red herring“ darstellte und daß die Motive des
Mörders statt dessen in der Sorge bestanden, die Welt vor einem gefährlichen
Manuskript zu bewahren: dem – wie man weiß – tatsächlich nicht überlieferten
zweiten Buch der Aristotelischen Poetik.
Insgesamt haben die beiden Romane, deren Handlung ich hier grob
umrissen habe, nur wenig miteinander zu tun. Der eine, Quién
mató a Palomino Molero?, ist das neueste, 1986 erschienene Werk von
Mario Vargas Llosa und behandelt auf eine Weise, welche zur Tradition des
klassischen Realismus zurückkehrt, das Verhältnis der politischen, sozialen und
ethnischen Kräfte in Peru. Den anderen hat gewiß jeder gleich als Umberto Ecos
1980 publizierten Bestseller Il nome della rosa
identifiziert, eine Erzählung, die ihren Welterfolg völlig zu Recht
erlangte, und sei es nur wegen des immensen Geschicks, mit dem Eco im Gewand
eines gelehrten historischen Romans aus dem Mittelalter – ganz nach
dem Sinn mittelalterlicher Allegorese übrigens – politische,
geschichtsphilosophische oder erkenntnistheoretische Figurationen der Gegenwart
durchscheinen läßt. Gemeinsam ist den sonst denkbar verschiedenen Romanen
lediglich, daß sie auffällig prononciert ein inzwischen traditionelles
Erzählmuster benutzen: das des Kriminalromans oder in unserem Fall spezieller
noch das des klassischen Detektivromans. In der Tat signalisieren sowohl Vargas
Llosa als auch Eco das ferne Modell von Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten
nicht allein durch die treffenden Problemlösungen, welche dem überlieferten
gnoseologischen Optimismus der Gattung weithin treu bleiben, sondern sogar im
Detail der detektivischen Figurenkonstellation. Wie einst Sherlock Holmes und
Watson ergeben nämlich auch Silva und Lituma oder William von Baskerville und
Adson von Melk das vertraute Paar eines stupenden „Scharfsinnshelden“ und eines
naiv bewundernden Erzählers bzw. Reflektors, was bei Eco ja bereits durch die
sprechenden Namen mit ihrer Assonanz von Adson-Watson und mit der Anspielung auf
Conan Doyles Der Hund von Baskerville unübersehbar
unterstrichen wird.
Daß Autoren vom Rang und von der Modernität Vargas Llosas und Ecos
heute Romane schreiben, die unter anderem auch als perfekte Kriminalromane, ja
als durchaus orthodoxe detective novels gelesen werden
können, scheint mir ein für die aktuelle literarhistorische Situation überaus
bezeichnendes Phänomen zu sein. Zum einen belegt es die Fortüne eines Genres,
welches von allen Gattungskonstruktionen der Massenliteratur im 19. Jahrhundert
zweifellos das populärste und folgenreichste geworden ist. Eben wegen seines
rasanten Erfolgs, der sich in der Gestalt des Erzdetektivs Sherlock Holmes
alsbald zum Mythos verdichtete, hat das Genus frühzeitig die Phantasie und die
Reflexion von Schriftstellern angeregt, deren Hauptinteressen an sich nicht
unbedingt im Bereich der Massenliteratur lagen. Man denke etwa an Bertolt
Brechts Erörterung der „Popularität des Kriminalromans“, welche die wichtige
Einsicht enthält, daß nicht zuletzt die zentrale Bedeutung der Spuren und des
Spurenlesens im Kriminalroman dem modernen Leser eine wohltuend kompensatorische
Erfahrung schenkt: „Das Leben der atomisierten Masse und des kollektivisierten
Individuums unserer Zeit verläuft spurenlos. Hier bietet der Kriminalroman
gewisse Surrogate“. Oder man erinnere sich verschiedener „philosophischer
Ansichten“ des Detektivromans, die eher lichtvoll ausfallen können, wenn Ernst
Bloch das „Detektorische“ als Analogon zur „abdeckenden, aufdeckenden
Geschichtsauffassung“ des historischen Materialismus präsentiert, oder eher
trübe, wenn Siegfried Kracauer im Detektivroman das Bild für „einen Zustand der
Gesellschaft“ erblickt, „in dem der bindungslose Intellekt seinen Endsieg
erfochten hat“. Außerdem bietet die italienische Literatur den verblüffenden
Fall eines eigentlich ingeniös esoterischen Autors wie Carlo Emilio Gadda, der
sich seit den späten zwanziger Jahren – von der Novella
seconda bis Die gräßliche Bescherung in der Via
Merulana und Die Erkenntnis des Schmerzes –mit sonderbarer Hartnäckigkeit um das Formprinzip des
Kriminalromans bemüht hat. Es sollte ihm als ein literarisches
Erkenntnisinstrument unter den Bedingungen der Modernität dienen, wobei sich
seine Konzepte – wenngleich vage – mit jenen Walter Benjamins oder
Ernst Blochs berühren; vor allem aber sollte es ihm erlauben, auf dem Weg über
das „große“ gewissermaßen mit einem Doppeltreffer zugleich das „feine Publikum“
zu erreichen: „Interessare la plebaglia per raggiungere e penetrare un’altezza
espressiva che mi faccia apprezzare dai cervelli buoni“.
