Avian – Person, Werk, Überlieferung

Alexander Praxmarer


1 Avian war ein römischer Fabeldichter, der sein Werk deutlich später als sein Dichterkollege Phaedrus verfasste. Sucht man nach einer zeitlichen Einordnung des Dichters, so stößt man unweigerlich auf das erste und zugleich größte Problem: Aufgrund mangelnder biographischer Überlieferungen kann man Avians Lebenszeit nicht vertrauenswürdig festsetzen. Aber nicht nur die Datierung des Fabeldichters bereitet Probleme. Avians Dichtung sah sich außerdem sowohl in der älteren als auch in der modernen Forschung mit harscher Kritik konfrontiert und wurde daher weitestgehend stiefmütterlich behandelt. Doch was waren die Gründe, dass uns ein Dichter, dessen Gesamtwerk in 137 Handschriften überliefert ist, heutzutage beinahe unbekannt ist?

1. Person

2 Da Avian in seinem Werk auf spezifische Angaben zu seiner Lebenszeit verzichtet, gab es besonders in der älteren Forschung viele verschiedene Meinungen zu dieser Frage. Zumeist wurde Avians praefatio zu seinen Fabeln am Beginn des Werkes herangezogen, welche zumindest einige verwertbare Hinweise auf die Datierung des Dichters liefert.

3 Manche Forscher datieren Avian in die Zeit des Adoptivkaisertums – also in das 2. Jh. n.Chr. –, führen allerdings völlig unterschiedliche Argumente für diese Annahme auf. So vermisst Cannegieter in der Vorrede des Avian die Erwähnung des Fabeldichters Iulius Titianus und schließt daraus, dass Avian vor dessen Zeit gelebt haben muss.2 Es ist müßig zu erwähnen, dass die Erwähnung von Dichterkollegen in einem Werk meist eine ehrenvolle Nennung von Vorgängern zum Anlass hat und zweifellos vom Dichter intendiert ist. Die Tatsache, dass ein bestimmter Autor nicht erwähnt wird, kann keinesfalls als eindeutiger biographischer Beleg dienen. Lachmann argumentiert hingegen, dass Avians Stil deutlich Elemente der klassischen Dichtung erkennen lässt, und datiert ihn aus diesem Grund in die Zeit des Adoptivkaisertums, also in die Jahre 98–128 n.Chr.3

4 Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt zu Avians Lebenszeit ist die Erwähnung eines gewissen Theodosius in der praefatio, welchem Avian seine Sammlung widmet. Neben Kaiser Theodosius (347–395 n.Chr.) wurde dieser auch mit Macrobius Ambrosius Theodosius (ca. 385–430 n.Chr.) gleichgesetzt, dem Autor der Saturnalia, einer Sammlung fiktiver Gespräche u.a. über literarische Fragen. Somit hätte Avian im auslaufenden 4. bis ins beginnende 5. Jahrhundert gelebt.4 Auch Küppers vertritt diese These und merkt zusätzlich an, dass Avians etwas eigentümlicher Stil – entgegen der Meinung anderer Autoren – gut in die Periode der auslaufenden Spätantike passe.5

5 Einen weiteren wichtigen Beitrag liefert ferner Ellis in den prolegomena seines Aviankommentars.6 Er meint eine Verbindung zwischen Avian und dem in den Saturnalia des Macrobius Ambrosius Theodosius vorkommenden Avienus zu erkennen. Diese These erhält einen besonderen Stellenwert, wenn man im Gegenzug den Adressaten Theodosius aus Avians Vorwort tatsächlich mit Macrobius Ambrosius Theodosius gleichsetzt. Ferner scheint dieser Ansatz durchaus stimmig zu sein, da der in Macrobius’ Werk auftretende Avienus nicht über weite Teile mit langen Reden brilliert, sondern die Unterhaltung stets mit knappen, scharsinnigen Unterbrechungen und Fragen bereichert. Dass ein großer Teil der Saturnalia Vergil zum Thema hat, auf den sich Avians Fabeln deutlich beziehen, kommt dieser Überlegung ebenfalls zugute. Überhaupt scheint die Beschreibung des Theodosius aus Avians Vorrede weniger auf Kaiser Theodosius als auf einen äußerst gelehrten Dichterkollegen gleichen oder höheren Ranges zu passen, wie Macrobius einer war.

