Wie wir nicht zuletzt aus Hans Hinterhäusers Studien wissen, ist das
europäische Fin-de-Siècle eine Epoche der Renaissance von Mythen. In ihr kreuzen
sich mannigfaltige Versuche, die – nach Maurice Barrès – „toten oder fernen
Götter“ „wiederzuerwecken und ins zeitgenössische Leben zurückzuholen“
[1]
. Neben solcher Beschwörung gottähnlicher Gestalten, der heidnischen
Kentauren wie der „Doppelgänger Christi“, entstehen jedoch auch bestimmte
Denkfiguren, welche kaum anders als mythisch zu nennen sind. Deren wesentliche,
da im höchsten Maß epochenspezifische, bildet wohl die Exaltation des Begriffs
und des Wertes „Leben“. Sie setzt voraus, daß Leben für die Epoche nicht mehr
als etwas schlechterdings Gegebenes gilt, sondern als ein Phänomen, das von den
Funktions- und Wissenssystemen der Moderne zunehmend ausgegliedert, ja reduziert
wird. Marginal und prekär geworden, scheint es sich gegen die verschiedensten
Widersacher wehren zu müssen: gegen den Geist wie die Moral, gegen die Kunst wie
die Kultur und vor allem gegen deren erdrückendsten Aspekt, die unentrinnbare
Last des Vergangenen.
Von dieser Denkfigur einer Opposition zwischen dem im Stadium seiner
Gefährdung doppelt inständig beschworenen Leben und seinen vielen kulturellen
Widersachern ist bekanntlich ein großer Teil der Fin-de-Siècle-Literatur
geprägt. Sie drückt sich in zahlreichen Varianten aus: etwa im Postulat der Tat,
das durch ein handlungshemmendes Bewußtsein behindert wird; im Gegensatz des
„Bürgers“, der lebt, und des „Künstlers“, der das Leben betrachtet; in der
Antithese von lebensfördernder sozialer Bindung und lebensmindernder
individualanarchistischer Gesellschaftszersetzung. Dabei ist die
Faszinationskraft, die solche und ähnliche Figuren mythischen Denkens
entwickeln, auch an dem Umstand zu ermessen, daß sie nicht nur einzelne Texte
durchziehen, sondern oft den Entwurf ganzer Lebenswerke bestimmen. Man denke
beispielsweise an das Opus Thomas Manns, das nie abläßt, ein – wie es heißt –
„bürgerliches“ Pathos des „Seins“ gegen das Geistespathos der Künstler und
Artisten auszuspielen, oder mehr noch an Hugo von Hofmannsthals Thematik der
Suche nach dem Leben; das heißt mit Hofmannsthals eigenen Worten: nach dem Weg
aus einem „glorreichen, aber gefährlichen Zustand“ der „Praeexistenz“ zur
„Existenz“, zum „Tun“ und zum „Sozialen“
[2]
.
Die folgenden Anmerkungen betreffen das zweite Beispiel, weil es häufig
in einer Perspektive gesehen wird, welche meines Erachtens literatur- wie
ideologiegeschichtlich irreführend wirkt. In ihr erscheint Hofmannsthal als Erbe
und zugleich Überwinder jenes „europäischen Ästhetizismus“, der nach
germanistischer Übereinkunft „erst im deutschen Bereich“ „zum moralischen
Problem“ wurde
[3]
. So gilt die „Absage an den totalen Ästhetizismus“ oft als besonderes (und
epochal bedeutsames) Verdienst des „siebzehnjährige(n) Loris“: „Indem er [...]
mit dem Ästhetizismus der bürgerlichen Spätzeit Ernst macht, gelingt es ihm als
‚Spezialist für ästhetische Produktion‘, über den Ästhetizismus hinauszugehen
oder doch hinauszudrängen; er stellt ihn in Frage, indem er ihn konsequent
thematisiert“
[4]
. In Wahrheit aber ist gerade diese ideologische Grundfigur in den Texten
des jungen Hofmannsthal wohl am wenigsten individuell zurechenbar; denn eben die
Kritik am Fin-de-Siècle, das „Hinausgehen“ oder „Hinausdrängen“ über den
Ästhetizismus im Namen des Lebens und der gesellschaftlichen Bindungen lag für
Hofmannsthal bereits als eine Haltung vor, die ihrerseits literarische Prägnanz
besaß. Sie hatte die eindrucksvollsten Argumente und Formulierungen in Paul
Bourgets
Essais de psychologie contemporaine gefunden,
und in der Tat läßt sich Bourget als Hofmannsthals (noch über Nietzsche, Barrès
oder D’Annunzio hinaus) entscheidender Maître-à-penser nachweisen, nicht was das
Ästhetentum, wohl aber, was den moralischen Einspruch gegen die ästhetisierende
Distanz zum Leben betrifft. Jedenfalls kenne ich im Bereich der
Fin-de-Siècle-Literatur kaum einen anderen Fall ähnlicher Nähe zwischen den
Mythen beziehungsweise Ideologemen zweier Autoren, die verschiedenen
Nationalliteraturen angehören. Da das genaue Maß solcher Nähe weithin unbekannt
oder verdrängt zu sein scheint
[5]
, möchte ich sie zunächst anhand einiger signifikanter Einzelheiten aus
Hofmannsthals früher Prosa umreißen, in der Hoffnung, daß dann vor dem
Repertoire der Gemeinsamkeiten auch präziser zu zeigen ist, was angesichts der
übernommenen und genial „anempfundenen“ Denkfiguren den eigenen Ton des jungen
Wiener „Dilettanten“ und Dilettantismus-Kritikers ausmacht.
