|
|
|
Die Erkenntnis als Wissenschaft muß nach einer Methode
eingerichtet sein. Denn Wissenschaft ist ein Ganzes der Erkenntnis als System und nicht
bloß ein Aggregat. – Sie erfordert daher eine systematisch , mithin nach überlegten
Regel abgefasste Erkenntnis.
|
Kant, Allgemeine Methodenlehre II, § 95 Form der Wissenschaft - Methode |
|
Die Entwicklung von Wissenschaft in einem engeren Sinne setzt das
Vorhandensein und in weiterer Folge die Entwicklung eines auf Erkenntniserwerb
ausgerichteten Denkens voraus bzw. geht mit ihr in einem Wechselspiel Hand in Hand.
|
Was unter „Wissenschaft“ zu verstehen sei, ist nicht ohne
Bezugssystem beantwortbar – Wissenschaft ist nicht a priori definierbar. Eine vage
Umschreibung mag darin bestehen, in Wissenschaft ein mehr oder weniger systematisch
ausgerichtetes Streben nach Erkenntnis zu sehen, was die Akkumulierung des Erkannten und
die permanente rückkoppelnde Reflexion des Erkannten einschließt. Dass an den Begriff
scientia, und später den Begriff Wissenschaft sehr
unterschiedliche Ansprüche gestellt worden sind, dass der Begriff als historische
Erscheinung dem Wandel unterliegt, ist eine Selbstverständlichkeit und seinerseits
Ausdruck der permanenten Auseinandersetzung mit dem Phänomen Wissenschaft.
|
Es soll hier versucht werden, die wichtigsten Schritte der
sukzessiven Ausformung des methodischen, kritischen und schließlich des umfassend
systematischen erkenntnisorientierten Denkens und damit auch dessen, was wir in der
Neuzeit als Wissenschaft verstehen, zu skizzieren.
|
Um die Bedeutung des Prozesses in Erinnerung zu rufen, um den es geht,
sollten man sich vergegenwärtigen, daß die Entwicklung von Wissenschaft über
Jahrtausende hinweg die man wohl als eine der größten und komplexesten systematischen
Leistungen betrachten kann, die die Menschen überhaupt erbracht haben – die Dimension
und die Konsequenzen dieser Betätigung bestimmen mittlerweile die Dimension des
Menschseins.
|
Was an Denk- und Forschungsleistung erbracht worden ist, ja was
diesbezüglich auch nur in einem vergleichsweise simplen Lexikonartikel steckt, ist
überhaupt nicht mehr nachvollziehbar. Dem entsprechend kommt auch jenen Personen, die
unser Denken in seinen Grundlagen in zentraler Weise bestimmt haben, eine Bedeutung zu,
die weit über jene jedes noch so mächigen Politikers oder Feldherrn weit hinausgeht. Es
gibt außerhalb des religiösen Bereiches kaum Menschen von der Bedeutung und
Wirkungsmächtigkeit eines Platon oder eines Aristoteles, denn sie stehen prägend am Beginn der Entwicklung, die trotz
aller Brüche und Unterbrechungen von Kontinuiät gekennzeichnet ist, und deshalb ist die
weitere Entwicklung auch immer wieder geprägt von der kritischen Auseinandersetzung mit
den Anfängen mit den überkommenen Traditionen und mehr noch von den in den Anfängen
entwickelten Strukturen des Denkens.
|
Dieser Prozeß ist wesentlich von der Naturbetrachtung und
Naturbeobachtung ausgegangen, geht bei den frühen Griechen Hand in Hand mit „der zunehmenden Installierung des Naturbegriffs"1, hat dann aber bald auf die (aus heutiger
Sicht) geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereiche übergegriffen, was freilich nicht
ohne intensive Diskussion des Problems „Wissen“ und „Wissenschaft“ abgegangen ist.
|
Von dieser Herkunft von Wissenschaft zeugen heute noch der Begriff „natural
philosophy“, der Begriff „science“, und – leider auch – die blind eingeschränkte
Handhabung des Begriffes „Wissenschaftsgeschichte“ in dem Sinne, dass darunter mitunter
immer noch nur die Geschichte der Naturwissenschaften, der hard sciences, verstanden wird.
|
Eine Darstellung der erwähnten Prozesse kann nicht unternommen werden, ohne
auf die Diskussion der denkerisch existenziellen Probleme des Menschen, wie sie
Gegenstand der Philosophie im klassischen, engeren Sinne sind, einzugehen –
Wissenschaftsgeschichte ohne Berücksichtigung der Entwicklung der Erkenntnistheorie ist
unmöglich.
|
Die Philosophie ist ein schier unendliches Feld, indem das überlieferte
Denken in jeder neuen Epoche neu hinterfragt, diskutiert und verformt wird – allein die
Rezipierungsvarianten und Interpretationen der Lehre des Aristoteles im Verlauf von nun
mehr als zwei Jahrtausenden, wie sie im muslimischen und lateinisch-christlichen
Abendland vollzogen worden sind, sind unüberschaubar.
|
Zu den zentralen Problemen, um die die philosophischen Bemühungen
immer wieder kreisten und kreisen, sind zu zählen:
|
– |
die Frage nach dem Sein an sich; |
– |
die Frage nach der zeitlichen und räumlichen Endlichkeit oder
Unendlichkeit der Welt;
|
– |
die Frage der Gottesvorstellung, ob Gott die Welt erschaffen hat
(Judentum, Christentum, Islam) und weiterhin lenke oder nicht, oder ob die Welt seit
ewig bestehe, nicht geschaffen sei;
|
– |
die Frage nach der Natur der Materie, aber auch nach Raum und
Zeit;
|
die |
Frage nach dem Wissenkönnen – nach der Möglichkeit von Erkenntnis |
|
die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Wissen: Schon in der
Antike, dann in der spätantiken Philosophie, in der arabischen und in der jüdischen
Philosophie, dann in ganz besonderem Maße in der Aristoteles-Rezeption und natürlich
im Spätmittelalter ist dies ein zentrales Thema; immer wieder begegnen wir Versuchen
der Harmonisierung von fides und ratio.
|
– |
das Problem Sprache: in welchem Verhältnis stehen Benennung und
Benanntes zueinander, das Universalienproblem; in Wellen gleichsam beschäftigen
sprachphilosophische Interessen im Hellenismus, in der Scholastik, im 18. Jh die
Gelehrten, und im 20. Jh spricht man überhaupt von einer (sprach)analytischen Wende;
inwieweit können wir uns überhaupt verständigen;
|
– |
das „Ausreizen“ der Deduktion in der antiken Mathematik, dann
weiters in der Philosophie – bis im ausgehenden 13. Jh und im 14. Jh bei Buridan
und anderen zunehmend die Heranziehung der Induktion einsetzt, die dann im 14. und 15.
Jh an Bedeutung gewinnt und schließlich um 1600 – bei Francis
Bacon theoretisch und im Zuge der Entwicklung der Naturwissenschaften
praktisch – zur dominierenden Methode wird und damit aber auch neuerlich als ein
philosophisch-erkenntnistheoretisches Problem in den Vordergrund tritt.
|
|
Grundlegende Prinzipien sind aus „einfachen“ Gegebenheiten
entsprungen – wie die Vorstellung von der Ordnung in der Welt, von der Harmonie, die in
alle Bereiche des Kosmos wirke – geprägt von der Betrachtung des Himmels in seiner sich
dem damaligen Beobachter ganz anders als dem modernen Astronomen darstellenden
Ordnung.
|
Die Verbindung derartiger Wahrnehmungen mit einer das Mythische und das
Magische zurückdrängenden Rationalität ist es, was den Prozeß in Gang bringt, der hier
dargestellt werden soll und dessen Verlauf das Mythische als Begründung der Erscheinung
ersetzt und verdrängt wird durch das Streben nach einer rationalen Konstruktion einer
hinter und über den vordergründig zu schauenenden Phänomenen liegenden Erklärung – einer
Theorie.
|
Und dadurch erst kommt jene zweite Ebene zustande, welche die Entwicklung
des wissenschaftlichen Denkens ausmacht: die Reflexion über das denkerische Behandeln
der Probleme und zugleich die Entwicklung der Methode des Denkens an sich.
|
Es setzt eine derartige Entwicklung eine Form von Humanismus, einer
anthropozentrischen Betrachtungsweise voraus, die anstelle der Götter den Menschen in
das Zentrum rückt und die ihn bewegenden Fragen, also sein rationales Wollen um die
Erfassung seiner selbst und dessen, was ihn umgibt. Es handelt sich dabei letztlich um
einen Säkularisierungsprozeß, um eine Form von „Aufklärung“.
|
Mit diesen Aspekten ist zu begründen, weshalb der „Prozeß
Wissenschaft“ mit dem klassischen Griechenland einsetzt und nicht mit dem Alten Orient,
obgleich es auch dort schon sehr bedeutende Erkenntnisleistungen
(quasiwissenschaftlicher Natur) gegeben hat, die auch die Entwicklung in Griechenland
inhaltlich wesentlich beeinflußt haben. Als eine wesentliche Zäsur in dieser Hinsicht
könnte man den Übergang von Platon auf Aristoteles auffassen, der dauerhaft wirksam
gewissermaßen das physische Individuum zur primären Realität und damit zum wichtigsten
Gegenstand der Erkenntnisarbeit erhoben hat, ohne die Vorstellung von einer höchsten,
unveränderlichen Wirklichkeit, die das Universum lenkt, aufzugeben2.
|
|
Für das Verständnis der zu behandelnden Probleme ist es
unabdingbar notwendig, eine Reihe von Begriffen zu erläutern bzw. Definitionen zu geben.
Es ist wohl einsichtig, dass eine derartige Auflistung weder vollständig noch inhaltlich
erschöpfend sein kann und in vielerlei Hinsicht vorausgreifen muss.
|
|
Was „Wissenschaft“ sei, ist bis heute Gegenstand intensiver und
oft genug kontroverser Diskussion. Der klassische und seitens der Naturwissenschaften
vertretene Wissenschaftsbegriff ist wesentlich jener, wie er in der klassischen
griechischen Philosophie durch Platon
und Aristoteles als Ideal formuliert worden ist, wobei aber bereits Platon
und mehr noch Aristoteles die Einlösbarkeit dieses Ideals als nicht durchgängig
realisierbar gesehen haben und Aristoteles deshalb auch die Induktion als Erkenntnisverfahren akzeptiert
hat.
|
In der Scholastik und im Humanismus hat man jeweils auf die
Idealvorstellung zurückgegriffen, um neuerdings die Unumgänglichkeit der
Selbstbeschränkung, die Akzeptierung der Induktion und damit der im Prinzip
unüberwindlichen Unvollständigkeit unseres Wissens zu erkennen. Indem man sich damit
nicht abzufinden vermochte (und vermag) und im Humanismus das rigorose
Wissenschaftsideal einer vermeintlich absoluten Gewissheit der Mathematik und der ihr
nahegerückten Naturphilosophie (entgegen bereits u.a. bei Buridan zu findender
Relativierung unserer Erkenntnismöglichkeiten) erneuert und auch für die
„geisteswissenschaftlichen“ Bereiche gefordert hat, ist die Diskussion um die
vorgeblich grundlegende Diskrepanz zwischen den Geisteswissenschaften und den
vermeintlich Gewissheit vermittelnden Naturwisenschaften entstanden, die sich im
Zusammenhang mit der Historisierung im 16. Jh wesentlich an der Problematik der
Geschichtswissenschaft entzündete und bis in die Gegenwart zur Diskussion steht. Es
ist dieser Prozess Ausdruck des aus der menschlichen Natur heraus unausweichlichen
Strebens nach gesichertem Wissen, nach „gewisser“ und „wahrer“ Erkentnnis – eine
Neuauflage gewissermaßen eines, wie bereits erwähnt, immer wieder erkannten
Problems.
|
|
Mit dem Wort „Wissen“ bezeichnen wir Viererlei3:
|
|
– |
einen Gegenstand so aufzufassen, wie er „wirklich beschaffen“
ist
|
– |
mit den Gegenständen des Wissens erfolgreich umgehen zu
können
|
|
b) |
den epistemischen Zustand, indem man sich auf Grund des
Gegebenseins von Pkt 1 befindet
|
c) |
den Inhalt, auf den eine erkennende Person sich bezieht |
d) |
die Aussage, die eine Person im Sinne von Pkt 3 sprachlich zum
Ausdruck bringt.
|
|
In subjektiver Hinsicht zeichnet sich „Wissen“ durch das
Merkmal der „Gewissheit“ aus.
|
In objektiver Hinsicht zeichnet sich „Wissen“ durch das
Merkmal der „Wahrheit“ aus4.
|
Das Wort „wissen“ geht auf die indogermanische Wurzel „vid“
zurück, die mit den Inhalten „sehen“ und „Licht“ verbunden ist („videre“, „Idee“
etc.). Die Griechen haben den Begriff Wissen ursprünglich mit der sinnlichen,
insbesondere der visuellen Wahrnehmung gleichgesetzt. Ihr Verbum oida = ich weiß entstammt derselben indogermanischen Wurzel wie
videre, wobei oida aber eine Perfektform ist = „ich bin
gerade in der Situation von jemandem, der gesehen hat“. es geht also genau
genommen, um nicht um das, was ich eben sehe, sondern um das, was ich gesehen, was
ich wahrgenommen habe und was ich, weil ich „Augenzeuge“ war, jetzt noch beschreiben
kann.
|
Damit wird ursprünglich der Bereich des Erkennbaren auf innerhalb
räumlicher und zeitlicher Schranken Sichtbares beschränkt. Platon folgert deshalb z.B. in „Theaitetos“, dass von einem Verbrechen nur
ein Augenzeuge wissen könne, der Richter aber, der auf Grund von Aussagen urteile,
zwar ein an sich korrektes Urteil fällen könne, dass dies aber ohne Wissen
geschehe5. In Hinblick auf
die Bedeutung der Sinneswahrnehmung entwickelte er die Vorstellung, dass die
unsterbliche und unvergängliche, immer wieder neu geborene Seele bereits alles
gesehen und gelernt habe und sich dann eben erinnere.
|
In den langwierigen Diskussionen um den Begriff „Wissen“ geht es immer
um ein „wissenschaftliches“ Wissen in einem strengeren Sinne. Platon hat das Wort „episteme“ =
Verstehen, Einsicht, Wissen(schaft) zum zentralen Begriff der antiken
Erkenntnistheorie gemacht. Im Lateinischen wird das Wort „scientia“ verwendet. Bis in die neuere Zeit werden die Begriffe
„Wissen“ und „Wissenschaft“ auch synonym verwendet.
|
Schon vor Platon wird die Frage des Wissens diskutiert. Beispielsweise vertritt
Xenophanes die Auffassung, dass Erfahrung nicht zu sicherem Wissen führen
könne – „In gewissen Bereichen, vor allem in der
Theologie, hat kein Mensch je Klares gesehen, und es wird auch keinen geben, der
es gesehen hat [...] Denn sogar, wenn es
einem [durch Zufall] in außerordentlichem Maße
gelungen wäre, Vollkommenes zu sagen, würde er sich dessen trotzdem nicht bewusst
sein: bei allen Dingen gibt es nur Meinung“; über die Vermutung gelange man
nicht hinaus; an die Stelle der Wahrheitsgewißheit tritt damit das Suchen, denn „mit der Zeit finden die Menschen suchend
Besseres“.
|
Die Wahrnehmungen und Erfahrungen, denen der Wissenscharakter
abgesprochen wurde6 galten als doxa
(= Meinung)7; Meinen ist nicht Wissen,
selbst wenn das, was man meint, wahr sein sollte.
Xenophanes hat pragmatisch gefolgert, dass man bei hinreichendem Nachdenken
die Chance habe, zu nicht gänzlich illusorischen, sondern zu „wahrscheinlichen
Meinungen“8 zu gelangen. Ähnliche Ansätze finden sich bei anderen
Philosophen, wie etwa bei Parmenides.
|
Diese Einschätzungen sind von den Skeptikern radikal ausgeschlachtet
worden und haben zur Erörterung von Fragen geführt wie:
|
– |
Wie kann man nach etwas suchen, von dem man nicht weiß, wie es
beschaffen ist?
|
– |
Wie kann man im Falle des Findens das Gefundene als das
identifizieren, was man gesucht hat?
|
– |
Wie entsteht etwas Neues? |
|
Die ersten eingehenderen theoretischen Erörterungen des
Begriffs „Wissen“ nehmen Platon und nachfolgend Aristoteles vor.
|
Das prägende Vorbild der weiteren Entwicklung der Erkenntnistheorie ist
– trotz der immer wieder, auch von Platon selbst, erkannten Einschränkungen – Platons Vorstellung eines idealen, perfekten Wissens, das es nur in Bezug
auf unveränderliche Sachverhalte geben könne – Platons Wissen ist eigentlich ein
Wissen höherer Ordnung, ein „Wissen um die Ideen bzw. der Ideen“, das ihm
Voraussetzung für jegliches empirische Wissen ist. Den Weg zum Ideen-Wissen stellt
Platon im Liniengleichnis dar
. Methodisch ist die höchste Form von Wissen für Platon in der Dialektik, d.h. der Logik verkörpert, die teils
Wissen(schaft), teils Instrument ist.
|
In seinem Dialog „Theaitetos“ wird Wissen diskutiert und dort auch als
„wahre Meinung“ (d.h. auf einem empirischen Urteil gegründete Meinung) „mit
Erklärung“ (was auf der Verbindung der Meinung mit dem Logos beruht) vorgestellt.
Damit nimmt Platon in gewisser Hinsicht „die heutige
Standardanalyse von Wissen vorweg, derzufolge zwei Formen der
Rechtsfertigungsbedingungen erfüllt sein müssen: Eine Person hält eine Meinung
gerechtfertigterweise für wahr, wenn |
a) |
sie sich ihre Meinung in subjektiver Hinsicht auf
rationale Weise gebildet hat (d.h., dass sie für ihre Meinung epistemisch
verantwortlich ist) und
|
b) |
die Meinung auch tatsächlich auf angemessenen
Gründen beruht.
|
|
Wissen bedeutet deshalb bei Platon teils das perfekte
Ideen-Wissen, teils das für den Menschen erreichbare Wissen. Eine abschließende
Definition findet sich bei Platon nicht.
|
Ziel des Wissens ist für Platon die
Ermöglichung richtigen Handelns. Episteme hat dementsprechend in einem weiteren
Sinne auch die Bedeutung ‚über eine Auffassung Rechenschaft geben’“.
|
Platon hat entschieden die Begründung von Wissen(schaft) durch Beweise
(apodeixis) gefordert, denen im Gegensatz zu
der von den Rhetoren angewandten „Überredung“ (peitho), wie sie auch bei Aristoteles vorkommt, zwingende Qualität abverlangt wird9; deshalb wird auch um den Begriff des Beweises
intensiver gerungen denn je zuvor10, ohne dass Platon allerdings zu einer exakte Definition gelangt. Diese liefert erst
Aristoteles in der Zweiten Analytik11.
|
Die Problematik des von Platon in Zusammenhang mit dem Wissen in die Diskussion eingebrachten
Meinens besteht darin, dass die Meinung begründet werden sollte. Durch Induktion
kann man vordergründig begründende Aussagen gewinnen – z.B. Schweiß kann auf der
Haut auftreten, wenn es unsichtbare Poren gibt; hieraus könnte gefolgert werden: ist
Schweiß vorhanden, dann müssten auch Poren vorhanden sein. Es kann nun aber auch
andere Ursachen für Schweiß bzw. Feuchtigkeit auf der Oberfläche geben, die keine
Poren erfordert – z.B. der feuchte Beschlag auf einem mit kalter Flüssigkeit
gefüllten Glas. Es gibt keine Möglichkeit der Verifizierung der Hypothese, daß
Schweiß nur dann auftritt, wenn Poren vorhanden
sind. Um eine Meinung zu begründen, bringt es deshalb nichts, die Folgen zu
untersuchen, man muß vielmehr die Prinzipien untersuchen, deren Konsequenz die
Meinung ist. Erst kausales, begründendes Denken (so Platon), das objektive Ursachen offenbart, kann Meinung in Wissen
verwandeln. Begründendes Denken reiht wahre Meinungen aneinander und stabilisiert
sie zu Wissen.
|
Eingehender als Platon widmet sich Aristoteles dem dem Menschen möglichen Wissen, wenn er auch, wie bereits
festgestellt, an Platons Ideal des perfekten Wissens, das „immer wahr“ ist, festhält. Auch
für ihn gibt es Wissen nur in Bezug auf unveränderliche Gegenstände, die in dem
Sinne kausal „notwendig“ sind, dass es sich in Hinblick auf sie nicht anders
verhalten könne. Wissen liegt dann vor, wenn man Sachverhalte zu erklären vermag,
d.h., wenn man die Ursachen kennt. Aristoteles fordert für Wissen, die grundlegenden Elemente eines
Gegenstandsbereiches zu kennen; so heißt es zum Begriff „Wissen“: "man weiß etwas, wenn man den Grund erkennt, warum es so ist, und
damit die Gewißheit hat, daß es nicht anders sein kann. Eine Art auf diese Weise
etwas zu wissen, ist durch einen Beweis. Ein Beweis ist ein wissenschaftlicher,
d.h. im oben angegebenen Sinne zum Wissen führender logischer Schluß
[Syllogismus]"; der Beweis ist deduktiv und spezifisch syllogistisch in der
Form, ausgehend von Prämissen, die wahr, primär, unmittelbar und explikativ für die
Konklusionen sind; explikativ müssen die Prämissen sein, weil sich das von
betreffenden Beweis gelieferte Wissen nicht auf bloße Fakten bezieht, sondern auf
deren Erklärung oder auf Ursachen.
|
Die Analyse hat zu liefern: |
a) |
die elementaren kausalen Ursachen für eine Tatsache und |
b) |
die logischen Prämissen, in denen die Ursachen genannt
werden12. Die
notwendigen Prämissen müssen Aristoteles zufolge wahr, erste, unvermittelt,
einsichtiger als das aus ihnen Geschlossene, früher und das aus ihnen Geschlossene
begründend sein. "Wahre und erste Sätze sind
solche, die nicht erst durch anderes, sondern aus sich selbst glaubhaft sind.
Denn bei den Prinzipien der Wissenschaften darf man nicht nach dem Warum
fragen"13.
|
|
Hinsichtlich der Schritte, die zu Wissen führen,
unterscheidet Aristoteles: "Von den unvermittelten
Prinzipien eines Schlusses nenne ich |
a) |
Thesen (Setzungen, Annahmen,
Festsetzungen) jene, die man nicht beweisen kann und die nicht jeder schon inne
zu haben braucht, der etwas wissenschaftlich begreifen will; dagegen nenne ich
die Prinzipien, die jeder, der etwas wissenschaftlich begreifen will, inne haben
muß,
|
b) |
Axiome (Denn es gibt einige solche Sätze: z.B., daß Gleiches von Geichem
abgezogen, Gleiches läßt)14. |
|
Von den Thesen sind
|
a) |
diejenigen, die annehmen,
daß etwas ist oder nicht ist, Hypothesen15,
|
b) |
diejenigen, die das nicht tun,
Definitionen16. Denn die
Definition ist zwar eine Thesis – denn der Arithmetiker setzt, daß Einheit das
der Größe nach Unteilbare ist – aber keine Hypothese. Denn es ist nicht
dasselbe, zu sagen, was eine Einheit ist, und daß eine Einheit ist".
|
|
Daraus resultiert, dass Wissen in weiterem Sinne nach Aristoteles erworben wird entweder
|
a) |
durch Beweis (deduktiv) – diskutiert in der Analytica
posteriora – , es ist „Wissen schlechthin“, dem perfekten Ideen-Wissens Platons nahestehend, oder
|
b) |
durch Induktion. |
|
Die Forderung zu wissen, dass etwas notwendig sei (d.h.
unabdingbar so sei sein müsse, wie es ist), dass es anders nicht sein könne (womit
das Wissen unerschütterliche Form gewinnt), warf ein Problem auf, das die Griechen
als solches nicht in vollem Umfange erkannt und daher auch nicht berücksichtigt
haben. Ein Beispiel erweist das Problem: es seien ein Pulverfaß und eine offene
Flamme gegeben, die es berührt; das Faß explodiert. Hier liegt (nach neuzeitlicher
Terminologie) eine „relative, bedingte Notwendigkeit“ vor, denn es ist nicht absolut
bzw. unbedingt notwendig, dass die Explosion eintritt, wenn diese Bedingungen
gegeben sind.
|
Ein Ergebnis des Ringens um den Charakter der Erkenntnis war,
dass bereits bei Platon die „wahre Meinung“ für Tatsachenwahrheiten zuständig ist, das
„Wissen“ aber für „Vernunftwahrheiten und für die ewigen Wahrheiten“.
|
Aristoteles ist – ohne aber die Idealvorstellung gänzlich aufzugeben –
einen Schritt weiter gegangen, indem er die Induktion auch hinsichtlich des
Allgemeinen akzeptiert und das Wissen strukturiert – in bezug auf Gattungen wie
Zahlen, Figuren, Lebewesen u.ä. Die Vorstellung von einem absoluten Wissen
beschränkt er auf die Ontologie als Wissenschaft vom Seienden als Seiendem, die er
als Erste Philosophie bezeichnet und der er universellen Charakter zuschreibt. Er
hat damit die Verbindung zwischen Wissen und Notwendigkeit soweit gelockert, dass er
Wissenschaft von der Natur ermöglichte, nämlich für den Bereich, in dem „das, was die Norm und die Regel ist, die meiste Zeit
über und in den meisten Fällen geschieht“. Aristoteles hat so – mit Vorbehalten und im Gegensatz zu Platon – den Einzeldisziplinen (Arithmetik, Geometrie etc.)
Wissenschaftscharakter, d.h. Wissen vermittelnde Eigenschaften zugesprochen, weil
sie jeweils bestimmte Bereiche, Gattungen von Erscheinungen behandeln und über ihre
jeweils eigenen (mitunter auch gemeinsamen) Prinzipien verfügen.
|
In der Renaissance hat man dies jedoch nicht wahrgenommen und hat die
Idealvorstellung Platons und des Aristoteles als gültige Forderung unterstellt. Das meiste, was wir heute
als Wissen einstufen, wäre in der Antike lediglich als „begründete Meinung“ bewertet
worden.
|
Aristoteles, dem das dem Menschen möglich Wissen weit wichtiger war als
Platon
(der doch strikt zwischen Wissen und Meinen unterschieden hat), hat freier
als dieser auch andere, weit weniger rigide Formen der Erkenntnisgewinnung mit
einbezogen. So hat er neben der Induktion auch die Reflexion über das Gesehene, die
Möglichkeit, das Gesehene als Zeichen, als Indiz zu verwenden, d.h. zu
interpretieren, berücksichtigt bzw. in der Praxis gelten lassen; es geht ihm auch um
die Klärung und Absicherung des Wahrheitsgehaltes „anerkannter“ Meinungen, also um
die Verbesserung der epistemischen Qualität des Meinens.. Mit diesem Bereich hat man
sich nachfolgend im Hellenismus intensiver befasst – die Gewinnung von Wissen aus
der Reflexion von Indizien steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entwicklung
von Kritik, wie sie in der Philologie, aber mehr noch in der Medizin ausgebaut
worden ist, in der man im Hellenismus diesbezüglich drei methodische Schritte
unterschied:
|
– |
die autopsia als
unmittelbares, persönliches Sehen
|
– |
die historia als das
Zusammentragen von Zeugnissen früherer wie gegenwärtiger Experten
|
– |
die metabasis als die
Schlussfolgerung hin zu einem im Augenblick noch außer Reichweite liegenden Wissen
auf Grundlage der beiden ersten Schritte.
|
|
Natürlich war man sich darüber im Klaren, dass die sinnliche
Wahrnehmung bzw. die aus dieser resultierende Erfahrung kein zuverlässiges Wissen
vermittle, sondern der Intervention des Intellekts bedürfe; schon Heraklit hatte festgestellt, dass Sehen nicht Wissen einbringe und dass
auch das bloße Zusammentragen von Information (die polymathie) nicht unbedingt Einsicht vermittle, nicht eo ipso dazu führe, dass man etwas verstehe. Im Griechischen
(synienai), im Lateinischen (comprehendere) wie im Französischen (comprendre) noch wird das für „verstehen“ benutzte Wort von
„zusammentragen“ abgeleitet17.
|
Aristoteles hat zwischen deduktivem Denken an sich (das ja bei falschen
Prämissen auch an sich gültige Deduktionen liefern kann) und dem Beweis
unterschieden und hat festgestellt, dass nicht alle wahren Aussagen bewiesen werden
können, dies gilt vor allem für die primären Aussagen. Aristoteles hat selbst in bezug auf diese expressis verbis vorgenommene systematisch-logische Klarlegung dieses
Bereiches großes Verdienst für sich in Anspruch genommen.
|
Gleichwohl besteht auch bei Aristoteles in der Praxis der Umsetzung eine Kluft zwischen dem idealen
Beweismodell der Zweiten Analytik und der Darstellung vor allem in den
naturwissenschaftlichen Schriften, wo er viele Definitionen ausgesprochenermaßen
schuldig bleibt – dieses Faktum ist bis heute Gegenstand wissenschaftlicher
Kontroversen18.
|
Wie prägend die philosophischen und insbesondere die aristotelischen
Vorstellungen waren, erweist sich an den „Elementa“ des Euklid, die in ihrer strikt beweisorientierten strukturellen Gestaltung
ein Vorbild bis in die Gegenwart geblieben sind, und weiters die Statik und die
Hydrostatik des Archimedes. Aus heutiger Sicht wird das Festhalten der griechischen
Mathematiker an der strengen Beweisführung allerdings auch als ein Hemmnis für die
Forschung – nicht nur in der Mathematik – betrachtet19.
|
Die Gesamtentwicklung zeigt, in welch hohem Maße die
griechische Philosophie bzw. Wissenschaft nach theoretischer Fundierung und nach
Gewissheit strebte. Es hat allerdings auch Gegenströmungen, vor allem in der
Medizin, wo die Empiriker und die Methoder rein pragmatische Ziele verfolgten – es
sei nicht interessant zu erforschen, wie wir atmen, sondern nur, wie man
Atembeschwerden behebe; es gelte, den Kranken zu heilen, sonst nichts. Ähnliche
Erscheinungen gab es in der Musiktheorie.
|
So ersieht man die Spannung zwischen dem Streben nach rational
abgesicherter Gewissheit, dem Erkennen ihrer Schwierigkeiten und geringen
Realisierungsmöglichkeiten einerseits und dem pragmatischen und von approximativem
Vorgehen regierten Bemühen um das Erreichen des Notwendigen andererseits. Es ist
aber auch offenkundig, „dass sich die Wissenschaft,
je reiner sie ist, umso mehr der Form der reinen Mathematik annähert; desto mehr
sich aber auch von dem Material, das sie eigentlich erklären will,
entfernt“20.
|
Es zählt zu den unvergänglichen und bis heute
bestimmenden Leistungen des klassischen Griechenlands, dass man mit höchstem
Einsatz ein logisch-rational geschlossenes System der Erkenntnis zu schaffen
bemüht war.
|
An den im klassischen Altertum durch Platon, Aristoteles und weiters die Stoiker, für die Wissen durch keinerlei
Argumente zu erschütternde Erkenntnis darstellte, und andere Philosophen
erarbeiteten Wissensbegriff schließt im Wege der Aristoteles-Rezeption und durch den Humanismus die Diskussion in der
Neuzeit an. Die Diskussion hält bis heute an.
|
Neben den eben erörterten Aspekten existierte bereits in der
Antike eine Vielfalt hinsichtlich der Verwendung des Wortes „Wissen“21, die auch weiter tradiert und in der scholastischen
Philosophie von Anfang an berücksichtigt wird, indem Wissen als Besitz, als
Vermögen, als Form jeglicher Erkennntis aufgefasst wird. Im Zuge der Rezipierung des
aristotelischen Organons ist jedoch sehr bald eine Verengung, eine striktere
Auffassung von Wissen bestimmend geworden, die sich hin zu „Wissen“ im Zusammenhang
mit „Wissenschaft“ in einem modernen Sinne entwickelt, womit die Frage der
Gewissheit von Erkenntnis, von Wissen verbunden wird. Damit entsteht in bislang noch
nicht gegebener Weise eine Spannung zwischen Glauben (fides) und Wissen in einem rationalen Sinne (ratio, für das der Begriff scientia
herangezogen wird), wie sie in bis in die Hochscholastik dominierender Weise von
Augustinus eingebracht worden ist. Im ausgehenden 13. und mehr noch im
beginnenden 14. Jh wird der Begriff „Wissen“ in bis dahin ungekannter Schärfe
diskutiert und definiert22, früh durch Robert
Grosseteste und Roger
Bacon in dem Sinne, dass allein die Mathematik Gewissheit vermittle und im
allgemeineren insbesondere durch Duns
Scotus, der (neben auch anderen Meinungen) feststellte, dass die für das
Wissen geforderte Evidenz mit dem Glauben unverträglich sei, und nachfolgend
radikaler durch Wilhelm von
Ockham. Die Frage lautet: steht das „Wissen“ aus der Offenbarung höher als
das mit Hilfe der Ratio gewonnene Wissen? Diese Frage war natürlich von höchster
Relevanz, als im Zuge der zunehmenden Naturerkenntnis Differenzen zwischen den
beiden Ebenen erkennbar wurden. Die scholastische Philosophie hat sich dieser Frage
und überhaupt der Frage nach Wissen, nach Wissenschaft und nach Wissenschaftlicher
Methode mit großem Aufwand, mit zunehmender Kenntnis der aristotelischen Schriften
und kulminierend in Thomas von
Aquin mit größter Subtilität gewidmet, bis im 14. Jh durch Wilhelm
von
Ockham die Separierung der beiden Bereiche gewissermaßen unumkehrbar
wurde.
|
War bereits bei Ockham, Buridan und bei Oresme klargestellt, dass absolute Gewissheit in vielen Fällen unmöglich
sei, so ist diese Auffassung in der Renaissance durch Nikolaus
von Kues verstärkt worden, der dem Menschen die Möglichkeit präzisen
Wissens abspricht und nur die Möglichkeit der Mutmaßung (conjectura) zuerkennt. Gleichwohl kommt es in weiterer Folge im
Zusammenhang mit dem Aristotelismus und seiner Kritik im 16. und 17. Jh zu einer
eingehenden Diskussion des Wissensbegriffes, wobei neuerlich das Element der
Gewissheit in den Mittelpunkt rückt und eine Differenzierung unter diesem Aspekt
vorgenommen wird, was durch einen neuen Skeptizismus verstärkt wird, der neuerlich
ein letztlich unerreichbares Ideal formuliert und infolgedessen folgert, dass nur
begrenztes, partikulares Wissen in Erfahrungsbereichen möglich sei.
|
Im Humanismus wird – unter stark platonischem Einfluß und in
Kritik der scholastischen Vorstellungen – die Diskussion fortgeführt, wobei nun die
Methodenlehre an Bedeutung gewinnt. Die aristotelische Richtung erweist sich
letztlich als die bedeutsamere – daran hat letztlich auch der zeitweise starke
Antiaristotelismus (dessen führende Köpfe sehr wohl zwischen Aristoteles und den ihm im Wege des Aristotelismus vermeintlich
zugeschriebenen Lehrmeinungen zu unterscheiden wussten) als eine
Emanzipationsbewegung nichts zu ändern vermocht. Eine neue Belebung tritt durch den
Empirismus und die neue Skepsis ein; Francis
Bacon greift die stoische Auffassung von der Herrschaft des Menschen über
die Natur, die durch Wissen ermöglicht werde, und die Vorstellung von der Einheit,
dem in sich kohärenten System von Wissen(schaft) auf.
|
Mit Descartes, der sich neuerlich um die Grundlegung eines sicheren, gewissen
Wissens bemüht, tritt eine neue Phase der Diskussion um Wissen ein, die durch Kant
eine Wendung erfährt, der Wissen als „das sowohl
subjectiv als objectiv zureichende Fürwahrhalten“23 definiert, als „entweder eine empirische oder eine rationale Gewissheit“, „wobei letztere entweder intuitiv bzw. evident
(Mathematik) oder diskursiv (Philosophie) sein kann“24, und dem Wissen
als weitere Modi des Erkennens Glauben und Meinen zur Seite stellt. Auf dieser
Position bauen die maßgeblichen Diskussionen in der nachfolgenden Zeit, insbesonder
auch hinsichtlich des nicht-naturwissenschaftsbasierten Erkennens auf.
|
Kant, für den Wissen „das sowohl subjectiv
als objectiv zureichende Fürwahrhalten“25 ist, hat die Diskussion ausgeweitet,
indem er die Frage nach dem Wissen um die Möglichkeit von Wissen (wieder) einführt
(„Was kann ich wissen?“); er löst damit eine neuerliche Diskussion um ein „absolutes
Wissen“ bzw. um den Bezug des Menschen zur Welt aus, an der sich nahezu alle
führenden Philosophen der Folgezeit beteiligt haben.
|
Im 19. und 20. Jh tritt der Begriff „Wissen“ hinter dem weiteren
Begriff der „Erkenntnis“ zurück; erst nach 1950 tritt er wieder eigenständiger
hervor. Hans-Georg Gadamer unterscheidet im letzten Drittel des 20. Jhs zwischen einem
„Wissen der Wissenschaft“, das „Wissen vom Unveränderlichen“ ist und das „jeder
lernen“ kann, und einem „sittlichen Wissen“, in dem jeder von dem, was er weiß,
betroffen ist – aus diesem Wissen erwachsen ihm die Geisteswissenschaften, die
moralisches Wissen anstreben, in dem der Mensch sich „als ein Handelnder“ begreift.
|
|
Dieser Begriff26, der
verkürzend als sowohl den Akt des Wissens als auch die Summe des Gewussten, des
menschlichen Wissens bezeichnend aufgefasst werden kann, führt natürlich zurück auf
die im Zusammenhang mit „Wissen“ diskutierten Begrifflichkeiten. Die den heutigen
Wissenschaftsbegriff kennzeichnenden objektiven Konnotationen27 werden erst relativ spät
wesentlich28.
|
Grundlegend für die Entstehung des Begriffs sind Aristoteles „Analytica posteriora“. Das Verständnis vom „System“ leitet
sich wesentlich von der stoischen Philosophie ab – Wissenschaft wird auch dadurch
bestimmt, dass sie in ihren Teilbereichen kohärent ist.
|
Im Mittelalter dominiert anfangs die Einstufung als „ars“ Augustinus formuliert: „Omnis doctrina vel
rerum est vel signorum, sed rest per signa discuntur“ – „alle Lehre handelt
von Dingen oder von Zeichen, aber die Dinge werden durch Zeichen gelernt“. Isidor von
Sevilla hat doctrina, disciplina und
scientia gleichgesetzt, womit scientia auch für die septem artes verwendet worden ist, was mitunter begriffliche
Verwirrung ausgelëst hat. Mit der Aristoteles-Rezeption tritt dann scientia (als Übersetzung von episteme)
an die Stelle von ars. Nun kann scientia mit philosophia synonym gesetzt erscheinen – und so bleibt es auch lange29.
|
In der Spätscholastik werden Wissen und Wissenschaft als das „proprium opus hominis“, das (allein) dem Menschen
eignende Geschäft, und als die höchste in der irdischen Welt erlangbare
Vervollkommnung bezeichnet, wovon es bereits in der 1277 verdammten These 40 heißt
„Es gibt keine ausgezeichnetere Lebensform als sich
frei der Philosophie ˙d.h. der Wissenschaft zu widmen“ und woraus Johannes
Buridan ableitet: „omnis scientia est bona,
honorabilis, delectabilis et utilis“.
|
Die Diskussion im 13. und 14. Jh gilt primär der Vereinbarkeit des
rational begründeten Wissens im Sinne des Aristotelismus mit der Theologie, in
weiterer Folge geht es um den Objektbereich und um die Einheit der Wissenschaft
sowie um die mathematische und erfahrungsgeleitet-experimentelle Fundierung, die
sich seit dem Ende des 13. Jhs anbahnt. In diesem Sinne wird der Begriff scientia auch synonym für philosophia verwendet (was bis weit in die Neuzeit hinein
anhält); gleichzeitig erfolgt damit auch eine Separierung von der theologia. Von entscheidender Bedeutung ist, dass das Verfahren
der philosophia, d.h. das rationale Verfahren im
Sinne der scientia auch als ein in der theologia anzuwendendes Verfahren akzeptiert
wird30: Thomas von
Aquin bejaht die Frage utrum sacra doctrina
sit argumentativa, wenn er auch die Grundlagen für das Vorgehen im Sinne der
scientia noch aus dem Glauben abzuleiten
sucht, wogegen bereits in den Thesen von 1277 massiv Position bezogen wurde.
|
In der Frühen Neuzeit tritt die experientia, die Erfahrung als wesentlicher Begriff hinzu, und es werden die
bei einigen Autoren (z.B. bei Roger
Bacon) schon früh skizzierten gesamthafte Konzeptionen einer universalen
Wissenschaftsauffassung, eines Systems, entwickelt.
|
In der Frühen Neuzeit tritt – nach den Anfängen bei Roger
Bacon und in der spätscholastsichen Naturphilosophie – die Frage nach der
der Wissenschaft zugrundezulegenden Methode in den Vordergrund: Francis
Bacon, Galilei, Newton
u.a. fordern Induktion und Empirie, womit auch die Forderung nach dem Experiment
verbunden ist und was die Entstehung der experimental
philosophy bzw. der natural philosophy im
Sinne der modernen Naturwissenschaften zur Folge hat31, in der der
bis dahin bestimmende Faktor der Logik in den Hintergrund tritt, wenngleich diese in
der Diskussion des Wissenschaftsbegriffes weiterhin eine bedeutsame Rolle spielt.