Die Popularität des Kriminalromans legt die Verwendung seines
Erzählschemas in neuen Funktionen und Kontexten also seit langem aus
publikumsstrategischen Gründen nahe, und man darf annehmen, daß diese Gründe
auch für Eco und Vargas Llosa nach wie vor eine gewichtige Rolle gespielt haben.
Dazu kommt bei den Erzählern der siebziger und achtziger Jahre freilich noch ein
anderes Motiv, das von Krise und Erschöpfung der – um es paradox auszudrücken –
herkömmlichen Avantgarde abzuleiten ist. Ihr liegt zumal bei Eco, der sich
darüber in der Nachschrift zum „Namen der Rose“ auch
programmatisch geäußert hat, die Wahrnehmung zugrunde, daß die Ästhetik der
Avantgarde mit ihrem Pathos unablässiger Revolten und Brüche nicht umhin kann,
selber eine eigene Formtradition auszubilden, welche schließlich in kaum
geringerem Maße zu Automatismen und Vorhersehbarkeiten zweiten Grades führt als
das Material etablierter Formen. Mit dieser Wahrnehmung verbindet sich die
Einsicht in den geradezu zwanghaft historistischen Zug, der dem
avantgardistischen Grundkonzept beständiger Transgression anhaftet. Solange der
Autor prinzipiell zur Schaffung des seit Baudelaire geheiligten „nouveau“ und
zur Zerstörung aller Konventionen aufgerufen ist, bleibt absehbar, daß eben das
poetologisch postulierte Neue nichts Neues mehr bringt und statt dessen durch
zunehmende Restriktionen, Adornos „Kanon des Verbotenen“, die Drohung
fortschreitender Aphasie beschwört.
Natürlich ist es im Rahmen meiner Skizze unumgänglich, schematisierend
zu vereinfachen; doch möchte ich immerhin einen heuristischen Wert für den
Versuch beanspruchen, bei der Beschreibung rezenter literarischer Entwicklungen
anstelle der mißverständlichen (und in der Tat auf einem Mißverständnis des
englischen Begriffs „Post-Modernism“ basierenden) Distinktion von Moderne und
Post-Moderne jene von Avantgarde und Post-Avantgarde zu erproben. Danach gehört
zum Komplex der Avantgarde eine Literatur, welche dem Ideal des irreversiblen
Fortschritts der künstlerischen Mittel folgt und auf diesem Parcours gezwungen
ist, alles zu vernichten, was sich als abgegoltene Konvention erweist, das
heißt: aus dem Repertoire eingespielter Gattungen und Stilregister stammt. Den
größten und möglicherweise letzten Repräsentanten dieser Literatur sehe ich in
Samuel Beckett, nicht zufällig dem Schutzpatron von Adornos Ästhetischer Theorie. Den Komplex der Post-Avantgarde macht
demgegenüber eine Literatur aus, welche das Konzept des Fortschritts der
künstlerischen Mittel in Frage stellt und durch den Anspruch freier oder – mit
anderen Worten – anti-historistischer Verfügung über das gesamte historische
Material ersetzt. Soll Beckett als Leitfigur der Avantgarde gelten, läßt sich
als ebenso eindrucksvoller Repräsentant der Post-Avantgarde vielleicht Jorge
Luis Borges reklamieren. Jedenfalls formuliert sein Werk die stärksten Einwände
gegen jene Poetik der Authentizität und Einmaligkeit, auf die es
der Avantgarde ankam, und eröffnet gleichzeitig jene andere Poetik der
Post-Avantgarde, die dem Ideal der Authentizität als einer Illusion abgeschworen
hat und sich deshalb unbefangen auf die distanzierte Sichtung und
Wiederverwendung, ja auf das spielerische Pastiche der Traditionsbestände
einlassen darf.