I.
Das bloße Faktum der Präsenz Bourgets in Loris’ Essays festzustellen,
bedarf keiner Anstrengung: es ist aufgrund der Essay-Thematik sowie häufiger
namentlicher Referenzen evident. Bezeichnenderweise gehört zu Hofmannsthals
frühesten publizistischen Versuchen eine Besprechung der
Physiologie de l’Amour moderne, und im ersten D’Annunzio-Aufsatz wird
Le Disciple erwähnt, nicht ganz korrekt übrigens als
die „Monographie eines Mörders (!), der ein experimentierender Psychologe ist“
(S. 149)
[6]
. Indessen manifestieren sich Bourgets Wirkungen nicht allein durch solche
expliziten Hinweise. Das Werk, das Hofmannsthal am sorgfältigsten studiert hat,
wird nämlich kaum einmal direkt genannt, obgleich schon der Essay über Bahrs
Die Mutter klar macht, daß sein Verfasser Literatur und
Leben gleichermaßen aus der Perspektive der
Essais de
psychologie contemporaine wahrnimmt. Auf jeden Fall haben sie ihm den
Kanon dessen vermittelt, was in diesem Aufsatz als Inbegriff der französischen
Moderne erscheint: der „Baudelairismus“, der „kosmopolitische Physiolog
Stendhal“, ein „verwirrendes Disparitätenkabinett“ wie das Künstlerhaus der
Goncourt oder ein „vornehm parteiloser Religionskritiker wie Ernest Renan“ (vgl.
S. 17f.). Dazu kommen wenig später – unter dem Einfluß der Bourgetschen
Würdigung von
Sous l’œil des barbares – Maurice Barrès
und vor allem – in einer Darstellung, welche durch die Identität zahlreicher
Zitate und Argumente das Plagiat streift – Amiels „Tagebuch eines
Willenskranken“.
Noch größeres Gewicht besitzt unter den Bourget-Anleihen des Aufsatzes
über Bahrs
Mutter die Übernahme zweier Zentralbegriffe
der
Essais: des „Kosmopolitismus“
[7]
und des „Dilettantismus“. Um deren Sinn und Funktion genauer zu verstehen,
müssen wir etwas weiter ausholen und uns Bourgets Hauptthesen oder auch
Hauptobsessionen vergegenwärtigen. Sie laufen hinaus auf eine ebenso konsequente
wie reaktionär-einseitige Kritik an der Moderne, die als lebensgefährdender
Verlust der Einheit erfahren wird. An die Stelle ‚gesunder‘ „unité“ ist nach
Bourgets Beobachtungen das Phänomen ‚krankhafter‘ ,,multiplicité“ getreten,
welches sich in verschiedenen Bereichen diagnostizieren läßt. Einer dieser
Bereiche liegt im Ich des Subjekts selbst, das die psychologische Analyse eines
Taine in eine „série de petits faits qui sont des phénomènes de conscience“
aufzulösen droht, so wie sie die Natur in eine „série parallèle de petits faits
qui sont des phénomènes de mouvement“ zerlegt
[8]
. Einen anderen Bereich stellt das Leben der Familie, der Gesellschaft und
der Nation dar. In ihm stößt die Einheit traditioneller Lebensformen auf die
Verlockungen jener Multiplizität, die sich einerseits – eher synchron gesehen –
als „Kosmopolitismus“, andererseits – unter mehr diachronem Aspekt betrachtet –
als „Dilettantismus“ erklärt. Während die soziale „Krankheit“ des
Kosmopolitismus in erster Linie an den Beispielen Stendhals und Turgenjews
erläutert wird, tritt als Symbolfigur des Dilettantismus in einer Passage, die
zu den wirkungsmächtigsten jeglicher Modernitätskritik zählt, Ernest Renan auf.
In der Gestalt Renans verkörpert sich für Bourget die höchste
intellektuelle und moralische Gefährdung des gesellschaftlichen Lebens, welche
aus den spezifischen Bedingungen spätzeitlich aufgeklärter Kultur erwächst.