Kant
definiert Wissenschaft als „Inbegriff einer
Erkenntniß als System“, die kein bloßes „Aggregat“ sei. Jede Wissenschaft ist nach kant wiederum ein
System für sich und hat gleichzeitig „in der
Encyclopädie aller Wissenschaften ihre bestimmte Stelle“. Zur selben Zeit
kommt es erst zur deutlichen Diffrenzierung der Begriffe „Wissen“ und
„Wissenschaft“, wie auch der Begriff „Wissenschaftler“ – jenseits von mathematicus, physicus etc. –aufkommt32.
|
In weiterer Folge entwickelt sich im Wege der Differenzierung der
philosophischen Schulen und in Analogie zum Wissensbegriff eine intensive und
reichhaltige Diskussion um den Wissenschaftsbegriff, in der der
Wissenschaftscharakter der Naturwissenschaften unbestrittener erscheint, während die
alte und durch die Ausweitung der Auseinandersetzung mit der Historie wesentlich
intensivierte Frage der Wertigkeit der nicht naturwissenschaftlich-empirischen und
nicht auf mathematischer Unterstützung aufbauenden Erkenntnis weiterhin umstritten
bleibt und bis heute Gegenstand zahlreicher Versuche einer Einbindung in die Sphäre
der Gewissheit ist.
|
Im 19. Jh entwickelt sich – nach dem kurzen Intermezzo der
idealistischen Konzeption einer Wissenschaft im aristotelischen Sinne durch Hegel und einem kurzzeitigen neuerlichen Anspruch der Philosophie als der
eigentlichen Wissenschaft – der Exodus der Wissenschaften aus der Philosophie.
Wissenschaft wird als etwas aufgefasst, was nach Wilhelm von Humboldt
„aus der Tiefe des Geistes heraus“ zu schaffen
und unablässig zu suchen und dennoch niemals abzuschließen sei. Im Gefolge der
vorangegangenen Diskussionen nehmen die Naturwissenschaften eine modellhafte
Position ein und werden (wie im angloamerikanischen Bereich heute noch vielfach)
überhaupt als Synonym für Wissenschaft gewertet, während sich vor allem im deutschen
Raum die Geisteswissenschaften als solche entwickeln und in eine Opposition zu den
Naturwissenschaften geraten, was in grundlegende Diskussionen zum
Wissenschaftsbegriff überhaupt mündet, in denen die Naturwissenschaften als
nomothetische (gesetzesgeprägte) und die Geisteswissenschaften als idiographische
(ereignisorientierte) Wissenschaften gegenübergestellt werden. Im 20. Jh wird diese
Auseinandersetzung maßgeblich durch den vor allem in Frankreich entwickelten
Positivismus beeinflusst; insgesamt entwickelt sich aber eine Fülle von
logisch-empiristischen, analytischen, kritisch-rationalistischen und anderen
Richtungen, die das Phänomen Wissenschaft uter den verschiedensten Aspekten
diskutieren. Wenn auch immer noch einer monistischen Auffassung die dualistische
gegenübersteht, die zwischen der naturwissenschaftlich-positiven Erkenntnis und der
geisteswissenschaftlich-hermeneutischen unterscheidet, so ist man doch in vieler
Hinsicht zu eher flexiblen Vorstellung zurückgekehrt und vermeidet restriktive
Wissenschaftskriterien, in gewisser Hinsicht wir Paul Feyerabends „anything goes“
akzeptiert.
|
Hinsichtlich der Wissenschaftsgeschichte ist bezüglich des
Wissen(schaft)sbegriffes im ausgehenden 20. Jh von französischen Philosophen
formuliert worden: „Eine Geschichte ‚der’
Wissenschaften kann die Epistemologie [...] überhaupt nur in dem Sinne sein, dass
sie die konkrete Unterteilung ‚der’ Wissenschaften ‚unbestimmt global’ handhabe.
Es gehe [...] darum, eine Geschichte der Wissenschaften zu entfalten als
Geschichte“ eines Stromes des Wissens als solchen; nur so könne „das Wissen als Formation in bezug zu anderen
Formationen der allgemeinen Geschichte gesetzt“ werden33.
|
|
Die beiden grundlegenden Gegenstände wissenschaftlicher Arbeit
sind der Mensch in seiner individuellen wie kollektiven Aktivität als soziales Wesen
im umfassendsten Sinne und die Natur sowie naturgemäß das Wechselspiel beider.
|
|
In der Frage nach dem eigenen Sein und nach der Positionen
und den Aufgaben des Menschen ist die Entstehung der Philosophie gleichermaßen
begründet wie in der Frage nach der Welt, in der er existiert.
|
Im klassischen Altertum ist der Mensch wesentlich Objekt
ethisch-moralischer Betrachtungen. Aristoteles betrachtet ihn über Platon hinausgehend als zoon
politikon. Die Stoiker bringen neue Aspekte in die Betrachtung des Menschen
ein, der zunehmend auch in Bezug auf die Natur handelndes Objekt wird – Mensch als
alter deus. Rückschlag durch das Christentum:
Frage der Prädestination bzw. der Freien Willens – Augustinus, Duns
Scotus bringt die Position des Individuums in die Betrachtung ein, Luther. Säkulare Diskussion des Freien Willens und der Verhältnisses des
Menschen zur Natur im Zusammenhang mit seiner Handlungsfreiheit auch in einem
psychologischen und physiologischen Sinne; Mensch als Maschine.
|
|
Wissenschaft ist primär aus der Auseinandersetzung des
Menschen mit der ihn umgebenden Natur entstanden. Es ist deshalb für die Frühzeit
das Naturverständnis ein wesentlicher Faktor. Der Mensch versucht, sich ein Bild von
seiner Umgebung zu machen, die er erst in mythisch-magischer Auffassung und dann
zunehmend rationaler als Natur erfasst, und später in ihren Erscheinungen zu
erfassen und zu erklären sucht34. Aus dieser
Auseinandersetzung mit der Umwelt und später schließlich der Analyse des Menschen in
der Natur und in seiner geistigen Tätigkeit entsteht Wissenschaft.
|
|
Ernst Cassirer erblickt im mythisch-magischen Naturverständnis den Vorläufer
der Naturwissenschaften. Beide kämen gewissermaßen aus derselben Wurzeln: Die
Auseinandersetzung mit der Welt war und ist stets auch eine Auseinandersetzung mit
der Natur. Die Anfänge des Denkens sind dadurch geprägt.
|
Die anfängliche Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit der Natur
vollziehen sich in magisch-mythisch bestimmter Auffassungen und Praktiken. Das
Ziel ist im Prinzip bereits das der späteren Naturwissenschaften: Beherrschung der
Natur zumindest in dem Sinne, daß das Bedrohliche abgewendet werden soll. Bis
heute wesentliche Begriffe stammen aus jener Phase. So z.B. der Begriff „Kraft“ –
als etwas, was durch Präsenz eines Gegenstandes oder auch Aussprechen von Worten,
Formeln etc. augenblicklich wirkt: Gott sprach, es
werde Licht. Und es ward Licht; Im Anfang
war das Wort, Sprache als ein wesentliches Instrument der Magie. In diesem
Bereich sind die Vorstellung bezüglich des Aussprechens des Wortes als
Schöpfungsakt („Es werde Licht!“), als
Herrschaft über etwas, Herbeizwingen eines Geistes durch Aussprechen seines Namens
etc. sowie Problem des unaussprechlichen Gottesnamens zu sehen.
|
Das Magisch-Mythische entspringt im Trieb-, Affekt- und Wunschleben
des Menschen, in der Gefühls- und Empfindungswelt mit einem noch nicht wirklich
entwickelten Wahrnehmungspegel, ohne besondere Differenzierung, Präzisierung der
Wahrnehmung, ohne bewußte distanzierte Reflexion – es wird zwischen Ganzem und
Teil, zwischen Ursache und Wirkung noch nicht hinreichend unterschieden. Die
magisch-mythische Auffassung differenziert nicht zwischen dem Ganzen und dem Teil
(Besitz von Haaren gibt Macht über die Person als Ganzes etc.), erfaßt deshalb
auch noch nicht die Funktionsweise komplexerer Gebilde. Es fehlt der für das
wissenschaftliche Denken fundamentale Begriff der Kausalität. Verursachendes und
Verursachtes werden nicht hinreichend von einander unterschieden. Damit hängt auch
ein anderer Analogiebegriff bzw. anderer Begriff von Identität zusammen: der Rauch
aus der Pfeife des den Regenzauber vollziehenden Schamanen ist die ersehnte
Regenwolke selbst; die für das wissenschaftliche Denken unabdingbare Zerlegung der
Objekte in zu analysierende Teile ist auf Grund dieses Mangels nicht vollziehbar,
ist nicht gegeben. Andererseits sind unsere ganzheitlich orientierten
Vorstellungen von der Harmonie und Ausgeglichenheit der Dinge, der Einbindung in
die Natur – Einssein mit der Natur etc. – im magisch-mythischen Bereich
beheimatet. Personifizierung der Natur, Mutter Erde, der man nicht durch Pflügen
etc. Gewalt antun darf , u.ä.m.
|
Die Magie strebt nach einer unmittelbaren Verbindung zur Natur, einer
unmittelbaren Naturbeherrschung, Naturbeeinflussung.
|
Der Mythos ist hingegen bereits eine distanziertere Form der
Wirklichkeitserfahrung – er sucht nicht mehr in die Natur einzugreifen, sondern
stellt derartige Versuche nur mehr verbal dar.
|
Beide – mythisch-magische Auffassung und wissenschaftliche Auffassung
– entspringen demnach derselben Wurzel, sind eigentlich nur graduell
unterschiedliche Ausformungen der Auseinandersetzung mit der Welt. Erst im Zuge
einer logischen Genese entwickelt sich nach Cassirer35
das, was wir als wissenschaftliches Vorgehen bezeichnen. Viele Elemente des
mythisch-magischen Verstehens gehen in die heutige Welt über, wie ja die
mythisch-magische Auffassung weiter fortlebt – Astrologie, Esoterik etc. So handelt es sich im Grunde genommen um eine
Gewichtungsverschiebung vom Mythisch-Magischen hin zum
Empirisch-Rationalen. |
Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist bestimmt durch Analyse und
Synthese – „Zerlegung“ der Natur in Teilbereiche, die untersucht und dann wieder
in das Ganze eingefügt werden. Mit der Frage nach der Beherrschung der Natur durch
den Menschen tritt die Auffassung, dass die Natur eine organische Gesamteinheit
sei, in den Hintergrund – der Mensch tritt dadurch in ein ganz anderes Verhältnis
zur Natur, nimmt sich nicht mehr so sehr als integrierender Teil wahr, sondern
gewissermaßen als Alternative oder Nachbild des Schöpfers, als alter deus.
|
Im Wesentlichen können hinsichtlich des Verhältnisses gegenüber der
Natur drei Stadien angenommen werden:
|
|
Platon strebt in seiner Philosophie nach dem rationalen
Erkennen der Natur und der Verständigung darüber. Aristoteles unterscheidet im
4. Kapitel des 5. Buches seiner Metaphysik
sechs verschiedene Bedeutungen von Natur:
|
1 |
Natur als Werden der wachsenden Dinge |
2 |
Natur als das, woraus als Erstem das Wachsende wächst, also
der immanente Wachstumsgrund
|
3 |
Natur als das, wovon die erste Bewegung bei jedem natürlichen
Ding ausgeht
|
4 |
Natur als das, woraus als Erstem ohne Umgestaltung und
Veränderung aus eigenem Vermögen die nicht-natürlichen Dinge entstehen, d.h. als
Stoff, der dem Menschen zur Verfügung steht
|
5 |
Natur als Wesen der natürlichen Dinge im Sinne von
Zusammensetzung, Form oder Gestalt, die zugleich Zweck des Werdens ist
|
6 |
Natur im übertragenen Sinne als Wesen überhaupt und zwar
einschließlich der künstlichen Dinge.
|
|
Aristoteles erachtet in der Natur vier Ursachen als wirksam
gegeben:
|
– |
Formursache: causa
formalis, sie ist zusammen mit der causa
materialis das den Stoff Bestimmende und ist gleichzeitig Ziel und Ende
des auf sie ausgerichteten Wachstums- und Bewegungsprozesses – Haus als Vorstellung, als Plan |
– |
Materialursache: causa
materialis Ziegel als Stoff, Material des Hauses |
– |
Zweckursache: causa finalis
Haus als Wohnung |
– |
Wirkursache: causa efficiens
Haus .
|
|
Wesentlich ist bei den Griechen und insbesondere bei
Aristoteles die prozeßhafte Auffassung der Natur. Das griechische Wort für Natur,
physis, wird von einer indogermanischen
Wurzel für wachsen abgeleitet, sowie das
lateinische natura von nasci abzuleiten ist. Bei Homer kommt „physis“ noch in
pflanzlichem Sinne vor.
|
Das Gesetz, bei Pindar um 500 dem König zugeordnet, erscheint
beim Sophisten Hippias um 400 als Tyrann. Später ergibt sich die
Kontroverse zwischen dem Naturrecht (Recht des Stärkeren) und menschlichem Recht
(das auch das Recht des Schwächeren sein kann). Für Platon ist das Gesetzte, das
menschliche Gesetz, das auf der Vernunft beruht, das wertvollere, Aristoteles
betont hingegen mehr den Wert des Natürlichen.
|
|
Im christlichen Bereich wird die Natur als Konstruktion und
Artefakt Gottes betrachtet. In diesem Zusammenhang ist die Differenzierung
zwischen natura naturans (= die
hervorbringende Natur, d.i. im Mittelalter Gott) und der natura naturata als der hervorgebrachten, geschaffenen Natur,
die nicht von sich aus entwickelt und schafft, zu sehen. Dieser Differenzierung
begegnet man erstmals in einer Aristoteles-Übersetzung des Michael
Scotus.
|
|
Nun kommt es zur Ausweitung der schon in der der Bibel und
in der stoischen Philosophie auftretenden Vorstellung, daß die Natur dem Menschen
untertan sei, dass – so die stoische Philosophie – der Mensch ein zweiter Schöpfer
sei, der die Natur durch menschliche Kunstprodukte konkurrenziere bzw. zu
übertreffen, zu erweitern suche. Die Natur wird verschiedentlich auch als
menschliches Konstrukt, als Produkt des Menschen verstanden. |
|
Es gibt unterschiedliche Bereiche von Wissenschaft, für die
verschiedene Theorien und unterschiedliche Methoden gültig sind. Dem entsprechend gibt
es verschiedene Modelle für eine inhaltliche Strukturierung von Wissenschaft.
|
Hinsichtlich der Zielsetzung
unterscheiden wir drei wissenschaftliche Betrachtungsmöglichkeiten der
Erscheinungswelt:
|
a) |
wie die Objekte beschaffen sind und sich verhalten, welches im
Allgemeinen ihr Wesen und Sein ist = naturwissenschaftliche Betrachtung,
|
b) |
wie die Objekte zu dem Besonderen geworden sind bzw. werden, was
sie sind, = geschichtliche
Betrachtungsweise,
|
c) |
was die Objekte in ihrem Zusammenhang zueinander und in der Welt
bedeuten = philosophische
Betrachtungsweise.
|
|
Hinsichtlich der Erkenntnisgewissheit,
der Modi des Erkennens, unterscheiden wir der Differenzierung des Wissensbegriffes
entsprechend ebenfalls zwei bzw. drei Gruppen:
|
Im Altertum unterschieden bereits Platon
und Aristoteles die Bereiche
|
– |
Wissen, als gewisse, gesicherte Erkenntnis |
– |
Meinen, als nicht gesichertes und in Ermangelung eines Besseren
doch akzeptierten „Wissens“.
|
|
Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit stand die Erkenntnis
aus der göttlichen Offenbarung an der Spitze, so unterschied z.B. noch 1566 Jean Bodin
in seiner "Methodus ad facilem historiarum
cognitionem"36:
|
– |
Glauben = Historia divina = cognitio certissima = gewisseste Erkenntnis
|
– |
Wissen = Historia naturalis =
cognitio certa = gewisse Erkenntnis37 |
– |
(Meinen) = Historia humana = cognitio incerta et confusa = ungewisse Erkenntnis
|
|
Im Zuge der Mathematisierung der Naturphilosophie
(Naturwissenschaften) und der gleichzeitigen Säkularisierung erlangte die Cognitio mathematica = philosophica = logica (in
Fortführung die auch die Gottesvorstellung beeinflussenden Geometrie – more geometrico) den höchsten Rang, und die Sphäre
des Glaubens scheidet aus dem Bereich Wissenschaft aus, sodass wieder die im Altertum
schon gegebene Zweiteilung – Wissen und Meinen – Gültigkeit erlangt, wie sie später
durch Kant
in der Trias Wissen – Meinen – Glauben neu gefestigt wird.
|
Hinsichtlich der Erkenntnisgrundlagen
wird unterschieden wie folgt
|
|
|
b) |
Erfahrungswissenschaften |
|
– |
Naturwissenschaften: Physik, Chemie etc. |
– |
Geisteswissenschaften: Sprach-, Geschichts-,
Kunstwissenschaften
|
|
|
Steuerungsbereiche der Wissenschaft sind Theorie und
Methode.
|
|
Theorie bezeichnet die Betrachtung, Anschauung, auch
Erkenntnis; ursprünglich für Schau im Gegensatz zur wahrnehmbaren Erfahrung (z.B.
bei Platon im Zusammenhang mit dem [wissg-063-77::Höhlengleichnis] die
kontemplative Betrachtung des unveränderlichen Göttlichen38) – es geht um das, was (als ordnend, als
Ordnung, als strukturiert Ewiges) „hinter“ dem Wahrnehmbaren (Werdenden,
Vergänglichen, Zeitlichen) liegt.
|
Aristoteles verbindet den Begriff theoria eng mit dem Wissenschaftlichen, wenn er die Metaphysik als eine
„theoretische Wissenschaft“ bezeichnet und weiters die Mathematik, die Physik und
die Theologie mit diesem Epitethon belegt; damit treten theoretische Wissenschaften
neben die praktischen – sie bestehen wie die Theorie für sich selbst – hier spielt
noch ein Wortinhalt herein wie in der mittelalterlichen „vita contemplativa“, d.h. der auf höhere Schau gerichteten,
nicht praktisch-zweckorientierten Schau, wie ja im Mittelalter die
theologisch-mystischen Komponenten des Begriffs in den Vordergrund gerückt werden.
Mit dem Beginn der Theoriediskussionen im 16. Jh und zu Beginn des 17. Jhs wird das
kontemplative Ideal des Altertums wie des Mittelalters zurückgedrängt und der neue
Theoriebegriff geschaffen, den Gadamer beschreibt als ein „Konstruktionsmittel, durch das man Erfahrungen einheitlich zusammenfasst und ihre
Beherrschung ermöglicht“39.
|
Im 17. Jh tritt der Begriff theoria
in enge Nachbarschaft zum Begriff der Hypothese40. Newton
beispielsweise verwendet theoria, weil er den
Begriff Hypothese in negativer Kritik anderer „verbraucht“ hat und nicht auf seine
eigenen Modelle, die er als fehlerfrei erachtet, anwenden will. Kant
schränkt den Theoriebegriff auf die Natur ein. Nach ihm wird die Verwendung des
Begriffes ausgeweitet und damit die grundlegende Veränderung im 19. Jh
vorbereitet.
|
In Zusammenhang mit dem Verlust an Wahrheits-Gewissheit der
Erkenntnis, wie er im Zuge der kritischen Entwicklung zu Ende des 19. Jhs auch in
den Naturwissenschaften (Ende des mechanistischen Weltbildes; Kausalitätsfrage,
Relativität) eintritt, gewinnt auch der Begriff „Theorie“ eine andere Bedeutung,
nämlich einen instrumentellen Charakter – Theorie wird nun auch als menschliches
Konstrukt aufgefasst, dessen Verhältnis zu Realität (soferne eine solche überhaupt
akzeptiert wird) gar nicht feststellbar ist; und deshalb ist nun auch von einer
Vielzahl von Theorien die Rede. Theorie wird nun der Modus von Wissenschaft selbst,
da in Ermangelung von Gewissheit Theorie zum konstituierenden Element bzw. Modus von
Wissenschaft wird. Dementsprechend entwickelt sich eine „Hierarchie von
Theorien“:
|
– |
Theorie letztlich für das Ganze des
Wissenschaftsbereiches
|
– |
Theorie als „untergeordnete Theorie“ als Voraussetzung und als
Hilfsmittel für Untersuchungen.
|
|
1807 taucht erstmals der Begriff „Theorie der Erkenntnis“ auf
(bei Jakob Friedrich Fries). In weiterer Folge wird der Theoriebegriff Gegenstand zahlloser
philosophisch-analytischer Untersuchungen.
|
Wir können hier Theorie als die wissenschaftlich
zusammenfassende Lehre zur einheitlichen Erklärung eines Phänomenkomplexes mit dem
systematischen Ziel einer geregelten Ordnung zusammengehöriger Gegenstände verstehen
(sie kann deshalb auch als eine „Ordnungslehre“ gesehen werden); also als ein
Konstrukt zur Erklärung von Vorgängen und Verhältnissen durch Einordnung in
allgemeine Prinzipien; und all das unter Außerachtlassung der praktischen
Verwertungs- oder Anwendungsmöglichkeit; die Theorie stützt sich auf Beobachtung
oder Experiment sowie auf wissenschaftliche Annahmen (= Hypothesen) und sie muss
umgewandelt oder durch eine bessere ersetzt werden, sobald sie sich als unzulänglich
erweist, falsifiziert wird (Popper). Die Theorie bzw. das Erklärungskonstrukt ist nach Popper nicht positiv als richtig erweisbar, wohl aber theoretisch immer
und in der Praxis gegebenenfalls falsifizierbar.
|
In das Deutsche ist das Wort Theorie in Ermangelung eines
entsprechenden deutschen Begriffes erst im 16. Jh aus dem spätlateinischen theoria entlehnt worden. Synonyma waren im
Lateinischen zeitweise auch contemplatio, meditatio und speculatio – also Begriffe, die später im Deutschen (und auch im
Lateinischen) inhaltlich auseinanderfallen. Während „spekulativ“ heute im Deutschen
einen wenig rationalen Beigeschmack hat, war dies im Mittelalter im ursprünglichen
lateinischen Wortsinn keineswegs so41.
|
|
Methodus42 ist das „einer Sache Nachgehen“, heißt also ein nach Sache
und Ziel planmäßiges Verfahren des wissenschaftlichen Vorgehens zum Erkenntnisgewinn
(in diesem Sinne ist die Methode eine „Verfahrenslehre“). Dementsprechend ist
jeglicher Wissenschaft eine Methodenlehre – Methodologie –beigesellt, die unter dem
Schirm der allgemeinen logischen Methodenlehre den spezifischen Anforderungen der
jeweiligen Wissenschaftsdisziplin entspricht. Die Methodologie soll Kriterien
liefern, die erkennen lassen, welche von zwei konkurrierenden Theorien die bessere
sei und sie soll Regeln bzw. Verfahrensweisen liefern, die die Erreichung des Zieles
erleichtern – damit ist sie ein normatives Unternehmen; sie erstellt ein
präskriptives Wissenschaftsbild; für die Erstellung der Methodologie muss das Ziel –
Erkenntnis- und Wissenschaftsideal definiert sein.
|
Methoden müssen nicht nur den Gegenständen einer Wissenschaft
überhaupt angemessen sein, sondern sie sollen darüber hinaus ermöglichen, bestimmte
praktische, technische oder theoretische Probleme, Fragestellungen und Zielsetzungen
in einer rational disziplinierten Weise effektiv zu bearbeiten.
|
Die Wahl der Methode ist nicht so sehr eine wissenschaftstheoretische
Grundsatzentscheidung, sondern vielmehr eine Frage der wissenschaftlichen
Zweckmäßigkeit: man muss wissen, was man erreichen will, um bestimmen zu können,
welchen Weg man am besten einschlägt, um ans Ziel zu gelangen.
|
Die wissenschaftstheoretische Untersuchung der Methoden ist von Wert in
dem Sinne, als sie in kritischer Weise zu untersuchen in der Lage ist, ob die Ziele
richtig gesetzt wurden – es kann sich erweisen, dass ein Ziel mit keiner bisher
entwickelten Methode erreichbar ist. Wesentlich ist, dass die Methoden den Zielen
und Gegenständen nachgeordnet sind.
|
Wie viele Grundbegriffe der Philosophie und
Wissenschaftslehre ist auch der Begriff „Methode“, methodos, bereits in der griechischen Philosophie geprägt und durch Platon und mehr noch durch Aristoteles in jener Weise verwendet worden, wie sie heute noch für uns
richtungsweisend ist, auch wenn sich im Mittelalter und weit umfangreicher noch in
der Neuzeit eine außerordentlich vielfältige Diskussion dieses Begriffes bzw. der
mit ihm verbundenen Probleme entwickelt hat. Im Zuge des Übersetzungswerkes ist im
13. Jh methodus auch noch mit via oder mit ars
gleichgesetzt worden, bis bald – etwa bei Roger
Bacon und bei William von
Moerbeke – eine Gleichsetzung mit modus
procendendi, also mit rational organisiertem Vorgehen erfolgt.
|
Es haben in der Neuzeit verschiedene Differenzierungen des
Methodenbegriffs stattgefunden: „vertikal-hierarchisch“ nach Art und Weise der
Untersuchung, „horizontal“ bezogen auf bestimmte Wissenschaftsbereiche und -inhalte
etc. Naturgemäß ist es auch zur Vermengung mit der Theoriediskussion gekommen.
|
Der Spezialfall der „historischen Methode“ wird später
behandelt werden, wie auch auf das Methodenproblem in Bezug auf die
Geisteswissenschaften noch näher eingegangen werden soll; hier sei diesbezüglich
(wie analog für die anderen Wissenschaftsbereiche auch) nur festgehalten, dass es
nicht die eine spezifisch geisteswissenschaftliche Methode, sondern nur eine
Vielfalt, je nach den Gegebenheiten anzuwendender Methoden gibt.
|
Das vielfach als „die“ geisteswissenschaftliche Methode angesprochene
„Verstehen“ selbst ist jedoch – entgegen älteren Anschauungen – keine Methode; es
kann als Vorstufe, als Voraussetzung von Erkenntnisprozessen aufgefasst werden Heidegger spricht von der „Vor-Struktur“ des Verstehens), aber auch als Ziel solcher Prozesse, und zwar
in den Geistes- wie auch in den Naturwissenschaften.
|
Ein Unterschied besteht diesbezüglich zwischen Zusammenhängen in der
Natur – diese werden für das Verstehen „wissenschaftlich erklärt“ – und jenen Zusammenhängen, die durch Zeichen
(Sprache etc.) vermittelt werden, – sie werden zum Zwecke des Verstehens „interpretiert“. Nicht „Verstehen“ und „Erklären“
sind die (einander keineswegs ausschließenden) Grundmuster der Methoden, sondern
„Interpretation“ und „wissenschaftliche
Erklärung.“43
|
|
|
Die Vorstellungen von „Zeit“ sind höchst komplex44, da es sich um ein nur schwer fassbares Phänomen handelt.
Aristoteles und auch noch Newton
und Kant
gingen vom Gegebensein von Zeit an sich („tempus
absolutum, verum et mathematicum“) aus – sie alle verknüpften aber das
Problem Zeit bereits mit dem Problem Raum. Newton
musste erkennen, dass es hinsichtlich der Absolutheit von Zeit ein Problem gebe,
vermochte es aber nicht zu lösen, was ihm Kritik durch Leibniz eintrug, der im Grunde genommen bereits eine Vorstellung von
Raumzeit entwickelte.
|
Eine neue Wendung nahm die Diskussion durch die Entwicklung der
Thermodynamik im 19. Jh, deren Zweiter Hauptsatz45
als naturgesetzliche Ausrichtung einer Richtung des Naturgeschehens und damit auch
als Richtung des Zeitpfeils (Anisotropie der Zeit) gedeutet wurde. Ludwig Boltzmann hat diese Ansicht im Prinzip widerlegt und eine bis heute
anhaltende Diskussion zu dieser Problematik ausgelöst46, die
intensiviert worden ist durch die Beseitigung einer einheitlichen Zeitvorstellung
durch die Spezielle und dann die Allgemeine Relativitätstheorie Einsteins, durch die der Begriff Zeit durch den der Raumzeit ersetzt wird,
einer Vorstellung, „in der Zeit keine eigene, von
räumlichen Bestimmungen unabhängige Existenz mehr hat“.
|
Die Frage nach Zeit tangiert auch die Frage der Kausalität, da die
Endlichkeit der Geschwindigkeit von Information die Möglichkeit eines
Kausalzusammenhanges mitbestimmt.
|
Man kann Zeit auch definieren als das im menschlichen
Bewusstsein unterschiedlich erlebte Vergehen von Gegenwart, die als Vergangenheit
erinnert wird, und von erwarteter Zukunft, die ihrerseits zu Gegenwart und
Vergangenheit wird47.
|
In einzelnen Kulturen gibt es diesbezüglich sehr unterschiedliche
Auffassungen: im Alten Orient und in Ägypten wird Vergangenheit als das bezeichnet,
was vor den Augen liegt, während die Zukunft das an der Rückseite, hinter einem
Liegende ist – das durch die vor Augen liegende Vergangenheit und Gegenwart
erschlossen werden könne.
|
Die Zeitvorstellungen sind sehr stark rituell bestimmt, indem sie von
einem rituellen Ereignis ausgehen oder auf ein solches hinsteuern, was natürlich
auch die Vorstellungen hinsichtlich der Zeitmessung, der Zeiteinteilung bis hin zu
Epochengliederungen bestimmte. Die rituellen Zeitvorstellungen sind oft zyklischer
Natur, während die profanen Zeitvorstellungen linearer Natur sind. Eine Besonderheit
ist die jüdische Vorstellung, die linearer Natur ist, mit der Erschaffung der Welt
und ihrem Ende eine klare Abgrenzung kennt und unsere abendländische Vorstellung von
Geschichte grundlegend bestimmt hat (ihrerseits ist sie vom Zoroastrismus, der Lehre
Zarathustras bestimmt).
|
Erst die griechischen Philosophen entwickelten einen vom Ritus
unabhängigen, abstrakten Zeitbegriff, womit die Frage „Zeit“ der logisch-abstrakten,
philosophischen Behandlung zugänglich gemacht wird. In der Folge werden Fragen wie
Ewigkeit (Zeit als Abbild von Ewigkeit bei Platon und Plotin etc.), Beginn und Endlichkeit von Zeit, Charakter von Zeit
(zyklisch, linear etc.) bis in unsere Zeit herauf diskutiert.
|
Ein naturwissenschaftlicher Zeitbegriff entsteht im Zusammenhang mit
der Entwicklung der Mechanik – Galilei misst die Zeit bei seinen ersten Versuchen mit Herzschlägen (ca.
1 sek) und sucht eine Pendeluhr zu konstrueiren, was erst Huyghens gelingt. Aus der Mechanik folgert keine einsinnige Zeitrichtung.
Dieses Problem tritt (wie bereits erwähnt) erst mit der Entwicklung der
Thermodynamik auf, wo (scheinbar) irreversible Prozesse auftreten. Zeitmessung in
der Physik läuft heute über eine Spanne von 1040 Sekunden (vom Urknall bis heute) bis zu 10-22 Sekunden (im Bereich von Kernprozessen) bzw. (praktisch
unmessbar) bis zur Planck-Zeit von 10-43 Sekunden.
|
In biologischer Hinsicht geht es bei Zeit um minimale Abstände zwischen
eben noch unterscheidbaren akustischen, optischen und haptischen Wahrnehmungen (sie
sind abhängig von chemischen Reaktionsgeschwindigkeiten im Nervensystem), um
biologische Zyklen – Menstruationszyklus; „innere Uhr“: Zeitgeber bzw. Taktgeber im
Nervensystem (circaannuale = ca. 10 Monate, circadiane = ca. 25 Stunden, aber auch
bis zu 50 Stunden, circalunare Zyklen bei Ausblendung aller äußeren Umwelteinflüsse
wie Tag und Nacht etc. („freilaufende Zyklen“) – Vorbereitung auf nächste Phase
(Zugunruhe bei Vögeln, Steuerungsvorgänge im Zusammenhang mit Winterschlaf u.ä.,
Anreicherung von Wirkstoffen im Blut vor dem Erwachen etc.).
|
Die subjektive Wahrnehmung von Zeit ist interessant in Hinblick auf die
Empfindung von „Gegenwart“ bzw. „zeitlicher Einheit“ („psychische Präsenzzeit“);
hierbei handelt es sich um ca. 6 bis max. 20 Sekunden. Andererseits gibt es
Definitionen von Gegenwart, die auf die „Einheit von historischen Vorgängen“
abstellen, was Jahrzehnte umfassen kann. – „Das
menschliche Gehirn ist jener Ort im Weltall, an dem sich subjektive und objektive
Zeit treffen" (Otto-Joachim Grüsser).
|
Die Zeitmessung wurde bis zur Entwicklung von Wasseruhren (Klepsydra)
im alten Ägypten (ca. 1400 vChr) durch astronomische Verfahren vorgenommen (Sonnen-
und Sternuhren). Die Wasseruhren wurden im Hellenismus (aber auch in China) sehr
bald dermaßen verfeinert, dass sogar die Druckunterschiede bei Sinken des
Wasserspiegels berücksichtigt und die ursprünglich ungleich langen Stunden zwischen
Sonnenauf- und -untergang angezeigt wurden. Mechanische Uhren sind für die Mitte des
13. Jhs nachweisbar48. Der nächste Entwicklungsschritt war der
der Pendeluhr, deren erste zufriedenstellende Konstruktion durch Christiaan Huyghens vorgenommen worden ist. Die Konstruktion und Herstellung exakter
ortsunabhängiger, mobiler Uhren war ein wesentliches Problem der Navigation in der
Neuzeit, da das „Mitnehmen“ der Ortszeit des Ausgangspunktes für die Bestimmung der
geographischen Länge unbedingt erforderlich ist und die verschiedenen
diesbezüglichen astronomischen Verfahren (mit Hilfe des Mondes) witterungsabhängig
und diffizil, insgesamt also praktisch nicht wirklich zufriedenstellend waren. Es
wurde deshalb durch die Royal Society ein hohes Preisgeld für Konstruktion und
Herstellung derartiger Uhren ausgesetzt. Bewältigt hat dieses Problem der Engländer
John Harrison in der Mitte des 18. Jhs, dessen Chronometer u.a. James Cook
auf seinen Pazifikreisen erprobt hat – mit dem beeindruckenden Ergebnis, dass sein
Schiffsstandort am Ende der Reise rund um die Welt nur um 13 km vom errechneten
Standort abwich.
|
|
Den Geisteswissenschaften und der Umgangssprache ist sie
gleichsam der Ort, an dem Vergangenheit und vom Menschen intendierte Zukunft
miteinander berühren.
|
Physikalisch ist Gegenwart kaum zu definieren – sie ist eigentlich
gleich Null, wenn man sie nämlich mit der „Planck–Zeit“ gleichsetzt, die sich
ergibt als jene Zeitspanne, die das Licht benötigt, um die kleinstmögliche
Entfernung, die „Plancksche Länge“, zurückzulegen – der sich ergebende Wert
lautet 5,4 x 10-43 Sekunden. Im Sinne des
psychologischen Zeitbegriffes ist Gegenwart jene Zeitstrecke, die von einem als
Einheit empfundenen Erlebnis erfüllt wird – hier geht es um etwa 6-20 Sekunden. In
der Geschichtswissenschaft handelt es sich um jene Zeitspanne, in der Ereignisse
noch im Fluss gesehen werden, daher die Zusammenhänge zwischen Ursache und
Wirkungen noch nicht voll übersehbar sind – eine natürlich in keiner Weise
befriedigende und keinesfalls zweifelsfrei einlösbare subjektive Definition.
|
Das Paradoxon, dass die Gegenwart flüchtig und unfassbar und doch das
einzig Wirkliche und der einzig mögliche Ansatzpunkt für Entscheidungen, aber auch
für die Geschichtsforschung ist, hat die Philosophie schon immer in hohem Maße
beschäftigt.
|
|
In Bezug auf „Geschichte“ kann sie als die Summe der im
Gedächtnis eines Einzelnen oder einer Nation etc. aufbewahrten Erlebnisse
interpretiert werden. Sie wird ununterbrochen akkumuliert und gehört zum geistigen
Lebensraum des Menschen, unterliegt hinsichtlich ihrer Wahrnehmung durch den
Menschen aber den Prozessen der Selektion („fuga et
electio“Eine
Feststellung von Otto
von Freising Omnis doctrina consistit in duobus: in fuga et
electione.