Während die Avantgarde die Idee der Gattung selbst aufzuheben
versuchte, geht es der Post-Avantgarde folglich darum, die Gattungen nicht zu
vernichten, sondern zu gebrauchen. Zu ihren Lieblingsprojekten zählt demnach
statt der Destruktion eine Art Enzyklopädie des Erzählten wie des Erzählbaren,
des Gedachten wie des Denkbaren. Charakteristische Beispiele dafür bilden neben
Borges’ essayistischen Erzählungen und erzählerischen Essays Bücher wie Georges
Perecs im deutschen Sprachraum allzu wenig bekanntes Das Leben
– Gebrauchsanweisung oder Italo Calvinos ein Jahr vor Der Name der Rose publiziertes Wenn ein Reisender in
einer Winternacht. Dabei ist bemerkenswert, daß diese Inventare
narrativer Möglichkeiten (bei Borges wie bei Calvino) dem Kriminalroman einen
privilegierten Platz einräumen. So gibt es in Borges’ Fiktionen die Geschichte Der Tod und der Kompaß,
gleichsam den Archetyp des auf Robbe-Grillet oder Dürrenmatt
vorausweisenden Motivs vom „scheiternden Detektiv“ (Hinrich Hudde) oder –
eingelassen in das fiktive Opus des Herbert Quain – den Entwurf eines Romans in
der Manier von Ellery Queen, The God of the Labyrinth,
der den Leser, zwingt, scharfsinniger zu sein als der Romandetektiv. In
Calvinos Wenn ein Reisender benutzen neben der
Haupthandlung, die stellenweise in eine Parodie des spy novel
übergeht, wenigstens drei Episoden Elemente des Kriminalromans, der hier
freilich speziell in der Variante des Agenten- oder Gangsterromans auftritt.
Das erste und fundamentale Motiv für die erstaunliche Konjunktur des
Kriminalromans besteht also in einem neuen Interesse an den etablierten
Erzählformen. Indessen ergibt diese post-avantgardistische Tendenz genaugenommen
lediglich die Prämisse der Erscheinung, um die es mir geht. Sie betrifft
prinzipiell ja ganz verschiedene Formen (man denke etwa an den hellenistischen
Liebesroman nach dem Heliodor-Schema, den Calvinos Wenn ein
Reisender als Grundfigur benutzt) und erklärt noch nicht, weshalb unter
solchen Formen gerade der Kriminalroman eine besondere Faszination ausübt. Neben
seiner bloßen Popularität und Verbreitung muß es offenbar weitere Momente geben,
die ihn für manche Schriftsteller interessant machen, welche an sich keineswegs
die Rolle von spezialisierten Kriminalromanautoren zu übernehmen wünschen.
Zu diesen weiteren Momenten, aus denen sich die Attraktivität einer
populären Gattung auch im Bereich nicht unbedingt populärer Literatur ableitet,
ist meine Vermutung, daß die Erzählform des Kriminalromans deshalb über ihren
engeren Gattungskreis hinaus stimulierend und provozierend wirkt, weil sie stets
eine Aufklärung (als konkreten Vorgang) erzählt und
damit gleichzeitig die Aufklärung (als geschichtliche
Errungenschaft) bestätigt. Oder besser: Der Detektiv des Kriminalromans
versichert – sei’s durch seinen Scharfsinn, sei’s durch seinen arbeitsamen Fleiß
– die ständige Wiederholbarkeit eines Erkenntnis- und
Ordnungsprozesses, der – einmal historisch vollzogen – immer wieder erfolgreich
erneuert werden kann.
Auf diese Weise präsentiert sich der Kriminalroman zumal in seiner
Variante des orthodoxen detective novel vor unserem
Bewußtsein als ein Genus, dessen Spielregeln bereits apriorisch eine ausgeprägt
optimistische Weltsicht befördern. Sie manifestiert sich insbesondere in der
eigentümlichen Potenzierung des Happy-Ending, welche der Gattung spezifisch ist.