„Dilettantisme“ meint hier einen Komplex, der im deutsche [sic!] Sprachraum
gewöhnlich unter dem Begriff „Historismus“ verstanden wird, wobei der
französische Terminus an diesem Komplex vor allem die Neigung zur universalen
Relativierung hervorhebt. Es ist die Tendenz des Religions-, Kunst- oder
Literarhistorikers, alle Texte, Werke oder Überzeugungen der Vergangenheit und
Gegenwart mit der gleichen skeptischen Übereinkunft von Sympathie und Distanz zu
betrachten, ohne sich ihnen je gläubig engagiert hinzugeben; das heißt: „C’est
beaucoup moins une doctrine qu’une disposition de l’esprit, très intelligente à
la fois et très voluptueuse, qui nous incline tour à tour vers les formes
diverses de la vie et nous conduit à nous prêter à toutes ces formes sans nous
donner à aucune“
[9]
. Eine solche Neigung („une science délicate de la métamorphose
intellectuelle et sentimentale“) gilt als Errungenschaft, doch mehr noch als
Stigma von Spätzeiten, in denen die zweifelhafte Lust am „Verstehen“ die Kraft
zur „Schöpfung“ ersetzt: „Sur le tard seulement de la vie des races et quand
l’extrême civilisation a peu à peu aboli la faculté de créer, pour y substituer
celle de comprendre, le dilettantisme révèle sa poésie, dont le plus moderne des
anciens, Virgile, aurait eu comme un pressentiment, s’il a vraiment laissé
tomber cette parole que le scoliaste nous a transmise: ,On se lasse de tout,
excepté de comprendre...‘“
[10]
Dabei wird Bourget nicht müde, das gefährlich Lustvolle dieser Haltung
des „détachement sympathique à l’égard des objets de la passion humaine“ zu
betonen: „il y faut un scepticisme raffiné à la fois et systematique, avec un
art de transformer ce scepticisme en instrument de jouissance“
[11]
. Gefährlich ist die hermeneutische Lust, weil sie jede „Affirmation“
zersetzt und damit den „pacte social“ und die „conscience morale d’un pays“
unterminiert
[12]
. Jedenfalls vereitelt das Bewußtsein einer Multiplizität historisch
jeweils legitimer Standpunkte im Falle Renans die (politisch unverzichtbare)
Entschlossenheit zur Formulierung eines allein gültigen Standpunktes: „La
légitimité de beaucoup de points de vue contradictoires l’obsède au moment de se
mettre à son point de vue propre, et cette obsession l’empêche de prendre cette
position de combat qui nous paraît la seule manière d’affirmer la vérité, à
nous, les disciples du dogmatisme plus simple d’autrefois“
[13]
. Derart folgt aus der „incapacité d’affirmer“ die noch bedrohlichere
„incapacité de vouloir“, und die Lust des Dilettantismus wird fatal in dem
wortwörtlichen Sinne, daß sie Individuum wie Gesellschaft vom „Leben“ der
Affirmation in den „Tod“ der Ungewissheit führt: „Il me semble que l’humanité
répugne profondément au dilettantisme [...], sans doute parce que l’humanité
comprend d’instinct qu’elle vit de l’affirmation et qu’elle mourrait de
l’incertitude“
[14]
.
Nun kann wohl kein Zweifel bestehen, daß die Lektüre eben dieses
Abschnitts für Hofmannsthal die wesentliche geistige Erfahrung seines Lebens
dargestellt hat. Sie vermittelte ihm indirekt das Postulat nach „Naivetät,
ingénuité, simplicitas, [...] Einfachheit, Einheit der Seele im Gegensatz zur
Zweiseelenkrankheit“ (vgl. S. 10) und offenbarte ihm zugleich explizit einen
gewissermaßen geschichtsphilosophischen Begriff für das, was er spontan als
Problematik der eigenen Begabung und Existenz ansehen mochte: den
„Dilettantismus“, „das Anempfindungsvermögen“, welches die spätzeitliche
Entartung und „Krankheit des Empfindungsvermögens“ sei (vgl. S. 17). Wie Bourget
sieht Hofmannsthal bereits das späte Altertum von solchem
„Anempfindungsvermögen“ besessen: „Als das Altertum seine große romantische
Periode hatte, als der Hellenismus der Diadochenzeit mit dem cäsarischen
Universalismus Roms zu einem formlosen Meer von Kulturelementen zusammenrann
[...], da dilettierte man auch auf allen Gebieten, freute sich, die Resultate
tausendjähriger Kulturarbeit in sich aufzunehmen, und spielte dasselbe
gefährliche Spiel mit seiner Elastizität, wie wir es spielen“ (S. 17). Dies
erneute Spiel mit den Ergebnissen „tausendjähriger Kulturarbeit“, der
„Überreichtum“ (S. 31) des ästhetisch und philosophisch Verfügbaren, führt zu
dem Paradox, daß „wir keine Gesellschaft und kein Gespräch, wie wir keinen Stil
und keine Kultur haben“ (S. 19). Es entsteht eine Stillosigkeit aus der
Hypertrophie der Stile, die Bourget – auch für Hofmannsthal exemplarisch – am
Mobiliar (man denke an den „Triumph der Möbelpoesie“ im ersten
D’Annunzio-Aufsatz) und an der Konversation aufzeigt: „Pour mieux saisir comment
le dilettantisme [...] est en effet la tentation constante de cette époque et à
quel point elle porte ce péché dans le sang, considérez les mœurs et la société,
l’ameublement et la conversation. Tout ici n’est-il pas multiple?“
[15]
. Worauf nach der Schilderung eines Pariser Salons, der die Vielfalt eines
Museums besitzt, und eines Pariser Gesprächs, das jeden „gemeinsamen Glauben“
vermissen läßt, die rhetorische Frage erfolgt: „Dites maintenant s’il est
possible de se conserver une unité de sentiments dans cette atmosphère chargée
d’électricités contraires, où les renseignements multiples et circonstanciés
voltigent comme une population d’invisibles atomes? Respirer à Paris, c’est
boire ces atomes, c’est devenir critique, c’est faire son éducation de
dilettante“
[16]
.