), der Deutung und der in jeweiliger Gegenwart immer wieder erneuten
Umdeutung. Die Ereignisse an sich sind zwar unwiderruflich abgeschlossen, dennoch
ist die Vergangenheit nicht abgeschlossen, ununterbrochen wächst ihr neues
Geschehen zu, und sie wird quantitativ und damit auch qualitativ erweitert. Unser
Bild von den (von uns als solche angenommenen) Ereignissen, ihre Bewertung und
Deutung verändert sich durch den Zuwachs an neuer Vergangenheit und damit neue
Dispositionierung und Reflexion fortlaufend. Die Vergangenheit ist so nach der
Zukunft hin offen und unabgeschlossen; jegliche Geschichtsschreibung ist unfertig
und vorläufig. – Vergangenheit wird aber auch als Zukunft vergangener Zeiten
interpretiert und analysiert.
|
|
Zukunft ist die erwartete Zeit. Alles Denken und Handeln
von Menschen bezieht sich letztlich auf die Zukunft. Die Beschäftigung mit der
Vergangenheit kann auch als Untersuchung vergangener Zukunft interpretiert werden:
bekannte Zukunft einer bekannten Vergangenheit bzw. Gegenwart, aus der in Analogie
auf die uns tatsächlich bevorstehende Zukunft geschlossen werden soll.
|
Innerhalb der Zeit wird durch ein Ereignis, in dem Augenblick, in dem
es geschieht, die Fülle der Möglichkeiten, die in Bezug auf ein Problem- oder
Handlungsfeld in der jeweiligen Gegenwart bestanden hat, zugunsten der
Realisierung einer Möglichkeit (nämlich dieses
einen Ereignisses) eliminiert.
|
|
Der Historiker hat den Faktor Zeit auch in Hinblick auf
Information bzw. die Verbreitung von Information in Rechnung zu stellen, d.h. die
im Verlaufe der Jahrtausende sich erhöhende Geschwindigkeit der
Informationsausbreitung50. Es ist dies die Zeitspanne, die vergangen
sein muss, will man die Möglichkeit kausaler Zusammenhänge in Rechnung stellen. So
gilt auch für den Historiker, was für die Physik anschaulich dargestellt worden
ist (Zeitkegel 1: Wasserwellenmodell und Zeitkegel 2: Vergangenheit und Zukunft,
Zeitkegel Ereignishorizont)
51.
|
|
„Das, worin sich der Mensch
vorfindet, der seinem Handeln vorgegebene und gerade in diesem erfahrbare 'Grund'.
Nicht alle Wirklichkeit ist notwendig. Vielmehr wird das endlich Wirkliche erst aus
der Möglichkeit in die Wirklichkeit übergeführt.“ – Christian Wolff:
„Der Zusammenhang der Dinge, welcher die gegenwärtige
Welt ausmacht“.
|
Das Wort kommt aus der deutschen Mystik. Im Zusammenhang mit der
Geschichte wird das Wort "Wirklichkeit" auch für den Gesamtkomplex aller Gegebenheiten
und Ereignisse zu einem bestimmten Zeitpunkt angewendet.
|
Die Frage, ob es eine objektiv, an sich gegebene Wirklichkeit gibt, und
was wir von ihr erkennen können, ist eine uralte, zentrale Fragestellung der
Philosophie überhaupt. Die Fragen, ob es eine vom Menschen als Betrachter unabhängige,
objektive Wirklichkeit gibt, von der nahezu unendlich viele unterschiedliche
Vorstellungen entwickelt werden, weil deren Ereignisse nur in ihren unterschiedlichen
Zusammenhängen unterschiedlich interpretiert werden können, d.h. abhängig von einem
jeweils bestimmten Standpunkt jeweils eine spezifische Bedeutung gewinnen, die
durchaus merklich von jener differieren kann, die von einem anderen subjektiven
Standpunkt aus gewonnen wird, ob diese postulierte objektive Wirklichkeit kausal
bestimmt und a priori sinnhaft oder ob sie an sich sinnlos sei – diese Fragen sind
wissenschaftlich nicht lösbar. Die letztlich unumgängliche Position ist die des
Realismus, d.h. eine objektive Welt als gegeben anzunehmen – die „Beweise“ dafür sind
keine Beweise in wissenschaftlichem Sinne, sondern nur Annäherungen an solche:
Wissenschaft wäre letztlich unmöglich, denn sie handelt als Prozess von Wahrnehmungen
bezüglich einer Wirklichkeit, die doch offenbar in Raum und Zeit bestehen muß; die
Diskussion dieser Frage flammt immer wieder auf und war um 1900 besonders intensiv,
als die klassische Physik in die Krise geraten war und Ernst Mach
(wie andere auch) eine massiv anti-realistische Position einnahm und erklärte, die „wirkliche Welt ist die empfundene Welt“52 und sonst nichts, worüber er
mit Max Planck in eine bedeutende philosophische Auseinandersetzung geraten ist. Als
George Edward Moore (1873–1958), der Vater der analytischen Philosophie des
20. Jhs, 1939 einen Vortrag mit dem Titel „Proof of an External World“ hielt, führte
er an dessen „Ende, nach mühsamen Entwicklungen, die
mit großer Ausführlichkeit auch Kant einschließen, und in einer Haltung, die einen
an Luthers Bekenntnis auf dem Reichstage zu Worms denken lässt“, als Beweis an,
„dass zwei menschliche Hände existieren, und auf die
ausdrückliche Frage, wie dieser beweis aussehe, lässt Moore seine Hörer wissen, er
erbringe ihn dadurch, ‚dass ich meine beiden Hände hochhalte und sage, indem ich
eine gewisse Bewegung mit der rechten hand mache, ‚hier ist eine Hand!’ und dann
hinzufüge, indem ich eine gewisse Bewegung auch mit der linken mache, Und hier ist
noch eine!’“53.
|
Von der Annahme einer realen Welt zu differenzieren ist natürlich die
Frage der Erkennbarkeit einer realen Welt.
|
Dem Historiker erscheint die Welt als ein schier unendlicher Komplex
intentionalen Handelns und sie erfordert deshalb eine Erklärung des Handelns aus den
Intentionen, aus den Motiven heraus. Wir alle – nicht nur die Historiker – können uns
der Wirklichkeit aber nur mit Hilfe vorgefasster begrifflicher Entwürfe und
Vorstellungen nähern, durch die wir natürlich Prämissen einführen; d.h. wir haben
keine Möglichkeit, uns der Wirklichkeit – nehmen wir an, es gibt eine, „die“
Wirklichkeit – ohne Vorgaben zu nähern (Subjektivismus). – Schon Platon
weist nach, dass der Subjektivismus in letzter Konsequenz freilich zur Aufhebung aller
Erkenntnismöglichkeit, zum Nihilismus führt.
|
In dieser Problematik liegt er eigentlich „Ur-Grund“ für die Frage nach
der Gewissheit von Erkenntnis, auch von empirischer Erkenntnis, überhaupt. Von diesem
Problem leitet sich eine Fülle von schwerwiegenden Fragen ab.
|
|
|
Unter Kausalität verstehen wir den Zusammenhang von Ursache
und Wirkung. Das unabdingbare und uneingeschränkte Gegebensein von Kausalität war
langehin die fundamentale Grundannahme für alle Auseinandersetzung mit der Welt, sie
bestimmte insbesondere in der Neuzeit – im Zusammenhang mit der Säkularisierung –
das Denken.
|
Das Kausalitätsprinzip ist jedoch weder beweisbar noch widerlegbar.
Unsere Rekonstruktion der „Wirklichkeit“ geht von der Grundvoraussetzung aus, dass
in allem Kausalität gegeben sei. Ohne diese Prämisse können wir nämlich keine
Rekonstruktion vornehmen. Kausalität war die Voraussetzung aller Induktion bis zur
Gewinnung der Erkenntnisse der statistischen Physik54. Eine Folge dieser Annahme ist, dass wir den
Ereignissen und Entwicklungen Sinnhaftigkeit zuerkennen55 – ein Umstand, den wir als Finalität
bezeichnen. Das Kausalprinzip bedingt jedoch nicht automatisch die Gesetzmäßigkeit,
Gesetzlichkeit des Geschehens, sondern lediglich die Notwendigkeit aller
Ereignisse56.
|
Die Frage nach der Kausalität mit all ihren Folgen schließt die Frage
nach den Ursachen ein, die zwangsläufig zu der ersten "Ur-Sache" führt, und nach
deren Verhältnis zur Wirkung. Platon und Aristoteles führen alles auf ein Urbild, eine erste Ursache, auf einen
unbewegten Beweger zurück – dies begründet eine monotheistische Gottesvorstellung,
was die Übernahme durch das Christentum begünstigte. Der Ursache in diesem Sinne
kommt eine ganz andere Qualität zu als der Wirkung, es handelt sich hier bei
„Ursache und Wirkung“ nicht um ein symmetrisches Begriffspaar.
|
Aristoteles nahm noch an, dass es (im „irdischen Bereich“) vier Arten von
Ursachen (materielle Ursache, formale, bewirkende und Zweck-Ursache) gebe, die sich
zur Einheit einer Gesamtursache vereinigten57. Diese Vorstellung ist jedoch
aufgegeben worden.
|
Das in der Physik zugrunde gelegte Kausalitätsprinzip – dass jede
raum-zeitliche Veränderung eine Ursache habe – hat als erster Leibniz formuliert („Kontinuitätsprinzip von Ursache und Wirkung“): „Ex nihilo nihil fit“ – aus nichts wird nichts.
Leibniz definiert Kausalität in seinem „Satz vom zureichenden Grunde“ als
ein „principium magnum, grande et nobilissimum"
(Monadologie §§ 31 und 32): „Unsere
Vernunfterkenntnis beruht auf zwei großen Prinzipien: erstens auf dem des
Widerspruchs, kraft dessen wir alles als falsch beurteilen, was einen Widerspruch
einschließt [...] Sie beruht zweitens auf dem
Prinzip des zureichenden Grundes, kraft dessen wir annehmen, dass sich keine
Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als richtig erweisen kann, ohne
dass es einen zureichenden Grund dafür gäbe, weshalb es eben so und nicht anders
ist – wenngleich diese Gründe in den meisten Fällen nicht bekannt sein
mögen"58.. |
David Hume
hat in seinem Werk „A Treatise on Human Nature“59 erstmals Kausalität als
eine von der menschlichen Seele, nicht in den Objekten angelegte Beziehung
interpretiert, die auf Grund von Gewöhnung an oft beobachtete Wiederholungen
zeitlicher Aufeinanderfolgen von Ereignissen beruhe, nicht auf aprioristischer
Notwendigkeit. Kant
hingegen bestimmte Kausalität als Kategorie, die ein synthetisches Grund-Urteil a
priori begründet, durch das erst das Objekt des Erkennens überhaupt und prinzipiell
als kausal bestimmt wird.
|
An der Schwelle zur Auflösung der Kausalität steht Ludwig Boltzmann, der in seiner Grazer Zeit entdeckte, dass der Zweite Hauptsatz
der Wärmelehre ein von statistischen und nicht von kausalitätsbezogenen Aspekten
bestimmtes Gesetz ist. Früh formulierte umfassenden Zweifel an der Kausalität der
Wiener Physiker Franz Exner in seiner Inaugurationsrede von 1908 und vor allem
seinem Buch "Vorlesungen über die physikalischen Grundlagen der Naturwissenschaften"
(1919): „Aber vergesen wir nicht, dass sich uns das
Kausalprinzip und das Kausalitätsbedürfnis ausschließlich durch die Erfahrungen an
makroskopischen Vorgängen aufgedrängt hat und dass eine Übertragung desselben auf
mikroskopische Erscheinungen, also die Voraussetzung, dass jedes Einzelereignis
streng kausal bedingt sei, keine auf Erfahrung basierte Berechtigung mehr
hat“60; ähnlich formulierte, an Exner
anschließend 1922 Erwin Schrödinger. In der Folge hat sich Hans Reichenbach eingehend mit dem Problem der Kausalität beschäftigt61. Durch
die Kopenhagener Deutung (Nils Bohr, 1927) wurde das Problem der Kausalität im
Rahmen von Werner Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation der Quantentheorie (Teilchen haben
nicht gleichzeitig einen exakten Ort und einen exakten Impuls) noch tiefer gehend
erschüttert und die Frage nach der Vielfalt von Welten aufgeworfen, die
nebeneinander existieren, solange wir sie nicht beobachten – erst durch unsere
Beobachtung erfolge die Festlegung auf eine bestimmte Welt.
|
Das Kausalitätsprinzip hat durch die Relativitätstheorie und weit mehr
noch durch die Quantentheorie wesentliche Einschränkungen erfahren: die Forderung,
dass für alle physikalischen Vorgänge Gesetze in der Weise formuliert werden können,
dass – wenn die Anfangsbedingungen eines Vorganges bekannt sind – sichere (d.h.
regelmäßig bestätigte) Voraussagen ermöglicht werden, ist nicht erfüllbar, da die
Thermodynamik und die Quantentheorie statistische, probabilistische Aussagen liefern
– in der Thermodynamik ist dies durch den (bewussten, aber unumgänglichen) Verzicht
auf die Verfolgung der einzelnen Moleküle bedingt, in der Quantentheorie aber
erweist sich, dass auch bei der Verfolgung aller einzelnen feststellbaren Teilchen
die Kausalität widerlegende Spielräume für spontane Vorgänge offenbleiben: „Es ist nicht so, dass ein Elektron zu einem bestimmten
Zeitpunkt aus einem bestimmten Grund von einem Energieniveau auf ein anderes
übergeht. Ein niedrigeres Energieniveau ist für ein Atom in einem statistischen
Sinne wünschenswerter, und deshalb ist es ziemlich wahrscheinlich (die
Wahrscheinlichkeit lässt sich sogar quantifizieren), dass das Elektron früher oder
später diesen Übergang machen wird. Man kann jedoch nicht sagen, wann genau der
Übergang stattfinden wird. Das Elektron wird von keiner äußeren Kraft angestoßen,
und es gibt keine innere Uhr, die den Zeitpunkt des Sprunges festlegt. Es
vollzieht sich einfach ohne besonderen Grund, eher jetzt als zu einem anderen
Zeitpunkt“ (John Gribbin zum radioaktiven Zerfall).
|
Einstein hat vergebens gesucht, an der Auffassung von einer Welt der
objektiven Realität – „lokale realistische“ Auffassung der Welt – festzuhalten, der
drei fundamentale Annahmen zugrunde lägen:
|
1) |
dass es reale Dinge gibt, die unabhängig davon, ob wir sie
beobachten oder nicht, existieren;
|
2) |
dass es gerechtfertigt ist, aus sich regelmäßig wiederholenden
Beobachtungen oder Experimenten allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen,
und
|
3) |
dass es keine Wirkung gibt, die sich schneller ausbreiten kann
als mit Lichtgeschwindigkeit (was als "Lokalität" bezeichnet wird).
|
|
Einstein hat diese Fragen bereits 1907 mit Philipp Frank diskutiert, der
in seinem Buch "Kausalgesetz und Erfahrung" (1932) sehr früh nachwies, dass das
Kausalitätsprinzip durch Erfahrung weder bestätigt noch entkräftet werden könne, und
zwar nicht etwa, weil es eine a priori bekannte Wahrheit (im Sinne Kants), sondern eine willkürlich festgesetzte Definition sei. Einstein entgegnete auf diese Anfechtung der Kausalität mit dem berühmten
Satz „Raffiniert ist der Herrgott schon, aber er
würfelt nicht!“ (variiert „Gott spielt mit der
Welt nicht Würfel“).
|
1972 wurde die erste Überprüfung dieser Grundannahmen im Rahmen der
Quantenphysik durchgeführt; 1982 hat Alain Aspect in Paris jenes Experiment
vorgenommen, das erstmals die Verschränkung von Photonen nachwies und damit
„zwingend“ die Möglichkeit einer ausschließlich kausaldeterminierten Welt
ausschloss62.
|
Ungeachtet dieser Diskussionen steht außer Zweifel, dass für
unsere Lebenspraxis im makroskopischen Bereich die Annahme von Kausalität eine
Grundbedingung für unser Handeln und dem entsprechend auch für die
historisch-wissenschaftliche Arbeit ist.
|
Die Frage nach der Kausalität hängt natürlich eng mit der Frage des
Zufalls wie der des Determinismus, d.h. der Willensfreiheit, und natürlich mit der
Sinnfrage zusammen – für eine streng kausal bestimmte Welt ist es leichter, eine
vorgegebene Sinnhaftigkeit an sich anzunehmen.
|
|
Das Wort Zufall ist eine Übersetzung des lateinischen „accidens“. Im Griechischen wie im klassischen
Latein gibt es eine Reihe von Begriffen, die unterschiedliche Erscheinungen bzw.
Auffassungen widergegeben haben, die im heute noch schwierigen Sprachgebrauch von
„Zufall“ inbegriffen sind – so etwa „tyche“
(Schicksal), „automaton“ (das, was von sich aus
geschieht) bzw. „casus“, „fortuna“ oder „contingens“. |
Zufall bezeichnet die Unbestimmbarkeit oder Regellosigkeit
individueller Ereignisse oder Vorgänge. Unter Zufall versteht man aber auch das
unvorhergesehene Zusammentreffen zweier an sich jeweils nicht zufälliger,sondern
kausal determinierter Ereignisse. In philosophischer Hinsicht ist Zufall das
Wesenzufällige, das, was für eine Sache nicht essentiell oder konstituierend ist –
was dem Satz vom zureichenden Grunde nicht entspricht. Das Wort, das früher als
„leer“ empfunden wurde, wird bis heute auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch
„unterschiedslos und verwirrend in völlig
heterogenen Bedeutungen verwendet“.
|
Von Anfang an wird „Zufall“ verknüpft mit „Schicksal“, „Vorsehung“ und
in moderner Zeit auch mit „Naturgesetzlichkeit“. In den Naturwissenschaften steht
ein statistischer Begriff von Zufall dem Begriff „Wahrscheinlichkeit“ nahe. Der
Begriff Zufall ist verbunden mit der Frage der Ursachenerklärung und besagt in
dieser Hinsicht, dass es für ein Ereignis keine Ursache gibt (neuerdings in der
Quantenphysik dafür der – m.E. unvorsichtige – Begriff „objektiver Zufall“
verwendet, s.w.u.) oder dass solche derzeit nicht oder prinzipiell nicht erkennbar
seien. Deshalb steht der Begriff im Verdacht, nur Unwissenheit zu verschleiern –
schon Demokrit meinte: „Die Menschen haben sich
ein Trugbild des Zufalls erdichtet, als Deckmantel für ihre eigene
Ratlosigkeit“. |
Die These, dass es Zufall nicht gebe, ist jedoch weniger Ausdruck eines
deterministischen Weltbildes als eines genuin philosophischen Wissensanspruches,
möglichst vollständige Ursachen oder Erklärungsgründe für Erscheinungen anzugeben.
Die Feststellung, dass etwas „objektiv“ zufällig, d.h. ursachelos sei, würde die
Kenntnis aller möglichen Ursachen und ihrer Wirkungen, das heißt nichts weniger denn
Allwissenheit, voraussetzen – und deshalb ist es wohl unmöglich, „objektiven Zufall“
zu konstatieren. Da Zufall außerhalb des Regelmäßigen, d.h. des Regel- bzw.
Usachengemäßen liegt, kann Zufall kein Gegenstand von Wissen oder Wissenschaft sein.
|
Vermengt werden auch die Verwendungen von „Zufall“ in Bezug auf eine
Ursache und „Zufall“ in Bezug auf eine Wirkung. Dies stellt in der Diskussion des
Zufalls seit der arabischen wie der scholastischen Philosophie ein Problem dar und
wird in Hinblick auf Ursprungsfragen (z.B. in der Biologie) aber auch hinsichtlich
des Ablaufes historischer Entwicklungen diskutiert63. Der Zufall steht als ein Gegenpol zur Kausalität einer rationalen
Begründung der Interpretation historischer Ereignisse entgegen. Ist ein Ereignis
eingetreten, so wird unweigerlich versucht, es als nicht zufällig zu interpretieren
– Friedrich Nietzsche: „Kein Sieger glaubt an den
Zufall“.
|
Aus der Vorstellung der Kausalität heraus erscheint der
Zufall zuerst logisch unmöglich – wenn alles kausal bedingt ist, scheint absoluter
Determinismus gegeben. Dies ist eine Auffassung, die lange das Problem des
Verhältnisses eines allmächtigen Schöpfergottes zu seinem Geschöpf, das Problem des
freien Willens beherrschte. Thomas von
Aquin hat die Idee der platonischen Urbilder, der Ideen, in das
diesbezügliche scholastische Denken eingebracht – sein fünffacher Gottesbeweis
schließt in allen fünf Argumentationen auf eine erste Ursache, und der fünfte Beweis
postuliert die Teleologie. Strikte Kausalität ist strikte Finalität, das Ende ist
bereits im Anfang enthalten – Maupertuis formuliert in der Physik 1740 das Prinzip der kleinsten
Wirkung, „dass die Natur aus allen möglichen
Bewegungen diejenigen auswählt, die ihr Ziel mit dem kleinsten Aufwande an Aktion
(Wirkung) erreicht“64, dies
heißt aber, dass der Ablauf der Ereignisse von einer Größe bestimmt würde, die
Ergebnis des Ereignisses ist, das erst im Endzustand des Geschehens feststeht.
|
Wirkung aber geht allein von jenen Gegebenheiten aus, die vor der Handlung und zugleich innerhalb des
zuzuordnenden Zeitkegels liegen. Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung oder,
allgemeiner gesprochen, von Anfangsbedingung und Endzustand, ist natürlich
keineswegs auf bewusste Prozesse beschränkt.
|
Im Bereich der Naturwissenschaften stand Zufall bis in die in
der frühen Neuzeit noch für Regellosigkeit (d.h. keinem Gesetz entsprechend) und für
Nichtwissen um die Ursachen (Demokrit, s.o.). In weiterer Folge erlangt „Zufall“ durch die Entwicklung
der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine neue Facette, indem die Wahrscheinlichkeit des
Eintreten eines als zufällig erachteten Vorganges (z.B. eine Sechs beim Würfelspiel)
in gewissem Maße berechenbar wird65.
|
Eine Ausweitung erfuhr das Problem des Zufalls durch |
– |
die Entdeckung von Instabilitäten durch Henri Poincare und die nachfolgende Chaostheorie mit physikalischer
Nichtprognostizierbarkeit
|
– |
die Feststellung von „zufälligen Koinzidenzen“ in der
Thermodynamik (das Aufeinandertreffen zweier Moleküle kann als das Zusammentreffen
zweier Kausalketten interpretiert werden) und
|
– |
den radioaktiven Zerfall und die Quantentheorie, in welchen
beiden Fällen eine „ontologische
Ursachenlosigkeit“ angenommen wird, d.h. ein Zufall vorliege, der „nicht auf subjektives, defizitäres Wissen über an
sich determinierte Naturprozesse zurückzuführen“ sei, „sondern grundlegende
Eigenschaft der mikrophysikalischen Natur“ sei – „objektiver Zufall“
(s.o.).
|
|
In neuerer Zeit – nach der Entwicklung der Spieltheorie durch
John von
Neumann – haben sich immer mehr Wissenschaftler mit der Interpretation der
Welt unter dem Aspekt des Spiels auseinandergesetzt; Schrödinger meinte schon 1922 in seiner Antrittsrede in Zürich: „Die physikalische Forschung hat klipp und klar
bewiesen, dass zum mindesten für die erdrückende Mehrheit der Erscheinungsabläufe,
deren Regelmäßigkeit und Beständigkeit zur Aufstellung des Postulats der
allgemeinen Kausalität geführt haben, die gemeinsame Wurzel der beobachteten
strengen Gesetzmäßigkeit – der Zufall ist“, Zufall, der über statistische
Wahrscheinlichkeit auch Nahezu-Gewissheit zur Folge haben kann. In sehr
eindrucksvoller Weise hat der Nobelpreisträger für Chemie 1967, Manfred Eigen, sich in seinem Buch „Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall“66 mit diesen Fragen auseinandergesetzt. Eine schöne Beschreibung
unter dieser Sichtweise hat Stanislaw Lem
gegeben: „Man kommt auf die Welt bester Laune, das
Lächeln ist ja den Neugeborenen eingeboren; sie weinen nur, wenn ihnen der Genuss
der Lebensfreude vergällt wird. Allmählich kommt man zur Einsicht, dass die Welt
nicht nach dem Lustprinzip eingerichtet ist. Es gibt mehr Landschaften,
Revelationen, Menschen, Morgenröten, als dass man sie sich anders denn als rein
zahlenmäßige Größe vorstellen könnte. Man wird auf den Zufall hingewiesen. Die
Existenz ist eine ungeordnete Menge von Zufälligkeiten, in deren Strömung man
lavieren muss, ob man sich des uns in jedem Augenblick verlorengehenden Übermaßes
bewusst ist oder nicht; dabei vermindert sich der Vorrat an Hirnzellen – am
Ausgangspunkt 12 Milliarden – täglich um 100.000 Neuronen, die absterben, ohne
ersetzt zu werden. Ungefragt wird man in das Spiel hineingezogen: mit den
sozialpolitischen Kräften, die seit Urzeiten ein Fiasko nach dem anderen
produzieren, von Versuchen, die gute Meinung des Menschen über sich selbst und
über die Welt zu bewahren, und die blinde Lotterie aus dem Dasein zu verbannen.
Dieses Spiel ist mehrschichtig. Man ist genötigt, mit der Menschenumwelt zu
spielen, und mit der Natur; und wenn die ungezähmte Natur mit Technologien aus der
Gesellschaft verbannt wird, wird dieser künstliche Ersatz allmählich zum
Schadenstifter, und selbst dann lässt sich die Natur nicht total verbannen, weil
sie weiterhin in unseren Körpern steckt, nackt inmitten der maschinell
sterilisierten Paysage. Wenn das Altern einsetzt, beginnt zugleich das Endspiel
mit der Natur, d.h. mit dem eigenen Körper, der, einer lotterieartigen Statistik
zufolge, entweder im Zellenbereich zu stottern beginnt oder auch nicht. Beginnt er
zu stottern, und entgleisen deswegen ein paar Zellen, aus ihrer bisherigen Bahn,
kommt es zur Wucherung, und man wird vom Krebs verzehrt. Beginnt es nicht, dank
einem glücklichen Zufall, sterben die Zellen und Funktionen von sich selbst aus,
bis man im ganzen und großen stirbt. Das ist keine voreingenommene
Lebensdarstellung, sondern die reine, wissenschaftlich garantierte Wahrheit, in
die Umgangssprache übersetzt. Man lebt also in mehreren Universen zugleich, man
nimmt teil an mehreren unumkehrbaren Spielen, die, wie auch die Einzelheiten
dieser Spiele aussehen, in eine endgültige Niederlage einmünden. Unter diesen
Bedingungen soll man sich den 'richtigen' Kurs wählen. Am Steuer ist man zu einem
kleinen Teil schon frei.“67.
|
Lange war das Problem des Zufalls auch ein Vorwurf der
Naturwissenschaften gegenüber den Geisteswissenschaften.
|
Für den Historiker kann es sich bei einem „Zufall“
gleichermaßen handeln
|
– |
um einen Zufall als Umschreibung für die Unwissenheit des
Historikers über das Zustandekommen des „Zufalls“,
|
– |
um das zufällige Zusammentreffen zweier Kausalketten, |
– |
um die Annahme von Ereignissen ohne Determinanten (ideales motu proprio) oder schließlich
|
– |
um einen echten Zufall, der natürlich in seiner Zufälligkeit,
d.h. seines Ermangelns der Kausalität halber, von niemandem wirklich als solcher
identifiziert und schon gar nicht erklärt werden kann.
|
|
|
Die Problematik Determiniertheit und Freiheit ist eines der
alten Probleme der Philosophie, der Theologie, jeglicher Geschichtsauffassung und
damit auch der Motivation des menschlichen Handelns. Was immer wir an Determinanten
menschlichen Handelns entdecken – es kann nicht als ein Beweis gegen die Möglichkeit
eines verantwortlichen Handelns des Menschen, gegen seine Wahlfreiheit unter
bestimmten Bedingungen gewertet werden, wie ja auch „die Umschreibung des Neuen durch Allgemeines nicht zu seiner Auflösung in
Allgemeines führen kann“ (Karl-Georg Faber).
|
Indem Kausalität Determiniertheit bewirkt, steht sie dem Postulat der
Willensfreiheit entgegen. Die Frage nach der Willensfreiheit, dem liberum arbitrium des Menschen ist eine Frage von zentraler
Bedeutung hinsichtlich der Verantwortung und des Handelns des Menschen.
|
Wille ist zu definieren als „die
Bezeichnung für die Fähigkeit eines Akteurs, sich überlegtermaßen Ziele zu setzen
und diese planmäßig zu verfolgen“. Wille kann bezeichnen ein rationales
Streben, ein Entscheidungsvermögen und ein psychisches Antriebspotential.
|
Wir erleben unsere Körperbewegung als Folge unserer Willensimpulse, die
wir als frei und unserer Willkür anheimgestellt betrachten (ich hebe den Arm und
fühle mich als Anfang einer Kausalkette) – dies widerspricht dem Kausalitätsprinzip,
weil es den Menschen in dieser Hinsicht aus dem Netz der Notwendigkeit
herausnimmt.
|
Anders sieht derselbe Sachverhalt aus, wenn er von einem anderen
Individuum erlebt wird; dieses unterstellt der vom Handelnden als frei empfunden
Handlung unweigerlich eine kausale Begründung. Auch wenn wir selbst nach dem Grund
für eine derartige Handlung befragt werden, geben wir einen solchen an, d.h. wir
sehen uns selbst anders als im Augenblick des Handelns.
|
Die Frage nach dem freien Willen des Menschen wird bis heute nicht
einheitlich beantwortet:
|
Aristoteles und Augustinus vertraten strikt die Willensfreiheit – Augustinus: "Wenn alles ohne Willen
geschähe, gäbe es weder Sünde noch gute Tat, und Strafe und Lohn wären
ungerecht". Die jüdisch-christliche Auffassung differenziert zwischen der
uneingeschränkten voluntas, der völligen
Freiheit Gottes und dem liberum arbitrium, der
freien Entscheidung des Menschen, die nur eine weit niedrigere Stufe der
Entscheidungsmächtigkeit darstellt (bei Augustinus gibt es zwei grundlegende Ausrichtungen: die bona voluntas und die mala
voluntas).
|
In der Scholastik tritt durch Anselm von
Canterbury und durch Peter Abelard und andere eine Ausweitung des
Begriffes der Willensfreiheit über Augustinus hinaus ein und im 13. Jh wird die Diskussion durch die
Gegenüberstellung von Wille und Vernunft68 ausgeweitet;
für William of Ockham ist der Wille „Seelensubstanz, insoferne sie wollen
kann“, und ist indifferent gegenüber gut und böse. Auch Erasmus von Rotterdam
vertritt die Willensfreiheit. Luther wendet sich scharf dagegen und spricht von "Kehricht und Dreck in Schüsseln von Gold und Silber [...] nackter Lüge", denn die Allmacht Gottes bestimme
alles, bis ins Kleinste. Ähnlich Spinoza.
|
In der Neuzeit ufert die Diskussion im Sinne unterschiedlicher
philosophischer Richtungen aus. Der Enzyklopädist Paul Heinrich Dietrich von Holbach (1723-1789) vertritt bereits einen modernen Determinismus, der auf
wissenschaftlicher Einsicht zu beruhen scheint: "dass
alles, was wir sehen, notwendig ist und nicht anders sein kann, als es ist, dass
alle Dinge, die wir wahrnehmen, sowie diejenigen, die wir sich unserem Blick
entziehen, nach bestimmten Gesetzen wirken". Beweisbar ist solches nicht,
auch wenn dies immer wieder angenommen wird.
|
Im Prinzip gibt es drei Möglichkeiten der Lösung des
Dilemmas:
|
1) |
Die Leugnung der Willensfreiheit |
2) |
Die Modifizierung des Begriffes Willensfreiheit dahingehend,
dass der Widerspruch zur Notwendigkeit behoben wird. Dies kann geschehen, indem
man einen allgemeinen Determinismus annimmt, der gewisse Freiräume für ein Handeln
nach der Eigenart der Spezies (auch für Tiere) freilässt – Hegel und Marx: Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit; Kant: Freiheit wovon und wozu.
|
3) |
Die Zuordnung der beiden Prinzipien Determinismus und
Willensfreiheit zu verschiedenen Ebenen im Sinne der Zwei-Substanzen-Lehre des
Descartes: in der Natur (res
extensa) strikter Determinismus, im Geist (res
cogitans) Willensfreiheit. Kant hat diese Vorstellung weiterentwickelt: der Mensch als natürliches
Wesen ist der Kausalität in der Natur unterworfen, als geistiges Wesen ist er frei
und verantwortlich. Dazu Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“: „Man kann sich zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was in der
Natur geschieht, denken, entweder nach der Natur, oder aus Freiheit. Die erste
ist die Verknüpfung eines Zustandes mit einem vorigen in der Sinnenwelt, worauf
jener in der Regel folgt [...] Dagegen
verstehe ich unter Freiheit [...] das
Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach
dem Naturgesetz wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit
nach bestimmte [...]“. Die Frage bleibt, wie und wo die beiden Substanzen,
die beiden Welten zusammenhängen.
|
|
Im Lichte der neueren Physik ist diese dualistische Vorstellung
nicht mehr aufrecht erhaltbar.
|
|
"Freiheit" an sich, ohne Bezug, ist ein leerer Begriff. Wir
müssen stets fragen "Freiheit wovon?"
|
Unsere menschliche Freiheit – soferne sie gegeben ist – ist eine
Freiheit, die innerhalb des Systems steht, das wir als Welt bezeichnen und das wir
bis vor kurzem in absoluter Weise dem Kausalitätsprinzip unterworfen sahen. Platon hat bereits die Grenzen der Begreifbarkeit der Gesamtwelt
aufgewiesen69, Kurt Gödel hat mathematisch-logisch bewiesen, dass ein geschlossenes formales
System mit eigenen Mitteln – d.h. aus sich selbst heraus – nicht seine logische
Widerspruchsfreiheit beweisen kann. Daraus ist zu folgern, dass es für innerhalb des
Systems Handelnde eine logisch zwingende Notwendigkeit gibt – die Existenz, die
Handlung läuft immer der Reflexion, dem Nachdenken über sie, voraus, die Reflexion
kann immer nur einen im Prinzip bereits überholten Zustand erfassen.
|
So ergibt sich nach Sachsse70:
|
1) |
„Die Willensfreiheit steht nicht
im Widerspruch zum Kausalprinzip, weil das Feld der Notwendigkeit, in bezug auf
das Freiheit zu verstehen ist, für den Menschen ein anderes ist als für den
intellectus infinitus. Die Sicht des totalen
Zusammenhanges, die der Mensch sich im Prinzip zwar vorstellen kann, hat er aber
in der Entscheidungssituation grundsätzlich nicht zur Verfügung, und daher ist
er praktisch frei."
|
2) |
"Weil der Mensch frei ist, weil
seine Zukunft offen ist, kann er das Kausalprinzip grundsätzlich nicht beweisen,
aber gerade diese Unbeweisbarkeit folgt aus der Natur des Kausalprinzips: seine
Geltung bedingt, dass derjenige, der als Glied des Systems dem Kausalprinzip mit
unterworfen ist, es nicht aufweisen kann [dies im Sinne Gödels], weil er infolge der vom
Kausalprinzip geforderten Wechselbeziehung aller Glieder untereinander durch
seinen Aufweis in das System eingreift und es verändert. Die Unbeweisbarkeit
spricht nicht gegen die Existenz des Determinismus, und mehr noch: wenn es den
Determinismus gibt, so ist die Erfahrung der menschlichen Freiheit seine
logische FolgeWeil eben der Mensch den Determinismus nicht wahrnehmen
kann.!"
|
|
|
Der Begriff „Wahrscheinlichkeit“ – probabilitas – bezeichnet ursprünglich ein ziemlich diffuses und
inhomogenes Feld von Vorstellungen und Begriffen und gewinnt philosophische
Bedeutung im Zusammenhang mit der Erkenntnisgewissheit.
|
Unter dem Aspekt der (intersubjektiven) Wahrscheinlichkeit bezeichnen
wir mit Wahrscheinlichkeit ein Maß für den Grad der Möglichkeit der Verwirklichung
eines noch unverwirklichten, möglichen Ereignisses. In erkenntnistheoretischer
Hinsicht kann sich "wahrscheinlich" nur auf Aussagen über die Wirklichkeit beziehen.
Wahrscheinlichkeit schließt Gewissheit aus – dies ist in der Diskussion um „Wissen“
von wesentlicher Bedeutung. Wahrscheinlichkeit ist aber der Unwahrscheinlichkeit
konträr entgegengesetzt.
|
Die Verwendung des Wortes „probabilis“ geht auf Cicero zurück und bezeichnet immerhin etwas, was nach sorgfältiger Prüfung
gebilligt werden kann, was also gewissermaßen der Wahrheit ähnlich ist („quasi veri simile“ = „wahr-scheinlich“). Diese
Auffassung ist von Augustinus übernommen worden, der dabei betont, dass man nur dann etwas
als der Wahrheit ähnlich bezeichnen könne, wenn man die Wahrheit kenne. Die
Skeptiker hingegen handeln in diesem Zusammenhang von „Glaubwürdigkeit“. Über Boethius und Robertus
Grosseteste kommt die probabilitas in
die abendländische Terminologie. Ihr erkenntnistheoretischer Wert sinkt jedoch mit
der Rezipierung des scientia-Begriffes des Aristoteles in seiner strikten Form ab, obgleich Buridan die strikte
Notwendigkeit eines Ereignisses in Frage stellt (s.w.u.). Erst als der Grad der
Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines Ereignisses – bei entsprechenden
Rahmenbedingungen – durch die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung72 mathematisch erfassbar wird, führt dies zu einer
neuen, positiveren Bewertung der probabilitas –
sie rückt aus der Nähe des Zufall ab und gewinnt die Funktion eines pragmatischen
und gesetzeskonform handhabbaren Erkenntnismittels. Dies ist nicht nur in den
Naturwissenschaften von Belang, sondern auch für die Geistes-, insbesondere für die
Geschichtswissenschaft von großer Bedeutung. So kommt es im 18. Jh in Zusammenhang
mit der mathematischen Fassung im Wege der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu einer
enormen Aufwertung der Frage der Wahrscheinlichkeit, die auch als „probabilistic revolution“73 bezeichnet wird.
Diese Veränderung hat aber bereits im 17. Jh vielfältige Überlegungen und
Spekulationen ausgelöst – nicht nur in Bezug auf Ereignisse, sondern auch auf
Informationsketten74 im Zuge der Diskussion des Wertes historischer Aussagen.
|
Die Verwirklichung eines bestimmten von vielen möglichen Ereignissen
erscheint an sich in unvorstellbarem Maße unwahrscheinlich, da jedes Ereignis (im
Sinne des regresses ad infinitum) durch eine an
sich praktisch unendliche Zahl von Determinanten bestimmt ist und die Änderung einer
einzigen Determinante zu einem anderen Ereignis geführt hätte75.. – Rigorose Probabilisten des 17. Jhs hielten alle
wahrscheinlichen Thesen für virtuell gleich wahrscheinlich (ihrem Wesen nach; davon
ist aber die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens bzw. Eintretens zu unterscheiden). –
Das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit zur Wahrheit unterliegt in den Diskussionen
vom 12. bis in das 17. Jh unterschiedlichen Auffassungen.
|
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung liefert keine Brücke vom Bekannten zum
Unbekannten; sie präzisiert nur, was sich wissen lässt. Der Zufall lässt sich nicht
berechnen, da die mathematische Feststellung von Wahrscheinlichkeit nicht im
Einzelfall hilft und auch nicht das Risiko der Einzelentscheidung mindert.