2. Werk

6 Das überlieferte Gesamtwerk Avians besteht aus 42 Fabeln in elegischen Distichen (d.h. je einem Hexameter und einem Pentameter), die von einer Vorrede – der sogenannten praefatio - eingeleitet werden, in der der Dichter den Umfang seines Werks explizit nennt. Man kann also von einer vollständigen Überlieferung sprechen. Ferner geht man von einer korrekten Anordnung der Fabeln aus.

7 Mit Aesop, Sokrates und Babrios im griechischen sowie Horaz und Phaedrus im lateinischen Bereich nennt Avian seine Vorgänger in seinem Vorwort beim Namen. Inhaltlich beziehen sich die Fabeln auf Babrios' griechische Fabelsammlung, wobei an manchen Stellen ebenfalls eine gewisse Nähe zu Phaedrus erkennbar wird. Avian kommt ebenso auf das für die Gattung unübliche Versmaß des elegischen Distichons zu sprechen, erwähnt aber nicht, warum er sich gerade für dieses Metrum entschieden hat (Avian. praef.):

Nam quis tecum de oratione, quis de poemate loqueretur, cum in utroque litterarum genere et Atticos Graeca eruditione superes, et latinitate Romanos? Huius ergo materiae ducem nobis Aesopum noveris, qui responso Delphici Apollinis monitus ridicula orsus est, ut legenda firmaret. Verum has pro exemplo fabulas et Socrates divinis operibus indidit, et poemati suo Flaccus aptavit, quod in se sub iocorum communium specie vitae argumenta contineant. Quas Graecis iambis Babrius repetens in duo volumina coartavit; Phedrus etiam partem aliquam quinque in libellos resolvit. De his ergo ad quadraginta et duas in unum redactas fabulas dedi, quas rudi latinitate compositas, elegis sum explicare conatus.
Denn wer könnte sich mit dir (Anm.: angesprochen ist Theodosius) über eine Rede, wer über ein Gedicht unterhalten, wenn du doch in beiden literarischen Gattungen selbst die Athener an griechischer Gelehrsamkeit und die Römer an Latinität übertriffst? Als Erfinder dieses Stoffs ist uns nun Aesop bekannt, der, aufgefordert durch einen Orakelspruch des delphischen Apoll, begonnen hat, scherzhafte Erzählungen zu verfassen, um sie als lesenswert zu bekräftigen. Aber auch Socrates fügte diese Erzählungen als Beispiel in seine göttlichen Werke ein, und Flaccus passte sie seiner Dichtung an, weil sie unter dem Deckmantel allgemeiner Scherze Lebensweisheiten enthalten. Babrios nahm sie wieder auf und engte sie in griechischen Iamben in zwei Bände ein. Auch Phaedrus gab einen Teil davon in fünf Büchern heraus. Von diesen habe ich nun 42 zusammengefasste Erzählungen in einem Buch herausgegeben, verfasst in kunstlosem Latein, und ich habe versucht, sie in elegischen Distichen auszuführen.

8 Er spricht davon, dass er den Versuch aufstellen will, basierend auf den fünf Fabelbüchern des Phaedrus 42 Fabeln im Versmaß des elegischen Distichons zu verfassen:

De his ergo ad quadraginta et duas in unum redactas fabulas dedi, quas rudi latinitate compositas, elegis sum explicare conatus. 7

9 Die Erklärung dieser Stelle ist durch die unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten der Passage

in rudi latinitate

10 weder einfach noch eindeutig. Unklar bleibt somit, ob Avian die vorgefundenen Texte tatsächlich als kunstlos empfand. Es könnte allerdings ebenso davon ausgegangen werden, dass Avian von einem „kunstlosen“ Latein seinerseits spricht, um einem eventuellen Vorwurf der superbia, also des übertriebenen Hochmuts, entgegenzuwirken. Die Verwendung von Bescheidenheitstopoi wie recusatio (Weigerung) oder captatio benevolentiae (Werben um Wohlwollen) war in Autorenkreisen der klassischen Periode zudem äußerst gebräuchlich. Außerdem sind die Fabeln Avians ein Musterbeispiel an formal-ästhetischer Kunstfertigkeit, wodurch sich der Verdacht der forcierten Bescheidenheit erhärtet.