Wie sehr diese tatsächlich suggestive Beschreibung der heillosen
Multiplizität des „Dilettantisme“ dem jungen Hofmannsthal zur Obsession wurde,
verrät im übrigen der Umstand, daß seine Essays sogar die gleichen symbolischen
Repräsentanten der Zeitkrankheit vorführen wie jene Bourgets. So nennt der
Bahr-Aufsatz nicht nur Baudelaire, Stendhal, Goncourt und Renan, sondern in
demselben Sinn den „kosmopolitische(n) Kaiser Hadrian“ (S. 17), der schon bei
Bourget den Prototyp des Römers der Décadence abgab: „Le Romain érudit et fin,
curieux et désabusé, tel que nous connaissons l’empereur Hadrien, par exemple,
le César amateur de Tibur“
[17]
. Eine ähnliche Rolle spielt bei Hofmannsthal Nero, „der gekrönte
Schutzpatron des Dilettantismus“ (S. 45), der den „sensitive(n) Dilettanten“
überraschenderweise selbst in einer Studie über
Die Menschen
in Ibsens Dramen darstellen muß; denn „die Erziehung des Nero“ („jenes
wirklichen und höchst lebendigen Nero, den Renan aus den Details des Petronius,
des Sueton und der Apokalypse zusammengestellt hat“) „in dem rhetorischen
Seminar des affektierten Seneca, des Virtuosen der Anempfindung, hat mit der
unsrigen viel Verwandtschaft“ (vgl. S. 92f.). Und auch hier liegt wiederum eine
Anregung Bourgets zugrunde, bei der sich ebenfalls Nero, Petronius und Renan
unter dem Zeichen eines „proteischen“ Dilettantismus vereint finden
[18]
. Dazu mag noch die Konfrontation des pessimistisch lebensunfähigen
Hamlet und des optimistisch lebenstüchtigen
Wilhelm Meister erwähnt werden, die Bourget etwa im
Turgenjew-Essay durchführt
[19]
, während Hofmannsthal beispielsweise den „willenskranken“ Amiel zu einer
„Hamletvariation“ erklärt (vgl. S. 23) oder im ersten D’Annunzio-Aufsatz
bedauernd von der mangelnden Freude „am Wilhelm-Meisterlichen Lebenlernen“
spricht (vgl. S. 149)
[20]
.
Außerdem ist bezeichnend, daß Hofmannsthal aus Bourgets
Essais neben dem Leitgedanken der Opposition von
Dilettantismus und Lebensbindung auch die Tendenz zur allmählichen Verschärfung
dieser Opposition nachvollzieht. In den ersten
Essais
über Baudelaire und Renan war die Kritik an der Décadence alles in allem ja noch
moderat geblieben: der Baudelaire-Aufsatz stellte den kritischen Argumenten der
„Politiker“ und „Moralisten“ zunächst die scheinbar gleich starken
apologetischen Argumente eines „psychologue pur“ gegenüber
[21]
, und selbst der Dilettantismus-Abschnitt im Renan-Aufsatz delegierte die
schärfsten Einwände an die hypothetische Instanz gewisser „docteurs en santé
sociale“
[22]
, mit denen eine Identifikation des Lesers – jedenfalls auf den ersten
Blick – nicht unbedingt zwingend wirken mochte. Erst die späteren Essays über
Flaubert, Goncourt, Turgenjew und Amiel verliehen dem Widerspruch gegen die
„auflösenden“ Wirkungen der Analyse, des Historismus und der Literatur jene
Vehemenz, welche bald darauf die radikalisierten Stellungnahmen der Romane
Le Disciple oder
Cosmopolis
kennzeichnen sollte. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich in den Aufsätzen des
jungen Hofmannsthal beobachten, deren Folge die Lektüre von Bourgets
Essais nicht einfach vorauszusetzen, sondern ihren
Fortschritt eher zu begleiten scheint. So ergeben verschiedene Stücke auch
gleichsam verschiedene Etappen der Befassung und der Abrechnung mit dem
Dilettantismus.
Einen ersten Höhepunkt stellt dabei verständlicherweise der
Amiel-Aufsatz dar, der aus einem der entschiedensten Beiträge Bourgets neben
vielen Details den thematischen Begriff der Willenskrankheit („Maladie de la
volonté“) übernimmt
[23]
. Bedeutsamer noch erscheint die Stufe des ersten D’Annunzio-Aufsatzes.
Seine primären Gegenstände sind D’Annunzios
L’Innocente,
die
Elegie romane und der
Isottèo
[24]
; doch liegt sein untergründiges und dringlicheres Interesse wohl in der
Aneignung und Erprobung jener Perspektiven, die Bourgets Flaubert-Essay sowie
die an ihn erinnernde Barrès-Rezension eröffnet hatten. „Heute scheinen zwei
Dinge modern zu sein: die Analyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben“,
heißt es bei Hofmannsthal, und kurz zuvor: „Wir (Spätgeborenen) haben nichts als
ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe
der Selbstverdoppelung. Wir schauen unserem Leben zu; wir leeren den Pokal
vorzeitig und bleiben doch unendlich durstig“ (S. 148f.). Die gleiche Klage ist
in Bourgets
Essais allerorten zu vernehmen, besonders
elegisch freilich beim Lamento über die dreifache „usure“ der Physis, der
Empfindung und des Willens, das anläßlich von Flauberts Romanen angestimmt wird.
Da zeigt sich die „usure physiologique“ an den Spuren eines „nervosisme
exagéré“; die „usure du sentiment“ geht zurück auf die „habitude acharnée de
l’analyse qui empêche le sourd travail de l’inconscience dans notre cœur et
tarit la sensibilité comme à sa source“; die „usure de la volonté achève l’œuvre
destructive“ – und am Ende erblickt man Flaubert als leidendes Opfer solcher
Bewußtseinslast, „fatigué de toujours se regarder lui-même, épuisé par une
continuelle et suraiguë conscience de sa personne“
[25]
. Wie dann die Barrès-Rezension versichert, hat dieser zunächst von den
Romanen Flauberts abgeleitete Sachverhalt generell mit einem „dangereux abus de
la littérature, ou mieux, [...] de la pensée“ zu tun; denn es ist die Literatur,
die den jungen Leser zur „Selbstverdopplung“, d. h. einem „étrange état de
dédoublement“ führt, ihm eine „sensiblité factice, acquise et comme greffée“
aufdrängt und ihn verleitet, den „Pokal“ des Lebens „vorzeitig zu leeren“: „Il
devance l’éxpérience de la vie et il s’attribue les passions qu’il n’a pas
éprouvées encore“
[26]
.