Hinsichtlich von Einzelnem, von Unvergleichbarem gibt es keine
Wahrscheinlichkeitsaussage. Dennoch liefert die mathematische Feststellung von
Wahrscheinlichkeit eine Grundlage für methodisches Verhalten.
|
Die Bereiche Kausalität, Zufall und Wahrscheinlichkeit waren
bis zur Säkularisierung natürlich in hohem Maße religiös belegt: Kausalität als
Wirken bzw. Ordnung Gottes, der Zufall wurde als Abweichung von der göttlichen
Ordnung, als Einbruch blinder Naturgewalt aufgefasst, ja als Einschränkung der
göttlichen Ordnung auch geleugnet bzw. schon in der Antike als dämonisches Schicksal
stilisiert.
|
|
Der Begriff der Gesetzlichkeit ist zwar eng mit dem der
Kausalität verknüpft, aber dennoch muss Kausalität keineswegs die Eigenschaft der
Gesetzlichkeit besitzen, wie auch Gesetzlichkeit unabhängig von Ursache und Wirkung
gesehen werden kann.
|
Der rationale Gesetzesbegriff – im Unterschied zum rechtlichen – kommt
in Auseinandersetzung mit der aristotelisch-thomistisch-scholastischen Philosophie
an der Wende zur Neuzeit auf. Es entwickeln sich zwei Richtungen:
|
1) |
Die naturwissenschaftliche Orientierung, durch die der
menschliche Verstand die Gegenstände der Natur in eine mathematisch-physikalisch
fassbare Beziehung bringt – es ist dies der Gesetzesbegriff der
Naturwissenschaften, wie er durch Kepler und Galilei begründet wurde. Kepler spricht expressis verbis von
den Gesetzen des schnelleren und langsameren Laufes der Planeten je nach ihrer
Entfernung von der Sonne etc. Dieses Gesetz wird natürlich vom Menschen
aufgestellt, weshalb sich die Frage nach der Gültigkeit und Art und Weise dieser
Verbindungen erhebt – es ist im Prinzip nicht verifizierbar. Newton festigt die Auffassung von der mathematischen Fassbarkeit der
Naturgesetze.
|
|
Spinoza spricht in diesem Zusammenhang von einer „lex naturae“ und vertrat (ihre Ewigkeit, Allgemeingültigkeit
und Unaufhebbarkeit: „quidquid fit, id secundum
leges et regulas, quae aeternam necessitatem et veritatem involvunt, fit“;
die Natur beobachte also ewige Notwendigkeiten und Wahrheiten, auch wenn diese uns
nicht alle bekannt sind, es gibt für Spinoza somit in der Natur eine feste und unveränderliche Ordnung; lex ist für Spinoza kein normativer, sondern ein deskriptiver Begriff! Descartes vertrat hingegen die Auffassung, Gott als Geber der
Naturgesetze könne sie jederzeit auch widerrufen).
|
|
Als erster hat Francis
Bacon
de
Verulamio einen eigenwertigen Gesetzesbegriff erarbeitet, der für die
Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik von großer Bedeutung ist;
selbstbewusst betitelt er sein Werk „Novum Organon“76. Bacon richtet sein
Denken auf die Sache und das Glück der Menschheit und auf „die Macht zu allen Werken“. Es geht ihm also nicht so sehr um
Einsicht, als um die Voraussicht auf Grund von Gesetzlichkeit als Instrument zur
Beherrschung, zur Steuerung, zur Macht77. Deshalb befasst er sich nicht mit der
Frage nach der Erstursache, der „Ur-Sache“, sondern ausschließlich mit den
Zweitursachen, den „mittleren Ursachen“.
Deshalb klammert er auch die Frage nach dem „Warum“ aus, und auch die neueren
Naturwissenschaften fragen ausschließlich nach dem „Wie“, nach dem funktionalen
Zusammenhang. Damit wird freilich der Anspruch, die Hoffnung auf ein rationales
Verständnis des Ganzen aufgegeben – tatsächlich ist die Abstinenz von der Frage
nach dem „Warum“ natürlich nicht aufrecht erhaltbar. Mehr ist aber – wie Platon und Aristoteles schon erkannt haben – empirisch nicht erreichbar, außerdem
ist die Kenntnis des „Wie“ für die Prognose und die Steuerung von Prozessen
ausreichend. – Von Beginn an setzte sich die Auffassung durch, dass es sich bei
den Naturgesetzen um mechanische Gesetze handle78.
Die Verwendung des Wortes „Mechanismus“ auch für „Wirkungszusammenhang“ ist heute
noch ein Hinweis auf die Wirkungsmächtigkeit der mechanistischen Vorstellung.
|
|
Hobbes, der den Erkenntnisgewinn „im Weg
von der Betrachtung der einzelnen Dinge zu den allgemeinen Gesetzen“ sieht,
sucht für die Erkenntnis der menschlichen Handlungen die grundlegenden Gesetze der
Natur, die „die Triebe und Seelenregungen
[...] in Schranken halten, weil die Menschen
sich sonst gegenseitig bekämpfen und bekriegen würden“ – von hier führt der
Weg zu den großen Hoffnungen, die man im 18. Jh in die Psychologie – als
„Seelenmechanik“ – setzte.
|
|
Kant hat systematisch den Gesetzesbegriff untersucht und hielt an der
Objektivität und Allgemeingültigkeit der Naturgesetze fest, interpretierte sie
aber doch als Erzeugnis, als Konstruktion des
menschlichen Verstandes, was im 19. Jh von Mach einerseits und von dem sich gegenüber dem Positivismus und dem
Hegelianismus absetzenden Neukantianismus andererseits wieder aufgegriffen worden
ist. Dies führt über die Südwestdeutsche Schule (Windelband, Rickert, Cassirer) zur Unterscheidung von nomothetischen (= gesetzesvermittelnden
Wissenschaften = Naturwissenschaften) und idiographischen (= das Einzelne
beschreibenden Wissenschaften = Geisteswissenschaften) Wissenschaften.
|
2) |
Ganz anders entwickelte Hegel die Vorstellung von Gesetz in einem objektiven Zusammenhang eines
Weltganzen. Diese Vorstellung wurde von Marx und Engels übernommen, die Geschichte dahingehend interpretierten, dass in
ihr „das Endresultat stets aus den Konflikten
vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer
Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige
einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von
Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis –
hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes, bewusstlos und
willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was jeder einzelne will,
wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, was keiner
gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses
und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen“. Die
marxistische Lehre führte die Historizität des auf die Welt anzuwendenden
Gesetzesbegriffes ein, womit auch die gesetzmäßige Erkenntnis nur eine relative
Annäherung an die Wirklichkeit darstellte, in deren Voranschreiten auf jeder
höheren Stufe eine Aufhebung und Neufestsetzung der Gesetze möglich, ja notwendig
sei.
|
|
In der 2. H. des 19. Jhs kommt es unter dem Druck der
Ausweitung der Erfahrungswissenschaften zu Neuansätzen:
|
– |
auf deutschsprachiger Seite die Empiriokritizisten Richard
Avenarius und Ernst Mach, die jegliche Metaphysik ablehnten und an die Empiristen
anschlossen. Mach definierte die Naturgesetze als „Einschränkungen, die wir unter der Leitung der Erfahrung unserer Erwartung
vorschreiben“, Gesetz ist ihm immer eine Einschränkung der Möglichkeiten,
die Naturgesetze sind „ein Erzeugnis unseres
psychologischen Bedürfnisses, uns in der Natur zurechtzufinden“;
|
– |
und dann vor allem durch den Positivismus auf französischer
Seite die Enzyklopädisten und Comte, der die „positive
Wissenschaft“ durch das Verfahren charakterisiert, „überall an die Stelle der unerreichbaren Ursachen [des
Einzelnen] die einfache Erforschung von Gesetzen,
d.h. der konstanten Beziehungen, zu setzen, die zwischen den beobachteten
Phänomenen bestehen“ – dies deutet hin auf das Phänomen der statistischen
Gesetze, denn „die Gesetze der Tätigkeit der
Massen, die die Soziologie zu erforschen sucht, können nur im Durchschnitt
geltende statistische Gesetz sein, welche die Bewegung eines Systems als Ganzen
beschreiben, nicht aber zugleich die Eigentümlichkeiten der Bewegung jedes
einzelnen ‚Teilchens’ im voraus bestimmen" (Acham).
|
|
Eine analoge Einschränkung des Gesetzesbegriffes ist – wie
bereits im Zusammenhang mit der Kausalität besprochen – in den Naturwissenschaften
durch die Thermodynamik und dann die Quantenphysik eingeführt worden. „Statistische
Gesetze“, d.h. Gesetzesannahmen auf statistischen Grundlagen, sind aber eigentlich
keine Gesetze, sondern Hypothesen.
|
Beweisbar ist die Gültigkeit der Gesetzmäßigkeiten in der
Natur nicht. Da die „Naturgesetze“ als menschliche Entwürfe immer auch einen
überempirischen Anteil enthalten und zwangsläufig enthalten müssen, wenn sie über
das bloße Faktum hinaus zur Vermehrung und Vertiefung der Erkenntnis beitragen
sollen, enthalten sie zwangsläufig auch einen geistesgeschichtlichen Anteil. Was als
Naturgesetz akzeptiert wird, muss nicht nur mit den Daten der äußeren Beobachtung
vereinbar sein, sondern auch mit dem geistesgeschichtlichen Weltbild einer
Epoche.
|
Ludwig Wittgenstein erkennt in seinem „Tractatus logico-philosophicus“ (1921)
Gesetzmäßigkeiten allein im Bereich der Logik an: es sei eine grundlegende Täuschung
anzunehmen, „dass die sogenannten Naturgesetze die
Erklärung der Naturerscheinungen
seien“ (behandelt werden kann nur die Frage nach dem „Wie“, nicht nach dem
„Warum“); Gesetze seien „rein logische Formen,
Einsichten a priori über die möglichen Formgebung der Sätze der
Wissenschaft“, die gleichsam wie ein Netzwerk über die Wirklichkeit gelegt
werden und der Beschreibung der Welt in einheitlicher Form dienen, aber nicht direkt
von den Gegenständen der Welt sprechen. Wittgenstein führt also auf die Problematik der Frage nach der Möglichkeit
und Berechtigung verallgemeinernder Aussagen überhaupt. Dies ist der wichtigste
Ansatzpunkt zur modernen analytischen Geschichtsphilosophie.
|
Aus dem Wiener Kreis hat Rudolf Carnap die Verifizierbarkeit aller sinnvollen empirischen Aussagen
gefordert (also die Überprüfung durch Beobachtung). Dem haben Bertrand Russell und Karl Popper im Anschluss an bereits in der Antike formulierte Anschauungen79 entgegengehalten, dass eine endliche Anzahl von Ereignissen
eine Aussage über unendlich viele Fälle nicht rechtfertigen könne
(Induktionsproblem), weshalb Popper vorschlägt, dass eine Theorie solange gelten solle, als sie nicht falsifiziert sei. Aussagen von echtem
Gesetzescharakter sind unmöglich, da eine Theorie niemals unbezweifelbar bestätigt
werden kann – worin zum Ausdruck kommt, dass auch Naturerscheinungen nicht
vollständig beschrieben werden können.
|
In der modernen analytischen Wissenschaftstheorie ist der Begriff
Gesetz im Rahmen der exakten empirischen Wissenschaften noch ungeklärt.
|
Die Geschichtsauffassung der deutschen Idealismus wie des
Historismus basierte auf der Vorstellung der Erkenntnis des Individuellen,
Einmaligen und damit Unwiederholbaren (dazu der in der Scholastik schon formulierte,
von Ranke und später u.a. von Meinecke wieder aufgegriffener Satz „Individuum est ineffabile“ (das Individuum ist unaussprechbar, d.h. nicht
beschreibbar und damit letztlich unerkennbar)80 –
einer Vorstellung, die bereits für Gatterer ein Problem darstellte, da diese Annahme ja die Möglichkeit von
Hypothesen ausschließt, da streng genommen zwischen individuellen Erscheinungen
keine Analogie möglich sei, und die oft und lange weit überzogen wurde81.
|
Die deutsche Geschichtsschreibung des Idealismus stellt sich somit im
Prinzip strikt gegen jegliche Gesetzmäßigkeit in der Geschichte. Doch schon Ranke sah in der "Erkenntnis des Besonderen
und
Allgemeinen" die Aufgabe der Geschichte. Robin George Collingwood82
stellt dazu fest, dass der Historiker vom individuellen Denkakt einer historischen
Persönlichkeit nur das erkennen könne, was dieser mit anderen Denkakten (nämlich
anderer Individuen) gemeinsam habe – also das Allgemeine, und die
Geschichtswissenschaft sei insoferne nicht unbedingt bzw. nicht nur Erkenntnis des
Individuellen. Stegmüller83
fasst dies 1969 prägnanter: „Was wir erklären,
sind gewisse Tatsachen über diese individuellen Objekte“.
|
Einen ganz anderen Stellenwert misst die französische
positivistisch-analytische Geschichtsschreibung dem Allgemeinen zu; sie strebt nach
der Aufdeckung historischer Gesetze, die die großen Tendenzen der Geschichte
bestimmen, um die sich die Handlungen der "Individuen" wie geringfügige
Überlagerungen ranken (s.w.u.).
|
|
|
Als Subjektivismus wird der unausweichliche Umstand
bezeichnet, dass eine objektive Erkenntnis auch einer als an sich gegebenen
betrachteten Welt (im Sinne des wohl unwiderlebaren, wenn auch nicht beweisbaren
Realismus) nur in einem subjektivem Sinne, d.h. unter dem Einfluss unseres
jeweiligen individuellen leiblichen und psychischen Sensoriums, d.h. jeweils für
jedes einzelne betrachtende Subjekt, möglich ist. Insoferne steht der Begriff des
Subjektivismus nahe bei dem des Relativismus und dem der Skepsis. Im Verlaufe der
Neuzeit kommt ihm auch ein peiorativer Beigeschmack zu.
|
„Subjektivität“ ist der Inbegriff dessen, was zur psychologischen
Bewusstseinsverfassung des menschlichen Individuums gehört. Das Problem der
Selbstreflexion eines Individuums ist von Kant
mit diesem Wort bezeichnet worden, wobei er feststellte, dass es „schlechterdings unmöglich zu erklären“ sei, dass „ich, der ich denke, mir selber ein Gegenstand (der
Anschauung) sein und so mich von mir selber unterscheiden könne, [...] obwohl es ein unbezweifelbares Faktum ist“. Die
Problematik als solche, die in der Scholastik entwickelt worden ist, hat durch das
in der Renaissance entworfene Menschenbild an Bedeutung gewonnen und wird in der
Folge, insbesondere in der Neuscholastik als „Freiheit von der Furcht vor dem Gegenteil“ diskutiert, die dem Individuum
von Natur aus erreichbar sei. Naturgemäß wird der Begriff „subjektiv“ dem Begriff
„objektiv“ gegenübergestellt; dies wird intensiv diskutiert in der deutschen
Aufklärungsphilosophie, wobei der Inhalt der Diskussion natürlich weit über das
hinausgeht, was im hier gegenständlich Sinne angesprochen wird. Dem Begriff
Subjektivität ist früh – bewusste oder unbewusste – Unsachlichkeit in einem
negativen Sinne unterlegt worden und er ist einer wissenschaftlichen Auffassung
diametral gegenübergestellt worden.
|
Im 20. Jh definiert Popper objektives Wissen als ein Wissen ohne wissendes Subjekt und
unterscheidet es strikt vom subjektiven Wissen. Heisenberg hingegen vertritt die Auffassung, dass „eine scharfe Trennung der Welt in Subjekt und Objekt nicht mehr
möglich“ sei. In der jüngeren Analytischen Philosophie wird der Gegensatz
Subjekt-Objekt bzw. subjektiv-objektiv als eine polare, nicht reduzierbare Relation
betrachtet. „Das Objektive und das Intersubjektive
sind [...] wesentlich für alles, was wir
Subjektivität nennen können“ (s.w.u. Objektivität, Intersubjektivität).
|
|
Unser gesamtes Handeln wird letztlich von subjektiven
Wahrscheinlichkeiten, von Erwartungswerten in Einzelfällen geleitet, die allesamt
– wenn überhaupt – kaum bzw. nur partiell logisch begründbar sind. Auch die
Wahrnehmung selbst liefert uns nicht wirklich Sicherheit, sondern nur Vermutungen,
Annahmen. Die hohe Erfolgsrate dieser Vorgehensweise ist nicht mit dem Hinweis auf
den Zufall, nicht mit einem rein statistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff
erklärbar, zumal die „Trefferquote“ einzelner Menschen sehr unterschiedlich ist.
Diese Vorgänge werden vielmehr mit dem Begriff „Intuition“ erklärt, unter dem man heute eine spontan, nicht auf Grund
bewusster Reflexion, als Folge logischer Schlüsse etc. sich einstellende
Eingebung, Entscheidung versteht. Man unterscheidet diesbezüglich zwischen
Gefühlsentscheidungen und auf Verstand beruhende Intuition, wobei die
Verstandesleistung im Unterbewussten erbracht wird. Kant formuliert, „das menschliche Denken
ist nicht intuitiv, sondern diskursiv“84. Intuitives Verstehen und Handeln gehen demnach „aus einer unmittelbaren inneren Organisation hervor,
die nicht auf einem logisch durchdachten Ablauf beruht“ – das kann auch bei
geistig behinderten Menschen in sehr positiver Weise der Fall sein. Die Intuition
ist außerlogischer Natur, nicht quantitativ fassbar und nicht intersubjektiv
zwingend; sie hängt in hohem Maße von der individuellen Natur des Wahrnehmenden
ab. Darüber hinaus ist die innere Anschauung mit einem Gefühl für ihre
Deutlichkeit und Gewissheit ausgestattet – ich kann "wissen", dass ich etwas
verstanden habe und richtig abschätze – es handelt sich um Vorgänge primären,
präverbalen und prälogischen Charakters.
|
Das Wort Intuition kommt vom mittellateinischen „intuitivus" = „aus unmittelbarer Anschauung, nicht durch
Denken gewonnen“; synonyme Wörter für Intuition sind „Schau, Einsicht,
Erleuchtung, Offenbarung“ – mehrheitlich optische Begriffe, wie ja auch die
optische Wahrnehmung keine Begründung, Kontrolle, Kriterien für die Wahrnehmung
gibt85. Platon bezeichnet im Sinne der Erklärung des Vorauswissens den Einfall
als Wiedererinnerung. Das Phänomen Intuition ist im Hellenismus und insbesondere
dann im Neuplatonismus aufgegriffen worden, als man ein intuitives Erkennen vom
diskursiven Erkennen unterschied, welche Differenzierung auch die späteren Aristoteles-Kommentatoren beibehalten haben. In die lateinische
Terminologie hat Boethius den Begriff der Intuition (intuitus) als Erkennen durch reine Anschauung eingeführt. In der
Scholastik und in der Renaissance wird der Begriff aufgenommen und in den weiteren
philosophischen Strömungen sehr unterschiedlich, aber stets als hochstehende
Erkenntnisform – „intellektuelle Anschauung“
im deutschen Idealismus – behandelt.
|
Man glaubt heute, dass es innere Modelle (Konrad Lorenz: Erbkoordination) gibt, die dem Menschen bruchstückhaft als
Einsichten zu Bewusstsein gelangen, wenn es sich um Sachverhalte handelt, und als
Werte und Prinzipien, wenn Methoden und Programme bewusst werden. Im Wege der
unbewussten Informationsverarbeitung, also des unbewussten Lernens, fügt das
Individuum den inneren Modellen weitere Inhalte hinzu; daraus resultiert, dass die
intuitiven Möglichkeiten und Fähigkeiten der einzelnen Individuen unterschiedlich
sind. Über das Ausmaß dieses unbewussten Wissens lässt sich wenig sagen – wenn es
jedoch auch für die Erklärung des Genies taugen soll, dann muss es
verschiedentlich recht beträchtlich sein. Der schöpferische Mensch ist einer, dem
das unbewussten Wissen in besonders hohem Maße zugänglich wird. Es besteht keine
Möglichkeit, die Intuition willentlich herbeizuführen oder zu verstärken, es kommt
bei diesbezüglichen Versuchen nur zur Blockierung. Gleichwohl gibt es offenbar
physische Situationen, die der Intuition förderlich sind (z.B. die Phase des
Erwachens86).
|
Ein Entwurf im Theoriemodell „Entwurf–Prüfung“ ist eine schöpferische
Leistung und als solche ein Produkt der Intuition. Der Intuition kommt so bis in
die Mathematik hinein ein kaum überschätzbarer Anteil an der Erkenntnisleistung
zu; in besonders hohem Maße ist dies bei den Geisteswissenschaften der Fall, wo
der Vorgang der Prüfung ja ungleich komplizierter ist als in den
Naturwissenschaften und daher auch der Einfluss der Individualität des
Untersuchenden viel größer ist.
|
In diesem Grundcharakter der Intuition liegt begründet, weshalb man
sie immer wieder aus dem wissenschaftlichen Bereich ausschalten möchte, obgleich
gerade sie Orientierungswerte zu liefern imstande ist, die anders überhaupt nicht
erhaltbar sind. Weiters ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die
rationalen Verfahren nur das feststellen können, was in einem System, in den
Voraussetzungen schon vorhanden ist; nicht aber gewinnen sie Neues, zur neuen
Sicht führe keine logische Brücke (Thomas S. Kuhn). Je höher man die Ansprüche
der Wissenschaftlichkeit, der Erkenntnistheorie schraubt, desto geringer wird der
Gehalt an diesen Ansprüchen genügenden Inhalten. Erkenntnis ist nach Kant schon nicht mehr Empfang, sondern Konstruktion, Leistung des
Subjekts („kopernikanische Wende der
Erkenntnistheorie“ bei Kant).
|
Das Fortschreiten der rationalen, kritischen Methode stellt eine
Herausforderung auch der intuitiven Erkenntnis dar. Da auch die intuitive
Erkenntnis bei aller Subjektivität ihr fundamentum
in re hat, ist sie nicht beliebig, und sie kann auch intersubjektiv
sein.
|
Die stets auch Werte einschließenden Selbstvergewisserungsvorgänge im
Zuge der Absicherung und Normierung im Rahmen der menschlichen
Handlungsorientierung vollziehen sich auf der Ebene der Intuition, wie überhaupt
das menschliche Denken und Handeln nur in geringem Maße logischen Schließen folgt.
Insoferne stellt das Phänomen des intuitiven Verstehens eine unabdingbare
Ergänzung des rationalen Handelns dar.
|
Die Leistungen der Intuition bedürfen der rationalen Kontrolle. |
|
Wie bereits im Zusammenhang mit der Frage der Subjektivität
ausgeführt besteht keine Möglichkeit zu objektiver, vom erkennenden Individuum
losgelöster Erkenntnis. Der Begriff Objektivität wird in zweierlei Hinsicht
verwendet:
|
1) |
Einmal soll er Unvoreingenommenheit, Unabhängigkeit von
Vorurteilen oder uninteressierte Sachlichkeit ausdrücken, wie sie dem Historiker
eigen sein soll – "frei von subjektiven Faktoren im
Sinne von idiosynkratischenIdiosynkrasie = Abneigung. oder ideologischen
Momenten"88. Gegenbegriffe zu
dieser Wortbedeutung sind Ideologie, Relativismus und in gewisser Hinsicht auch
Skeptizismus; es schwingt dabei der Begriff der Wahrheit mit – ein objektives
Wahrnehmungsurteil gilt als wahr, wenn es intersubjektiv ist, wenn also ein
Konsensus der Beobachter vorliegt; der Inhalt dieses Urteils rückt in die Sphäre
des Wissens ein. Dies ist aber nicht korrekt – es handelt sich dabei um einen
subjektivistischen Wissensbegriff, der nur auf dem Konsens beruht (auch viele
Menschen können im selben Irrtum befangen sein ...). Der Versuch, den Begriff
eines Wissens im objektiven Sinne einzuführen, führte zu Poppers Formulierung vom „Wissen ohne
erkennendes Subjekt“. Der Begriff Objektivität ist ein wesentlicher Teil
unseres Wissenschaftsbildes, „wissenschaftliche Objektivität“ gilt als die
Grundlage authentischen Wissens; der Drang nach Absicherung der Objektivität
entspringt der Forderung nach Wahrheitsgarantien, die zu finden das Bestreben der
klassischen Erkenntnistheorie von Bacon bis zum Logischen Positivismus war; die
Suche war erfolglos. Gegenpositionen entstanden im Kritischen Rationalismus Poppers, der von Verifikationskriterien des Wiener Kreises und
nachfolgenden probabilistischen Theorien ausging. Poppers Anschauung
wird durch relativistische Positionen (Kuhn) und im epistemologischen
Anarchismus Paul Feyerabends angegriffen, der jede Möglichkeit objektiver Kriterien des
Fortschritts oder allgemeingültiger methodologischer Regeln negiert ("anything goes") – die Gegner Poppers verneinen die Möglichkeit objektiver Kriterien für die
wissenschaftliche Qualität der Resultate von Forschung und damit eigentlich die
Möglichkeit wissenschaftlichen Fortschritts. Eine relativistische Position hat
schwerwiegende Konsequenzen.
|
2) |
Zum anderen bedeutet das Wort die objektive Gültigkeit eines
Urteils – eine Frage, die in der Aufklärungsphilosophie eine wesentliche Rolle
spielte und natürlich auch für die Geschichte bedeutend war.
|
|
Besondere Bedeutung kommt der Problematik
Subjektivität-Objektivität jenseits der prinzipiellen Unmöglichkeit echter
Objektivität im Bereich der Geschichtsbetrachtung, der Geschichtswissenschaft zu. In
Bezug auf sie wird die Möglichkeit von Objektivität geleugnet,
|
– |
indem der Relativismus behauptet, es gebe in der
Geschichtswissenschaft keinen objektiven Unterschied zwischen "Wesentlichem" und
"Unwesentlichem", diese Kategorien würden vom Historiker geschaffen, der letztlich
willkürlich handle bzw. sich von noch dazu variablen Werten leiten lasse; diesem
Argument ist entgegenzuhalten, dass der Historiker sich zwar das Thema seiner
Untersuchung aussucht, nicht aber mit isolierten Fakten handelt, daher auch nicht
Zusammenhänge schaffen, sondern nur fixieren und schildern könne.
|
– |
weil der Begriff Faktum unklar sei; tatsächlich ist das im
Sprachgebrauch der Fall ("die Schlacht von Waterloo ist ein historisches Faktum" –
"Fakten über die Schlacht von Waterloo sammeln").
|
|
Die an sich richtige Leugnung der Möglichkeit von
Objektivität wurde zeitweise zur Legitimierung der Instrumentalisierung von
Geschichte verwendet: da Objektivität ohnedies nicht erreichbar sei, fühlten manche
sich berechtigt, die Geschichtswissenschaft als ideologisches Werkzeug einzusetzen –
so hat schon Droysen die „eunuchische Objektivität“
verflucht89. Von Seiten des Marxismus-Leninismus ist das Ideal der
Objektivität 1895 von Lenin als „bürgerlicher Objektivismus“ verworfen worden.
|
Der ernsthafte Historiker unternimmt es, den erwähnten Schwierigkeiten
durch Objektivierung zu entgehen – durch den Versuch, genauer zwischen sich selbst
als Erkennendem und der Welt, d.h. dem Objektbereich als dem zu Erkennenden zu
unterscheiden und den dadurch „gewonnenen“ Gegenstand methodisch-rationell zu
erfassen. Dieses Bemühen kommt bereits im Titel von René Descartes’ "Discours de la Methode pour bien conduire sa Raison et
chercher la Vérité dans les Sciences" zum Ausdruck – Descartes war es ja auch, der das Prinzip des „Subjektivismus“ erkannte,
dass nämlich alles Erkennen durch das erkennende Subjekt mehr oder minder maßgeblich
mitbestimmt werde. Mit der Objektivierung beschreitet Descartes bereits den Weg hin zur Intersubjektivität – mit diesem,
maßgeblich durch Edmund Husserl („Cartesianische Meditationen“) geprägten Wort wird bezeichnet,
was hinsichtlich einer Fragestellung verschiedenen Subjekten gemeinsam ist.
|
Wenn also auch eine Reihe von sehr ernsthaften Problemen besteht, so
ist der Historiker dennoch kein „wissenschaftlicher
Desperado der Vergänglichkeit“, so Karl Acham,
der definiert90, dass ein
Historiker dann als objektiv zu bezeichnen sei, „wenn
er |
1) |
Aussagen präsentiert, die hinsichtlich ihres
kognitiven Gehalts der intersubjektiven Kontrolle standhalten;
|
2) |
die Fähigkeit besitzt, sich
jedenfalls so weit über die begrenzte Sicht seiner eigenen konstitutionell wie
sozial bedingten Werthaltungen und die damit verbundenen Betrachtungsweisen zu
erheben, dass er in der Lage ist zu sehen, dass und in welchem Ausmaß er dieser
seiner spezifischen Situation verhaftet ist“ (diese Reflektiertheit
entspricht der Objektivierung; Adam Schaff formuliert: die einzige Garantie gegenüber der Möglichkeit einer
Deformation der Erkenntnis bestehe darin, sich der aktiven Rolle als Subjekt bzw.
des Subjekts bewusst zu werden. Je genauer wir zu bestimmen vermögen, was das
Subjekt in die Erkenntnis des Objekts einbringt, umso genauer wissen wir, wie das
Objekt wirklich beschaffen ist);
|
3) |
„die Fähigkeit besitzt, seine
Darstellungen in einer Weise zu präsentieren, dass nicht die jeweiligen
historischen Tatbestände in einem phänomenalistischen Bilderbuch ausgebreitet
werden, sondern dass diese von ihm auf solche Weise auf die fundamentalen
individuellen und sozialen Grundbedürfnisse projiziert werden, dass er zu einer
tieferen und dauerhafteren Einsicht in die Vergangenheit verhilft, als es
Historikern möglich ist, die sich und ihre eigene Zeit letztlich unvergleichbar
mit anderen Individuen und Epochen, und damit im eigentliche Sinne als neuartig,
verstehen. Je mehr ein Historiker in der Lage ist, die Singularitäten vor der
Folie der bislang als unveränderlich konstatierbaren menschlichen
Daseinsbedingung zu sehen, umso länger wird sein Werk den auflösenden Kräften
der Geschichte widerstehen können“.
|
|
Der sowjetische Wissenschaftstheoretiker Igor S. Kon91 hat die Frage, ob objektive Wahrheit in der
Geschichtswissenschaft möglich sei, dahingehend positiv beantwortet, dass er
feststellte, dass Objektivität eine Eigenschaft historischer Behauptungen sei, die
man in Anspruch nehmen könne, wenn diese Behauptungen nach den Regeln
geschichtswissenschaftlicher Forschungspraxis – also durch die Historischen
Hilfswissenschaften – als begründete Behauptungen akzeptiert werden können. Dieser
Auffassung ist nichts entgegenzusetzen; sie gilt freilich nur für sehr begrenzte
Felder historischer Aussagen.
|
Im Zusammenhang mit der Frage der Objektivität bzw. mit der
Diskussion der Wertfreiheit sind drei weitere Begriffe zu bedenken: Neutralität,
Unparteilichkeit und Uneigennützigkeit92:
|
– |
Neutralität bedeutet, sich
zwischen zumindest zwei Parteien so zu verhalten, dass man keiner Seite
hilft;
|
– |
Unparteilichkeit bedeutet,
gleiche Fälle nach allgemein erkennbaren Regeln gleich zu behandeln;
|
– |
Uneigennützigkeit bedeutet,
keine persönlichen Interessens ins Spiel bringen.
|
|
Diesen Begriffen steht der Begriff der Parteilichkeit gegenüber, wobei zwischen Parteilichkeit als
Beschreibungskategorie und als Handlungskategorie zu unterscheiden ist. Erstere –
die Beschreibungskategorie – ist es, was der Historiker ablehnt. Parteilichkeit als
Handlungskategorie ist akzeptabel, wenn sie das Ergebnis einer unparteiischen
Analyse und Rekonstruktion ist.
|
Im Umfeld des Wortes Objektivität steht noch der Begriff Objektivation, ein Wort das der späte Dilthey verwendet: Als Objektivation des Geistes (oder des Lebens)
begreift Dilthey alle nicht naturgegebenen Gegenstände: Wort, Tat, Bauwerke,
Gesetze, Institutionen. Er wendet dabei wohl die Vorstellung an, dass es sich nicht
so sehr um Emanationen eines individuellen Geistes, sonders vielmehr eines
„überindividuellen Geistes“ – „objektiver Geist“ – handle.
|
Objektivierung meint die
Vergegenständlichung: die Vorstellung eines Subjektiven, eines subjektiv Gegebenen
als objektiv; u.a. als Logische Objektivierung durch den Akt der Namensgebung, de
konkreten Bezeichnung. Die Objektivierung ist ein "Trick", der die Möglichkeit zur
Erlangung intersubjektiv tragfähiger Erkenntnis verbessern soll.
|
|
Im Verhältnis zu den Naturwissenschaften wird die
geisteswissenschaftliche, die hermeneutische Interpretation in weit höherem Maße von
individuell-persönlichen Vorentscheidungen in Bezug auf Werte beeinflusst. Darin
liegt der Grund dafür, dass die Erreichung intersubjektiver, gemeinsamer
Auffassungen ungleich schwieriger ist als in den Naturwissenschaften.
|
Intersubjektiv bedeutet, dass es sich um eine Erkenntnis handle, die
nicht nur von einem Individuum, sondern unter denselben Bedingungen auch von anderen
Individuen geteilt, also in gleicher Weise gewonnen wird.
|
Dieser Umstand ist allerdings nicht nur negativ zu sehen. Im Sinne von
Hegels Wort "Das Wahre ist das Ganze"
liefern alle unterschiedlichen Auffassungen einen Beitrag zur Wahrheit und jede
einzelne weist eine gewisse Einseitigkeit auf. Daher ist es nicht nur sinnvoll,
sondern auch wichtig, sich um das Verständnis des Anderen zu bemühen und die
Pluralität der Meinungen zu pflegen. Gerade die Auseinandersetzung mit dem Anderen
ist der beste Weg zur Verdeutlichung der eigenen Position.
|
|
Sprache ist – in welcher Form auch immer – das uns zur
Verfügung stehende Mittel der Kommunikation. Philosophie, Wissenschaft und
insbesondere Geisteswissenschaft sind wesentlich ein Problem der Sprache. Sprache wird
definiert als
|
– |
der Gebrauch gleichbleibender sinnlich wahrnehmbarer Zeichen zum
Zwecke der Verständigung: Gebärden Laute, Schriftzeichen (Lehre von den Zeichen =
Semiotik, Semiologie)
|
– |
der Vorrat an Zeichen |
– |
die Sprechleistung des Einzelnen |
– |
auch der persönliche Stil – die individuelle Auswahl und
Verwendung von Sprachmitteln, von Zeichen.
|
|
Wir unterscheiden zwischen natürlichen, künstlichen und
formalen Sprachen. Die mathematische Linguistik definiert Sprache als eine beliebige
Untermenge der Menge aller über einem Alphabet möglichen Ketten.
|
Die Frage, ob und in welchem Verhältnis die sprachlichen Begriffe zu den
bezeichneten Dingen und Sachverhalten stehen, ist uralt und hat verschiedentlich zu
tiefgehenden Auseinandersetzungen geführt – vor allem im Universalienstreit, der das
eigentliche Wesen von Sprache zum Gegenstand hat, ob nämlich Begriffe
wesenskonstituierend seien oder nicht. In der Aufklärung geht man der Frage nach,
inwieweit die Sprache überhaupt zur Erkenntnisverbreitung tauglich sei, was sie in
Hinblick auf die Erkenntnisarbeit leisten könne. Die Diskussion darüber und über die
Möglichkeiten, die erkannten Defizite zu beheben, d.h. die Eindeutigkeit der
Kommunikation zu verbessern, ist Gegenstand der Sprachphilosophie und hält an.
|
Wir können unseren Erfahrungen über uns selbst nur insoweit sprachlichen,
verbalen Ausdruck verleihen, als wir auf äußere Gegebenheiten hinweisen, denen
gegenüber ein anderer ähnliche Erfahrungen hat – "Sieh
dir das Gras an, was wir dabei empfinden, nennen wir grün". Was über diese
Ebene an Mitteilung hinausgeht, ist Kunst. Der polnische Philosoph Alfred Tarski
hat nachgewiesen, dass sich die Regeln, denen ein geschlossenes logisches System
gehorcht, nicht mit den Sprachmitteln dieses Systems formulieren lassen, sondern einer
Metasprache bedürfen, deren logische Kohärenz zu ihrer Konstituierung wieder einer
höheren Stufe bedarf etc. Das heißt, dass logische Klarheit nur dem möglich ist, der
nicht innerhalb des von ihm beschriebenen System steht.
|
Die Umgangssprache ist für viele wissenschaftliche Probleme zu wenig
exakt. So ist es verständlich, dass sich im 20. Jh, aufbauend auf der Logik und
maßgeblich den Bemühungen Gottlob Freges
(1848-1925)93, die antimetaphysische Richtung der
analytischen, d.h. wesentlich sprachanalytischen Philosophie entwickelt, die ihre
Aufgabe nicht in der Vermittlung weltanschaulicher Inhalte und Lehrsätze sieht,
sondern in einer metaphysikkritischen und sprachkritischen Klärung philosophischer und
wissenschaftstheoretischer Fragen – Analysen und der Präzisierung der verwendeten
Sprachen, und zwar sowohl in der Umgangs- wie in der Wissenschaftssprache. Michael
Dummett (1925-) hat die Sprachphilosophie als Basis und Ausgangspunkt
jeglicher Philosophie apostrophiert. Es kommt so im 20. Jh zu einem fundamentaler
Wandel in der Philosophie: es entsteht eigentlich eine zweite Philosophie, die – wie
bei Mach
oder im Wiener Kreis, später bei Reichenbach („Logischer Empirismus“ oder „Wissenschaftliche Philosophie“) –
gar nicht mehr Philosophie heißen will, zur sogenannten „sprachanalytische Wende der
Philosophie“. Diese Auffassungen werden durch den Kritischen Rationalismus Poppers
abgelehnt.
|
In seinen "Principia mathematica" konzipierte Bertrand Russell 1910-1913 – Frege folgend – eine wissenschaftlich exakte Idealsprache – eine Idee, die
später vom Wiener Kreis und vor allem von Wittgenstein ("alle Philosophie ist
Sprachkritik") fortgeführt worden ist (Ideal
Language Philosophy). Diese Idealsprache steht im Gegensatz zu der sich um
Alltagsgebrauch bewährenden Normalsprache, auf die George Edward Moore
seine Philosophie zu beschränken suchte ( Ordinary
Language Philosophy).
|
|
|
Die Griechen stehen am Beginn der wissenschaftlichen und
kulturellen Kontinuität im Abendland. Es sind in Mesopotamien vor allem, aber (in
minderem Maße) auch in Ägypten bedeutende Leistungen in der Astronomie und ihrer
Hilfswissenschaft, der Mathematik, erbracht worden, und Vieles von dem dort
Erarbeiteten ist auch in die griechischen Leistungen eingeflossen.
|
Der entscheidende Schritt zu systematischer und auf eine
abstrakt-theoretische Durchdringung der Materie abzielendes Vorgehen ist jedoch den
Griechen vorbehalten geblieben. Als junges Volk, unbelastet von Traditionen94 übernehmen sie alles, was aus dem Alten Orient und aus
Ägypten überliefert wird und ihnen brauchbar erscheint. Sie fragen als erste nach
allgemeinen Gesetzen in und hinter den Erscheinungen und gehen damit über den
Einzelfall hinaus. Sie gelangten zu einer zunehmend rationalen und weltlichen
öffentlichen Diskussion des Wissens ohne Aberglauben; ein Wissen, das um seiner selbst
willen gesucht wird. Sie entwickeln die Fähigkeit des rationalen Argumentierens, der
Dialektik im Rede- und Antwortspiel, das bis in die Neuzeit als Lehrdialog fortlebt.