Das glückliche Ende des Detektivromans pflegt die „heile Welt“ seines Anfangs
nämlich in einem doppelten Sinn wiederherzustellen. Zum einen restituiert es die
rechte Moral gegen den Einbruch des Unmoralischen, und zwar dergestalt, daß die
Moral mit der bürgerlichen Rechtsordnung weithin problemlos übereinkommt. Zum
anderen behauptet sich im klassischen Kriminalroman aber auch die rechte
Vernunft durch oft sensationelle Pointen gegen alles Unvernünftige und Absurde.
Das potenzierte Happy-Ending des Kriminalromans bedeutet demnach
folgendes: Dank der Entlarvung des geheimnisumgebenen Verbrechers wird am Ende
der Erzählung einerseits das Böse unschädlich gemacht, andererseits – und mit
noch stärkerem Nachdruck – ein Rätsel gelöst, welches die Welt bis dahin zu
einer Erscheinung von ängstigender Sinnlosigkeit verdunkelt hatte. So
triumphiert im unwandelbar garantierten Nachvollzug von Aufklärung neben der
bürgerlichen Rechtsordnung stets zugleich die bürgerliche
Erkenntnisordnung,und dies um
so eklatanter, je paradoxer die Verfremdung vertrauter Qrdnungen vorher
zugespitzt worden war. Wie kaum eine andere Literaturform entwirft der
traditionelle Kriminalroman daher das beruhigende Bild eines harmonisch
selbstverständlichen Zusammenwirkens von Erkenntnis und Recht, Vernunft und
Moral, durch dessen Fortschritte jegliche Bosheit, Torheit und Absurdität
letztlich regelmäßig zunichte gemacht wird. Dabei ist bezeichnend, daß sich
dieser Effekt zur Stärkung eines bürgerlich aufgeklärten Bewußtseins
unverkennbar schon in jenen abenteuerlichen Romanen kundgetan hat, welche als
gothic novels oder mystery novels
im Aspekt der Erhellung von Geheimnissen dem Kriminalroman avant la lettre
nahekommen. Von Mrs. Radcliffes Die Geheimnisse von Udolpho
bis zu Wilkie Collins’ Frau in Weiß oder Emile
Gaboriaus Das Verbrechen von Orcival entwickeln diese
Erzählungen das Rätsel, das ihr Thema ausmacht, mit Vorliebe als ein Resultat
feudalaristokratischer Machinationen, in denen sich unschuldige Bürger verirren,
solange sie nicht durch die mutige Anwendung ihrer Ratio, die hier nachdrücklich
als überlegene Gegenwaffe zur Feudalgewalt empfohlen wird, Klarheit und Recht
erlangen.
Mit seinem doppelten, moralischen und erkenntnistheoretischen
HappyEnding beruhigt uns der Kriminalroman also über die fortwährende Geltung
und Wirksamkeit von Aufklärung: Kraft seiner Gattungsregeln garantiert er den
Lesern eine Welt, die sich – indem sie unerhörte Rätselproben besteht – zum
guten Ende als rationale und deshalb intelligible Ordnung enthüllen und –
wenigstens implizit – verklären muß. Eben hierin liegt nun aber das Moment, das
den Kriminalroman für ein Bewußtsein, dem die Effizienz, ja die Legitimität von
Aufklärung fragwürdig geworden sind, ebenso provozierend wie
suggestiv erscheinen läßt. In dem Maße, in dem das Erzählschema des
Kriminalromans das fortwährende Gelingen aufklärerischer Unternehmungen
suggeriert, provoziert es offenkundig Widerspruch: einen Widerspruch, der sowohl
den moralischen als auch den erkenntnistheoretischen Optimismus der von ihm
beförderten Weltsicht angreift.
Einschränkungen des vom detective novel
implizierten moralischen Optimismus sind schon verhältnismäßig früh
vorgebracht worden. Sie können sich etwa im Zweifel an der Berechtigung des
Detektivs zur Verfolgung und zur Strafe äußern: man denke z. B. an das Nachspiel
von Dorothy L. Sayers letztem Kriminalroman Lord Peters
Hochzeitsfahrt. Häufiger noch sind Konstellationen, in denen das
Verbrechen als Rätsel zwar richtig gelöst, nicht aber als Schuld auch richtig
gesühnt wird. In solchen Konstellationen, für die als Beispiele Chandlers Das hohe Fenster oder Simenons Maigret
und der Fall Josset zu nennen wären, soll der Blick des Lesers auf
einen skandalösen Gegensatz fallen, der sich zwischen dem Gesetz und den
gesellschaftlichen Machtverhältnissen auftut. Er drängt sich besonders dann in
den Vordergrund, wenn der Kriminalroman eine Welt schildert, in der das
Verbrechen nicht als einzigartige Ausnahme die Regel friedlicher Alltäglichkeit
durchbricht, sondern immer schon zur Normalität des Lebens gehört.