Andere Züge des ersten D’Annunzio-Aufsatzes sind dem Bild verpflichtet,
das Bourget von den Brüdern Goncourt zeichnet. So findet Hofmannsthal, daß
„alle“ Menschen in D’Annunzios „längeren und kürzeren Novellen“ „einen
gemeinsamen Grundzug“ haben: „jene unheimliche Willenlosigkeit, die sich nach
und nach als Grundzug des in der gegenwärtigen Literatur abgespiegelten Lebens
herauszustellen scheint, jenes Erleben des Lebens nicht als einer Kette von
Handlungen, sondern von Zuständen“ (S. 150). Damit werden sie zu getreuen
Repliken der Romangestalten bei den Goncourt, über deren Personendarstellung
Bourget schreibt: „Ils se trouvaient, de par leur souci d’historiens des mœurs,
condamnés à peindre des personnages qui subissent la vie sans la dominer,
c’est-à-dire des créatures d’une volonté médiocre. Ils ont été entraînés à
peindre des hommes et des femmes de volonté nulle, et presque toute leur œuvre
est une longue étude des maladies de la personnalité“
[27]
. Im gleichen Kontext heißt es außerdem: „Cet affaiblissement de la
volonté, habituel objet de l’étude des frères Goncourt, c’est vraiment la
maladie du siècle“
[28]
, während einige Seiten vorher die formale Konsequenz dieses Befundes in
der Ersetzung einer „Kette von Handlungen“ durch eine „Kette von Zuständen“ zur
Sprache kommt: „Entre parenthèses, on éclairerait d’une forte lumière bien des
discussions de littérature si l’on étudiait avec soin cette antithèse des états
et des actions“
[29]
.
Gegen solche „Willenlosigkeit“ und den Verlust jeder Lebensbindung,
welche den „Dilettanten“ kennzeichnet, erfolgt im dritten D’Annunzio-Aufsatz
über
Le Vergini delle Rocce der emphatische Aufruf zur
Tat und zur „Kraft“ des Lebens
[30]
. Mit geradezu manisch beschwörenden Wiederholungen wird hier D’Annunzios
Eintritt ins Leben gefeiert: „Ich sehe in dem neuen Buch von d’Annunzio einen
wundervollen Umschwung. Ich sehe diesen außerordentlichen Künstler so in sich
zurückkehren, wie das Leben in den Leib eines Bewußtlosen zurückkehrt“ (S. 241).
Dieser „Umschwung“ ist „wundervoll“, da ja zuvor galt: „Die sämtlichen
merkwürdigen Bücher von d’Annunzio hatten ihr Befremdliches, ja wenn man will
ihr Entsetzliches und Grauenhaftes darin, daß sie von einem geschrieben waren,
der nicht im Leben stand“ (S. 233). Den Unterschied,
der zwischen dem einen und dem anderen D’Annunzio liegt, macht aber das „Tuen“
aus: „Nur das Tuen entbindet die Kraft und die Schönheit“ (S. 237), oder: „Ins
Leben kommt ein Mensch dadurch, daß er etwas tut“ (S. 235). Und auch bei diesen
Wendungen folgt Hofmannsthal wiederum dem Pathos der Aktion, das Bourget in
seiner Barrès-Rezension mit dem „dédoublement“ der Willenskrankheit
konfrontierte, wie sie aus der Literatur und dem Historismus hervorgeht: „La
personne solide, active et utile, que nous pourrions, que nous devrions être, se
trouve comprimée, et une personne artificielle et composite grandit en nous, qui
n’a pas de milieu ni d’atmosphère, si l’on peut dire, et qui, cependant, est
contrainte d’agir et de vivre“
[31]
. Weshalb das Heilmittel, die „indication d’un salut possible“, bereits für
Bourget lautete: „L’action mène l’homme au réel, et le réel finit par le forcer
à sentir vraiment“
[32]
.
II.
Den Analogien zwischen Hofmannsthals früher Prosa und Bourgets
Essais, die ich bislang vorgestellt habe, ließen sich
wohl ohne Mühe weitere (und nicht weniger aussagekräftige) hinzufügen. Indessen
sollen die hier zitierten Beispiele genügen; denn worauf es mir ankommt, ist –
wie ich hoffe – ohnehin klargeworden. Auch die Abrechnung mit dem
„Anempfindungsvermögen“ – so können wir jetzt festhalten – entbehrt bei
Hofmannsthal (und anderweit) nicht des Anempfundenen, und wo das Ethos des
Lebens, der Tat und der Kraft am resolutesten gegen den Eklektizismus (vgl.
S. 144f.) oder die Literatur zu Felde zieht, da ist es zumeist selber auf die
Hilfen durchaus eklektischer Leseerfahrungen angewiesen. Das heißt: Das
Verlangen nach „Verknüpfung mit dem Leben“ und der Exorzismus des
„Amalgamieren(s) fremder Erfahrung“
[33]
bleiben offenbar ebenso unentrinnbar eine literarische Figur wie die
entgegengesetzten Attitüden des Dandytums oder des „anschauenden“ und „furchtbar
zersetzenden“ Dilettantismus.