Sie berufen sich als erste auf objektive Erfahrung. Sie fassen das Universum rational
auf, weshalb sie auch alle seine Einzelerscheinungen auf rein logischem Wege aus
seiner Gesamtheit, aus einem Grundprinzip ableiten wollen; es liegt hier eine
aprioristische Grundeinstellung vor.
|
Im Unterschied zu den anderen Völkern der Alten Welt beschäftigen sich
die Griechen weniger mit den Einzelerscheinungen, sondern versuchen, nach dem
Allgemeinen, nach dem eigentlichen Ursprung der Welt in natürlicher Hinsicht zu
fragen, was zur Entwicklung der Philosophie führt. Aber auch bei den Griechen liegt
das rationale Denken im Kampf mit dem Mythischen, wie es aus dem Orient immer wieder
herankam; es überwiegt jedoch (im Unterschied zu Indien) das rationale Denken – dies
offenbar nicht zuletzt, weil es praktisch keine feste Priesterkaste mit weltlicher
Macht gab, die eine zu freie Diskussion von Tabus verhindert hätte95.
|
Im Factum, daß die Philosophie als Frage nach dem Ganzen, nach dem Sein
schlechthin, die zentrale Stellung einnimmt, und daß diese Frage alle anderen Fragen
einschließt, liegt in der Auffassung von einer rationalen, logischen Struktur des
Komsos und damit auch darin mitbegründet, daß Wissenschaft als eine Einheit aufgefasst
wurde und wird, innerhalb derer erst nach und nach im Wege der Differenzierung die
Einzelwissenschaften als Spezialbereiche der einen Wissenschaft entstehen.
|
Die wissenschaftliche Entwicklung im Sinne einer ersten Differenzierung
setzt mit einer gewissen Zeitverschiebung nach dem politischen Höhepunkt ein: der
Verlust der Freiheit Griechenlands im 4. Jh hat nicht den Verlust der
Weiterentwicklung der Philosophie bzw. von Wissenschaft zur Folge (Hegel
formuliert diesbezüglich: die Eulen Minervas beginnen
erst in der Dämmerung ihren Flug; die Wissenschaft ist eine späte Frucht am Baume
der Kultur).
|
Die geistige Entwicklung der Griechen ist maßgeblich
beeinflusst worden durch die Seefahrt, die Vielgestaltigkeit des griechischen
Siedlungsraumes, durch die Kolonien, die Kontakte zum Osten. Nicht umsonst erfolgt die
erste Blüte in den ionischen Kolonien in Kleinasien.
|
In den Anfängen schon sind auch starke soziale Komponenten motivierend –
die Frage der Staatsform ist früh Gegenstand eingehender Betrachtung, in der sich die
Philosophen engagieren. Die Kolonisationstätigkeit auf Grund des
Bevölkerungsüberschusses erforderte schiffsbautechnische Entwicklung, Verbesserung der
Navigation, damit der Astronomie und der Geographie, der Schiffsbau selbst und andere
Arbeiten lösten die Verbesserung der Mechanik aus, obgleich diese lange keine
besondere Stellung einnimmt.
|
Durch die Reisen der Periegeten – die die Küsten des Mittelmeers nach
günstigen Ansiedelungsplätzen durchforschten – trat man mit anderen Kulturen in
Kontakt; Thales war vielleicht mit seiner Reise nach Ägypten ein solcher Perieget.
Auch materielle Veränderungen sind durch die Kolonisation erfolgt – als besonders
wichtig ist die Einfuhr von Papyrus aus Ägypten einzuschätzen, die überhaupt erst eine
Zunahme der Schriftlichkeit ermöglichte. Der ionische Bereich, von dem die Philosophie
ausgeht, ist früh wirtschaftlich besonders rege gewesen, was wiederum bedingt war
durch den Umstand, das die herrschenden Lydier als erste kleine Münzen prägten, die
den Handel auch mit geringfügigen Gütern über Geld ermöglichten.
|
Wesentlich für die Entwicklung der Wissenschaft bei den Griechen war
auch, daß sie im Grunde genommen von ihren Sklaven lebten (in Attika standen um 317
vChr 400.000 Sklaven nur 124.000 Freien gegenüber96!). Dementsprechend vermochten sie das freie, schöpferische
Denken zu pflegen und brachten es hier, in den abstrakten Bereichen (wie auch in der
Mathematik) zur höchsten Vollendung; weit weniger beschäftigten sie sich mit
praktischen Dingen (eine Ausnahme ist die Architektur), mit Experimenten (das
Hantieren mit Geräten etc. wäre wie ein Handwerk eines freien Mannes unwürdig
gewesen); und da die Arbeitskraft der Sklaven billig war, kam es auch nicht zur
Entwicklung von Maschinen zur Verbesserung der Arbeitsmethoden. Deshalb wandten sich
die Griechen auch zu rasch der Verallgemeinerung, der Theorie zu, ohne wirklich
hinreichend die Einzelerscheinungen zu überprüfen.
|
|
Die griechische Philosophie entstand nicht im Mutterland,
sondern im ionischen Grenzbereich, auf den ionische Inseln und später vor allem in
Unteritalien – also in Großgriechenland.
|
Im Wesentlichen sind in der Entwicklung im griechischen
Bereich vier Phasen zu unterscheiden:
|
– |
ionische Phase: die Naturphilosophie des 6. Jhs97, Thales, Pythagoras u.a.
|
– |
athenische Phase von 480-330 bestimmt durch Fragen der Moral
und der Ethik
|
– |
alexandrinische Phase |
– |
die Zeit unter römischer Herrschaft. |
|
Bei der Betrachtung der Entwicklung der griechischen
Philosophie erfordert der Umstand besondere Aufmerksamkeit, dass aus der Zeit vor
Platon kein einziger Text der griechischen Philosophie geschlossen
erhalten ist. Alles, was wir über die frühe Philosophie wissen, ist entweder in
letztlich nicht hinreichend gesicherter Weise aus Fragmenten und sekundären
Überlieferungen erschlossen, wobei diese Rekonstruktionen natürlich durch die Zeit
ihrer Erarbeitung mitgeprägt und deshalb in ihrer Aussagekraft mit Zurückhaltung zu
bewerten sind.
|
Unter den sekundären Überlieferungen nehmen die
philosophiegeschichtlichen Äußerungen bei Aristoteles (der sich einleitend immer
wieder mit Aussagen früherer Philosophen befasst) eine besondere Stellung ein; sie
sind eine Hauptquelle, aus der vieles erschlossen werden kann. Ähnlich verhält es
sich mit Aussagen seiner Schüler.
|
Die Anfänge der Philosophie liegen in den Versuchen
rationalen, „wissenschaftlichen“ Erklärens – Thales erklärt beispielsweise die
Nilüberschwemmungen durch die Aufstauung des Nils durch die von Norden nach Süden
wehenden Winde. Diese Aussage ist zwar an sich inhaltlich falsch, stellt aber eine
bedeutende Leistung dar, indem sie eine nicht mythische, sondern rational-kausale
Erklärung darstellt.
|
Eine der Hauptleistungen der frühen Philosophie als Welterklärung
besteht darin, daß Erklärungsentwürfe geschaffen werden, auf die später
zurückgegrifffen werden kann – d.h. es werden grundsätzliche Fragen erarbeitet und
mehr oder weniger zutreffende Antworten gegeben. So entsteht ein System von
Begriffen und Zusammenhängen, innerhalb dessen sich die weitere Erkenntnisarbeit
entfaltet bzw. mit dem Neues in Verbindung gebracht wird. Fragestellung,
Strukturierung, begriffliche Schärfe, Definieren und das Entwickeln von Methoden,
die dabei anzuwenden sind, sind die wesentlichen Leistungen der Anfänge, weniger die
inhaltlichen Ergebnisse. In diesem Prozeß werden die ursprünglichen mythischen
Vorstellungen erstaunlich rasch überwunden.
|
Grundlegendes Moment ist die Idee der Einheit der Wirklichkeit jenseits
aller Gegensätze, die innerhalb der „Wirklichkeit“ festgestellt werden.
|
|
Thales stellt die Frage nach dem Ursprung im Sinne einer
Frage nach einer Ursubstanz, d.h. nach einer allem zugrundeliegenden natürlichen
Materie98. Nicht geht es ihm um einen göttlichen
Schöpfungsakt. Aus dieser Aussage ist – unabhängig von inhaltsbezogenen
Festellungen (wie etwa der Abhängigkeit von mesopotamischem oder ägyptischen
Gedankengut) – abzuleiten:
|
– |
der Gedanke der Einheit in der Vielheit der Dinge |
– |
der Gedanke, daß Werden als Veränderung eines beharrlichen
Substrats aufzufassen ist
|
– |
der Gedanke von Wesen und Erscheinung |
– |
der Gedanke eines ersten Grundes. |
|
In der ionischen Philosophie vollzieht sich der Übergang
von der magisch-mythischen Naturbetrachtung zu einer
philosophisch-wissenschaftlichen Auffassung. Es handelt sich dabei aber um einen
Übergang aus diesem Naturverständnis und nicht um dessen definitive Ablösung.
|
Es ist dies ein Akt der Rationalisierung, ein Akt, der auch als
Verlust von Vertrauen und zugleich als ein Akt der Kritik interpretiert werden
kann, da die alten Auffassungen und Erklärungen nicht mehr widerspruchslos
hingenommen werden. Die Diskussion über die Erscheinungen erfordert, daß die
Erscheinungen auf Ursachen zurückgeführt werden müssen, die immer allgemeiner
gefaßt werden, da ja nur intersubjektiv Nachvollziehbares argumentiert werden
kann. Daraus folgt wieder, daß nur solches als wahr, als gesichert akzeptiert
wird. Dies ist wichtig für die Entwicklung dessen, was dann – völlig neu –als
Wissen entwickelt und als – immer bedeutsamer werdender – Begriff definiert wird.
|
Das philosophische Denken, die Grundlage von Wissenschaft, die
gesicherte Erkenntnis schaffen sowie Zweifel ausschließen soll, ist ein
begründendes, beweisendes, rechtfertigendes Denken, das Geltungsansprüche durch
diskursive Argumentation legitimiert. So tritt der Logos neben den Mythos, und
zunehmend rascher verschiebt sich die Gewichtung zugunsten der Ratio.
|
Strukturen werden nun in definierte Teile zerlegt, diese werden für
sich untersucht, soweit es sinnvoll erscheint, und die Ergebnisse werden in ein
rational bestimmtes, logisch konsistentes System eingebracht: Es entwickelt sich
daraus die Systematisierung der Erscheinungen wie der Erklärungen.
|
Das wissenschaftliche Denken ist ein Denken in Relationen, in
Vergleichen; nur durch den Vergleich kann etwas erfaßt werden. Die Beziehungen der
Dinge zueinander – die Funktionszusammenhänge – zu erkennen, der Vergleich dann
hinsichtlich der Funktionszusammenhänge, ist die höhere Stufe. Dies erweist sich
auch in einer späteren Entwicklungsstufe, in der Scholastik, wenn im 13. und
14. Jh die Lehre von den Proportionen, den Verhältnissen, eine Schlüsselrolle
einnimmt.
|
Durch diese Entwicklung wird das Allgemeine vom Besonderen
geschieden, Reelles von Ideellem, und es wird das allgemein Strukturelle vom
konkret Materiellen gelöst.
|
Diese Veränderungen sind maßgeblich auch Veränderungen der
Sprache: es entsteht eine neue, weit schärfer begrifflich fassende Sprache.
|
Durch diese Entwicklung eines neuen Denkens tritt immer stärker die
Differenzierung zwischen Mensch und Natur hervor. Der Mensch – zuvor
unreflektiertermaßen Teil der Natur – beginnt die Natur bewußt wahrzunehmen, tritt
damit gewissermaßen aus der Natur heraus, tritt ihr gegenüber. In der Antike – bis
zum Auftreten der Stoa und des jüdisch-eschatologischen Denkens – wird die Natur
als statisches Ganzes aufgefaßt, als ein im Gleichgewicht, in Harmonie
befindliches und verharrendes System. Erst später wird die Natur als ein
dynamisches, offenes System wahrgenommen, dessen Teile mit einander in Interaktion
stehen. Heute wird die Natur als ein selbstorganisierendes, selbstreferentielles
System von Teilsystemen gesehen.
|
Dieser Prozeß der frühen Philosophie ist mit der
Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses, eines Selbstbewußtseins verbunden,
das es bis dahin nicht geben konnte. Es wird zwischen Subjekt und Objekt
differenziert. Die Natur wird zum Objekt. Es tritt eine Scheidung zwischen Gefühl
und Intellekt ein, auch zwischen der Theorie als strukturell orientiertem
Gliederungs- und Erfassungsbemühen, zwischen intellektuellem Systementwurf und der
Praxis.
|
|
Auch Pythagoras (570-500) ist aus dem
philosophischen Nährboden der ionischen Inseln hervorgegangen. Er begründet eine
eigene, von der ionischen Philosophie abgesetzte italische Schule, die der
Pythagoräer99. Es ist in Bezug auf die Person des Pythagoras Spezifisches nicht festzumachen, eine kritische Sichtung der
heute bekannten Quellen lässt weder erkennen, dass Pythagoras „ein ernstzunehmender
Mathematiker war, noch dass er Naturphilosoph oder ein Wissenschaftler war; man
muß in ihm vielmehr einen charismatischen Lehrer sehen, der eine große Zahl von
Schülern anzog, denen er eine bestimmte Lebensweise vorschrieb“100. Durch
die Pythagoräer ist eine für die griechische Philosophie wesentliche, auch Platon maßgeblich beeinflussende Vorstellung entwickelt worden, nämlich
die von Ordnung als solcher und in Gestalt von
|
– |
mathematischer Ordnung |
– |
musikalischer Ordnung = Harmonie (die „pythagoräische
Stimmung“ gilt bis heute)
|
– |
Ordnung des Kosmos101 |
– |
ethischer und sozialer Ordnung. |
|
Die Pythagoräer unterschieden
zwischen den zu ordnenden Objekten und der Ordnung an sich. Ordnung ist
aber nicht beobachtbar. Die auf die Ordnung gerichtete Betrachtung nennen sie "Theorie" = ursprünglich die Schau, in der sich der
Mystiker mit dem Gott identisch erlebt. Für die Pythagoräer ist die Theorie eine
ethische Dimension, denn wer die göttliche Ordnung erfaßt, wird selbst dem
Göttlichen ähnlich.
|
Die pythagoräische Theoria ist der
Ausgangspunkt der Entwicklung hin zur wertfreien wissenschaftlichen
Theorie. Der Weg zu dieser führt über Platon als Fortsetzer gewisser pythagoräischer Auffassungen – Platon erst führt die grundsätzliche Trennung der empirischen Erkenntnis
von der theoretischen Erkenntnis durch. Platons Lehre von der Möglichkeit einer Erkenntnis aus reiner Vernunft,
die eben als eine Fortführung der pythagoräischen Lehre verstanden werden kann,
hat bis in die Neuzeit die Philosophie dominiert, sie ist erst in der Neuzeit
sukzessive abgebaut worden. Der Idee der Ordnung als
Vorstufe der Systemisierung, Klassifizierung kommt in der Entwicklung der
Philosophie wie der Wisssenschaft enorme Bedeutung zu. |
Die Entdeckung der akustischen harmonischen Verhältnisse102 bewirkte eine Verknüpfung
zwischen Qualität und Quantität, indem qualitative Unterschiede quantitativ
ausgedrückt werden können, nämlich durch Zahlen, die Saitenlängen ausdrücken.
Damit wird eine qualitative Erscheinung meßbar - ein für die Entwicklung der
Naturwissenschaften zentrales Phänomen. Qualitative Bestimmungen werden damit auch
generalisierbar, und es wird die Möglichkeit der Mathematisierung eröffnet. Die
Pythagoräer sollen Bedeutendes in der Entwicklung der Mathematik geleistet
haben103, insbesondere auch der Zahlenlehre,
die sie bis hin zur Zahlenmystik entwickelten. Konsequenzen dieser Arbeiten sind
die Anfänge der Musiktheorie und die Proportionenlehre. Auf der eher mystischen
Ebene entwickelten sie (Aristoteles zufolge) eine Tafel der Gegensätze104, was in
gewisser Hinsicht die spätere Forcierung der Dichotomie als
wissenschaftlich-logisches Hilfsmittel vorwegnimmt.
|
Indem die Pythagoräer glaubten, die Wirklichkeit in rationalen
Zahlenverhältnissen ausdrücken zu können, erschien sie ihnen vernünftig. Die von
den Pythagoräern vertretene Auffassung von der sinngebenden Kraft mathematischer
Strukturen ist von Platon übernommen worden. Aristoteles hat sich dem aber nicht angeschlossen.
|
Als ein wesentliches und einflußreiches Element der Philosophie der
Pythagoräer ist festzuhalten, daß sie im Gegensatz zu den Ioniern kein Streben
nach wertfreiem Erkennen entwickeln, sondern im Gegenteil alles unter den
ethisch-religiösen Aspekten einer komplexen Weltanschauung betrachteten, worin
eine Tendenz zu gesamtheitlicher, einheitlicher Sicht der Dinge gegeben ist, die
mystische Vorstellungen begünstigte und bis in die Neuzeit fortwirkt. Die
pythagoräische Philosophie an sich ist zwar in der Zeit des Aristoteles erloschen, hat aber lange in bedeutender Weise nachgewirkt
und in der Spätantike wie in der Frühen Neuzeit noch Erneuerung erfahren
(allerdings nie dermaßen wirksam wie der Platonismus). Aristoteles hat immer wieder Platon mit den pythagoräischen Anschauungen
in Verbindung gebracht.
|
Die Welt unter der Annahme allgemeiner Ordnung, allgemeiner
Naturgesetze zu verstehen, wird zum Ziel der Philosophie.
|
Unter dieser Zielsetzung sind die Anstrengungen der frühen
griechischen Philosophie zu verstehen, in der die unterschiedlichsten Denkmodelle
ersonnen werden, die im wesentlichen auf die Wahrnehmung der Natur zurückführbar
sind, aber nicht weiter auf Empirie beruhen. Aus ihnen sind für die nachfolgenden
Epochen und die Ausweitung des Prozesses fruchtbare Anregungen hervorgegangen, die
bis in die Gegenwart wirksam sind, wenn trotz aller Überlieferungsschwierigkeiten
und Ungewissheiten auf diese frühen philosophischen Bemühungen zurückgegriffen
wird.
|
|
Heraklit postuliert „Gesetzmäßigkeiten,
unfehlbare Sicherheiten, immer gleiche Bahnen des Rechtes, hinter allen
Überschreitungen der Gesetze richtende Erinyen, die ganze Welt ein Schauspiel
einer waltenden Gerechtigkeit und dämonisch allgegenwärtiger, ihrem Dienste
untergebener Naturkräfte. [...] Diese
Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der
Menschen, sondern sie war immer und ist und sein ewig lebendiges Feuer,
erglimmen nach Maßen und löschen nach Maßen“Nietzsche Friedrich, Werke. Kritische
Gesamtausgabe, begr. v. Colli Giorgio / Montinari Mazzino. Abteilung 3, Bd 2:
Nachgelassene Schriften 1807-1873, hg. v. Colli Giorgio / Montinari, De
Gruyter 1973, 316.
.
|
|
Zenon wurde von Platon mit Parmenides in Verbindung gebracht; er versuchte, Beweise für die
Ontologie des Parmenides zu geben – angeblich fand er deren 40. Er geht vom Gegenteil
aus und gelangt durch Kritik zum Nachweis. Zenon von Elea hat eine Reihe von
Paradoxa aufgeworfen, die die Logik und die
Physik bis in das 20. Jh vor bedeutende Probleme gestellt haben106.
|
|
Als eine für die Entwicklung der Naturwissenschaften
bedeutsame philosophische Richtung ist hier noch die Ältere Atomistik zu erwähnen – Leukipp (1. H.
5. Jh), Demokrit von Abdera
(460-371) und ihre Schüler, im
Hellenismus noch Epikur (342-270).
|
Demokrit nimmt eine unendliche Mannigfaltigkeit von Atom-Formen an, bis
hin zu makroskopischen, sichtbaren Atomen. Bei Epikur hingegen gibt es zwar eine endliche Vielfalt von Atomen, doch
sind diese unsichtbar. Die Vielfalt und Veränderlichkeit, die Qualität der
empirisch wahrnehmbaren Dinge wird als Unterschiedlichkeit der Struktur, der Lage
und Verbindung der unteiolbaren, die sich im leeren Raum, im Nichts, befinden,
verstanden. Die Atome sind, wie das Seiende in der eleatischen Philosophie, unentstanden und unvergänglich, da es kein Werden aus dem Nichts und kein Vergehen in das
Nichts gebe. Andere wieder interpretieren Atome als qualitätslos und erklären die
unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Materie nur aus ihrer Größe und Lage.
|
Die Schwierigkeit, die sich dabei ergab, war, daß die Atome als
ausgedehnte und daher prinzipiell als teilbar zu denkende Partikel gedacht werden
mußten, während man ihre Unteilbarkeit und Unveränderlichkeit zur Grundlage des
ganzen Systems erhoben hatte. Die Argumentation ging dahin, daß man sagte,
mathematische Punkte seien ausdehnungslos, aus diesen könne Ausgedehntes nicht
bestehen, daher müsse es unteilbare ausgedehnte Teilchen als Grundmaterie geben.
Bedeutsam war auch, daß die Atomisten durchaus annahmen, daß es
Nicht-Körperliches, wie etwa leeren Raum, gebe. Eine
fundamentale Konsequenz der atomistischen Theorie ist, daß alles mechanistisch
zu erklären ist: alle Bewegung ist Bewegung von Atomen, ist Stoß. Zu einer
Dynamik ist Demokrit nicht vorgestoßen. Auf der Ebene der Erkenntnislehre und der
Psychologie folgt aus der Atomistik, daß wir die Dinge nicht so erkennen, wie sie
sind, sondern nur so, wie sie auf uns wirken, wie wir sie wahrnehmen. Demokrit spricht deshalb von "dunkler", d.h. sekundärer, ungenügender
Erkenntnis, über die wir aber nun einmal nicht hinauskommen können. – Bei aller
Faszination der älteren Atomistik darf nicht übersehen werden, daß es sich um
reine Spekulation handelte, ohne jede Empirie.
|
|
Neben der ionischen Naturphilosophie entwickelt sich die Sophistik107. Sie übt in der griechischen Philosophie eine ähnliche
Funktion aus wie die Scholastik in der abendländischen Philosophie108 –,
tatsächlich geht es aber um die Entwicklung von Kritik und im Zusammenhang damit um
die Erprobung und Auslotung radikaler logischer Positionen wie des Relativismus und
des Nihilismus. Es werden vielfach Fragen diskutiert, die z.T. später von Skeptikern
wie Sextus
Empiricus fortgeführt worden sind. Es seien hier erwähnt:
|
|
Protagoras war ein Freund des Perikles. Von ihm stammt der
berühmte Homo-Mensura-Satz, der in gängiger Übersetzung lautet: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, des Seienden für das Sein, des
Nichtseienden für das Nichtsein“, dessen Übersetzung und Interpretation
allerdings nach wie vor in Diskussion steht. In seiner Schrift „Über die Götter“
vertrat Protagoras die Auffassung: „Über die
Götter vermag ich nichts zu wissen, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind,
noch wie sie an Gestalt sind. Denn vieles gibt es, was mich daran hindert, die
Nichtwahrnehmbarkeit [Dunkelheit der Sache]
und die Kürze des Lebens“. Auch hat er sich mit sprachwissenschaftlichen
Aspekten befasst109.
|
|
ein Schüler des Empedokles, trieb den Skeptizismus des Zeno auf die Spitze;
seine Arbeit „Über das Nichtseiende oder die Natur“, von welchem Werk zwei
Zusammenfassungen überliefert sind; ist eine sarkastische Abrechnung mit der
Seins-Philosophie seiner Zeit:
|
1) |
Nichts – weder das Seiende noch das Nichtseiende –
existiert
|
2) |
Existiert es doch, so ist es doch für den Menschen
unerkennbar
|
3) |
Selbst wenn es erkennbar ist, so ist es doch nicht
mitteilbar.
|
|
Gorgias ist von großer Bedeutung, indem er Denken und Erkenntnis als das
definiert, was in Sprache ausgedrückt wird oder ausgedrückt werden kann. Wissen
läßt sich nicht trennen von der Sprache und von der sprachlichen Kommunikation –
gewissermaßen Wissen(schaft) als Diskurs. Alles beruht auf dem Verstehen der
Zeichen, die für die reale Welt der Außendinge stehen110.
|
|
ein Schüler des Gorgias, einer der Dreißig Tyrannen und ein Vetter der Mutter Platons
(in dessen Dialogen er merhfach auftritt) kann nur mit Einschränkung unter die
Sophisten gezählt werden, zumal er nie gelehrt hat, er gehörte aber dem Kreis um
Sokrates an. Ihm wird – obgleich unsicher – die Aussage zugeschrieben,
„ein schlauer und gedankenreicher Mann“ habe
die Furcht vor den Göttern (und damit diese) erfunden111.
|
Ein wesentlicher Grundzug der Sophistik war, daß höchste
Skepsis angebracht sei und dass Annahmen wesentlich auf den sich mit diesen
beschäftigenden Menschen zurückzuführen seien – es gebe beispielsweise kein vom
Menschen unabhängiges und unveränderliches Gutes an sich. Sokrates ist diesbezüglich anderer Auffassung.
|
|
Diese Phase der Philosophie bestimmt das gesamte weitere
Geschehen, und das letztlich weltweit, indem das abendländische Denken durch sie
grundlegend bestimmt und geprägt wird112.
|
|
Eine besondere und kaum wirklich zu erfassende Stellung in
der Entwicklung des Denkens nimmt Sokrates ein. „Obwohl die neuzeitliche
Sokratesforschung inzwischen auf eine 250jährige Geschichte zurückblicken kann
[...], ist es ihr bisher nicht gelungen, zu
Ergebnissen zu gelangen, die als allgemein oder auch nur weithin anerkannt
gelten könnten. Die Frage, welches die spezifischen Leistungen des Sokrates als
Philosoph gewesen seien, war [...] schon
bald nach seinem Tod umstritten, und sie ist es heute noch.“113 Diese Schwierigkeit liegt nicht nur darin begründet,
daß Sokrates keine Schriften hinterlassen hat, sondern auch darin, dass
praktisch alle sich auf ihn beziehenden Quellen problematischer Natur sind.
|
Für Sokrates nahm Sprache eine besondere Position ein – er interpretierte
das Wesen von Sprache dahingehend, daß ihre Verständigungsleistung als Indiz dafür
gesehen werden könne, dass sich hinter den Wörtern etwas Allgemeines, allgemein
Gültiges verberge. Unumstössliches Wissen ist für Sokrates der Gottheit allein
vorbehalten; erweist sich aber etwas bei wiederholten Prüfungen als unwiderlegbar,
dann kann dies ein hohes Maß an Gewissheit beanspruchen. Das Ringen um die
Eruierung der Qualität des Wissens machte den eigentlichen Kern der Bemühungen des
Sokrates aus. Es ist das jene Frage, die bis heute zentraler Gegenstand
der Befassung mit dem Thema Wissenschaft an sich. Das Gute existiert für Sokrates an sich, nämlich in der Gottheit.
|
|
Platon114, der Schüler des Sokrates schlechthin, ist in der Philosophie – neben seinem eigenen
Schüler Aristoteles – eine der zentralen Gestalten überhaupt. Platon war der erste griechische Philosoph, der gewissermaßen das Ganze
betrachtete. Von Platon sind als Hauptwerk 34 Dialoge, einige eher problematische Briefe
und etliche Epigramme überliefert. Schwierig ist die Reihung der Werke und ihre
Datierung – sie ist z.T. nur über die Namen möglich. Die Philosophie Platons ist vor allem durch Augustinus in das christliche Mittelalter hinübergeführt, für das
Christentum adaptiert worden; sie beherrschte auf diesem Wege das Denken des
Mittelalters bis zur Aristoteles-Rezeption im 12. und 13. Jh., wobei natürlich die das
christlich-kirchliche Dogma unterstreichenden Aspekte herausgearbeitet wurden. In
diesem einen Zusammenhang war Platons Philosophie der Entwicklung von Wissenschaft nicht förderlich.
Im Christentum sind sowohl Sokrates wie Platon zeitweise als Vorläufer Christi eingestuft worden.
|
Platon hat die grundlegenden Auffassungen in der Philosophie vor ihm
zusammengefasst und damit lange die gesamte weitere Entwicklung geprägt. Er hat
ihm Wesentliches in seinem späten Dialog „Timaios“ zusammengestellt, der einer der
grundlegenden Texte in der Entwicklung der Wissenschaft ist. Seine das Abendland
fundamental beeinflussende Ideenlehre ist ein Abbild der Auffassungen der älteren
Atomisten: die körperliche Erscheinungswelt in Raum und Zeit ist ihm als eine
Anhäufung von Schattenbildern der Ideen wie alle Einzelerscheinungen weitgehend
uninteressant (Höhlengleichnis in „Politeia“).
|
Offenbar unter dem Einfluß der Philosophie des Heraklit, derzufolge sich alles sinnlich Wahrnehmbare in stetem Fluß
befinde, und der philosophischen Bemühungen des Sokrates um Definitionen und um das Allgemeine scheint Platon zur Auffassung gelangt zu sein, daß in dieser Welt des
fluktuierenden sinnlich Wahrnehmbaren Wissen von Bestand und Allgemeingültigkeit
nicht zu erlangen sei, sondern ausschließlich in der darüber anzusetzenden Ebene
der Ideen. Wissen gewinnt damit den Charakter der
Kenntnis unwandelbarer Gegenstände – und das scheint ihm eben auf der Ebene
des sinnlich Wahrnehmbaren nicht möglich.
|
Unter dem Einfluss der Pythagoräer hat Platon eine stark mathematisch-geometrische Interpretation der Welt
gegeben. Sein Weltbild ist von Systematik und Mathematik geprägt. Im Anschluß an
die angenommenen Konstruktionsprinzipien der Welt der Erscheinungen sucht er nach
einer Reduzierung der sinnlichen Dinge und ihrer Grundstoffe auf
mathematisch-geometrischer Grundlage. Er ordnet die vier Elemente den später
„platonisch“ genannten regelmäßigen Polyedern zu, die Elemente manifestieren sich
ihm als stereometrische Gebilde115: Er strebt darnach,
alle diese Körper auf zweidimensionale, ebene geometrische Figuren zu reduzieren,
auch ein gleichseitiges Ur-Grunddreieck zurückzuführen, scheitert dabei aber am
Würfel, der sich nicht in gleichseitige Dreiecke zerlegen lässt. Platon geht daraufhin auf das rechtwinkelige Dreieck zurück, das beiden
Dreiecksarten zugrunde liegt116. Möglicherweise zielte Platon auf die Reduzierung auf eine Dimension bzw. auf die
Nulldimensionalität ab, welche der Ort der reinen Zahlentheorie wäre. Aristoteles hat diese Bemühungen abgelehnt und verhält sich
zurückhaltend gegenüber der Dominanz der Mathematik, wie Platon sie forciert.
|
Mit diesen Überlegungen suchte Platon die als unstet und schwankend empfundene Sinnenwelt in den Griff
zu bekommen – es ist der Versuch der Idealisierung und Formalisierung der
sinnlichen Natur117. Es
sind diese Vorstellungen immerhin im 20. Jh noch mit der dem chemischen
Periodensystem zugrundliegenden Vorstellung in Verbindung gebracht worden; Heisenberg hat sie mit der Atomistik in Verbindung gebracht, indem er
sich auf die Suche nach elementaren Grundeinheiten, Elementarteilchen bezog.
|
Der Welt wohnt bei Platon eine Ordnung inne, die von der Weltseele ausgeht. Die Seele ist
unsterblich, die Welt ist vom Demiurgen – dem Weltbaumeister, Gott als Gestalter
der Welt aus dem Chaos bzw. aus der Materie (in Platons „Timaios“), der gleichzeitig das Gute an sich ist – in einem
einmaligen göttlichen Akt nach dem Muster, der vom Phyturgen geschaffenen Idee des
vollkommensten Lebewesens geschaffen, das alle anderen Lebewesen in sich faßt118. All das geschieht in der Materie bzw.
im Raum (der als Materie in der Verflüchtigung ihres stofflichen Wesens aufgefaßt
wird). Menschen, Tiere und Pflanzen sind beseelt, d.h. sie nehmen in
unterschiedlicher Wertigkeit an der Weltseele Anteil. Die Unsterblichkeit wird
ausdrücklich auf den obersten Seelenteil beschränkt. Diese Auffassungen sollten
später die Grundlage für die Übernahme der Philosophie Platons durch Augustinus bzw. das Christentum sein.
|
Philosophie ist für Platon "Umgang mit den reinen Urgestalten
der Wirklichkeit", es geht ihm um ewige, übergeschichtliche Sinngehalte,
die auf der Idee des Guten aufbauen. Instrument dieses Philosophierens ist die
Dialektik, die zu schlechthin voraussetzungslosem Wissen führen soll. Dabei
stellen die Ideen gewissermaßen ein aprioristisches System von
Wahrheitsbedingungen dar. Auf diesen Grundlagen erarbeitet Platon Begriffe und die Beziehungen der Begriffe zueinander – sozusagen
philosophische Grundlagenforschung ersten Ranges.
|
Im Liniengleichnis, das in
„Politeia“ dem berühmteren Höhlengleichnis vorangeht, nimmt Platon eine grundlegende Unterschiedlichkeit hinsichtlich der Erkenntnis
in den Bereichen der Ideen, des empirisch Wahrnehmbaren und der Abbilder an. Er
unterscheidet zwischen dem materiell, sinnlich Wahrnehmbaren – sichtbar, hörbar,
tastbar – und den formalen, ideellen, nur intellektuell zugänglichen Aspekten der
Natur. Das empirisch Wahrnehmbare ist „werdend“, d.h. vergänglich und wandelbar
(daher kann es von ihm auch kein perfektes Wissen geben); das nur verstandesmäßig
Faßbare wird als unvergänglich, unwandelbar, ewig gedacht (z.B. „Naturgesetze“; in
Bezug auf diesen Bereich ist Wissen möglich) – „Wir
aber, die wir über das All [=Natur] zu
sprechen irgendwie im Begriffe sind [...] Zuerst haben wir meiner Meinung nach folgendes zu unterscheiden: Was ist das
stets Seiende und kein Entstehen Habende und was das stets Werdende, aber
nimmerdar Seiende; das eine ist durch verstandesmäßiges Denken zu erfassen, ist
stets sich selbst gleich, das andere dagegen ist durch bloßes mit vernunftloser
Sinneswahrnehmung verbundenes Meinen zu vermuten, ist werdend und vergehend, nie
aber wirklich seiend. Alles Entstehende muß ferner zwangsläufig aus einer
Ursache entstehen.“119
|
Platon unterschied zwischen Wissen und
Meinen – darin folgt er Heraklit und Parmenides. Er unterscheidet zwischen wissbaren und meinbaren
Gegenständen des Denkens. Über die exakte Gestaltung dieser Bereiche bei Platon, die sich im Verlaufe seines Lebens auch gewandelt hat, gibt es
heute unterschiedliche Auffassungen. Im Christentum und auch im Islam wurde als
dritter Modus das Glauben hinzugefügt.
|
Die auf der Grundlage der Vorstellung von den Ideen (die
verschiedentlich in einem eigenen Kosmos an sich existierend gedacht sein
sollten120) entwickelte Differenzierung zwischen dem sinnlich
Wahrnehmbaren und einem Idealen ist eine außerordentlich bedeutende Leistung,
indem damit ein Theoriekonzept hinsichtlich der realen Erscheinungen entwickelt
und damit überhaupt erst das ermöglicht wird, was wir als Naturwissenschaft
bezeichnenZum besseren Verständnis der Natur bedient er
sich der Vorstellung von einem Schöpfungsmythos: der Demiurg erschafft nach
den im Ideenkosmos vorgegebenen Vorstellungen die materiellen Erscheinungen in
der Natur (ein zweiter Schöpfungsakt): „Wessen
Form und Wirkkraft der Erzeuger nun gestaltet, indem er auf das sich stets
gleich Verhaltendes hinblickt und etwas Derartiges als Vorbild benutzt, das
muß so zwangsläufig insgesamt schön gestaltet werden, wessen Form und Kraft
er jedoch gestaltet, indem er auf das Gewordene hinschaut und indem er ein
Gewordenes als Vorbild benutzt, das nicht schön.“ „Der ganze Himmel aber – oder die Welt oder welcher Name sonst
ihm dafür am meisten belieben mag – damit sei er von uns genannt -, von ihm
wir zuerst erwägen, was es am Anfang bei jedem zu erwägen gilt, ob er stets
war und keinen Anfang seines Entstehens [sic!] hat oder ob er, von einem
Anfang ausgehend geworden ist. Er ist geworden; denn er ist sichtbar und
bestastbar und im Besitz eines Körpers. Alles Derartige aber ist durch die
Sinne wahrnehmbar; das durch die Sinne Wahrnehmbare aber, das durch ein
Meinen in Verbindung mit Sinneswahrnehmung zu erfassen ist, erwies sich als
Werdendes und Erzeugtes; von dem Gewordenen aber behaupten wir ferner, daß
es notwendig aus einer Ursache hervorging.“ (Timaios
28b+c).. Diese Leistung Platons verändert auch die Konzeptionen anderer Philosophen und
Philosophien – wie etwa der Pythagoräer, deren stets auf das Sinnliche angewandte
Mathematik durch Platon in der Geometrie nun in einer abstrakten, „reinen“ Form
entwickelt wird. Den Erkenntnisprozeß betrachtet Platon als einen künstlerisch-schaffenden Prozeß.
|
Nach Platon eröffnet der Versuch der Nachvollziehung dieser Schöpfung in
rekonstruierendem Denken dem Menschen Einblick in den Aufbau, in die
Konstruktionsgesetze der Natur. Erkenntnis wird damit in Analogie zum
künstlerischen Schaffensprozeß als eine Handlung verstanden – es ist eine alte
Vorstellung, daß der Mensch nur wirklich einzusehen und zu verstehen vermöge, was
er selbst produziert oder wenigstens reproduziert – wir „machen“ die Erfahrung
(Kant: „Erfahrung wird nicht empirisch
gegeben, sondern gemacht“); dies gilt hin bis zu den Naturgesetzen, von
denen Kant sagt: „Der Verstand ist selbst
[in formaler, nicht in materialer Hinsicht] der Quell der Gesetze der Natur“.
|
Die Vorstellung vom System verdichtet sich bei Platon ganz wesentlich. Er verwendet eine Fülle von Begriffen, die das
zum Ausdruck bringen, wenn auch natürlich eine moderne Terminologie noch nicht
vorhanden ist. Der Begriff "Kosmos“ bedeutet Wohlgeordnetheit und damit untrennbar
verbunden Schönheit. Das Gegenteil ist das wirre und häßliche Chaos:
|
„Indem nämlich der Gott wollte, daß
alles gut und nach Möglichkeit nichts schlecht sei, so nahm er also alles, was
sichtbar war und keine Ruhe hielt, sondern in ungehöriger und ordnungsloser
Bewegung war [das Chaos; im Alten Testament das Tohuwabohu], und führte es aus der Unordnung zur Ordnung, da ihm
dieser Zustand in jeder Beziehung besser schien als jener. |
Aber dem Besten war es weder noch ist
es gestattet, etwas anderes als das Schönste zu tun. Indem er es überdachte,
fand er, daß unter dem seiner Natur nach Sichtbaren nichts Vernunftloses als
Ganzes je schöner sein werde als das mit Vernunft Begabte als Ganzes, daß aber
unmöglich ohne Seele etwas der Vernunft teilhaftig werden könne. Von dieser
Überlegung bewogen, gestaltete er das Weltall, indem er die Vernunft in der
Seele, die Seele aber im Körper schuf, um so das seiner Natur nach schönste und
beste Werk zu vollenden“122.
|
Die Anwendung des Begriffes Kosmos auf das Universum, auf das Weltall
ist sekundär! Dem Ordnungs- und
Schönheitspostulat folgend ist Platons Kosmos ein allumfassendes, geschlossenes suisuffizientes und
autarkes System in Gestalt des perfektesten Körpers, nämlich der Kugel. Hier folgt
Platon einer Vorstellung des Parmenides, der das Sein mit einer Kugel verglichen hatte, die sich
gleichgewichtig und gleichartig in perfekter Symmetrie nach allen Richtungen
erstreckt. Platon vollendet dieses Bild, indem er hinzufügt, dass das Universum
weder Sinnes-, noch Ernährungs- oder Verdauungsorgane benötige, da es außerhalb
seiner nichts zu sehen, nichts zu hören, von außen nicht aufzunehmen und nach
außen nichts auszuscheiden gebe und auch keine Orte außerhalb seiner existierten;
es gebe nur einen Ort, nämlich den, an dem Universum selbstbezüglich in sich
kreise. Und: dieses System ist als vollkommenes System ewig und unveränderlich,
geschlossen in sich ruhend – der Gedanke einer
Veränderung, einer Entwicklung, einer Evolution hat hier keinen Platz. Die
einzige Bewegung ist die schon pythagoräische ewige Wiederkehr des Gleichen, wie
sie sich in den Bewegungen der Gestirne offenbart, deren als Kreise angenommene
Bahnen (auf den kugelförmigen Sphären, gewissermaßen in sich selbst) Ausdruck der
ewigen Schönheit und Vollendung sind.
|
Ein vollständiges, umfassendes und logisch konsistentes
System muß – soll es erfaßt werden – notwendig in Teilsysteme zerlegt werden
können, die ausnahmslos und vollständig begrifflich erfaßbar sein müssen. Dafür
führt Platon zwei Kriterien an:
|
1 |
Die Erfüllung des dichotomischen Prinzips der Definition, wie
es im Baum des Porphyrios tradiert worden ist – eine trichotomische Gliederung würde
die Bedingungen nicht mehr erfüllen. Die Umsetzung dieses logischen Prinzips in
der Realität ist eine andere Frage (Hellenen – Nichthellenen = Barbaren
funktionierte noch; Kraniche und „Nicht-Kraniche“ geht nicht, es gibt keine
Vorstellung oder Idee "Nicht-Kranich" [Beispiel aus dem Politikos des Platon]);
ein klassisches Beispiel für das daraus resultierende Verfahren der Definition
im Wege der Deduktion ist (Link zu Beispiel eines
dichotomischen Baumes Substanz Sokrates)
|
2 |
Die Fundierung des Systems und seines Teiles in einem
letzten, notwendigen, zureichenden, d.h. absoluten Grunde. Gelingt dies nicht,
so bleibt das System ein System von Hypothesen123. Dieser
absolute Grund ist – das erkennt auch Platon bereits – nur im Wege der Negation feststellbar, wenn alle
endlichen Prädikate in ihrem Zutreffen zurückgewiesen, abgesprochen werden
können. Damit ist der zureichende Grund de facto aber nicht gewinnbar.
|
|
Die bedeutendste Ausformung von Platons Denken und seinen Vorstellungen von der Welt und ihrer
systematische = wissenschaftlichen Untersuchung findet sich in seinem Spätwerk
„Timaios“. In diesem Dialog hat Platon – unter Heranziehung von bereits früher in
„Politeia“, „Phaidon“ und anderen Dialogen entwickelten Überlegungen – die erste
wissenschaftliche Konzeption der Natur entworfen und das Fundament für alle
weiteren wissenschaftlichen Naturerklärungen, alle weiteren Theorien gelegt;
insoferne ist Platon als einer der Begründer der Naturwissenschaften zu sehen.