11 Der Anspruch, den der Dichter an sein Werk selbst stellt, ist am Ende des Vorwortes ausgeführt. Er gibt dem Leser, wie er selbst sagt, ein Werk zur Hand, „woran er sein Gemüt erfreuen, seine Geisteskraft stärken, seine Sorgen lindern und die Ordnung alles Lebenden erkennen könne“8.

12 Obwohl dieser Anspruch äußerst moralisch geprägt zu sein scheint, wird nach eingehender Untersuchung klar, dass Avian nicht auf eine strenge Moralisierung seines Publikums abzielt, sondern sein Werk eher als ausgefeilte Kunstform betrachtet hat.

3. Stil

13 Wie sein Vorgänger Babrios scheint Avian den sozialkritischen Aspekt nur an den Stellen zu betonen, an denen er durch die alte Fabeltradition vorgeprägt ist. So sie vorhanden sind, bewegen sich Pro-und Epimythien in einer sehr gemäßigten Tonlage und zielen stark auf eine Vermittlung allgemeiner Lebensweisheit ab. Ferner treten in den Fabeln scharfe moralische Gesichtspunkte hinter die Tendenz zur Verallgemeinerung und formal-ästhetische Aspekte zurück.

14 Avians Intention als Dichter war es wohl, vor allem einen hohen poetischen Anspruch zu formulieren und vorhandene Stoffe literarisch zu bearbeiten. Dieser Aspekt zeigt sich besonders durch die Wahl des elegischen Distichons sowie zahlreiche Klassikerreminiszenzen. Avian eröffnet durch geschickte Bezüge auf lateinische Klassiker wie Vergil und Ovid einen völlig neuen literarischen Blick auf sein Werk.9 Eine weitere Besonderheit seiner Erzähltechnik stellt das Element der Rhetorisierung dar; ferner passt er Sinneinheiten und metrische Einheiten aneinander an. Auch wenn Avians künstlerische Ausgestaltung von vielen modernen Kritikern als unpassend für die literarische Gattung der Fabel abgetan wurde, waren es doch genau diese Besonderheiten seiner Dichtkunst, die seiner breiten Überlieferung den Weg ebneten, und somit heutzutage eine Lektüre äußerst reizvoll machen.10

4. Überlieferung

15 Aus der Antike sind zwei große Sammlungen lateinischer Versfabeln erhalten, nämlich die des Avian sowie diejenige des Phaedrus. Die Untersuchung der Überlieferung beider Sammlungen gestaltet sich als äußerst spannend. Denn auch wenn Phaedrus heutzutage wohl einer der bekanntesten antiken Fabeldichter sein dürfte, erhielt sein Werk in Antike und Mittelalter wenig Aufmerksamkeit, bis es im Humanismus wiederentdeckt wurde. Avian hingegen hatte eine sehr bedeutsame Wirkungsgeschichte sowie eine unübersehbare Nachwirkung im Mittelalter. Dieser Aspekt wird besonders durch die 137 Handschriften ersichtlich, in welchen sein Werk überliefert ist. Im Mittelalter zählte er zum Kanon der Schullektüre und wurde ausreichend kommentiert und paraphrasiert. Somit stellt Avian einen wichtigen Grundstein für die Fabeltradition des Mittelalters dar. In der Moderne schwand das Interesse an seiner Dichtung, weshalb die moderne Forschung Avian kaum bearbeitete und weitestgehend negativ beurteilte.11