Auf jeden Fall hebt sich Hofmannsthals Verhältnis zu den
Essais de Psychologie contemporaine von dem anderer
deutschsprachiger Autoren der Epoche eben dadurch ab, daß es den Sonderfall
einer gewissermaßen integralen Rezeption darstellt. Zumindest ergibt es
gegenüber den vergleichbaren Leseerfahrungen Nietzsches, Hermann Bahrs oder
Heinrich Manns den Extrempunkt totaler Anempfindung, die sich nicht mit
Einzelaspekten begnügt, sondern die mythisch-ideologischen Grundsätze des
rezipierten Textes sympathetisch erfaßt und nachvollzieht. Dagegen hatten die
Zeitgenossen es weithin bei solchen Einzelaspekten bewenden lassen, welche die
Richtung der jeweils aktuellen eigenen Interessen berührten. So übernahm
beispielsweise Nietzsche, dem die bürgerlich traditionalistischen Perspektiven
der
Essais ansonsten widerstreben mußten, im
Fall Wagner Bourgets Definition eines „style de
décadence“, der sich damit kennzeichnet, „daß das Leben nicht mehr im Ganzen
wohnt. Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift
über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des
Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr“
[34]
. Hermann Bahr setzte sich in erster Linie mit den romantechnischen
Problemen und Unvollkommenheiten des „Bourgetismus“ auseinander, um von ihnen
das Postulat einer „neuen Psychologie“ abzuleiten, d. h. eines Romans, der die
psychologischen Themen Bourgets mit der objektiven Erzählweise des Naturalismus
verbinden soll
[35]
. Bei Heinrich Mann blieb der relativ kompakte Bourget-Einfluß, der
insbesondere den Jugendroman
In einer Familie bis hin zum
bewußt familialistischen Dénouement prägte, eine kurze Episode, die bald darauf
von der Begeisterung für Nietzsches Künstler-Psychologie überlagert und abgelöst
wurde
[36]
.
Allein Hofmannsthal hat mit der Klage über die Willenskrankheit, die
Bindungslosigkeit und die Lebensferne des „Dilettanten“ jenen Mythos gleichsam
definitiv aufgegriffen und – im doppelten Sinn – zum Lebenswerk gestaltet, um
den es in Bourgets
Essais eigentlich ging und der deshalb
die Porträts so unterschiedlicher Autoren wie Stendhal, Baudelaire oder Amiel
quasi als Leitmotiv durchwirkte. Wie umfassend er Hofmannsthals Begriffe und
Werte bestimmt, läßt sich nicht zuletzt dem mit Recht berühmtesten Gedicht der
Loris-Periode entnehmen: der kleinen „tragédie-proverbe“
[37]
Der Tor und der Tod, die Richard Alewyn in einem
gleichfalls berühmt gewordenen Aufsatz als den
Tod des
Ästheten beschrieben und gedeutet hat
[38]
. Indessen läßt sich dieser Tod des Ästheten auch – spezifischer auf
Bourgets
Essais bezogen – als der „Tod des Dilettanten“
interpretieren; denn das Stück versammelt noch einmal mit bemerkenswerter
Konzentration die zentralen Motive, welche die frühe Prosa den
Essais de psychologie contemporaine verdankt und in denen sich ihr
erstaunlich frühreifer Verfasser (ähnlich dem Seneca des Ibsen-Aufsatzes) als
ein „Virtuose der Anempfindung“ sozusagen zweiter Potenz erweist.
Dabei ist der Ausdruck solcher Motive – wie es naheliegt – fast
ausschließlich den elegischen Monologen des Claudio überlassen. An ihrem Anfang
steht die starrende „Sehnsucht“ nach denen, die anders als der „Dilettant“ „im
Leben“ sind:
| Jetzt zünden sie die Lichter an und haben |
| | In engen Wänden eine dumpfe Welt |
| | Mit allen Rausch- und Tränengaben |
| | Und was noch sonst ein Herz gefangen hält.
[39]
|
|
|
Es ist das wohl die Sehnsucht, die jener entspricht, welche Bourget als
„lamentation continue“ etwa in den Werken Flauberts vernimmt, „racontant les
décombres dont la pensée a jonché son cœur et sa volonté. Il ne connaîtra plus
jamais l’amour, l’effusion heureuse et comblée, le mol abandon de l’espérance.
Il ne connaîtra plus la règle stricte, la sérénité des obéissances morales ou
religieuses. La solitude autour de lui se fait plus vaste, toujours plus
vaste“
[40]
. In Claudios Worten lautet die Schlüsselstelle dieser Klage, von einer
kurzen Redepause akzentuiert:
| Was weiß ich denn vom Menschenleben? |
| | Bin freilich scheinbar drin gestanden, |
| | Aber ich hab es höchstens verstanden, |
| | Konnte mich nie darein verweben. |
| | Hab mich niemals daran verloren. |
| | Wo andre nehmen, andre geben, |
| | Blieb ich beiseit, im Innern stummgeboren.
[41]
|
|
|
Sie macht zur subjektiven Erfahrung, was Bourget im bereits zitierten
Abschnitt seines Renan-Porträts als allgemeingültige Definition des
„Dilettantismus“ formuliert hatte, wobei die Distinktion eines „nous prêter à
toutes ces formes sans nous donner à aucune“ sich hier durch die Antithese
zwischen einerseits „darein verweben“, „daran verlieren“, „nehmen“ und „geben“,
andererseits „scheinbar drin stehen“, „beiseit bleiben“ und „höchstens
verstehen“ wiederholt. Über die Gefahren des „Verstehens“, das im Rahmen einer
„théorie du détachement sympathique à l’égard des objets de la passion humaine“
die „faculté de créer“ zu ersetzen droht, war von Bourget ja außerdem im
gleichen Abschnitt gehandelt worden.