Dementsprechend wurde auch „Timaios“ bis in die Neuzeit hinein für das Hauptwerk
Platons gehalten, und es entstand eine Vielzahl von Kommentaren zu diesem Dialog.
Der Text des „Timaios“ war bis in die Zeit der Übersetzungen hinein (12./13. Jh)
nur in einer unvollständigen Übersetzung Ciceros und weit häufiger noch des Calcidius (ca. 400 nChr)
überliefert. Ganz besondere Aufmerksamkeit widmete man diesem Werk in der
Renaissance (Marsilio Ficino, Giovanni Pico della Mirandola, Francesco Patrizi u.a.).
|
Platon ist mit seinem systematischen Denken der Wegbereiter der
Prinzipien der Rationalität – der Anwendung von Vernunftsprinzipien allgemein –
und der Mathematizität als Anwendung der speziell mathematisch-rationalen
Prinzipien. In seinem Dialog „Politeia“ (VI 3.2) gibt er mit dem Liniengleichnis die Hierarchie der Erscheinungen und die in bezug
auf die Erscheinungen adäquaten Modi des Erkennens an. Auf dieses Gleichnis
folgt dann direkt das berühmte Höhlengleichnis.
|
Auf Platon schon geht die Erkenntnis zurück, daß es hinsichtlich der
empirisch wahrnehmbaren Natur keine gewisse Erkenntnis, kein Wissen in einem
absoluten Sinne geben könne, sondern nur Aussagen von
Wahrscheinlichkeitscharakter.
|
„Folgendes aber müssen wir ferner
[...] erwägen, nach welchem der Vorbilder sein
Werkmeistes es auferbaute, ob nach dem stets ebenso und in gleicher Weise
Beschaffenen oder nach dem Gewordenen. Ist aber diese Welt schön und ihr
Werkmeister gut, dann war offenbar sein Blick auf das Unvergängliche gerichtet;
ist sie aber[,] was auch nur auszusprechen frevelhaft wäre, dann war sein Blick
auf das Gewordene gerichtet. Jedem aber ist doch deutlich, daß er auf das
Unvergängliche gerichtet war, denn die Welt ist das Schönst unter dem
gewordenen, er [der Werkmeister, der Demiurgos] der beste unter den Ursachen. |
So also entstanden, ist sie nach dem
durch Nachdenken und Vernunft zu Erfassenden und sich Gleichbleibenden
auferbaut. Das aber zugrunde gelegt, ist es ferner durchaus notwendig, daß diese
Welt von etwas ein Abbild sei. Das Wichtigste aber ist, bei allem von einem
naturgemäßen Anfang auszugehen.
In Hinsicht auf das Abbild nun und auf sein Vorbild
muß man folgende Unterscheidung treffen: daß die Reden, da sie eben dem, was sie
erläutern, auch verwandt sind, daß die, die sich also mit dem Beharrlichen,
Dauerhaften, auf dem Wege der Vernunft Erkennbaren befassen, beharrlich und
unveränderlich sind – soweit es möglich ist und es Reden zukommt, unwiderlegbar
und unbesiegbar zu sein, so darf man daran nichts vermissen lassen –, daß aber
die Reden, die sich mit dem befassen, was nach jenem gebildet ist und ein Abbild
ist, nur wahrscheinlich und jenem entsprechend sind. Wie das Sein zum Werden, so
verhält sich die Wahrheit zum Glauben. Wenn es uns also, Sokrates, in vielen
Dingen über vieles – wie die Götter und die Entstehung des Weltalls – nicht
gelingt, durchaus und durchgängig mit sich selbst übereinstimmende und genau
bestimmte Aussagen aufzustellen, so wundere dich nicht. Man muß vielmehr
zufrieden sein, wenn wir sie so wahrscheinlich wie irgendein anderer geben, wohl
eingedenk, daß mir, dem Aussagenden, und euch, meinen Richtern, eine menschliche
Natur zuteil ward, so daß es uns geziemt, indem wir die wahrscheinliche Rede
über diese Gegenstände annehmen, nicht mehr über diese hinaus zu suchen.“
(Timaios 29a-d)
|
Ein präzises, sicheres Wissen
hinsichtlich der Natur erscheint ihm deshalb unmöglich, es gibt nur ein
wahrscheinliches, ein approximatives Wissen. Deutlich wird dabei, daß die
eigentliche Erkenntnis auf der Ebene des Vollkommen, des Unvergänglichen, der
Ideen zu suchen und (theoretisch wenigstens) zu gewinnen sei. Die Erkenntnis der
Natur vermag nur den Schein, das Spiegelbild der Wahrheit zu liefern124.
|
Obgleich bereits Platon – und später auch Aristoteles – sich gezwungen sah, sich auf das Wahrscheinliche als das
maximal Erreichbare zurückzuziehen, ist dies in der Folge immer wieder übergangen
und sicheres, unabweislich beweisbares Wissen als Ziel der wissenschaftlichen
Bemühungen gefordert worden. Darin liegt das zentrale, bis in unsere Gegenwart
wesentliche Problem insbesondere der Geistes- und Sozialwissenschaften begründet;
weniger der Naturwissenschaften, weil diese im Geruche standen (und immer noch
stehen), auf Grund ihres in der (ursprünglich als unveränderlich gedachten) Natur
und damit außerhalb des Erkennenden gelegenen Objektes und der Anwendung
mathematischer Methoden gesichertes Wissen zu liefern.
|
Platons Ideenlehre in ihrer strikten (von ihm selbst
vielleicht gar nicht vertretenen) Fassung ist nach dem Zeugnis des Aristoteles
bereits von seinem Neffen und Nachfolger als Leiter der Akademie, Speusipp, aufgegeben worden „aufgrund der
Schwierigkeiten, die diese Theorie seines Erachtens barg“ (Aristoteles)125. Speusipp hat das Absolute, das Platon in den Ideen gefunden zu haben
glaubte, mit der Mathematik identifiziert, was ihn in eine gewisse Nähe zu den
Pythagoräern brachte, die ja Platon schon stark beeinflusst hatten. Bezüglich der
Ideenlehre Platons bzw. hinsichtlich seiner Auffassung von Charakter und Wesen der
Ideen sind in der Folgezeit unterschiedliche Auffassungen entwickelt und auch
Platon zugeschrieben worden126.
|
|
Im Gegensatz zu Platon hat sein Schüler Aristoteles der sinnlichen Erfahrung, der Empirie einen höheren
Stellenwert beigemessen und versucht, die Einzeldinge als Bausteine für das
Allgemeine zu bewerten und die Ideen nur als allgemeine Begriffe (und nicht als –
wie er es irrig interpretierte127 –
Realitäten im, wohl vermeintlichen, Sinne Platons) zu verstehen (Abb. Rafaael Die Philosophen von Athen128 Er geht dem Wirklichen nach, der empirischen
Erforschung der Erscheinungen der Natur in der genauen Beobachtung der
Einzelerscheinungen (Biologie), um zum Allgemeinen vorzustoßen, und hat auch
bewusst die induktive Methode akzeptiert. Ebenso befasst er sich mit den
menschlichen Einrichtungen in der Vergangenheit und Gegenwart129. Dies verdeutlicht auch ein Blick auf die
Titel der wichtigsten uns erhaltenen Schriften. (link: Werkverzeichnis des Aristoteles). Immer aber hat Aristoteles auch das Allgemeine, das Ganze im Auge behalten.
|
Das in der Nachwelt gerne auf Gegensätzlichkeit hin akzentuierte
Verhältnis zwischen Platon und Aristoteles ist mit großer Vorsicht zu bewerten – in vieler Hinsicht ist
Aristoteles als Vollender des Werkes Platons zu sehen. Er hat allerdings auch selbst ganz bewußt viel zur
Differenzierung von seinem Lehrer Platon beigetragen, vielleicht auch nur des besseren Verstandenwerdens
willen.
|
Ungeachtet diverser Irrtümer, die sich dank der außerordentlichen
Autorität des Aristoteles über viele Jahrhunderte, ja mitunter 2000 Jahre hindurch
fortpflanzten, ist Aristoteles der eigentliche Ahnherr der Wissenschaft der Neuzeit;
insoferne ist er wie Platon eine der wirkungsmächtigsten Persönlichkeiten der Weltgeschichte
überhaupt.
|
Aristoteles, für den Wissenschaft ein geordneter System von Sätzen über
eine Gattung (d.h. ein Allgemeines, nicht ein Singulare) ist, hat sich bewußt um
die Gliederung des Wissensbereiches in Disziplinen bemüht und deren Legitimierung
betrieben, auch wenn er unter unterschiedlichen Fragestellungen mitunter
abweichende Gliederungen angegeben hat. Er versteht sich selbst als geschichtlich
handelnden Denker, wenn er sich systematisch mit den Gedankengängen seiner
Vorgänger auseinandersetzt (deshalb ist bei ihm so viel und für uns Wertvolles zur
Philosophiegeschichte überliefert) und versucht, die Summe zu ziehen. Seine
Vorgehensweise ist im wesentlichen:
|
1) |
Bestandsaufnahme der gängigen Auffassungen |
2) |
Problematisierung dieser Auffassungen, d.h. Aufdecken von
Unstimmigkeiten, ohne aber Meinungen zu eliminieren
|
3) |
Lösung der Problematik unter Berücksichtigung der gängigen
Auffassungen.
|
|
Aristoteles versucht, ein geschlossenes, das gesamte griechische Denken
umfassendes System zu erstellen. In diesem Zusammenhang hat er mit der Abklärung
zentraler Begriffe wie Substanz, Essenz, Form, Materie, Subjekt, Substrat,
Aktualität, Potenzialität etc. ein begriffliches Instrumentarium zur Erschließung
der Realität und ihrer Struktur geschaffen, das scheinbar unvereinbare Ansichten
älterer Philosophen einbringt, trotz mancher Schwierigkeiten (vor allem
hinsichtlich der Kategorienlehre) sich bis weit in die Neuzeit hinein bewährt hat,
ja z.T. bis heute noch benützt wird. Im Unterschied zu Platon ist sein System flexibel und weit weniger dogmatisch; es sind
mehr die Formen denn die Inhalte.
|
An manchen Problemen hat Aristoteles offenbar sein Leben lang gearbeitet, das hat zur dieser
Flexibilität wohl beigetragen. Es gibt bei ihm eklatante Widersprüche, und nicht
selten überläßt er es dem Leser, welche der angebotenen Lösungen er als die beste
betrachten will. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass wir über keine
verlässliche Kenntnis hinsichtlich der Abfolge seiner Arbeiten verfügen.
|
Wissen gibt es für Aristoteles nur dort, wo die primären Ursachen und Gründe erkannt
werden. Von Wissen ist zu sprechen, "wenn wir die
Ursache zu erkennen glauben, auf Grund derer die Sache ist, und wir erkennen,
daß es ihre Ursache ist". Systematisch hat Aristoteles in seiner Wissenschaftslehre Wesen und Methode der
wissenschaftlichen Erkenntnis analysiert. In seiner Zweiten Analytik (der Lehre
vom Beweis) vor allem hat er die Begriffe und die Struktur, den Beweischarakter
von Wisssenschaft diskutiert. Da Wissen für Aristoteles auf der Kenntnis von Ursachen beruht, muß wissenschaftliche
Erklärung den Charakter des Beweises haben.
|
Wissenschaft ist für Aristoteles dadurch charakterisiert, daß sie von Ausgangspunkten
ausgeht, die ihrerseits nicht beweisbar sind („hinter die man nicht mehr gelangen
kann“), und daß sie von diesen Ausgangspunkten deduktiv zu anderen Wahrheiten
gelangt. Der Anspruch, die Wahrheit einer Aussage wissenschaftlich zu erfassen,
steht und fällt für Aristoteles damit, daß man in der Lage ist, den Satz aus Prämissen
abzuleiten, die ihrerseits wahr und notwendig sind und die den in Frage stehenden
Sachverhalt ursächlich erklären. Was nicht nach diesen Kriterien behandelt werden
kann, fällt nicht in den Bereich von Wissen in einem
engeren Sinne, darüber sind nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich und mit
derartigen Sätzen beschäftigen sich Dialektik (= Logik) und Rhetorik.
|
Aristoteles fordert damit, daß der Wissende nicht nur wisse, daß ein
bestimmter Sachverhalt bestehe, sondern auch, warum das der Fall ist – "Das Wissen des Daß und das Wissen des Warum
unterscheiden sich aber". Er definiert genauer: "Demnach kann das, was Gegenstand uneingeschränkten Wissens ist,
sich unmöglich anders verhalten". Dementsprechend sind Gegenstände
nicht-wirklichen Wissens dadurch charakterisiert, daß sie sich anders verhalten
können, womit den entsprechenden Aussagen nur
Wahrscheinlichkeitscharakter zukommt (z.B. Aussagen über historische
Ereignisse).
|
Diese Vorstellungen, diese hohen Anforderungen an Wissenschaft (episteme, scientia) haben bis in die Neuzeit
hinein große Probleme aufgeworfen, heute formuliert etwa Andreas Graeser130
diesbezüglich, daß Aristoteles damit "Forderungen anmeldet,
die sich in der Sicht des heutigen Denkens wohl als übertrieben ausnehmen. Doch
steht Aristoteles mit seiner Vorliebe für ein striktes Verständnis von
wissenschaftlichem Wissen sicher nicht allein". Tatsächlich hat Aristoteles gegenüber dem Argument der Skeptiker, daß Wissen
genaugenommen unmöglich sei (denn es führe entweder zu einem unendlichen Regreß in
der Frage nach der tiefsten Ursache131 oder die ersten Ausgangspunkte blieben eben
unerkannt) mit dem Zugeständnis argumentiert, daß nicht alles Wissen beweisartig
sei, weil Wissen eben von Prinzipien ausgehe, die ihrerseits nicht beweisbar
sind.
|
Platon hat die Welt als etwas Geschaffenes, Vollendetes, als ein Produkt
verstanden (natura naturata), Aristoteles hat sie als etwas Schaffendes, Wirkendes, Produzierendes,
als ein sich selber Erschaffendes und Bewirkendes, als einen Prozess aufgefaßt
(natura naturans). Als Empiriker nimmt Aristoteles die Natur als solche hin und läßt sie auf sich beruhen, will
sie nur erkunden und erklären – dem entsprechend hat man immer wieder
festgehalten, daß Aristoteles eigentlich keine Theorie der Natur, sondern nur eine Theorie
der natürlichen Dinge biete. Im Gegensatz zu Platon und seiner Statik vertritt Aristoteles eine eher dynamische und der Idee der Genese nicht
fernstehende und insbesondere dem Organischen verbundene Sicht. In gewisser
Hinsicht wird Aristoteles sogar als Urheber einer organischen Naturtheorie zu
betrachten sein – obgleich Platon den ganzen Kosmos als einen Organismus verstanden hat. Die
Vitalisten der Renaissance wie die Neovitalisten des 19. und 20. Jhs beriefen sich
auf Aristoteles.
|
Von besonderem Interesse ist die peripatetische Dynamik, die von
Aristoteles begründete Bewegungslehre. Sie erweist, dass Aristoteles – obgleich er experimentiert hat – das Experiment in seiner
prinzipiellen und methodischen Bedeutung offenbar nicht erkannt und so
hinsichtlich der Bewegungslehre bis in das 17. Jh hinein wirksam irrige
Auffassungen vertreten hat, bezüglich derer ihm der alexandrinische Neuplatoniker
Johannes
Philoponos132 im 6. Jh in seinen
„Aristoteles physicorum libri“ vorhielt, dass sie „durch tatsächliche Beobachtung noch viel eindrucksvoller als durch verbale
Argumentation“ entkräftet würden. Dennoch war sich Aristoteles der Problematik des Forschungsvorganges sehr bewußt, wenn er
in seiner Zoologie in Zusammenhang mit den Bienen sagt: "Noch sind die Erscheinungen nicht hinreichend erforscht. Wenn sie
es aber dereinst sein werden, ist der Beobachtung mehr zu trauen als der
Spekulation [der theoretischen Erörterung]
und letzterer nur insoweit, als sie mit den Erscheinungen Übereinstimmendes
ergibt".
|
In der Metaphysik hat Aristoteles die von ihm selbst Platon zugeschriebene (in der neueren Philosophiegeschichte in ihrer
Gültigkeit aber bestrittene ) Auffassung, daß die Ideen an und für sich und zwar
losgetrennt vom Einzelwesen, das ihnen nachgeformt ist, existierten, abgelehnt und
bekämpft. Aristoteles ist aber nicht Vertreter bzw. Urheber des Nominalismus, der
Platons Auffassung (universalia ante
rem) zurückwies und deklariert: unversalia
post rem. Aristoteles bezieht vielmehr die Position universalia in re.
|
Gott ist bei Aristoteles ewige, stofflose Form. Die Welt war immer und wird immer
sein – es gibt keine Schöpfung! Aristoteles nimmt vier Elemente an, denen er den Äther (die quinta essentia) hinzufügt133. Die irdische Natur ist nach dem Prinzip der
Zweckmäßigkeit gestaltet und ist als die stufenweise Unterwerfung der Materie
unter die Form einer Stufenreihe lebendiger Wesen interpretierbar, die jeweils
nach ihrem spezifischen Maß an der Lebenskraft oder der Seele teilnehmen: die
Pflanzen nur in ihrer Bildungskraft, die Tiere bereits durch Empfindungen,
Begehren und Ortsbewegung; der Mensch zusätzlich noch durch die Vernunft, deren
Tätigkeit teils theoretisch, teils praktisch ist134.
Insoferne gibt es bei Aristoteles ansatzweise einen Entwicklungsgedanken, der auch in der
Zoologie geäußert wird. Aristoteles bleibt diesbezüglich aber weit hinter Empedokles zurück, der eine nahezu
darwinistische Theorie vertrat, daß die Tiere aus Zufall entstanden seien und in
ihrer gegenwärtigen Form eine Selektion der lebenstauglichsten darstellten.
|
Eine Telologie, wie sie
in der jüdisch-christlichen Eschatologie eingebracht worden ist, eine Vorstellung,
daß alles seinen gottgewollten Sinn und Zweck habe, ist Platon fremd – sein Demiurg ist nicht letzter Zweck. Für Aristoteles liegt der letzte Grund, der oberste Zweck nicht im Kosmos
selbst, sondern außerhalb, im unbewegten Beweger, in der Gottheit – so wie ein
Heer nicht von selbst zustandekomme, sondern durch den Heerführer, so liege auch
die Ordnung des Kosmos nicht in diesem selbst. Der letzte Zweck ist reine energeia, d.h. vollendete, verwirklichte Form.
Der Zweck dieser Überlegungen, die Aristoteles nicht weiter ausführt, liegt wohl in der Aufrechterhaltung
des Zustandes des Kosmos, in der Erhaltung seiner Unveränderlichkeit und
Unvergänglichkeit. Insoferne handelt es sich nur um eine andere Variante zur
Erreichung desselben Zieles wie bei Platon.
|
Es sollten sich diese Überlegungen jedoch in der Scholastik in
Zusammenhang mit der „Verchristlichung“ des Aristoteles als wesentliche Faktoren erweisen.
|
Näher hat sich Aristoteles zwangsläufig mit der „Naturteleologie“ befaßt, nämlich mit der Frage, inwieweit im
Naturgeschehen eine Finalität – Zweckgerichtetheit – walte. Er wirft drei Fragen
auf:
|
– |
Wenn es regnet und auf Grund dessen das Getreide wächst, ist
dies Zufall, Notwendigkeit oder Zweckgeschehen?
|
– |
Wenn es regnet und das Korn verdirbt auf dem Dreschplatz, ist
dies Zufall oder Finalität?
|
– |
Wenn sich die Kauorgane zur Zerkleinerung der Speisen
qualifizieren – Schneide- und Backenzähne nach jeweils ihrer Art – ist dies
Zufall oder Finalität? Seine Zoologie ist durch und durch finalistisch135.
|
|
Aristoteles beantwortet diese Fragen – im Gegensatz zur Auffassung des
Empedokles – damit, daß man generalisierend sagen könne, daß alles in
der Natur regelmäßig erfolge, sei es, daß es stets und ausnahmslos so geschehe,
sei es, daß es zumeist, in der Regel, so erfolge, soferne nicht Hemmnisse
auftreten. Im organischen Bereich argumentiert Aristoteles damit, daß der Mensch immer Menschen zeuge, daß Ziel und
Ende des Entwicklungsprozesses, die ausgewachsene Gestalt, bereits zu Beginn der
Entwicklung latent vorhanden seien und den Prozeß steuerten.
|
Aristoteles kennt den Begriff des Naturgesetzes noch nicht, gelangt hier
aber zu einer Art Strukturerkenntnis mit Gesetzescharakter; als Legitimation dafür
nimmt er ein Zweckprinzip an. Damit wird auch bei ihm, wie bei Platon, die Natur als ein einziges komplexes Kunstwerk betrachtet; mehr
als Platon aber vertritt Aristoteles die Wechselbeziehung zwischen Natur und artifiziellem
menschlichen Kunstwerk: ein Kunstwerk sei umso perfekter, je mehr es der Natur
gleiche, nahekomme. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß Aristoteles das Verhältnis zwischen strikter Befolgung des Zweckprinzips
und zufallsbedingten Abweichungen davon in absteigender Folge zu den niedrigen
Regionen verschiebt: am Himmel, im coelestischen Bereich gebe es keinen Zufall,
hier verlaufe alles absolut und strengstens nach der vorgegebenen Gesetzmäßigkeit,
je weiter man in dieser Hierachie hinuntergehe, desto höher werde der Anteil des
Zufälligen. Insoferne gibt es bei Aristoteles eine universelle kosmologische Teleologie, die allerdings
als eine rein strukturbezogene, nicht als eine Teleologie im eschatologischen
Sinne zu verstehen ist.
|
In Zusammenhang mit den teleologischen Vorstellungen ist einerseits
des Aristoteles
Lehre von der Zweckursache zu sehen – die
Vorstellung, daß der Materie, den Organismen ein bestimmter Zweck innewohne, der
sie ihre Ziele erreichen läßt, indem er bestimmte Ausformungen bewirkt
(Körperteile, Zähne, Krallen etc. – der Vogel hat Flügel, um zu fliegen), d.h.
alle Anlagen sind a priori gegeben. Diese
Vorstellungen haben den Gedanken einer Evolution und der natürlichen Auslese lange
verhindert. Andererseits hängt mit diesen Frage auch die Frage des Zufalls zusammen: Aristoteles hat sich als erster Philosoph um eine theoretische Analyse
des Zufalls bemüht. Er versucht, auch den Zufall als eine Ursache zu fassen.
Zufall ist bei ihm letztlich eine Art Störung der Verfolgung, der Erfüllung des
Zweckprinzips; er ist deshalb eben nur im sublunaren Bereich möglich. Sogar der
Zufall setzt das Zweckprinzip voraus: denn nur vor seinem Hintergrund ist er als
Zufall verständlich – Zufall an sich ist aber, da als
solcher einmalig und wider Gesetz und Regel, unverständlich, denn nur das,
was ausnahmslos oder in der Regel gültig sei, könne durch den Logos erfaßt werden.
– Die Frage eines „objektiven Zufalls“ ist heute eines der wichtigen Themen der
Quantenphysik.
|
Platon und Aristoteles haben wesentlich und konstituierend die Fragen von
Wissenschaft erarbeitet. Beide, Aristoteles insbesondere in der Entwicklung der Naturwissenschaft,
nehmen eine zentrale und über Jahrhunderte, ja fast zwei Jahrtausende hin
beherrschende Stellung ein. Er hat zusammengefaßt, was vor ihm entdeckt und
gedacht worden ist, und hat es unter den Aspekten der Logik wie weitgehend auch
der Empirie behandelt. Vielen Wissenschaftsbereichen, die sich noch nicht – wie
etwa bereits die Mathematik und die Astronomie – herauskristallisiert hatten, hat
er zum Durchbruch verholfen; dies gilt ganz besonders von der Zoologie. Das Verfahren des Klassifizierens, also der Erstellung
einer kausal/logisch gedachten Ordnung auf Grund vergleichender Beobachtung, ist
von ihm eingeführt worden.
|
Trotz seiner gewaltigen Leistung als Philosoph und Logiker liegt136 das Schwergewicht seiner wissenschaftlichen Arbeit im
Bereich der Naturwissenschaften. Hier hat er systematisch und mit unerhörtem Fleiß
zu allen Themen gearbeitet, von der Kosmologie bis zur Beschreibung der kleinsten
Tiere und Pflanzen. Er hat gesammelt und systematisiert; er organisierte wohl als
erster einen systematischen Forschungsprozeß im Teamwork, indem er seine Schüler
mit Teilgebieten beauftragte und in ihrer Arbeit überwachte. Sein Lyzeum kann als
Prototyp des „Forschungsinstituts“ betrachtet werden, weit mehr als die Akademie
Platons.
|
Die Bedeutung des Aristoteles kann kaum überschätzt
werden. Er stellte durch Jahrhunderte eine nicht anzuzweifelnde Autorität
zeitweise nahezu göttlichen Ranges dar. An manchen Details seiner Zoologie hat man
unbeirrt festgehalten, auch wenn sie in mitunter grotesker Weise falsch waren.
Dies blockierte langehin die naturwissenschaftliche Forschung, die deshalb
groteskerweise zeitweise zu einem Kampf gegen ihn und seine Lehre wird137; erst die Kritik und Loslösung von Aristoteles bringt wieder echten Fortschritt; dies geschieht
wirksamerweise jedoch erst im 17. und 18. Jh. Dass man über die Zeit hinaus so
starr an seinen Lehren festgehalten hat, ist aber nicht sein Verschulden, sondern
jener, die es so hielten. Wenn auch zu Ende des Mittelalters die Reaktion gegen
ihn – oder besser gegen seine Auslegung unter dem Einfluss des Averroes und anderer seiner Kommentatoren im Mittelalter – einsetzt, die
sich in der Neuzeit maßgeblich verstärkt, als man sich um eine Erklärung der Natur
aus rein mechanischen Prinzipien heraus bemüht, so haben doch diejenigen, die
seine Schriften wirklich gelesen haben – wie etwa Ramus, Cuvier und andere – bei aller sinnvollen respektvollen Kritik seine
Bedeutung in spezifischer wissenschaftlicher (nicht nur philosophischer) Hinsicht
anerkannt.
|
In Zusammenwirken mit der Lehre Platons hat das Wirken des Aristoteles die Fundamente des systematischen Denkens gelegt und ist bis
heute wirksam. Eine Wissenschaftsauffassung ohne Platon und ohne Aristoteles
ist überhaupt nicht vorstellbar. Alle je
vorgebrachte Kritik und Erweiterung ist Reaktion darauf und insoferne auch Folge
des Kritisierten. Insoferne sind Platon und Aristoteles, indem sie unser Denken prägten, wohl weit über alle
Herrschergestalten hinaus die wirkungsmächtigsten Einzelpersonen der
Weltgeschichte138.
|
Die Lehren des Aristoteles sind – ähnlich wie die Platons – durch Schüler fortgeführt worden; vor allem ist die
peripateische Schule durch des Aristoteles Enkelschüler (über Theophrast) Demetrios
von Phaleron nach Alexandreia übertragen worden. Sie sind weit weniger
stark als die Platons wiederbelebt und umgeformt worden, weil ja zahlreiche
Lehrschriften vorhanden waren, die das verhinderten und eine naturgemäß
konservierende Kontinuität bewirkten. Platon hat erst im Wege des paganen Neuplatonismus und dann später als
von Augustinus gewissermaßen für das Christentum adoptierter Philosoph
mehrere Renaissancen erlebt (s.w.u.)
|
Allerdings ist Aristoteles, wie bereits erwähnt, im Früchristentum durch Platon überlagert worden, gleichwohl waren aber seine exoterischen
Schriften (link Werkverzeichnis) den
christlichen Philosophen mehr oder weniger durchgehend – freilich in sehr
wechselnder Qualität – bekannt; abgelehnt wurden die esoterischen oder
akroamatischen Schriften. Im islamischen Bereich wird Aristoteles neben Platon erst in unzulänglicher Fassung und mit Platon vermengt rezipiert und später in zeitweise geradezu heiligmäßiger
Verehrung kommentiert wird; über den muslimischen Bereich vollzieht sich dann ja
auch die Rezipierung des Aristoteles im christlichen Europa (wo man zuvor nur die logischen
Schriften des Organons in Gestalt der sogenannten „Logica vetus“ gekannt hatte),
die zur für das Abendland schicksalsbestimmenden Akzeptierung der ratio und zu seiner weithin uneingeschränkten
Dominanz im Wege der aristotelisch-thomistischen Schulphilosophie führt, die im
katholischen Bereich erst im 18. Jh durch den Rationalismus zurückgedrängt
wird.
|
Auf Grund des vielschichtigen Rezipierungsprozesses ist mit
Aristoteles ein großes Problem verbunden: nämlich die in wesentlichen
Punkten offene Frage, was er wirklich gelehrt, was er wirklich vertreten habe.
Dies betrifft vor allem jene Bereiche, zu denen sich Aristoteles in verschiedenen Teilen seines Gesamtwerkes geäußert hat.
Wir wissen nicht,
|
– |
in welcher Abfolge diese Äußerungen zu sehen und damit zu
interpretieren sind, wobei immer wieder unvorsichtigerweise vorausgesetzt wird,
dass diese (über einen größeren Zeitraum mit einer inneren Entwicklung
verstreuten) Aussagen in ein in sich stimmiges und logisch begründbares System
sich fügen müssten,
|
– |
wir wissen nicht wirklich, inwieweit der Text nun wirklich
wortwörtlich von Aristoteles stammt (oder einem Schüler),
|
– |
inwieweit kardinale Passagen Ergebnisse von uns nicht mehr
überlieferten Abschreibe- Übersetzungs- oder Emendationsvorgängen sind.
|
|
Das Problem, das sich bereits im Spätmittelalter ergab,
stellt sich heute noch: welcher Text ist der „wirkliche Aristoteles“? Die
Diskussion z.B. über die Aussagen des Aristoteles zur Ortsbewegung und damit über die Herkunft der sogenannten
„peripatetischen Dynamik“, wie sie 2006 neu eröffnet worden ist, zeigt wieder,
welche inhaltsverändernde Kraft fast unmerklichen Geringfügigkeiten der Wortwahl
innewohnt, und dass vemutlich die in der Wissenschaftsgeschichte bis heute
vorherrschenden Annahmen bezüglich der Kinematik unzutreffend sind, weil sie
lediglich ein auf der Aristoteles-Rezeption des Duns
Scotus und des Wilhelm von
Ockham beruhendes Konstrukt der Scholastik sind139. Ähnlich verhält es sich mit
der Scientia-Definition, wie sie im 16. Jh der Wissenschaftsentwicklung in der
Neuzeit zugrundegelegt worden ist und die prägende Differenzierung der
Naturwissenschaften wie der Geisteswissenschaften zur Folge gehabt hat.
|
Mit Aristoteles war der absolute Höhepunk der antiken Philosophie erreicht,
soweit es die Wissenschaftslehre anlangt.
|
Verschiedentlich hat man den Niedergang in der Wissenschaft mit dem
Ausgang des Hellenismus mit dem Erstarken des Skeptizismus, einer
deterministisch-gesetzlichen Weltsicht sowie mit Epikureismus und Mystik in
Verbindung gebracht – mit Strömungen also, die sich der Meinungsbildung enthielten
und weniger dem Erkenntnisstreben nachgingen als Problemen der Ethik und der Frage
des Glücks im Sinne des höchsten Gutes.
|
|
Die wichtigsten Philosophen-Schulen im Hellenismus sind: |
|
begründet von Zenon von Kition140 – Schüler auch eines Akademikers und beeinflußt
von Aristoteles. Zenon von Kition gründete um 300 in der Stoa poikile141 in Athen eine dritte Philosophenschule. Die Stoa hat
große Bedeutung für die Fortführung der aristotelischen Logik sowie für
Entwicklung der Philologie; sie entfaltete ihren Einfluß vor allem in Pergamon,
weniger in Alexandria. Hinsichtlich der Wissenschaftslehre vertritt man die
Ansicht, daß alles Wissen aus der sinnlichen Wahrnehmung hervorgehe. Die Seele sei
an sich leer und werde erst durch die Sinne "beschrieben" (Vorstufe zum
Sensualismus). Die menschliche Seele ist Ausfluß der Gottheit und steht mit dieser
in Wechselbeziehung. Die Annahme eines starken, mitunter totalen Determinismus, ja
Fatalismus, erzwingt die Erarbeitung einer Theodizee (wenn alles nach dem Willen
der Gottheit sich gestaltet, warum gibt es das Böse?). Tugend Pflichterfüllung,
Staat als menschliche Gemeinschaft, Sittlichkeit sind die beherrschenden Themen.
Die Stoa begründet die Dreiteilung der Philosophie in die untrennbar mit einander
verknüpften Teilbereiche Logik-Ethik-Physik (stoische Triade); die Logik wird
weiter unterteilt in Dialektik und Rhetorik, die Dialektik wiederum in semainon = das Bezeichnende (= Stimme) und semainomenon (= das Bezeichnete = Bedeutung).
Die Stoa wird heute in drei Phasen gesehen: alte, mittlere und kaiserzeitliche
Stoa.
|
|
begründet um 305 von Epikur, der von Demokrit beeinflußt war und auch an der Akademie gehört hatte. Ziel
dieser Philosophie ist die Erwerbung der Glückseligkeit. Logik, Dialektik sind
entbehrlich, Gefühle sind die Kriterien für das, was man erstreben solle oder
nicht. Es werden u.a. die Pflege der Freundschaft und das Fernhalten vom
Staatsleben empfohlen.
|
|
Eine unter den Aspekten der Wissenschaftsbetrachtung sehr
erhebliche Wirkung entfalteten die Skeptiker,
hinsichtlich derer drei Schulen zu unterscheiden sind: jene des Pyrrhon
von
Elis zur Zeit Alexanders dG, jene
der Skeptiker der mittleren und neueren Akademie (z.B. Marcus Terrentius Varro und Cicero) und die späteren an Pyrrhon anknüpfenden Skeptiker.
Pyrrhon geht von Demokrit und vom Skeptizismus und Relativismus der Sophisten aus:
Erkenntnis ist letztlich unmöglich, wir müssen uns jeglichen Urteils enthalten.