Eine solche Welt ersteht im Gegensatz zu den Villen, Pfarrhäusern und
Bibliotheken des klassischen britischen Detektivromans beispielsweise durch die
Wende, welche die Gattung in den amerikanischen Kriminalromanen Dashiell
Hammetts und später Raymond Chandlers nimmt. Freilich haben sowohl Hammett als
auch Chandler trotz aller Modifikationen des traditionellen Erzählschemas über
weite Strecken noch an dem optimistischen Apriori seines Happy-Ending
festgehalten. So verfolgt Philip Marlowe die Fälle, mit denen er konfrontiert
wird, in einer Haltung märchenhafter Integrität, deren Motivation in einer
Umwelt, die das Verbrechen zum System erhoben hat, eigentlich kaum plausibel zu
erklären ist. Außerdem bewahren Chandlers wie Hammetts Romane die Konvention des
„surprise ending“, was zur Folge hat, daß die entscheidenden Verbrechen nie nach
den Regeln der Wahrscheinlichkeit auf die organisierte Kriminalität des
Romanvordergrunds zurückgehen dürfen, sondern mit Pointen von überraschender
Unwahrscheinlichkeit am Ende den verborgenen und gleichsam altmodischen
Leidenschaften des Romanhintergrunds zugeschrieben werden.
Als eine erzählerische Kritik eben dieser Widersprüche bei Hammett und
Chandler lassen sich einige Romane des Sizilianers Leonardo Sciascia lesen, vor
allem Der Tag der Eule, Tote auf
Bestellung und Tote Richter reden nicht, die in
dem Band Das Gesetz des Schweigens gesammelt sind. Wie
bei den Amerikanern die „Ordnung“ des Romanbeginns aus einem bereits kriminellen
System der „gangs“ und „rackets“ besteht, so ist es bei Sciascia das gleichfalls
kriminelle System der Mafia, welches die Gesellschaft einigermaßen im
Gleichgewicht hält, solange es nicht durch innere Kräfteverschiebungen abrupt
gestört wird. Anders als Hammett und Chandler zieht Sciascia aus den
Verhältnissen, die seine Romanwelt voraussetzt, indessen die logische oder
besser: die systemkonforme Konsequenz. Wenn das organisierte Verbrechen in die normale gesellschaftliche Ordnung integriert ist, kann auch die
Rückkehr zur Ordnung am Romanende nur eine Rückkehr zum Verbrechen sein. Für den
Detektiv folgt daraus eine neue und essentiell tragische Rolle; denn seine
Aufklärungsarbeit steht jetzt nicht mehr im Dienst der Ordnung, sondern erweist
sich als deren fatalste Störung. Zwar mag sie noch die richtigen Spuren finden
und die Wege freilegen, die von der Peripherie ins Zentrum des Systems führen;
doch wird sie von keiner Instanz mehr fortgesetzt oder gar belohnt. Hat die
Aufklärung das Zentrum des Systems erreicht, weiß sich das System vielmehr zu
wehren und den Detektiv als Außenseiter und radikalen Störenfried zu
eliminieren. So macht in Der Tag der Eule Capitano
Bellodi wohl sichtbar, wie die Verkettung der Mafia vom Killer Diego Marchica
über den Bauunternehmer Pizzuco und den Boss Don Mariano Arena bis zum
Abgeordneten Livigni und zur „Eccellenza“, dem Minister Mancuso, reicht; dann
sorgt aber gerade der Umfang dieser Verkettung dafür, daß ihre unerwünschte
Detektion negative Folgen nicht für die Entdeckten, sondern umgekehrt für den
Entdecker zeitigt.