Wie Hofmannsthals „Tor“ an dieser Stelle die Klage des Bourgetschen
„Dilettante“ anstimmt, so erklärt er sie wenig später auch durch die aus den Essais bekannten Beweggründe, oder besser: Krankheiten:
| Wenn ich von guten Gaben der Natur |
| | Je eine Regung, einen Hauch erfuhr, |
| | So nannte ihn mein überwacher Sinn, |
| | Unfähig des Vergessens, grell beim Namen. |
| | Und wie dann Tausende Vergleiche kamen, |
| | War das Vertrauen, war das Glück dahin.
[42]
|
|
|
In ihnen sind unschwer Bourgets Erzübel der „Analyse“ und der
„Multiplizität“ wiederzuerkennen. So mag ein „überwacher Sinn, unfähig des
Vergessens“ auf den im Flaubert-Porträt beschriebenen „abus du cerveau“
verweisen, der bewirkt, dass Flauberts Gestalten „se sont façonné une idée par
avance sur les sentiments qu’ils éprouveront“
[43]
. Daraus entsteht bei Bourget ein Verhängnis besonderer Art: „C’est donc
la pensée qui joue ici le rôle d’élément néfaste,
d’acide corrosif, et qui condamne l’homme à un malheur assuré; mais la pensée
qui précède l’expérience au lieu de s’y assujettir“
[44]
. Es hat im übrigen Flaubert ebenso getroffen wie die von ihm geschaffenen
Romanfiguren: „C’est le mal dont il a tant souffert qu’il a incarné en eux, le
mal d’avoir connu l’image de la réalité avant la réalité, l’image des sensations
et des sentiments avant les sensations et les sentiments. C’est la pensée qui
les supplicie comme elle supplicie leur père spirituel“
[45]
. Deutlicher noch evozieren die zersetzend relativierenden „Tausende
Vergleiche“ das spätzeitliche Laster der Ideenvielfalt, über die Bourget –
gleichfalls im Kapitel
Du Nihilisme de Gustave Flaubert –
befindet: „L’abondance des points de vue, cette richesse de l’intelligence, est
la ruine de la volonté, car elle produit le dilettantisme et l’impuissance
énervée des êtres trop compréhensifs“
[46]
. Und beim Ausruf
[47]
| Und auch das Leid! zerfasert und zerfressen |
| | Vom Denken, abgeblaßt und ausgelaugt! |
|
|
erinnert man sich des unglücklichen M. Taine, der nach Bourget nicht
einmal die Schmerzen seines Unglaubens empfinden kann; denn „l’implacable
analyse lui décompose même ces douleurs, pour lui en étaler les éléments
constitutifs et nécessaires!“
[48]
.
Besonders reich variiert wird von diesen Aspekten im weiteren Verlauf
des Stücks das Flaubertsche Übel der „intoxication littéraire“
[49]
, oder allgemeiner gesagt: des „dangereux abus de la pensée“. Das „Unglück,
die Bilder der Empfindungen und Gefühle vor den Empfindungen und Gefühlen
gekannt zu haben“
[50]
, erscheint aufs neue in dem Geständnis:
| Ich hab mich so an Künstliches verloren, |
| | Daß ich die Sonne sah aus toten Augen |
| | Und nicht mehr hörte, als durch tote Ohren: |
| | Stets schleppte ich den rätselhaften Fluch, |
| | Nie ganz bewußt, nie völlig unbewußt, |
| | Mit kleinem Leid und schaler Lust |
| | Mein Leben zu erleben wie ein Buch, |
| | Das man zur Hälft noch nicht und halb nicht mehr begreift, |
| | Und hinter dem der Sinn erst nach Lebendgem schweift.
[51]
|
|
|
Oder gegen Ende in der Bourgets Essais
vielleicht am dichtesten nachempfundenen Frage:
| Warum bemächtigt sich des Kindersinns |
| | So hohe Ahnung von den Lebensdingen, |
| | Daß dann die Dinge, wenn sie wirklich sind, |
| | Nur schale Schauer des Erinnerns bringen?
[52]
|
|
|
Stärker auf den Renan-Essay und damit das Herzstück des
Dilettantismus-Themas sowie seiner „Möbelpoesie“ bezogen ist wiederum die
Episode der „Rumpelkammer voller totem Tand“
[53]
. Sie schließt unverkennbar an die Schilderung eines idealtypischen Pariser
Salons an, welche Bourget entwirft, um am beziehungslosen Durcheinander der
Kunstgegenstände die unheilvolle Multiplizität dilettantisch-historistischer
Kultur zu exemplifizieren. So gibt es auch in Claudios „Rumpelkammer“ mancherlei
„bibelots exotiques ou anciens“: ein „hölzern, ehern Schilderwerk, verwirrend
formenquellend Bilderwerk“, Becher, alte Lauten, eine Gioconda und vor allem ein
einst verehrtes Kruzifix. Wenn es als Inbegriff des Sakralen angesprochen wird:
| Zu deinen wunden, elfenbeinern’ Füßen, |
| | Du Herr am Kreuz, sind etliche gelegen, |
|
|
läßt das sogar an die Präsenz und Degradation eines ähnlichen sakralen
Gegenstands im Pariser Salon denken, wo Bourget bemerkt: „Cette soie brodée qui
garnit les coussins fut jadis la soie d’une étole; elle assistait aux répons des
messes pieuses dans le receuillement des cathédrales, avant qu’un caprice de la
vogue n’en vêtit ces témoins muets des coquetteries et des confidences“
[54]
.