Gleichgültigkeit und Gleichmut sind gefordert. Pyrrhon erlebt im
radikalen Skeptizismus des ausgehenden 17. und 18. Jhs eine Renaissance
(„Pyrrhonismus“).
|
|
vereinigen in eklektizistischer Weise die alte
pythagoräische Philosophie mit einer Fülle neuerer Auffassungen, vor allem aber
mit Zahlenmystik, Mystik und Wunderglauben, Offenbarungsglauben, hermetische
Literatur, Orakel etc. U.a. wird eine Harmonisierung von Pythagoras und Platon angestrebt. Sie übten noch in der Frühen Neuzeit starken Einfluss
aus.
|
|
Entfaltet sich vor allem im 1. Jh nChr. Tonangebend ist
u.a. Plutarch
von
Chaironea. Es kommt zu einer raschen Zunahme des religiösen Elements und
zur Verbindung hin zum Pythagoräsimus. Ein führende Vertreter des Platonismus um
Christi Geburt ist der jüdisch-hellenistische Philosoph Philon
von Alexandria (1. Jh nChr); er stellt
die Philosophen-Genealogie Moses–Pythagoras–Platon auf und erklärt die
Widersprüchlichkeiten in den Büchern Mosis des Alten Testaments „als Zeichen für den verständigen Leser, um diesen auf die wahre
hinter dem Text liegende Bedeutung hinzuweisen“142, womit die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn zum Tragen
kommt143.
|
|
Der Neuplatonismus wird zurückgeführt auf Ammonios Sakkas (175-242 in
Alexandreia), der nur über seinen Schüler Plotin (203-269) aus Assuan
fortgewirkt hat, der später zumeist in Rom lebte; diese Richtung übt bis in das
6., in Alexandreia bis in das 7. Jh großen Einfluss aus, indem sie einen großen
Teil der philosophischen Richtungen des griechischen Altertums in sich vereinigt,
andere aber einfach verdrängt. Der Neuplatonismus will zwar reiner Platonismus
sein, ist aber tatsächlich eine Synthese der griechischen Philosophie mit
mystischen, orientalisch-religiösen Elementen. Es werden drei Schulen
unterschieden:
|
– |
metaphysisch-spekulative Richtung: Plotin, Porphyrios, Simplikios etc.
|
– |
religiös-theurgische Richtung |
– |
gelehrte Richtung mit Hypatia in Alexandreia und Martianus Capella sowie Boethius im Westen; die gelehrte Richtung
zeichnet sich durch Zurückhaltung gegenüber den nicht ursprünglich platonischen
Elementen aus. Capella und Boethius sind wichtige Figuren am Übergang
zum abendländischen Mittelalter ("Boethius, der letzte Römer und erste
Scholastiker"). Des Boethius „De consolatione philosophiae“ vermittelt
eklektizistischen Platonismus und Einfluß des Aristoteles, bei Boethius fällt
die höchste Gottheit (anders als bei Platon) mit dem Weltenschöpfer zusammen, also durchaus im Sinne des
Christentums; Boethius war unzweifelhaft Christ, es gibt von ihm auch
theologische Schriften), Gott ist wie bei Aristoteles Unbewegter Beweger, primum mobile.
|
|
Die metaphysisch-spekulative Richtung unter Führung des
Plotin hat wie keine andere Philosophe des Altertums außer Platon und Aristoteles Anerkennung und Nachfolge bis in die Neuzeit erfahren144. Plotin unterschied wie Platon Übersinnliches und Sinnliches; das Übersinnliche aber erscheint
ihm dreistufig gegliedert145. Der Neuplatonismus ist die philosophische
Brücke nicht nur in in das lateinisch-christliche, sondern auch in das
byzantinische und arabische Mittelalter.
|
|
Porphyrios, ein Schüler des Plotin, ist weniger als Philosoph denn als Gelehrter und insbesondere
wegen seiner Einleitung zur Kategorienlehre des Aristoteles, der „Eisagoge“, eine sehr bedeutende Einzelperson. Unter
seinen 77 Schriften findet sich die unerhört weit verbreitete und wirkungsmächtige
um 270 verfasste Eisagoge (auch als „Quinque voces“ zitiert), "die durch ihren dauernden
Gebrauch im späten Altertum wie im orientalischen, byzantinischen und
abendländischen Mitttelalter eine weltgeschichtliche Bedeutung erlangt
hat"146. Diese
unerhörte Bedeutung der Eisagoge liegt darin, daß von ihr die Diskussion des
Universalienproblems ausging147.
Diese Schrift, die als Aristoteles–Kommentar zu zählen ist, ist mehrfach ins Lateinische (u.a.
von Boethius), Syrische, Arabische und Armenische übersetzt und ihrerseits
vielfach kommentiert worden. In der Eisagoge wird die Affinität der Neuplatoniker
gegenüber Aristoteles deutlich: man war bestrebt, die (z.T. vermeintliche) Kluft
zwischen diesen beiden Philosophen zu schließen (ganz besonders hat sich dabei
Simplikios (um 500 in Athen) hervorgetan). Porphyrios nimmt überhaupt in der Überlieferungsgeschichte des
Aristoteles eine nicht unbedeutende Stellung ein; bis heute wird die Eisagoge in
den Druckausgaben als Einleitung der Kategorienlehre des Aristoteles vorangestellt. Porphyrios ist darüber hinaus – ohne selbst Christ zu sein – der
Schöpfer des trinitarischen Gottesbegriffes, der die Kirchenväter grundlegend
beeinflusst hat.
|
Für die Rezipierung von Wissenschaft und für die
Koordinierung von Wissenschaft und Theologie im christlichen Mittelalter, aber
auch für die Rezipierung in der arabischen Welt sind die späteren Schulen und vor
allem die Wiederbelebung des Platonismus im Wege des Neuplationismus Plotins von großer Bedeutung. Auch im Mittelalter war man bestrebt, die
Differenzen zwischen Platon und Aristoteles auszugleichen, ja Aristoteles so zu interpretieren, daß man ihn als Fortsetzer Platons verstehen konnte – eine Linie, die offenbar mitunter auch heute
noch in der Philosophiegeschichte verfolgt wird.
|
|
|
„Philosophie“ ist ursprünglich der Überbegriff, unter dem
alle Wissenschaften in unserem Sinne, die ja aus der Philosophie abgeleitet werden,
begriffen wurden. Dieser Sprachgebrauch findet sich noch im 18. Jh, wenn von den
„philosophischen Studien“ als Organisationsstruktur an den Universitäten die Rede
ist, die die späteren Geistes- und Naturwissenschaften umfasst, und diese in der
Aufklärung dem System wissenschaftlicher Erkenntnisarbeit angepasst wird. Erst im
Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Differenzierungs- und mehr noch
Spezialisierungsprozess wird mit der Zunahme der Distanz zum ursprünglichen Kern des
Ganzen der Gebrauch des Begriffes „Philosophie“ mehr und mehr im heutigen Sinne auf
den Kern eingeschränkt.
|
Platon gliederte die Philosophie – wie von seinem Schüler Xenokrates überliefert wird – in:
|
Dialektik = Reine Begriffe = begriffliche Erkenntnis |
Physik = Sinnlich-empirische Wahrnehmungen = sinnliche Wahrnehmung |
Ethik = Äußerungen d. menschl. Willens u. Handelns = Wille und
Begehren
|
Für die Wächter des Staates hat Platon in „Politeia“ ein
Ausbildungskonzept entworfen. Dieses sah vor:
|
Gymnastik; Musik (Lesen, Schreiben, Literatur, Musik) |
Mathematik (Arithmetik, Geometrie, Astronomie) |
Dialektik (zu ihr sollten nur die besten zugelassen werden). |
Zenon von Kition in der Stoa und nach ihm Epikur gliedern ähnlich wie Platon in die Triade Physik–Logik–Ethik.
|
Aristoteles hat keine Systematik hinterlassen; aus seinen Werken läßt sich
aber in etwa folgende Systematik erschließen:
|
– |
Analytik = Organon – Logik |
– |
Rhetorik |
– |
Theoretische (kontemplative) Philosophie |
– |
Mathematik |
– |
Physik = Wissenschaft von der unbelebten und der belebten Natur
inkl. Medizin = Zweite Philosophie
|
– |
Metaphysik = Lehre von den ersten Ursprüngen und vom Wesen des
Seienden = Erste Philosophie |
– |
Praktische Philosophie = Dritte
Philosophie (Ethik, Politik, Ökonomik)
|
– |
Schöpferische Philosophie (Poetik – Poesie, Musik, Sonstige
Kunstarten)
|
– |
(Nützliche Künste = Technik, Handwerk) |
|
Dieses Modell hat bis weit in die Neuzeit hinein großen
Einfluß ausgeübt.
|
|
Es war ein bedeutender Schritt, dass in der griechischen
Philosophie die exakte Begriffsbestimmung als unentbehrliches Hilfsmittel für
wissenschaftlich beweisende Aussagen eingeführt wird; ein wesentlicher Teil der
frühen Philosophie besteht im Definieren. In den zahlreichen Definition werden
jeweils die im Zuge der Definition neu verwendeten Begriffe ihrerseits definiert,
und so entsteht ein in sich schlüssiges Gebäude von tragfähigen Sätzen.
|
Platon demonstriert die systematische Erstellung einer Definition durch
dichotomische Deduktion von einem Überbegriff und schließt sein Beispiel, die
Angelfischerei (Link) folgendermaßen ab: "Nun also
sind wir von der Angelfischerei nicht nur über den Namen einig, sondern haben auch
die Erklärung über die Sache selbst zur Genüge
erlangt". Hier schwingt die Auffassung mit, dass der Name, die Benennung, das
Wesen des Bezeichneten ausdrückt. Die größte Wirkung hat dieses dichotomische Schema
erlangt in der Form, in der es der Neuplatoniker Porphyrios
von
Tyros (s.o.) bzw. seine Nachfolger präsentierten; es ist dieses Schema
deshalb auch als „Baum des Prophyrios“ bekannt.
|
Platon und Aristoteles definieren eine Fülle von Begriffen. In den Begriff „Wort“
führt Aristoteles folgendermaßen ein: "Jedes ohne
Verbindung gesprochene Wort bezeichnet entweder eine Substanz oder eine Größe oder
eine Qualität oder eine Relation oder ein Wo oder ein Wann oder eine Lage oder ein
Haben oder ein Wirken oder ein Leiden“. Für die Unterscheidung zwischen
zusammenhängender und nicht-zusammenhängender Größe ist der Begriff der Grenze
notwendig: „Eine Grenze ist das, worin etwas endigt,
Grenze wird das Äußerst von jedem Ding genannt, außerhalb dessen zuerst nichts
mehr von ihm angetroffen wird, innerhalb dessen zuerst alles liegt". Euklid beginnt seine Geometrie mit den seinen Überlegungen
zugrundegelegten Definitionen und Axiomen.
|
Das Definieren ist als die Festlegung von Begriffen die Grundlage für
eine systematische wissenschaftliche Diskussion und Kommunikation und stellt damit
einen die Entwicklung systematischer Arbeit konstituierenden Schritt dar148.
|
|
Bei den Griechen ist erkennbar, daß sie die Natur als einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit unterworfen
betrachten – so wie die Sonne unweigerlich jeden Tag aufgeht, rinnt das
Wasser nicht bergauf. Die Irregularität der Einzelerscheinungen – daß kein Tag wie
der andere ist, der Wind anscheinend völlig unabschätzbar weht – wird nicht von
allen akzeptiert, sondern zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Dies ist im
Grunde genommen der Beginn dessen, was wir als Naturwissenschaften bezeichnen.
|
Heraklit (um 500) postuliert "Gesetzmäßigkeiten, unfehlbare Sicherheiten, immer
gleiche Bahnen des Rechtes, hinter allen Überschreitungen der Gesetze richtende
Erinyen, die ganze Welt ein Schauspiel einer waltenden Gerechtigkeit und dämonisch
allgegenwärtiger, ihrem Dienste untergebener Naturkräfte [...] Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf
weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immer und ist und wird
sein ewig lebendiges Feuer, erglimmen nach Maßen und löschen nach Maßen"149.
Diesen allgemeinen Naturgesetzen entsprechend die
Welt zu verstehen, ist nun die Aufgabe der Philosophie. Die Astronomie als
die große, erstentstehende Naturwissenschaft ist darin Vorbild, denn sie erweist die
Gesetzmäßigkeit der großen Bewegungen in der Natur in beeindruckendster Weise.
|
Die Vorstellung von der allgemein gültigen Gesetzmäßigkeit kommt auch
in der griechischen Tragödie zum Ausdruck, die von der Unabänderlichkeit des
Schicksals, also ebenfalls dem Gesetz, beherrscht ist.
|
|
Die Logik ist die Lehre von den allgemeinen Gesetzen des
Denkens, vom richtigen, zur Erkenntnis der Wahrheit führenden Denken. Die Logik
überprüft wissenschaftliche Sätze nicht auf ihre inhaltliche Richtigkeit, sondern
lediglich auf ihre Korrektheit und Schlüssigkeit hinsichtlich ihrer Aussagen im
Verhältnis zu den vorangegangenen Sätzen. Die Logik ist eine Formalwissenschaft wie
die Mathematik.
|
Sie wird im Verlaufe der Zeit unterschiedlich benannt: Dialektik heißt
sie bei Platon, dem sie zur Analyse und zur Synthese von Begriffen dient – aus der
Diskussion gegenteiliger Meinungen erarbeitet er eine Theorie des Wissens – und im
weiteren zur Erfassung, zum Begreifen der Ideen; sie ist hier primär eine Technik
der Argumentation.
|
Bei Aristoteles tritt der Begriff „logikos“ auf, der dann von Cicero und anderen aufgegriffen wird. Bei Aristoteles wird die Frage der Instrumentalisierung diskutiert: Logik als
Instrument, als Handwerkszeug (= Organon150) für alle Wissenschaft
und nicht nur ein spezifischer, innerhalb der Philosophie oder neben ihr
abgrenzbarer Bereich. Die Vorstellung von der Instrumentalisierung wurde auf
Grundlage des Aristoteles im Hellenismus ausgeformt und in der Neuzeit vor allem
durch Zabarella vertreten. Die Dialektik im Sinne Platons ist bei Aristoteles der ursprünglichste Teil der Logik (enthalten in der Topik); während sie anfangs deshalb ganz am Anfang
steht, wird sie im Organon später an das Ende gerückt. Klassisch der Beginn der
„Ersten Analytik“ im Organon:
|
„Zuerst müssen wir angeben, welchem
Gegenstande die Untersuchung gilt und wessen Sache es ist, daß sie nämlich dem
Beweise gilt und Sache der beweisenden Wissenschaft ist; dann müssen wir
bestimmen, was ein Satz ist, was ein Begriff und was ein Schluß, und welcher
Schluß vollkommen und welcher unvollkommen ist; hernach, was es heißt, daß dieses
in diesem als Ganzes ist oder nicht ist, und was wir damit meinen, wenn wir sagen,
daß etwas von jedem oder von keinem ausgesagt wird. – Ein Satz ist eine Rede, die
etwas von etwas bejaht oder verneint. Sie ist entweder allgemein oder partikulär
oder unbestimmt. Allgemein nenne ich sie, wenn etwas jedem oder keinem zukommt,
partikulär, wenn es irgendeinem oder irgendeinem nicht oder nicht jedem zukommt,
unbestimmt, wenn die Rede etwas zukommen oder nicht zukommen läßt, ohne den Zusatz
allgemein oder partikulär [...]“.
|
Bei den Epikuräern wird der Begriff „Kanonik“ – kanones – verwendet; Cicero verwendet auch die Wendung medicina
mentis, der in der Neuzeit durch Tschirnhaus und andere herangezogen wird; die Jesuiten sprechen von der
directio mentis.
|
Im frühen Mittelalter ist die begriffliche Differenzierung
verlorengegangen: als Logik bezeichnet man vielfach auch ein Gemenge aus grammatica, rhetorica und dialectica. Bis um 1500 wird dafür den Oberbegriff „dialectica“ verwendet. Im Prinzip ist die
Dialektik bzw. die Logik im Mittelalter die ars
disserendi oder ars discernendi verum a
falso. Später, aber doch auch schon bei Thomas von
Aquin, wird die Dialektik als jener Teil der Logik verstanden, in dem aus
Probablem (Wahrscheinlichem) geschlossen wird, weshalb sie auch als ars dubitandi definiert wird bzw. als dualis sermo qui fit inter opponentem et
respondentem, womit die Dialektik als scientia
bene disputandi erscheint. – Anders
verhält es sich bei Ockham, der sich stets auf die („reine“) logica, die Logik an sich, bezieht. Durch den humanistischen Rekurs auf
Cicero kommt es allerdings wieder zu einer Gleichsetzung von Logik und
Dialektik.
|
Die Logik wird früh als Mittel des menschlichen Verstandes
aufgefaßt und nicht als ein objektiv vorgefundenes Sachwissen. Ähnlich wie in
anderen Bereichen erhebt sich auch hier die Frage, ob es sich bei der Logik um eine
techne / ars oder um eine episteme / scientia handle. Aristoteles selbst hat sich dazu –
vermutlich absichtlich – nicht geäußert. Petrus
Hispanus sagt in seinen wichtigen Summulae
Logicales (um 1230): „dialectica [logica]
est ars artium et scientia scientiarum ad omnium
methodorum principia viam habens“. Albertus
Magnus verhält sich eher neutral, wenn er meint:“ quidam antiquorum logicam nullam esse scientiam contenderunt,
dicentes non posse esse scientiam id quod est omnis scientiae sive doctrinae
modus – einige der Alten vertraten die Ansicht, daß das, was Verfahren jeder
Wissenschaft oder Lehre sei, selbst nicht Wissenschaft sein könne. Daraus resultiert
die Frage, ob Logik eine Wissenschaft sei oder nicht.
|
Philosophia rationalis (=
Vernunftlehre) heißt die Logik in der Neuzeit, wenn sie von der Ethik (philosophia moralis) und der Naturlehre (philosophia naturalis) abgegrenzt wird, wie dies
in der stoischen Triade der Fall ist: logikon–
physikon –
ethikon. |
Sokrates, Platon und dann vor allem Aristoteles haben ein komplexes System von logischen Schlüssen erarbeitet.
Die Logik des Aristoteles, wie sie unter dem Titel Organon (= Werkzeug zum richtigen Denken) zusammengefasst ist, ist erst im
19. Jh – nach mehr als 2200 Jahren unveränderten Bestehens!!! – durch George Boole
(1815-1864), Augustus de Morgan (1806 – 1871) und vor allem durch Gottlob Frege
(1848-1925) erweitert worden – dementsprechend sieht die Periodisierung der
Geschichte der Logik zwei Epochen vor: jene von Aristoteles bis etwa Frege
als die klassische Periode und die (eigentlich schon mit Leibniz einsetzende) Periode der mathematischen Logik ab Frege. Innerhalb der klassischen Periode stellt nach der Antike die
Entwicklung in der Scholastik eine fruchtbare Epoche dar, in der die aristotelische
Logik neu erarbeitet wird. In den Jahren 1500–1640 erfolgt eine Erneuerung in
verschiedene Richtungen.
|
Wir unterscheiden zwei prinzipielle Vorgehensweisen im
Denken:
|
|
Die Deduktion als das Ableiten eines Satzes aus einem
vorhergehenden, für wahr gehaltenen Satz nach den Regeln des logischen Schließens
ist der Weg vom Allgemeinen zum Einzelnen151. D.h.,
es wird (im Idealfall) von einer fundamentalen – als absolut wahr erkannten oder
nicht mehr hinterfragbaren – Aussage mit Hilfe der Logik und möglichst wenigen
weiteren Prämissen ein System von Aussagen abgeleitet, deduziert. Dies ist in
klassischer Weise insbesondere in der Mathematik so.
|
Die uns erkennbare Grundlagen für eine deduktionistische
Beweiskette hat Parmenides gelegt, mit noch durchaus unzureichender Terminologie. Die
erste uns überlieferte mathematische Beweiskette hat Hippokrates von Chios mit der Quadratur eines Möndchens erstellt; mit
Hippokrates dürfte die Systematisierung der Geometrie eingesetzt haben,
die sehr rasch in Euklids „Elementa“ gipfelt. Eine deduktive Darstellung der Mathematik an
sich, vor allem natürlich der Geometrie, hat Euklid gegeben, wobei er von drei Typen von ersten und unbeweisbaren
Prämissen ausgeht, es sind dies: Definitionen, Postulate und Axiome. Den schon vor
Euklid gebrauchten Begriff „Elemente“ hat Aristoteles definiert: „Elemente sind jene geometrischen Sätze, deren Beweise
in den Beweisen der übrigen Sätze, entweder alles oder der meisten, enthalten
sind“.
|
Es ist fraglich und wohl nicht mehr feststellbar, inwieweit die
Entwicklung der Deduktion in der Mathematik und in der Philosophie Hand in Hand
gingen oder getrennt verliefen und wer allenfalls die Vorreiterrolle gespielt hat.
In der Zuschreibung einzelner Leistungen der Frühzeit ist man heute wesentlich
vorsichtiger als früher. Fest steht, dass man um 400 die Inkommensurabilität von
Seite und Diagonale des Quadrats erkannt hat und sich mit analogen Fragen im
Bereich der Kubikwurzel und darüber hinaus befasst hat. Platon aber hat den Mathematikern vorgeworfen, sich nicht hinreichend
Rechenschaft zu geben über die Qualität ihrer Ausgangs-Prämissen.
|
Zu Beginn des 4. Jhs wird die Technik des deduktiven
Beweises auch von anderen Bereichen übernommen, zuerst in der Medizin (z.B. in
einem Traktat „Über die alte Medizin“), wo Deduktionisten von den Empirikern
bekämpft wurden, die gegen Vereinfachung und monokausale Erklärung kämpften und
ihren eigenen Erkenntnissen allenfalls Wahrscheinlichkeitscharakter
zuerkannten.
|
Die Deduktion wird durch die Logik des Aristoteles als das klassische wissenschaftliche Verfahren eingeführt,
das sich auch ohne besondere Schwierigkeiten im Christentum akzeptieren läßt, wo
im Idealfall letztlich alles aus dem Gottesbegriff abgeleitet werden sollte.
|
|
Die Induktion152 – epagoge,
inductioDer
lateinische Begriff „inductio“ stammt von
Cicero: „Haec ex pluribus perveniens
quo vult appelatur inductio, quae graece epagoge nominatur“. –
ist der umgekehrte Weg: aus Aussagen über eine (in der Regel begrenzte)
Anzahl mehr oder weniger spezieller Fälle werden Aussagen über alle Fälle
induziert, d.h. Annahmen gewonnen, die alle Fälle betreffen sollen und von denen
man deshalb annimmt, dass sie allgemeiner Natur seien. Aristoteles, der sich der Induktion bedient, nennt sie den Weg vom
Einzelnen, vom Individuellen, vom Singulare zum Universale, zum Allgemeinen. Die
induktive Logik analysiert dabei anhand der untersuchten Fälle Eigenschaften, die
sie – unbewiesener- und oft genug auch unbeweisbarermaßen – allen anderen Fällen
auch zuschreibt. Aristoteles gibt als erster eine Theorie der Induktion und unterscheidet
dabei drei Arten:
|
1) |
die vollkommene Induktion – inductio perfecta –, die auf der Gesamtheit der Einzelfälle beruht; sie
ist nur in der Mathematik möglich, wofür sich Beispiele bereits bei Zenon von
Elea, bei Euklid, aber auch bei al-Karaji finden,
|
2) |
die unvollständige Induktion – inductio probabilis –, die auf einer unvollständigen Anzahl von
Einzelfällen beruht (was der „Normalfall“ ist) und deshalb nur
Wahrscheinlichkeitscharakter für sich in Anspruch nehmen kann,
|
3) |
die Induktion, mit deren Hilfe wir zu den unbeweisbaren
ersten Sätzen gelangen: zur Vermeidung unendlicher Regreßketten154 im Beweis muß die
Wissenschaft zwangsläufig von unbeweisbaren Grundsätzen ausgehen; dies begründet
Aristoteles speziell am Ende der Zweiten Analytik: „[…] Man sieht also, dass wir die ersten Prinzipien
durch Induktion kennen lernen müssen. Denn so bildet auch die Wahrnehmung uns
das Allgemeine ein“ (100b).
|
|
In seiner Topik (im Schlussteil des Organons) ist Induktion
ein Mittel im Rahmen der Dialektik: der Gesprächspartner wird vom Redner durch
Fragen und Antworten zur Anerkennung des vom Redner vertretenen Standpunkts
gebracht: „Wenn der beste Steuermann ist, wer seine
Sache versteht, und Gleiches von dem Wagenlenker gilt, so ist auch der Beste
überhaupt, wer seine jeweilige Sache versteht“.
|
Aristoteles verlangte nur theoretisch die Vollständigkeit der einzelnen
Aussagen und war sich bewusst, dass dies nicht realisierbar sei; speziell in den
exakten Wissenschaften ließ er am ehesten unvollständige Aussagen zu. Die Stoiker
wenden sich – wie auch die Skeptiker und Sextus
Empiricus – überhaupt gegen die Induktion und stellen sogar in bezug auf
die Sterblichkeit des Menschen fest, daß diese Aussage nur auf der Beobachtung
etlicher spezieller Fälle beruhe und eine (nicht beobachtete und nicht
beobachtbare) Verallgemeinerung nicht zulässig sei.
|
In der Scholastik werden die Probleme der Induktion aufs Neue
diskutiert. Bereits in der Frühscholastik wird – über Boethius – die Induktion nach Aristoteles rezipiert, wobei man sich vor allem auf den Schluß der Zweiten Analytik bezieht (s.o.).
|
Im 12. Jh hat Albertus
Magnus als der Propagator des Aristoteles dessen Lehre von der Induktion in vollem Umfang expliziert
und vertreten: „inductio autem est a singularibus
in universalia progressio“. Er unterscheidet korrekt zwischen inductio perfecta und inductio probabilis, wobei letztere der dialektischen
Argumentation dient und auf das Allgemeine und das Wahrscheinliche abziele und
greift auch die dritte Art der Induktion auf: Die
ersten Universalien zeigen sich uns durch die Induktion der einzelnen und
sinnlichen Dinge: es ist nämlich zuerst notwendig, diese so zu erkennen: dessen
Grund ist, daß die sinnliche Wahrnehmung (dies ist die Induktion der sinnlichen
Dinge), jedesmal, wenn sie bei allen Dingen ähnlich ist, das Universale macht.
So ist also offenkundig, wie in uns die ersten Universalien entstehen.
|
Noch klarer stellt Thomas von Aquin – Aristoteles folgend – die Sinneswahrnehmung an die Spitze: „In der Induktion wird das Allgemeine aus den
Einzeldingen erschlossen, die sich den Sinnen zeigen“.
|
Duns
Scotus wirft die Frage auf, ob ein Induktionsschluss, um brauchbar zu
sein, vollständig sein müsse; und vertritt die Ansicht, daß es genüge, einige
Fälle anzuführen, um sich eine Meinung (opinio) zu bilden; um aber unabweisbare
Folgerung ableiten zu können, müsse man alle
Fälle anführen.
|
Im Nominalismus nimmt die Induktion naturgemäß eine besonders
bedeutende Stellung ein. Hier verliert sie ihre „mystische“ Bewertung im
Zusammenhang mit den Universalien, indem Ockham, der sich eingehend um eine Theorie der Induktion bemüht, sie auf
den Schluß von Teilen auf das Ganze reduziert und die zuvor gegebenen Implikation
beiseite schiebt.
|
In der Renaissancephilosophie des 16. Jhs wird die Induktion sehr
reduziert im Sinne rhetorischer Dialektik verstanden, was Galilei zu scharfer Zurechtweisung und zur Betonung ihrer grundlegenden
Bedeutung veranlasste, wie dies auch durch Francis
Bacon geschah, für den die exakte Handhabung der Induktion am Beginn
einer neuen Wissenschaftlichkeit steht: „Die größte
Veränderung, die ich einführe, betrifft die Form der Induktion selbst und das
daraus abgeleitete Urteil. Die Form nämlich, von der die Dialektiker [des
16. Jhs] sprechen, die durch einfache Aufzählung
fortschreitet, ist eine kindische Sache und gelangt nur zu unsicheren Schlüssen.
[...] Die Wissenschaften aber brauchen eine
solche Form der Induktion, welche die Erfahrung auflöst und zergliedert und
notwendig durch Ausschließung und Zurückweisung zu einer richtigen
Schlußfolgerung gelangt“. Francis
Bacon erstrebte eine Induktion, die im Wege des Sammelns, Vergleichens
und Kombinierens aktiv zum Entdeckung neuen Wissens führen sollte
|
In weiterer Folge wird jede nicht-deduzierende Vorgangsweise als
Induktion aufgefasst und es wird auch das Problem der Wahrscheinlichkeit
einbezogen. Die Francis
Baconsche Auffassung – die auch als Induktionismus bezeichnet wird – ist
vor allem durch William Whewell und von John
Stuart Mill verfolgt worden. Im 20. Jh wird der Theorie der Induktion
sehr viel Arbeit gewidmet und bewiesen, dass Induktion nicht durch Deduktion
bewiesen werden kann. Popper wies in seiner „Logik der Forschung“, 1934, (neuerlich) nach,
dass man mit Hilfe der Induktion keine Gesetzmäßigkeit gewinnen, wohl aber
allgemeine Sätze widerlegen könne. Er ging in seiner Zurückweisung der Induktion
sogar soweit, dass er sie als Grundlage für die Gewinnung von zu falsifizierenden
Sätzen verwerfen wollte.
|
|
Raum, Zeit und Materie sind zentrale, die Auffassung von
Natur unumgehbar mitbestimmende Vorstellungen. Sie können in sehr unterschiedlichen
Weisen verstanden und verwendet werden. Generell kann gesagt werden, dass diese
Begriffe ursprünglich Begriffe der Kosmologie sind und erst nach und nach aus dieser
gelöst und separat und schließlich in einem „physikalischen“ Sinne diskutiert
werden.
|
|
Eine in der antiken und in der mittelalterlichen Philosophie
und natürlich bis heute wesentliche Frage ist die nach der Endlichkeit oder
Unendlichkeit der Welt, die mit der Frage nach Zeit und Raum verbunden ist155. Aristoteles vertritt die Auffassung, daß die Welt und die Zeit ohne Anfang
und ohne Ende seien: "Es ergibt sich viel
Unmögliches, mag man annehmen, daß das Unendliche nicht existiere oder daß es
existiere", wobei wieder das Problem der Grenze auftritt: "Nämlich nicht dasjenige, außerhalb dessen Nichts ist, sondern gerade
dasjenige, außerhalb dessen noch immer Etwas ist, ist unbegrenzt".
|
Die Zahl ist im Sinne der Definition unbegrenzt, weil man immer weiter
zählen kann; die Zeit ist "unbegrenzt", weil sie immer fortgesetzt, weil immer ein
neuer Tag wird. Das Unendliche ist aber niemals fertig, kann nie in endlicher Zeit
durchmessen werden, es kann daher – so Aristoteles in seiner Metaphysik – nur potentiell und niemals aktual
existieren156.
|
Nach Aristoteles wurde oft auch die Frage diskutiert, ob es verschieden große
Unendlichkeiten geben könne. Dazu sagt Philoponos (im 6. Jh in seiner Schrift
über die Endlichkeit der Zeit und der Welt), das könne nicht sein, denn das kleinere
Unendliche müßte früher durchlaufen werden können, also aktual vorhanden sein. Er
schließt deshalb im Gegensatz zu Aristoteles auf eine Endlichkeit der Zeit: bestünde die Welt seit
unendlichen Zeiten, müßten bis jetzt (aktual) unendlich viele Menschen geboren
worden sein; ihre Zahl wird aber durch die laufenden Neugeburten ständig vergrößert
– also kann sie nicht unendlich sein. Auch wäre die Zahl der Umläufe der Sonne um
die Erde unendlich groß – doch ist die Zahl der Umläufe des Mondes zwölfmal so
groß.
|
Raum wird in der Antike zumeist gleichgesetzt mit dem
kugelförmigen Kosmos, den der Mensch von innen betrachtet. Bei den Stoikern findet
sich auch die Vorstellung, dass der Kosmos in einen eundlichen leeren Raum
eingebettet sei. In der christlichen Vorstellung, ist der kugelförmige Kosmos vom
Empyreum begrenzt, jenseits dessen sich – unendlich zu denkend – der Sitz Gottes
befindet.
|
Raum ist erfüllt von Materie, nur die Pythagoräer und die Atomisten
akzeptieren Leere (auch als Trennung und damit auch Unterscheidung der Dinge), das
Vakuum und damit das Nichtsein. Archytas
von
Tarent differenziert zwischen dem Ort als einer Position im Raum und dem
Raum an sich. Für die Atomisten ist der Raum unendlich und damit ohne Mitte und ohne
Grenze, das ermöglicht die Bewegung der Körper. Aristoteles akzeptiert die Vorstellung vom Vakuum, von Leere nicht; für
ihn ist der Raum statisch und verfügt über eine innerliche Struktur; er misst dem
Begriff der Schwere wesentliche Bedeutung zu (was ein Argument für die Unendlichkeit
des Raumes bildet, denn sonst müssten die schweren Massen an einem Ort
zusammengeballt sein). Hinsichtlich der räumlicher Unendlichkeit argumentiert Philoponos: es könne keinen unendlichen Körper geben, denn: wenn das
Unendliche aus zwei Bestandteilen zusammengesetzt wäre,
|
– |
so wären entweder beide endlich – dann ist das Ganze endlich –
oder
|
– |
wären beide unendlich – dann wäre das Unendliche verdoppelt,
also seinem Doppelten gleich (!!!), oder
|
– |
es wäre eines endlich und eines unendlich – dann würde das
Unendliche durch das Endliche vermehrt und größer als es selbst.
|
|
Gäbe es einen unendlichen Körper, könnte man ihn in zwei
Bestandteile zerlegen, etwa indem man ein endliches Stück herausschneidet – damit
würde der unendliche Körper in zwei endliche zerfallen. In dieser Weise hat später
auch al-Kindi (Lehrbrief über die Endlichkeit
der Welt) argumentiert.
|
Mit diesen Fragen wurde natürlich verknüpft die Frage der Erschaffung der Welt und der Beginn der Zeit – gab es Zeit vor der Erschaffung der Welt
oder wird die Zeit erst mit der Welt geschaffen? Aristoteles und mit ihm die
arabischen Philosophen Al-Farabi und Avicenna gingen von der Vorstellung aus, die Welt sei ohne Anfang und ohne
Ende, denn: es könne keine Zeit vergangen sein, bis Gott die Welt schuf, denn dann
wäre ein neuer Willensimpuls in ihm entstanden, was eine Veränderung Gottes bedeutet
hätte, der aber in Ewigkeit der Eine und in sich Ruhende, Unveränderliche sei. Nur
Platon setzte den Beginn der Zeit mit der Erschaffung des Kosmos an – eine
Auffassung, die auch Augustinus vertreten wird..
|
Al-Ghazali argumentiert wie Philoponos gegen die Unendlichkeit und lehnt es in diesem Zusammenhang ab,
die Zeit als etwas reales Drittes zwischen den Dingen zu betrachten – Zeit sei – wie
bereits Parmenides erklärt hatte – eine Weise unserer Vorstellung, sonst nichts!
Sein Gegner Averroes hat diese Vorstellung zurückgewiesen und Zeit als objektives Maß
von Naturprozessen definiert.
|
Eine Frage, die sich immer wieder erhob, war die des
Überganges vom Unendlichen in das Endliche der irdischen Welt.
|
|
|
In der ionischen Naturphilosophie sucht man nach einem
Urstoff, aus dem alles bestehen soll: Thales nimmt Wasser als den
Urstoff an, Heraklit das Feuer, Anaximenes die Luft (Seele-Atem). Empedokles (490-420) hat die vier Elemente zugrundegelegt157 und damit ein Denkschema geschaffen, das bis in unsere
Zeit wirkt. Anaxagoras sagt, es müsse Teilchen geben, aus denen sich die sichtbare
Materie in ihren unterschiedlichsten Formen zusammensetzt. Leukipp und dann sein Schüler Demokrit entwickelten daraus die Vorstellung von winzigen Bausteinen,
den Atomen (a-tomos, das Unteilbare), die
alle aus demselben Stoff bestehen, sich nur in Form und Gestalt unterscheiden
und die die Körper durch ihre Anzahl im Raum, ihre Anordnung und Lage bilden –
schwerere Körpere seien jene, die mehr Atome im selben Volumen enthielten);
alles entstehe durch ihr Zusammentreten, vergehe durch ihr Auseinandertreten.
Sie selbst sind unvergänglich und für alle Zeit unveränderlich und bewegen sich
im leeren Raum, was eine neue, sehr gewagte Lehre war158 und gleichsam den Satz von
der Erhaltung der Materie bzw. der Energie einschloss. Daraus folgt, daß alle
unsere Wahrnehmungen inkorrekt sind, denn wir sehen nur Form und Farbe, nehmen
Geruch und Wärme wahr, aber keine Atome. Eine ähnliche Vorstellung gibt es in
der indischen Philosophie, doch scheint eine Beeinflussung des Leukipp von dort sehr unwahrscheinlich. Dieser Atomismus wird das
Vorbild für Gassendi, Newton und Dalton.
|
Platon geht von einem qualitätslosen Grundstoff aus, dem die
geometrischen Formen der regelmäßigen Körper aufgeprägt werden159. Aristoteles geht davon aus, daß es etwas gebe, an dem die Veränderung
vorgenommen wird, das sich aber selbst nicht verändert (wie z.B. der Mensch, der
Mensch bleibt, auch wenn ein Ungebildeter ein Gebildeter wird). Dieser allem
zugrundeliegenden Substanz wird eine Form aufgeprägt (nicht geometrisch zu
verstehen), die sich aus den Gegensatzpaaren von Qualitäten ergibt160. Um das daraus sich ergebende Problem der Qualitäten
zusammengesetzter Körper zu bewältigen, auf das Aristoteles nur ganz knapp
eingegangen ist, hat man im Mittelalter auch Quantitäten (intensio und extensio =
räumliche Lagerung der intensio) eingeführt,
was zur Entwicklung des Begriffes Funktion bei Nicolaus von
Oresme hinführte.
|
|
Die Frage nach dem Raum hat in der griechischen
Philosophie große Probleme bereitet. Er wird als bereits vor der Entstehung der
Welt vorhanden und als unendlich angenommen – die Welt entsteht gewissermaßen im
Raum. Platon spricht die Frage nach dem Raum als ein sehr schwieriges
Problem an, und es liegen viele Widersprüchlichkeiten vor, die z.T. auch als
solche erkannt und diskutiert worden sind. Z.B. die Vorstellung, dass der
unendliche Raum nicht leer sei. Aristoteles führt den Ort als eine nähere Bestimmung im für ihn
bereits dreidimensionalen Raum ein: Ort ist keine Substanz (sonst müssten ja
zwei Körper an einem Ort sein können), sondern eine Kategorie. Er definiert Ort
als die Grenzfläche des den Ort umfassenden, ausmachenden Körpers – was eine
Reihe von Schwierigkeiten zur Folge hat, da damit der Raum zu eng an
Körperlichkeit gekoppelt ist, was die Frage des Nichts, des Vakuums zum Problem
macht. Es setzt auch sehr rasch – schon bei Theophrast – Kritik an diesem Raumbegriff ein. Straton
von Lampsakos hat sich in einem nicht mehr erhaltenen Werk eingehend
mit der Frage des Vakuums befasst und dieses und damit Nicht-Seiendes für
möglich erklärt:
|
Schon in der frühen griechischen Philosophie wurde die Frage
erörtert, ob ein Nicht-Sein sein könne. Diese Frage erwies sich im Zusammenhang
mit der Dynamik als die Frage des Vakuums von Belang. Die Theorie der Bewegung
ist bei den Griechen noch vor Aristoteles auf Grund der Aufwärtsentwicklung der Mathematik gepflegt
worden. Schwere und Bewegung werden behandelt; man erkennt, daß aus Reibung
Wärme entsteht, Anaxagoras hat davon das Leuchten der Gestirne hergeführt. Aristoteles
vertritt die Auffassung, daß die vier Elemente ihren natürlich Ort hätten, zu
dem sie hinstreben (Erde, Wasser, Luft und Feuer zu oberst unter dem Mond); die
Fallbewegung erscheint als eine natürliche Bewegung, die keiner Erklärung
bedürfe; ein Problem ist allerdings die nicht-natürliche, erzwungene Bewegung
von unbeseelten Körpern. Den Himmelskörpern sei die Kreisbewegung im Äther
naturgegeben161. Alle anderen Bewegungen bedürfen einer
Ursache, und zwar nicht nur, um zu entstehen, sondern auch um aufrecht erhalten zu werden. Diese Ursache kann im Körper
selbst liegen, wenn er eine Seele hat. Andernfalls ist eine (noch sehr vage
verstandene) Kraft notwendig. Aristoteles leugnete die Möglichkeit eines Vakuums, dieses wäre ein
locus sine locuto, ein Ort ohne Örtliches,
an dem sich nichts befindet, auch nicht „Örtlichkeit“. Und dies hat auch Folgen
für die Bewegungslehre: In einem Vakuum würden Körper im Falle einer
beschleunigten Bewegung unendlich hohe Geschwindigkeit erreichen – dies ist auch
in der Mechanik nach Newton der Fall: in unendlicher großer Zeit würde ein Körper eine
unendlich große Geschwindigkeit erlangen. In diesem Zusammenhang hat auch Aristoteles praktisch das Newtonsche Trägheitsgesetz162 gefunden und wegen der Zurückweisung der Möglichkeit
eines Vakuums wieder verworfen163: "Es wäre unerfindlich wie in einem Leeren ein einmal in Bewegung
gekommener Körper an irgendeiner Stelle wieder zur Ruhe kommen könnte. Denn
welche Stelle sollte in einem Leeren eine solche Auszeichnung vor den übrigen
Stellen besitzen können? Es bliebe also nur die Alternative: entweder ständige
Ruhe oder aber, sofern nicht etwa eine überlegene Gegenkraft hemmend ins Spiel
treten sollte, unendlich fortgehende Bewegung" (Aristoteles, Physik IV
8).
|
Bewegung ist für Aristoteles ein Prozeß, der ständiger Energiezufuhr bedarf164. Bei Newton ist Bewegung ein Zustand, lediglich Veränderungen in der
Bewegung sind Prozesse, die äußere Einflüsse bedürfen. Diese Auffassung des
Aristoteles, die sogenannte „peripatetische Dynamik“, hat natürlich
große Probleme aufgeworfen: Daher ist die Erklärung des freien Falles unlebter
Körper (die keine res animata sind, die sich
selbst bewegt, ihrem natürlichen Ort zustrebt) äußerst schwierig165; sie ist eigentlich erst in der
Scholastik eingehend behandelt worden166. Die peripatetische Dynamik hat in ihrer Schwierigkeit
bzw. Inkorrektheit, die jedoch rational hinwegdiskutiert bzw. „erklärt“ werden
sollte, bis in die Frühe Neuzeit hinein enorme intellektuelle Kapazität
konsumiert167.
|
Die Stoiker lehnen die Raumdefinition des Aristoteles ab, der Kosmos ist bei ihnen mit Materie erfüllt, zumal
für sie jede Wirkung eine körperlich-materielle Ursache hat. Philoponos wird den Raum als dreidimensionale leere Erstreckung
definieren.
|
Erst in der Renaissance wird durch Nikolaus von Kues mit der Vorstellung von einem zentrumslosen Raum,
dessen Mittelpunkt nicht mehr die Erde ist, eine modernere Raumvorstellung
entwickelt werden, die insbesondere Giordano Bruno aufgreift168.