Im Tag der Eule verliert der Detektiv jede
Kontrolle über die juristische Auswertung seiner Rekonstruktionen, und die
beiden anderen Bücher enden sogar mit der Ermordung der Detektive. Dabei
korrigieren diese Romane Sciascias die Tradition der Kriminalromane Hammetts und
Chandlers nicht allein, indem sie dem Detektiv das Privileg des Erfolgs und der
Unsterblichkeit nehmen, sondern mehr noch durch die spezifische
Motivkonstellation, in der sie den Detektiv jeweils scheitern lassen. Was bei
Hammett und Chandler das „surprise ending“ ausmachte, die Entdeckung einer
Hintergrundswelt verborgener erotischer Leidenschaften jenseits des
Romanvordergrunds der organisierten Kriminalität, wiederholt sich bei Sciascia
nämlich mit einer bedeutenden Modifikation. Wie in den amerikanischen Romanen
wird auch hier bei der Zuschreibung des zentralen Mordfalls ein Motivations- und
Interpretationswechsel vom organisierten zum privaten Verbrechen vollzogen; doch
ereignet er sich jetzt nicht mehr in der ideal endgültigen Erkenntnis des
Detektivs, sondern wird gegen dessen Erkenntnis durch eine Manipulation der
etablierten Macht erpreßt, welche die Existenz einer Mafia leugnet und den
zentralen Mordfall statt dessen aus den Leidenschafts- und Ehrenmotiven der
sizilianischen Folklore, das heißt: als „omicidio passionale“ und als „questione
di corna“, erklärt. Was früher zu den Manipulationen des kriminalistischen
Gattungskanons gehörte, wird von Sciascia demnach als tatsächliche Manipulation
in das Innere der Romanwirklichkeit übertragen, so daß sich mit der Anklage
eines mafiosen politischen Zustands die ideologische Entlarvung eines romanesken
Ablenkungsmanövers verbindet.
Liest man nach den bislang erwähnten Kriminalromanen Sciascias nun noch
den 1974 veröffentlichten Roman Todo modo,zeigt sich, daß nicht nur der moralische Optimismus der
Gattung den Widerspruch des sizilianischen Romanciers provoziert hat, sondern
endlich auch das gnoseologische Happy-Ending, das für die Gattung seit Anbeginn
als konstitutiv galt. Dem erkenntnistheoretischen (neben dem moralischen)
Optimismus der Gattungsüberlieferung widerspricht hier eine merkwürdig opak
bleibende Handlungsfolge, in welcher der detektivische Ich-Erzähler
das Motiv der Morde lediglich in vagen Andeutungen zu explizieren vermag und
sich zum Schluß selber einen Mord zuschreibt, ohne daß dem Leser eindeutig klar
würde, ob er dies Geständnis ernst nehmen darf oder als eine weitere – ironische
oder symbolische – Mystifikation auffassen soll. Mit solcher Verweigerung
detektivischer Erkenntnis ist Sciascias Todo modo indes
keineswegss völlig originell, sondern partizipiert an einem inzwischen
verbreiteten Motiv moderner Erzählliteratur. Insofern als das Genus des
Kriminalromans gemeinhin die Apotheose eines aufklärerischen Logos betreibt, muß
es Autoren, die den Erfolg der Aufklärung kontestieren oder auch nur in Frage
stellen möchten, reizen, siegessichere Rationalität eben dort zum Scheitern zu
bringen, wo der literarische Gattungskontext ihr einen leichten Triumph zu
garantieren scheint. Derart gibt es seit langem Erzählungen und Romane, welche
sich am Kriminalroman gewissermaßen oppositionell inspirieren, indem sie eine
Geschichte von Verbrechen, die der Kriminalroman durch den Eingriff
problemlösender Detektion zu beenden pflegt, ohne Lösung im Status des Zweifels,
der Unsicherheit und der Erkenntnisverweigerung belassen.