Indessen fällt gerade beim Vergleich von Bourgets Salon und
Hofmannsthals „Rumpelkammer“ ein Unterschied ins Auge, der über den einzelnen
Moment hinaus Bedeutung hat und jene Differenzen sichtbar macht, welche
Hofmannsthal ungeachtet aller ideologischen Gemeinsamkeiten von seinem
Maître-à-penser trennen. Der Unterschied äußert sich weniger in den Befunden der
jeweiligen Schilderung als vielmehr in deren interpretativer Akzentuierung. Sie
läuft bei Bourget durch die Juxtaposition der „laques de Yédo ou bronzes de la
Renaissance, orfèvrerie du XVIII siècle ou
flambeaux d’un autre âge“, einer Rennszene von De Nittis oder eines
mythologischen Bilds von Gustave Moreau
[55]
, auf die Anklage heterogener Vielfalt hinaus. Wenn dieser Salon ein Museum
ist, dann ist er es eben wegen seiner Heterogenität, die verschiedenste Welten
nebeneinanderstellt und so eine „école tout établie pour l’esprit critique“
bildet. Solche Heterogenität vielfältiger Überlieferungen kommt zwar auch bei
Hofmannsthal zum Ausdruck, doch liegt dessen Hauptakzent auf etwas anderem: das
Museum ist für ihn erst sekundär Stätte der „Multiplizität“, in erster Linie
dagegen ein Ort des Toten, Abgestorbenen und nicht mehr Gefühlten. Daher
steigert sich Claudios Monolog vor der Truhe im Augenblick des höchsten Pathos
zu dem Ausruf:
| Ihr Kröten, Engel, Greife, Faunen, |
| | Phantastsche Vögel, goldnes Fruchtgeschlinge, |
| | Berauschende und ängstigende Dinge, |
| | Ihr wart doch all einmal gefühlt;
[56]
|
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und die Verzweiflung erwächst aus der Erkenntnis, daß diese vormals
„durchseelten“ Werke zu „totem Tand“ geworden sind, der nicht einmal mehr einen
„Schleichweg“ weisen kann „in jenes Leben, das ich so ersehnte“
[57]
.
Damit zeigt sich, daß der weithin identisch konstatierte Sachverhalt
des „Dilettantisme“ bei Bourget und Hofmannsthal immerhin aus einer je
besonderen Blickrichtung wahrgenommen und gedeutet wird. Bourget sieht ihn
primär unter der Perspektive gesellschaftlicher Ansprüche und Forderungen, die
im Interesse eines funktionsfähigen „organisme social“ das (offenbar wachsende)
Ausmaß des Uneinheitlichen, Partikulären und Normwidrigen zu reduzieren
trachten
[58]
. Solche Reduktion kann durchaus mit Schmerz oder wenigstens dem Gefühl von
Einschränkung verbunden sein; denn der „Dilettantisme“ besitzt für Bourget ja
ausgesprochen hedonistische Qualitäten. Wie sehr er auch moralisch und
soziologisch verurteilt wird: zunächst gilt der distanzierte Skeptizismus eines
Renan als ,disposition de l’esprit, très intelligente à la fois et très
voluptueuse“, ja als eine Geisteshaltung, die dem Individuum ein subtiles
„instrument de jouissance“ verspricht.
Dagegen macht es den Hofmannsthal eigenen Ton aus, daß seine
Demonstration des sterbenden „Dilettanten“ eben von einem „instrument de
jouissance“ nichts mehr wissen will. Wenn Claudio das „détachement [...] à
l’égard des objets de la passion“ einmal genossen haben sollte, dann liegt
dieser Genuß in der Vergangenheit, während der Moment, in dem ihn die
„tragédie-proverbe“ vorführt, allein durch ein Gefühl der Entbehrung bestimmt
ist. Wo Bourget mit der Besorgnis des konservativen Ideologen zugleich Wollust
(des Einzelnen) und Gefährdung (des Ganzen) erblickte, scheint Hofmannsthals
Subjektivierung des Themas
[59]
den flüchtigen Reiz „dilettantischer“ Lebensformen längst hinter sich
gebracht zu haben. Jedenfalls beklagt der „Tor“ gerade das als Inbegriff des
Unlebendigen, was bei Bourget noch als Hedonismus der Vielfalt gefürchtet wurde.
So geht es beiden Autoren gewiß um das gleiche oder zumindest ähnliche
Idealbild von Tradition, Bindung und Enge, welches sich in beiden Fällen einem
sowohl spätzeitlichen wie modernen „Dilettantismus“ der Ästheten und Skeptiker
entgegenstellt. Deutlich verschieden ist jedoch, was man die „Intonation“ dieses
Bildes nennen könnte
[60]
. Für Bourget werden Tradition, Bindung und Enge als essentiell
soziologisch aufgefaßte Werte zu Postulaten, die das Individuum mit einer
gesellschaftlichen Pflicht konfrontieren. Bei Hofmannsthal dagegen erscheinen
sie – gleichsam existentialisiert – als Ziel einer „Sehnsucht“; denn Claudio,
dem der „Dilettantismus“ nicht Lust, sondern lediglich „Unbehagen“ gebracht hat,
sieht in ihnen – über die soziale „nécessité“ hinaus
[61]
– Idee und Bedingungen des Lebens selbst. Da sich ihm das Leben aber
unbehaglich versagte
[62]
, bleibt das Notwendige, das ihn lebendig machen soll, keine heteronome
Forderung; vielmehr verwandelt es sich – mit einer Wendung, die nun doch etwas
Einzigartiges (oder einzigartig Mitteleuropäisches) hat – von der
gesellschaftlich auferlegten Pflicht in den Gegenstand eines vitalen subjektiven
Begehrens.