16 Besonders zur Stilistik des Avian herrscht in der modernen Forschung der vielfach geäußerte „Vorwurf der Inkongruenz von Form und Inhalt“ 12. In Avians Fabelsammlung würden einerseits ein hoher literarischer Anspruch durch das Versmaß des elegischen Distichons sowie häufige Referenzen auf klassische Autoren wie Ovid und Vergil und andererseits Vulgarismen, der Sprachgebrauch einer späten Epoche sowie die Diskrepanz zwischen hohem Stil und nichtigem Inhalt aufeinanderprallen. Daraus ergibt sich eine allgemeine negative Beurteilung, die in Aussagen wie jener von Browning gipfelt: „Avianus can scarcely be called a poet. His tasteless, strained, imprecise Latin, with its constant inappropriate Vergilian reminiscences, might have been written by a nineteenth-century public schoolboy. Indeed the fables themselves are probably nothing more than the worked-up school exercises of a young pupil of Macrobius.“ 13 Aber auch Küppers, der sich als einer der wichtigsten Avianforscher der Moderne etablierte, fällt am Ende seiner Monographie ein eher mäßiges Urteil: „Aufs Ganze gesehen zeigt sich Avian als ein mittelmäßiger Dichter.“ 14

17 Auch wenn Brownings Meinung zu Avians Werk sehr undifferenziert und vehement wirkt, zeigt sie doch deutlich die verschiedenen Vorwürfe, mit welchen sich der Dichter konfrontiert sieht. Die äußerst negative Grundhaltung, welche dem Autor entgegengebracht wird, erschwert vor allem die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seiner Dichtung, wenngleich Avian trotz seiner eigenwilligen Stilistik ein höchst interessanter Autor bleibt. Die weitere Beschäftigung mit seinem Gesamtwerk wäre für die moderne Forschung äußerst gewinnbringend.

Literatur

Primärliteratur
Flavii Aviani Fabulae, cum commentariis selectis Albini Scholiastae veteris, notisque integris Isaaci Nicolai Neveleti et Casparis Barthii: quibus animadversiones suas adiecit Henricus Cannegieter. Accedit eiusdem dissertio de aetate et stilo Flavii Aviani, Amsterdam 1731
Avianus. Fables. Texte établi et traduit par F. Gaide, Paris 1980
The Fables of Avianus. Edited with prolegomena, critical apparatus, commentary, excursus and index by R. Ellis, Oxford 1887 (Ndr. Hildesheim 1966)
Sekundärliteratur
Adrados 2000 Adrados, F.R.: History of the Graeco-Latin Fable. Vol. II. The fable during the Roman empire and in the middle ages. Transl. by L. A. Ray, Leiden. Boston. Köln 2000 (Mnemosyne Suppl. 207)
Browning 1960 Browning, R.: Rez.: A. Guaglianone: Avianus, Fabulae. Pp. LXIV + 122. Turin: Paravia 1958. Paper, L. 900, CR 10, 1960, 42-44
Holzberg 2012 Holzberg, N.: Die antike Fabel. Eine Einführung, Darmstadt 2012
Küppers 1990a Küppers, J.: Art. Avianus, in: DNP, Bd. 2, Stuttgart. Weimar 1990, Sp. 368
Küppers 1977 Küppers, J.: Die Fabeln Avians. Studien zu Darstellung und Erzählweise spätantiker Fabeldichtung, Bonn 1977 (Habelts Dissertationsdrucke. Reihe Klassische Philologie 26)
Küppers 1990b Küppers, J.: Zu Eigenart und Rezeptionsgeschichte der antiken Fabeldichtung, in: Arbor amoena comis. 25 Jahre Mittellateinisches Seminar in Bonn 1965-1990, hrsg. v. E. Könsgen, Stuttgart 1990, 23-33
Lachmann 1876 Lachmann, K.: De Aviani fabulis, in: Kleinere Schriften, Bd. 2: Kleinere Schriften zur Classischen Philologie, hrsg. v. J. Vahlen, Berlin 1876, 51-56
Scanzo 2011 Scanzo, R.: Le fonti classiche di Aviano. Virgilio, Ovidio, Orazio e gli altri: le pagine dei grandi autori che hanno ispirato i testi avianei. Il modello dell’aemulatio come espressione di sapere, Florenz 2011
Unrein 1885 Unrein, O.: De Aviani aetate, Jena 1885