Dabei hat die anti-detektivische Gattungsopposition eine Reihe
verschiedenartiger Varianten entwickelt. Eine davon besteht darin, daß der
Detektiv die Wirklichkeit mit den Konventionen des Genus verwechselt, deren sich
der Verbrecher bedient, um seinen Verfolger in eine tödliche Falle zu locken: es
ist das die Geschichte des Duells zwischen dem Detektiv Erik Lönnrot und dem
Gangster Red Scharlach, die Borges in Der Kompaß und der Tod
erzählt. In einer anderen Variante, dem Roman Ein Tag
zuviel von Alain Robbe-Grillet, begeht der Detektiv Wallas nichtsahnend
jenen Mord, den er vermeintlich aufzuklären sucht, und vollzieht so den Mythos
des Ödipus nach, statt den Logos (oder den Mythos?) der Aufklärung zu
zelebrieren. Bei Friedrich Dürrenmatt, dem Leonardo Sciascia mit einem
desillusionierenden Kommentar in Tote auf Bestellung
zuzustimmenscheint, geht es um den Zufall, die
unüberwindliche Kontingenz, an welcher der detektivische „esprit de géométrie“
und damit jede rationale Planung zuschanden werden. In Thomas Pynchons Die Versteigerung von No. 49 ist die Protagonistin Oedipa
Maas zu ihren Nachforschungen aufgebrochen so „optimistisch wie ein
Privatdetektiv in einem uralten Hörspiel“; doch je mehr sie erforscht, um so
tiefer gerät sie in ein todesträchtiges Labyrinth, über das am Ende nicht einmal
entschieden werden kann, ob es aus dem Einbruch einer fremden Welt (man denke an
Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius),einer raffinierten Mystifikation oder den eigenen Halluzinationen
erwächst.
Besonders kunstvoll kalkuliert wirkt der Umgang mit detektivischen
Gattungselementen in manchen Romanen Vargas Llosas, die noch nicht wie Quién mató a Palomino Molero? direkt und umstandslos
Kriminalromane sind: etwa in Die Stadt und die Hunde oder
vor allem in Gespräch in der Kathedrale, dem gewiß
ehrgeizigsten und aufwendigsten Erzählwerk des peruanischen Romanciers. Der
letztgenannte Roman ist einerseits ein breitangelegtes zeitgeschichtliches
Fresko, das anhand einer Vielzahl ingeniös miteinander verknüpfter
Einzelschicksale die Zeit der Diktatur des Generals Odria (1948–1956) wiedererstehen läßt: dabei knüpft der Roman durch seine
melodramatischen Verwicklungen ebenso deutlich an Sues Die
Geheimnisse von Paris an wie durch die desillusionierende Geschichte
seines Protagonisten Santiago Zavala an Flauberts L’Éducation
sentimentale. Andererseits entwickelt sich der Roman aber spätestens
von seinem dritten Teil, also ungefähr von der Hälfte an auch als ein
Kriminalroman. Hortensia, genannt „La Musa“, die langjährige Mätresse des
starken Mannes im Odria-Regime, ist grausam erdolcht worden, und bald wird sich,
herausstellen, daß die verschiedensten Romangestalten durch diesen Mordfall
berührt und bewegt werden. Mehr als alle anderen versetzt er den Protagonisten
in Aufregung, da offenbar wird, daß sein Vater in die Affäre verwickelt ist und
zum Täter, dem Chauffeur des Hauses Zavala, ein homosexuelles Verhältnis
unterhält. Wie intensiv der Vater verwickelt ist und aus welchem Motiv der
Chauffeur den Mord begangen hat, bleibt für den Leser jedoch zumindest bei einer
ersten Lektüre im dunkeln, falls er sich nicht erinnert, daß im ersten und
zweiten Teil des Romans, als von der Kriminalaffäre noch nicht die Rede war,
merkwürdig zusammenhanglose Dialogfetzen vorkamen, die eben den erst viel später
erzählten Mord umkreisten. So wird der Leser durch die Erzählstruktur gezwungen,
den Roman ein zweites Mal – und nun selbst als Detektiv – zu lesen, um zur
(freilich nach wie vor bloß approximativen) Klärung des Falls Indizien zu
sammeln, deren Bedeutung und Funktion ihm bei der ersten Lektüre irritierend
undurchsichtig erscheinen mußten.
Von allen Romanen, die zuletzt erwähnt und charakterisiert wurden,
unterscheidet sich indes Ecos Der Name der Rose. Wenn die
Anti-Detektivromane Aufklärung in Frage stellen, indem sie eine Detektion
wirkungslos lassen, sie zum Scheitern bringen oder an den Leser delegieren, dann
bietet Ecos Roman ein völlig anderes Bild. Dort gibt es ja durchaus einen
tüchtigen Detektiv, der wohl – wie es das Genre will – eine Weile im dunkeln
tappt und falschen Fährten folgt, am Ende jedoch zur richtigen Erkenntnis
gelangt, den diabolischen Täter identifiziert und auch mithilft, dessen düsteren
Fanatismus unschädlich zu machen. Genaugenommen ereignet sich bei Eco also
gattungsgeschichtlich nichts Neues, sieht man einmal ab von der ungewöhnlichen
Kombination des Kriminalromans mit dem historischen Roman oder dem conte philosophique, und wenn der Komparatist Stefano
Tani in der Studie The Doomed Detective Ecos Roman neben
Sciascias Tote auf Bestellung der Kategorie „Innovative
Anti-Detective Novel“ zuordnet, so ist er dort literarhistorisch eigentlich
nicht recht am Platze.
In der Tat liegt die gattungsgeschichtliche Originalität des Ecoschen
Romans gerade nicht in der Innovation als einem manifesten Bruch mit den
traditionellen Gattungsschemata, sondern eher umgekehrt in der überraschenden
Rückkehr zur Tradition – fast möchte man sagen – der Sherlock-Holmes-Erzählungen
Conan Doyles. Dabei stellt dieser Traditionalismus – aus der Perspektive eines
anderen literarhistorischen Kontextes gesehen – natürlich auch wieder eine
Innovation in zweiter Potenz dar; denn von Eco, dem Semiotiker und dem
theoretischen Sympathisanten des neo-avantgardistischen „Gruppo 63“, konnte das
Publikum 1980 zwar einen parodistisch verfremdeten
Anti-Detektivroman, auf keinen Fall aber einen Detektivroman tout court erwarten. Läßt man solche rezeptionsästhetischen Erwägungen
aus dem Spiel, zeigt die Gattungsorthodoxie von Der Name der
Rose indessen noch einen weiteren Begründungsaspekt, der mit der
Allegorie von Aufklärung zusammenhängt, die – beabsichtigt oder unbeabsichtigt –
aus jedem Kriminalroman spricht. Eco kehrt in seinem Roman nämlich auch deshalb
zur gelungenen Detektion zurück, weil es ihm in einer Zeit, welche immer
häufiger die Dialektik, die Infamie oder die Ohnmacht von Aufklärung beklagt,
eben um den pointierten Versuch geht, Aufklärung zu rehabilitieren. So muß in
Der Name der Rose als Kriminalroman eine Aufklärung gelingen, damit in dem conte
philosophique, den der Roman gleichfalls entwickelt, auch die Aufklärung gerettet werden kann. Die Rettung der
Aufklärung als eines Entwurfs menschlicher Geschichte: das ist die Thematik des
Gesprächs zwischen William und Jorge, bei dem Jorge die Furcht verteidigt,
während William als Anwalt des Lachens auftritt, mit Argumenten, die er
unverkennbar (und anachronistischerweise) Michail Bachtin verdankt. Und als
Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis möchte William die
Aufklärung bewahren, wie er seinem Schüler Adson den Gang seiner Entdeckungen
resümiert, wobei ebenso unverkennbar (und anachronistisch) Karl Popper Pate
gestanden hat. Zunächst klingt das leicht resignativ, wenn William meint: „Wo
ist da meine ganze Klugheit? Ich bin wie ein Besessener hinter einem Anschein
von Ordnung hergelaufen, während ich doch hätte wissen müssen, daß es in der
Welt keine Ordnung gibt.“ Darauf wendet Adson ermutigend ein: „Aber indem Ihr
Euch falsche Ordnungen vorgestellt habt, habt Ihr schließlich etwas gefunden“,
und nun kann William, solcherart ermutigt, die entscheidenden Worte sprechen:
„Da hast du etwas sehr Schönes gesagt, Adson, ich danke dir. Die Ordnung, die
unser Geist sich vorstellt, ist wie ein Netz oder eine Leiter, die er sich
zusammenbastelt, um irgendwo hinaufzugelangen. Aber wenn er dann hinaufgelangt
ist, muß er sie wegwerfen, denn es zeigt sich, daß sie zwar nützlich, aber
unsinnig war. ›Er muoz gelîchesame die leiter abewerfen, sô er
an ir ufgestigen‹“.Offensichtlich halten Ecos
Detektive in einer apokalyptischen Umgebung am alten Aufklärungsoptimismus fest,
und so darf sich auch ihr Autor erlauben, auf nunmehr exzentrische Art die alte
Erzählform zu übernehmen, die dem Streben nach Aufklärung und Detektion einst
den prägnantesten Ausdruck verliehen hatte.