Telesio wird Zeit, Raum und Materie als eigenständige Elemente
betrachten.
|
|
Die Sprache ist der Kanal, durch den das Denken der
Menschen in uns eindringt (
Roger
Bacon
)
|
Die Sprachen sind die
Scheiden, in denen das Messer des Geistes steckt (Luther)
|
Sprache ist der Gebrauch von Zeichen aller Art – keineswegs
nur lautlichen – zur Verständigung.
|
Es gibt neben mehreren Tausenden natürlicher lautlicher Sprachen in
z.T. verschiedenen Abstufungen (Hochsprache, Umgangssprache, Dialekte etc.)
künstliche Sprachen, formale Sprachen der Logik, Gebärdensprachen u.a.m.
|
Philosophie und Wissenschaft (und insbesondere Geisteswissenschaft)
sind wesentlich ein Problem der Sprache. Bereits Roger
Bacon hat im 13. Jh in seiner Wissenschaftssystematik der Befassung mit
Sprache neben der mit der Mathematik den obersten Rang zugewiesen. Die Frage,
welches der eigentliche Charakter von Sprache sei, in welchem Verhältnis die
sprachlichen Begriffe zu den bezeichneten Dingen und Sachverhalten stünden, ist
uralt und hat u.a. im Universalienstreit, der die Frage der Sprache in essentieller
Weise berührt, über mehr als eineinhalb Jahrtausende hinweg zu tiefgehenden
Auseinandersetzungen geführt169.
Nicht minder bedeutsam die Frage, inwieweit eine Sprache imstande sei, den
intendierten Inhalt einer Aussage in vollem Umfang und unmißverständlich zu
transportieren. Davon hängt ab, ob und inwieweit Individuen überhaupt mit einander
kommunizieren können – die Umgangssprache ist für viele wissenschaftliche Probleme
zu wenig exakt, aber auch Hochsprachen haben diesbezüglich ihre Schwächen und
Tücken.
|
Die Beschäftigung mit dem Phänomen Sprache ist gewissermaßen ein Indiz
für die Qualität des Erkenntnisstrebens, des wissenschaftlichen Bewusstseins – an
ihr läßt sich auch das Herauswachsen der Wissenschaft aus dem magisch-mythischen
Bereich erkennen. Die Entwicklung der Sprachphilosophie und der Sprachwissenschaft
waren und sind für die Entwicklung des wichtigsten menschlichen Instruments im
Zusammenhang mit der Wissenschaft von größter Bedeutung; dem entsprechend steht die
Frage nach der Sprache mit dieser in enger Wechselwirkung und ist von Anbeginn ein
zentrales Thema der Philosophie, das alle namhaften Philosophen seit der Antike
beschäftigt hat und dessen „Urtexte“ – Platons „Kratylos“ und des Aristoteles‘ „De
interpretatione“ – bis heute die Philosophie befassen. Im 20. Jh hat Michael Dummett die Sprachphilosophie als Basis und Ausgangspunkt jeglicher
Philosophie apostrophiert.
|
Die Bedeutung der Frage nach der Sprache wird auch erkennbar an ihrer
Stellung in der religiösen Sphäre: die Frage nach der einen ursprünglichen
natürlichen oder gottgegebenen Sprache des Menschen hat die Menschen durch
Jahrtausende beschäftigt170.
|
In der Aufklärung geht man neuerlich und höchst kritisch der Frage
nach, inwieweit die Sprache überhaupt zu Erkenntnisverbreitung tauglich sei, was sie
in Hinblick auf die Erkenntnisarbeit leisten könne. So setzt eine Sprachkritik ein,
die sich mit der Vermittlung von Vorurteilen durch Sprache, mit dem Sprachabusus,
dem Wortmißbrauch beschäftigt – "mit der Sprache
verwurzelt sich eine falsche Meinung und geht bis in die entfernteste Nachwelt
über; sie wird ein Vorurteil". John Locke erklärt, daß die Sprache die
Unvollkommenheit und der Mißbrauch der Wörter ewige Ketten des Irrtums
hervorbrächten. Diderot postuliert sogar, daß aus diesen Gründen die Sprache neu
gestaltet, bearbeitet und erweitert werden müsse. Chladenius untersucht die Rolle der Sprache in der Kommunikation unter
quellenkritischen Aspekten.
|
So ist es verständlich, daß sich im 20. Jh, aufbauend auf der Logik
Friedrich Ludwig Gottlob Freges die antimetaphysische Richtung der analytischen, genauer der
sprachanalytischen Philosophie entwickelt, die ihre Aufgabe nicht in der Vermittlung
weltanschaulicher Inhalte und Lehrsätze sieht, sondern in einer metaphysikkritischen
und sprachkritischen Klärung philosophischer und wissenschaftstheoretischer Fragen –
der Analyse und der Präzisierung der verwendeten Sprachen171. Frege, einer der größten Logiker aller Zeiten,
der erstmals die aristotelische Logik ausweitete, sah es als eine Aufgabe der
Philosophie an, "die Herrschaft des Wortes über den
menschlichen Geist zu brechen, indem sie die Täuschungen aufdeckt, die durch den
Sprachgebrauch über die Beziehungen der Begriffe oft fast unvermeidlich entstehen,
indem sie den Gedanken von demjenigen befreit, womit ihn allein die Beschaffenheit
des sprachlichen Ausdrucksmittels behaftet. [...] So besteht denn ein großer Teil der Arbeit des Philosophen – oder
sollte wenigstens bestehen – in einem Kampf mit der Sprache". Wittgenstein formuliert 1931: "Wir stehen
im Kampf mit der Sprache" und "alle
Philosophie ist Sprachkritik".
|
In der Beschäftigung mit dem Phänomen Sprache sind bezüglich
des Altertums drei Perioden zu unterscheiden:
|
– |
klassische (=griechische, bis zu Alexanders Tod 323), sie ist
dominiert von Platon und Aristoteles |
– |
hellenistische (bis zur Schlacht von Actium 31) mit den Zentren
Alexandria und Pergamon und
|
– |
die kaiserzeitliche, in der sich auch eine lateinisch-römische
Tradition entwickelt.
|
|
Da die Behandlung des Themas Sprache bei Platon und bei Aristoteles das gesamte weitere Denken zutiefst beeinflusst hat, ist es
unumgänglich, ihre Überlegungen an dieser Stelle anzuführen172.
|
|
Die Beschäftigung mit den Regeln des Sprachbaues, des
richtigen Sprachgebrauches scheint mit den Sophisten eingesetzt zu haben und
führte zur Entstehung einer frühen Theorie der Rhetorik; man erstellt Regeln für
den rhythmischen Satzbau, Worterklärungen, Etymologie und Synonymik werden
entwickelt – Gorgias und Prodikos vor allem sind hier zu nennen. Weit darüber hinaus gehen dann
Platon und Aristoteles173.
|
In diese Zeit existiert noch noch keinerlei Differenzierung von
Srachwissenschaft oder Philologie174 von der Philosophie; nahezu alle uns bekannten Philosophen
haben auch zur Diskussion über Sprache beigetragen. Eine Differenzierung tritt
erst im Rahmen der alexandrinischen Periode um 200 vChr ein.
|
Als Begründer des Studiums der Grammatik kann
Protagoras angesehen werden; er unterscheidet in einer Schrift über die
Grammatik Substantiva und Genera, Verba und Zeiten; weiters kannte er vier
Satzformen – Frage, Antwort, Bitte, Befehl – und drei Wortgeschlechter. Zentrales
Thema ist bereits die Frage, ob der Bezug zwischen Wort und Sache auf Grund einer
Art natürlicher Übereinstimmung bestehe oder die bezeichnenden Worte auf
menschlicher Konvention beruhten. In der diesbezüglichen Diskussion vertritt Demokrit die Auffassung von der willkürlichen Setzung der Namen – d.h.
die nominalistische Position im späteren Universalienstreit – mit folgenden
Argumenten:
|
– |
es gebe verschiedene Dinge, die dieselbe Bezeichnung
hätten
|
– |
umgekehrt gebe es für eine Sache mitunter mehrere
Bezeichnungen
|
– |
die Namen könnten sich verändern |
– |
für manche Dinge gebe es überhaupt keinen passenden
Namen.
|
|
|
Platon ist der Begründer der Sprachphilosophie. In seinen Dialogen
„Kratylos“, „Theaitetos“ und „Sophistes“ sowie in seinem (hinsichtlich der
Echtheit nicht unproblematischen) siebenten Brief handelt er eingehend von der
Sprache.
|
In Kratylos erörtert Platon ausführlich die Frage der Natur und der „Richtigkeit“ der Namen
(d.h. der Bezeichnungen von Dingen), das Verhältnis von Wort und Sache175. Wesentlich ist die Feststellung, daß es keinen anderen Zugang
zu den Dingen, zum Seienden gebe als über die Worte, über die Sprache; allein über
die Sprache könne gelernt, erforscht und entdeckt werden – „Der Kratylos kann als das erste uns erhaltene ausführliche Dokument
sprachphilosophischer Reflexion in seiner Bedeutung kaum überschätzt
werden“176.
|
In Theaitetos befaßt sich Platon eingehend mit der Frage nach dem Wesen des Wissens und der
Erkenntnis. In diesem Zusammenhang erörtert er die Problematik der Wahrnehmung, da
Wissen ja auf Wahrnehmung beruhe, Wahrnehmung sei. Platon stellt fest, daß die Wahrnehmung durch die Sinne den Menschen wie
den Tieren zukomme, daß aber die hinsichtlich der Wahrnehmungen zu erwägenden
Bezüge nur für den Menschen und für diesen nur durch Mühe und Unterricht zu
gewinnen seien: Ohne zum Sein zu gelangen, könne man Wahrheit und Wissen nicht
erreichen. Da die Sinne nicht zum Sein gelangten, könne es in der unmittelbaren
sinnlichen Wahrnehmung kein Wissen geben; wohl aber gebe es Wissen, das in den an
die Wahrnehmung anschließenden „Zusammenrechnungen“ der Seinbezüge, die die Seele
vollziehe, – also in der geistigen Verarbeitung des Wahrgenommenen – erwachse. Da
ein derartiger Prozeß nur mit Hilfe der Sprache bewerkstelligt werden könne, wird
das Denken von Platon als ein Gespräch verstanden, das die Seele mit sich selbst führe
über das, was sie erforschen will. Dieses Selbstgespräch der Seele vollziehe sich
im Fragen und Antworten und bedarf der Sprache.
|
Um diesen Prozeß zu klären, ist es notwendig zu definieren, was der
logos (hier: Satz) sei, der aus Nomina und
Verben bestehen müsse; diese Frage wird im Dialog Sophistes geklärt. Zuvor aber
sei der Frage nachzugehen, was es mit dem „Irrtum“ auf sich habe (hier geht es um „wahre“ und „falsche“ Rede, falsche Rede ist
an sich unmöglich, wenn Falsches Nichtseiendes sein soll). Platon weist nach, daß es bei der Erklärung des Irrtums nicht um das
Nichts schlechthin gehe, sondern um die Idee der Verschiedenheit bzw. des
Andersseins, nämlich um das Nichtsein als Verschiedensein, das alles Seiende
mitbestimme, indem es nämlich angebe, daß etwa das Objekt „Anderes“ nicht ist: es
wird etwas in dem, was es ist, nur offenbar, soferne es anderes nicht ist177. Der
Satz wird schließlich definiert als eine Verknüpfung von Wörtern, denen eine
Verknüpfung von Ideen entspricht. Mit seiner Definition des Satzes hat Platon den Anfang einer langen grammatischen Tradition gesetzt, deren
Bedeutung kaum überschätzt werden kann178.
|
Platon setzt die Gesetzen des Denkens in Beziehung zur Sprache und macht
damit den Anfang zur Grammatik in einem engeren Sinne – einer Grammatik als
Wissenschaft und Theorie über Sprache und deren Struktur. Er steht aber auch am
Beginn von Kritik und (Real-)Exegese, der Hermeneutik, der Erläuterung des Sinnes,
des Inhalts der Dichtung, dessen, was der Dichter eigentlich habe sagen wollen.
Dabei wird im Weiteren die Auseinandersetzung mit Homer wesentlich, an dessen Werk sich ja später auch die Entwicklung der
Textktritik in einem engeren Sinne entzündet.
|
Im Timaios vertritt Platon in Zusammenhang mit der Aussagen über bestimmte
Erkenntnisbereiche die Auffassung, daß die Rede etwas von dem Charakter dessen
annehme, wovon sie handle und damit im Weiteren auch hinsichtlich der Gewissheit,
die sie vermittelt: „daß die Reden, da sie eben dem, was sie erläutern, auch verwandt
sind, daß die, die sich also mit dem Beharrlichen, Dauerhaften, auf dem Wege der
Vernunft Erkennbaren befassen, beharrlich und unveränderlich sind – soweit es
möglich ist und es Reden zukommt, unwiderlegbar und unbesiegbar zu sein, so darf
man daran nichts vermissen lassen -, daß aber die Reden, die sich mit dem
befassen, was nach jenem gebildet ist und ein Abbild ist, nur wahrscheinlich und
jenem entsprechend sind. Wie das Sein zum Werden, so verhält sich die Wahrheit
zum Glauben. Wenn es uns also, Sokrates, in vielen Dingen über vieles – wie die
Götter und die Entstehung des Weltalls – nicht gelingt, durchaus und durchgängig
mit sich selbst übereinstimmende und genau bestimmte Aussagen aufzustellen, so
wundere dich nicht. Man muß vielmehr zufrieden sein, wenn wir sie so
wahrscheinlich wie irgendein anderer geben, wohl eingedenk, daß mir, dem
Aussagenden, und euch, meinen Richtern, eine menschliche Natur zuteil ward, so
daß es uns geziemt, indem wir die wahrscheinliche Rede über diese Gegenstände
annehmen, nicht mehr über diese hinaus zu suchen.“179.
|
|
Aristoteles hat kein spezifisch
sprachphilosophisches Werk hinterlassen, ist aber insoferne auch in diesem Bereich
von großer Bedeutung, als er sich in einigen seiner Werke mit zentralen Fragen der
Sprache beschäftigt hat, und das vor allem unter dem Aspekt der Logik. Am
wichtigsten sind seine Äußerungen in den Anfangskapiteln (1-5) der Schrift „Peri
hermeneias“ (lat. „De interpretatione“), die als Ganzes eine Wesensbestimmung der
Sprache darstellen. Das Werk beginnt mit der Feststellung:
|
„Zuerst muß festgelegt werden, was
Nennwort und was Sagewort, sodann was Verneinung, Bejahung, Aussage und Satz
ist. |
Nun sind die stimmlichen
Verlautbarungen Symbole der ‚Erleidnisse in der Seele’ und das Geschriebene ist
Symbol des in der Stimme Verlautbarten. Und wie die Buchstaben nicht für alle
dieselben sind, so sind auch die Verlautbarungen [so sind auch die
Sprachen] nicht bei allen dieselben. Das aber,
wofür diese [Buchstaben und Verlautbarungen]
an erster Stelle Zeichen sind, nämlich für die Erleidnisse der Seele, diese sind
für alle dieselben; und die Dinge, wovon diese Erleidnisse Abbilder sind, sind
ebenfalls dieselben“.
|
Neben „Peri hermeneias“ steht die „Poetik“ als ein für die Theorie der Sprache wie der Literatur höchst
wichtiges Werk. In Kapitel 19 der Poetik geht Aristoteles auf die sprachlichen Formen als Gegenstand
wissenschaftlicher Untersuchung ein: "die Arten der
Aussage ..., wie z.B., was ein Befehl ist und was eine Bitte, ein Bericht, eine
Drohung, eine Frage und eine Antwort, und was es sonst noch an derartigen gibt.
Wegen der Kenntnis oder Unkenntnis in diesen Dingen kann man der Dichtkunst
allerdings keinerlei Vorwurf machen, der der Rede wert wäre. Denn was soll man
schon für einen Fehler in dem erblicken, was Protagoras rügt, daß der Dichter
[Homer], in der Meinung, eine Bitte
auszusprechen, in Wahrheit eine Weisung gebe, wenn er sagt: 'Singe, Göttin, den
Zorn' ...". Im Kapitel 20 definiert er die einzelnen Teile von Sprache und
Schrift:
|
"Die Sprache überhaupt gliedert sich
in folgende Elemente: Buchstabe, Silbe Konjunktionen, Artikel, Nomen, Verb,
Kasus, Satz. |
Ein Buchstabe ist ein unteilbarer Laut, nicht jeder
beliebige, sondern ein solcher, aus dem sich ein zusammengesetzter Laut bilden
läßt. Denn auch Tiere geben unteilbare Laute von sich, von denen ich jedoch
keinen als Buchstaben bezeichne.
|
Die Arten der Buchstaben sind der
Vokal, der Halbvokal und der Konsonant. Ein Vokal ist, was ohne Gegenwirkung der
Zunge oder der Lippen einen hörbaren Laut ergibt; ein Halbvokal ist, was mit
einer solchen Gegenwirkung einen hörbaren Laut ergibt, wie das S und das R; ein
Konsonant ist, was mit dieser Gegenwirkung für sich keinen Laut ergibt, wohl
aber in Verbindung mit Buchstaben hörbar wird, die für sich einen hörbaren Laut
ergeben, wie das G und das D. Diese Buchstaben unterscheiden sich je nach der
Formung des Mundes und nach der Artikulationsstelle, nach der Aspiration und
deren Fehlen, nach Länge und Kürze, ferner nach Höhe, Tiefe und mittlerer Lage.
Diese Dinge im einzelnen zu untersuchen, ist Aufgabe metrischer
Abhandlungen." In der Folge definiert Aristoteles in der Poetik die weiteren Teile der Rede: Silbe,
Konjunktion, Artikel, Nomen, Verb, Kasus (darunter versteht er alle
Flexionsformen, auch die des Verbums).
|
Aristoteles wird mitunter als der erste Grammatiker bezeichnet. Er hat
sich mit Fragen auf allen Gebieten beschäftigt: Interpunktion, Akzente, einfachste
Sprachelemente, Komposition, Etymologie, Synonymik etc. Neben seiner Poetik steht
eine Rhetorik, an der er zumindest von 335 an bis zu seinem Tod gearbeitet hat,
die viel gerühmt wurde, uns aber leider nicht erhalten ist180.
|
Die wesentlichen Aussagen finden sich jedoch in Peri hermeneias.
Sprachliche Kommunikation ist nach Aristoteles möglich, weil die Wörter, die er als sprachlichen Symbole versteht, auf etwas verweisen, was allen
Menschen gemeinsam und gleich ist: die „Erleidnisse
der Seele“, die nämlich Abbilder derselben Dinge sind. Unterschiedliche
Sprachen verhindern nicht die Gemeinsamkeit im Wahrnehmen und im Denken.
|
Eingehend hat Aristoteles in der Folge das Wesen des Nennwortes (= Substantiv) und des
Sagewortes (=Verb) definiert, wobei letzteres stets eine Aussage über die Zeit
enthalte und eine Aussage über etwas anderes – „Sokrates läuft“. Das vom Verb
angezeigte Laufen wird dem Sokrates als dem Zugrundeliegenden mit Bezug auf die
Gegenwart zugesprochen. Anschließend definiert er den logos = Satz, hier besser: Rede. Aristoteles analysiert auch eingehend die Frage der wahren und der
falschen Rede und stellt fest: Wahrsein oder Falschsein gibt es nur dort, wo etwas
mit etwas verbunden oder etwas von etwas getrennt wird. „Mensch“ oder „weiß“ ist
weder wahr noch falsch; erst das Hinzutreten einer Aussage über Sein oder
Nichtsein, ein „Sagewort“, läßt den Zustand wahr oder falsch eintreten. Hier geht
Aristoteles wesentlich über Platon hinaus, indem er feststellt, daß das Wesen der Sprache überhaupt
erst im logos, im Satz als Wortgefüge, erfaßt werden könne – und nicht schon in
den einzelnen, isolierten Worten für sich. Damit führt Aristoteles die Sprache gewissermaßen der Logik zu – die Frage nach dem
Wesen der Sprache ist bei ihm nicht mehr die Frage nach der Richtigkeit der
Benennung, sondern nur noch die Frage nach dem Wahrsein oder Falschsein des
Satzes! Diese Auffassung hat die gesamte weitere
Entwicklung der Sprachphilosophie bis in die Neuzeit bestimmt und die Sprache
wesentlich als ein logisches Instrument begreifen lassen. Die Sprache kommt
„unter das Joch der Logik“ (Hennigfeld).
|
Durch die auf die innere Schlüssigkeit der Aussagen abzielenden
Untersuchungen des Aristoteles verlieren die durch Platon im Kratylos diskutierten Fragen wesentlich an Gewicht, ja die von
Kratylos vertretene Auffassung der naürlichen Richtigkeit der Benennung erweist
sich als irrig. Die Verständigungsleistung der Wörter wird nicht durch abbildende
Nachahmung erzielt, sondern durch den in langer Tradition gefestigten Bezug des
Symbols zur Sache (über die Vermittlung der seelischen Eindrücke – Erleidnisse).
Es wird damit auch bei Aristoteles in der den Wörtern und in der Sprache das naturhaft und
insoferne vom Menschen unabhängige Sein der Dinge offenkundig – aber eben nur im
Wege der Vermittlung und nicht aus einer natürlichen Richtigkeit der Sprache
heraus, wie sie im Kratylos vertreten wird. Für Aristoteles sind in der Sprache Vernunft und Absicht des Menschen am
Werk181.
|
Aristoteles bildet den Übergang von der rein sprachphilosophischen
Behandlung dieser Fragen zu einer mehr empirisch bestimmten Auseinandersetzung mit
den Problemen, wie sie dann für die Alexandriner selbstverständlich wird. Homer ist wichtiger Ansatzpunkt, viele der bei ihm verwendeten Worte
bedürfen bereits der Erklärung; Aristoteles weist den Weg zur wissenschaftlichen Homer-Philologie.
|
Die bei Platon und bei Aristoteles geleisteten Analysen hinsichtlich der Sprache sind Aussagen,
die über nahezu zwei Jahrtausende die Wissenschaftstheorie mitbestimmt haben und
die heute noch mit großer Intensität diskutiert werden. Des Aristoteles Kanon der Redeteile ist bis in die Neuzeit hinein kaum
wesentlich verändert worden.
|
Schüler des Aristoteles haben dessen Richtung vor allem in Alexandria fortgesetzt. Es sind die Peripatetiker
aber allesamt schließlich von den Vertretern der Stoa
in Pergamon übertroffen worden.
|
|
Platon hat, wie gezeigt, eine Wechselbeziehung zwischen der Bezeichnung
und dem Bezeichneten postuliert, indem er die Bezeichnung als Ausdruck einer über
der sinnlichen Welt anzusiedelnden Idee betrachtete. Dieser Bezug zwischen
Bezeichnung und Bezeichnetem ist als Aspekt von der Auffassung der Welt in der
mittelalterlichen Auseinandersetzung mit Sprache und in der Erkenntnisarbeit
überhaupt zu einem zentralen und intensiv diskutierten Thema geworden, das als
Universalienproblem bezeichnet wird, das sich – in der Terminologie der
scholastischen Sprachphilosophie – auf das Verhältnis zwischen den modi essendi und den modi significandi bezieht – ein wesentliches
sprachphilosophisches Problem des 13. Jhs.
|
Es ist diese Frage vor allem durch die durch Boethius weitergreichte Eisagoge des
Porphyrios
von
Tyros tradiert worden, der Kommentare zu Platon und zu Aristoteles verfasst hatte, darunter eben auch die für das Mittelalter
so bedeutende (E)Isagoge, ein Standardwerk zur Einführung in die Kategorienlehre
des Aristoteles über Jahrhunderte, in dem die Frage der Universalien
aufgeworfen, aber nicht behandelt wird (s.w.o.): Aristoteles habe Platon vorgeworfen, daß er so scharf das Allgemeine vom Besonderen
getrennt habe; Porphyrios schreibt im – sehr kurzen – ersten Kapitel182: „Mox de generibus ac
speciebus illud quidem, sive subsistunt, sive in solis nudisque intellectibus
posita sunt, sive subsistentia corporalia sunt an incorporalia, et utrum
separata a sensibilibus ac in sensibilibus posita ac circa ea constantia, dicere
recusabo“ („Was, um gleich mit diesem anzufangen, bei den Gattungen und
Arten die Frage angeht, ob sie etwas Wirkliches sind oder nur auf unseren
Vorstellungen beruhen, und ob sie, wenn Wirkliches, körperlich oder unkörperlich
sind, endlich, ob sie getrennt für sich oder in und an dem Sinnlichen auftreten,
so lehne ich es ab, hiervon zu reden, da eine solche Untersuchung sehr tief geht
und eine umfangreichere Erörterung fordert, als sie hier angestellt werden kann),
und setzt fort: „Dagegen will ich, was über sie und
die anderen hier vorgenannten Kategoreme die Alten und besonders die
Peripatetiker mehr in logischer Weise vorgetragen haben, dir jetzt zu erklären
suchen“183. Porphyrios stellte damit drei Fragen zur Diskussion:
|
– |
Sind die universalia,
d.h. Gattungen und Arten (z.B. Lebewesen, Mensch), die wir durch unsere
allgemeinen Begriffe ausdrücken, wirkliche, reale materiale oder immateriale
„Sachen“ oder nur Denkgebilde in unserem Geiste?
|
– |
Wenn sie wirklich „Sache“ sind, sind sie dann Körper oder
Geister?
|
– |
Existieren dann diese Körper oder Geister in den wirklichen
Dingen selbst oder getrennt von ihnen?
|
|
Für Platon war es klar gewesen: universalia
ante rem! Aristoteles hatte die Position universalia in re bezogen. Avicenna – das Universalienproblem gab es natürlich auch in der
arabischen Philosophie – lehrte schließlich, daß von den Universalien ein
Dreifaches ausgesagt werden könne:
|
1) |
Sie seien, im göttlichen Verstande, vor (d.h. existent und unabhängig von) den
Einzeldingen
|
2) |
in bezug auf die Verkörperung in der Wirklichkeit in den Dingen
|
3) |
in den Köpfen der Menschen als von ihnen gebildete Begriffe
nach den Dingen.
|
|
Diese Position hat im Wesentlichen auch Albertus
Magnus eingenommen.
|
Die Frage an sich – die ja allein von Porphyrios her an die tausend Jahre und an sich seit Platon, also
insgesamt mehr denn 1500 Jahre hindurch anhängig war – war natürlich auch religiös
belegt, da sie ja auch als Aussage über das Verhältnis Gottes zum Irdischen
interpretiert werden konnte, mußte und wurde.
|
Die Diskussion des Universalienproblems und seine Überwindung durch
den Nominalismus bzw. den Occamismus (universalia
sunt nomina) ist ein die Philosophie des Mittelalters maßgeblich
bestimmender Prozess, der erst im 14. Jh zugunsten des Nominalismus entschieden
worden ist.
|
|
Hinsichtlich der Frage, inwieweit man bewusst und
systematisch forschend vorgegangen ist, ist zwischen verschiedenen Stufen von
„Forschung“ zu differenzieren:
|
– |
reine Beobachtung ohne jegliche Intervention (die ja nicht
immer möglich ist, z.B. Astronomie)
|
– |
Beobachtung mit Intervention > Experiment –
trial-and-error-Verfahren
|
– |
Zielgerichtetes Vorgehen hin auf ein definiertes Ziel |
– |
Deskription |
|
Es ist klar, dass diese Verfahren in einander übergehen und
nicht durchwegs isoliert zu sehen sind. Es gibt keine Beobachtung oder Beschreibung
ohne irgendeinen theoretischen Hintergrund. Ein sehr bewusster Akt ist allerdings
die Entwicklung von spezifischen Methodologien zum Zwecke der Forschung, die z.B.
den empirischen Daten eine genau definierte Rolle zuweist.
|
Es lassen sich hinsichtlich dieser Problematik drei Perioden erkennen:
die Zeit vor Aristoteles, Aristoteles selbst, die Zeit nach Aristoteles.
|
In der Zeit vor Aristoteles gibt es erhebliche Skepsis gegenüber dem Augenschein,
andererseits aber auch die positive Bewertung des Forschens – Xenophanes: „Die Götter haben den Menschen
nicht gleich am Anfang alles enthüllt, sondern im Laufe der Zeit finden diese
suchend das Bessere“. Aktive empirische Erhebung ist selten. Xenophanes bezieht sich (einer zeitlich späteren Quelle zufolge) auf
Meeresfossilien in Steinbrüchen. Ein gesichertes Beispiel sind aber einzelne
Experimente der Pythagoräer in der Harmonik; etliche der in späteren Quellen
überlieferten Experimente hätten freilich, wären sie tatsächlich angestellt worden,
gar nicht zu den angeblichen Ergebnissen geführt. Jedenfalls hat die Vorstellung,
dass „alles Zahl ist“ (vermutlich war damit die Möglichkeit des numerisch
Ausdrückens gemeint), der Stimulus für die Erforschung der Harmonik und der
Tonleitern gewesen. Derartige Forschungen wurden als „peri physeos historia“ bezeichnet (Nachforschung über die Natur). Die
Arbeiten der Historiker Herodot wie Thukydides sind unzweifelhaft Produkte umfangreicher Forschung. Noch mehr
trifft das natürlich auf medizinischen Untersuchungen zu, wie sie uns im Corpus
Hippocraticum und in zahlreichen minutiösen sich über Wochen erstreckenden
Krankengeschichten überliefert sind. Es sind dies die ältesten Beispiele
kontinuierlich durchgeführter Forschung. Allzuoft bleibt es allerdings bei der
Deskription, auf die dann reine Spekulation folgt184.
|
Aristoteles erst geht über die speziellen Interessenbereiche hinaus und
schafft „eine allgemeine Methodologie, die der
Sammlung und Bewertung dessen, was er die phainomena nennt, eine wichtige und klare Funktion zuweist“185,
wobei der Begriff phainomenon nicht mit unserem
heutigen Wortinhalt gleichzusetzen ist. Obgleich Aristoteles im Prinzip Platon zustimmt und das Singulare als Singulare nicht wirklich als Objekt
wissenschaftlicher Betrachtung akzeptiert, geht für Aristoteles die Forschung von den phainomena, von den Singularien aus, d.h. es werden Aussagen über das
Allgemeine induktiv aus Aussagen über das Besondere gewonnen, und es wird ihnen ein
hoher Stellenwert zugeschrieben. Ganz besonders deutlich wird das in den
naturwissenschaftlichen Werken. So schreibt Aristoteles bezüglich der Bienen: „Auf
diese Weise scheint also die Zeugung der Bienen vonstatten zu gehen, wenn man nach
der Theorie [logos] und den angeblich
gesicherten Tatsachen über die Insekten urteilt. Die Tatsachen sind aber nicht
hinreichend bekannt, und wenn sie es eines Tages sein werden, wird man mehr der
Wahrnehmung als den Theorien vertrauen müssen, und letzteren nur insoweit das, was
sie zeigen, mit dem in Einklang steht, was der Fall zu sein scheint“. Dies
ist gewissermaßen die Grundlage für alle Wissenschaft im heutigen Sinne.
|
Nach Aristoteles setzt eine erste Differenzierung wissenschaftlicher Bereiche
untereinander und aller von der Philosophie ein. Einzelne philosophische Schulen
messen den unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Bedeutung bei.
|
In zwei Bereichen sind langfristige und systematisch fortführende
Untersuchungen angestellt, „Forschungsprogramme“ verfolgt worden: in der Astronomie
und in der Optik. In der Astronomie geht es um die Erstellung von Sternenkatalogen,
zu deren Anfängen vermutlich babylonische Aufzeichnungen beigetragen haben, berühmt
ist Hipparchs Katalog, der dann von Ptolemaios verwertet und erweitert wird, sowie um die Bestimmung der
Planetenbahnen. In der Optik hat ebenfalls Ptolemaios exakte Messungen und Versuchsreihen durchgeführt und ein
allgemeines Brechungsgesetz eruiert.
|
Indem in der Medizin das Sezieren tierischer und nicht allzu häufig
auch menschlicher Leichen und möglicherweise sogar Vivisektionen an Gefangenen
vorgenommen worden sind, sind auch die Kenntnisse der Anatomie systematisch
vorangetrieben worden. Gleichwohl lehnten die beiden großen medizinischen Schulen
der Empiriker und der Methodiker die Sektionen ab, weil sie nichts über die
Verhältnisse am Lebenden aussagten. Es gab aber immer wieder öffentliche Sektionen
(z.B. die eines Elefanten durch Galen
in Rom), bei denen die Mediziner die Ergebnisse prognostizierten und diesbezüglich
auch Wetten abgeschlossen wurden – dabei ging es natürlich primär um Werbung und
Publicity.
|
Insgesamt handelt es sich in der Antike zeitweise doch um über längere
Zeiträume hin einigermaßen kontinuierliche Forschungsprozesse, wenngleich auch nicht
über Individuen hinaus systematisch strukturiert mit konkreten definierten
Zielsetzungen, wie das heute meist der Fall ist. Und es war auch nicht so, dass die
empirische Forschung damit damals schon zu einem anerkannten Prinzip der
Naturwissenschaft geworden wäre.
|
Galen
beschreibt den Forschungsprozeß, indem er den Mediziner Erasistratos zitiert: „Diejenigen, die
nicht gewohnt sind zu forschen, sind schon in ihren ersten Arbeiten blind und
gedankenlos und geben die Forschung aus geistiger Erschöpfung und Ohnmacht sofort
wieder auf, die nicht geringer ist als die von Läufern, die an Wettläufen
teilnehmen, ohne dafür trainiert zu haben. Derjenige aber, der das Forschen
gewohnt ist, setzt alle möglichen Tricks ein, wenn er seine geistige Forschung
betreibt; er dreht sich in alle Richtungen, und weit davon entfernt, nach einem
Tag aufzugeben, setzt er seine Forschung sein ganzes Leben lang fort. Er prüft
nach einander alle Ideen, die sich auf den Gegenstand seiner Forschung beziehen,
und gibt nicht auf, bis er sein Ziel erreicht hat“186.
|
|
Schon im 1. Jh vChr setzte ein deutliches Nachlassen der
wissenschaftlichen Betätigung und der schöpferischen Kraft ein. Wohl gab es noch im
3. Jh nChr Spitzenleistungen – es sei nur auf Diophant
verwiesen – und noch im 4. Jh bestand in Alexandria die Tradition des Museions, dessen
Ausläufer bis in die Zeit nach der Eroberung der Stadt durch die Araber 642
hinüberreichten, doch konnten sich die Aktivitäten jener Zeit bei weitem nicht messen
mit jenen in der Hochblüte des Hellenismus. Religiöse und soziale Spannungen und
schließlich die arabische Expansion bewirkten wohl nicht ein völliges, aber doch
weitgehendes Erlöschen der über Jahrhunderte gepflegten Tradition, von der eher die
technsich-handwerklich-praktischen Elemente weiterlebten als die feinsinnige
philologische oder die hochqualifizierte mathematisch-naturwissenschaftliche Arbeit.
|
Mehr ließen die schöpferischen Aktivitäten im Westen nach, wo es Zentren
wie Alexandria oder Pergamon nicht gegeben hatte und wo die Beunruhigung im Zusammenhang
mit den religiösen Veränderungen und mit dem Einsetzen der Völkerwanderung mit ihren
Umbrüchen die überkommenen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen
zerstörte und das geistige Leben weitgehend zum Erliegen brachten, während im Osten
einerseits längerhin die Kontinuität bewahrt und andererseits früher als im Westen
effiziente neue Herrschaftsstrukturen entstanden, in denen wissenschaftlich-kulturelle
Aktivitäten hoch geschätzt wurden.
|
|
An sich stand das Christentum der Philosophie und damit der
Wissenschaft skeptisch gegenüber. Man kam aber im Zusammenhang mit den Bestrebungen
der Ausweitung des christlichen Einflusses nicht umhin, ein gewisses Maß an
Wissenschaft zu betreiben, um bildungsmäßig überhaupt mit dem auslaufenden „Heidentum“
Schritt halten zu können.
|
Das Christentum entwickelt vorerst keine eigene Philosophie. Jesus von
Nazareth war kein Philosoph, ebenso wenig waren es die Apostel. Die
Philosophie, die das Denken bis in das 11./12. Jh beherrschte, war auf grund der
Wirksamkeit des Augustinus der Platonismus. Dem entsprechend haben sich auch die frühen
Christen bemüht, die Verträglichkeit der christlichen Lehre mit dem Platonismus zu
erweisen – so wie man sich im 13. Jh bemüht, die Verträglichkeit des Aristotelismus
mit der christlichen Philosophie der Scholastik nachzuweisen. In der
Auseinandersetzung mit den Gnostikern187
wird die griechische Philosophie durch die christlichen Autoren in den Apologien
verteidigt, gerügt wird nur deren mißbräuchliche Verwendung durch gnostische
Häretiker188.
|
Früh wird allerdings die Notwendigkeit, ja die Unumgänglichkeit von
Philosophie für eine christliche Theologie betont. Der lateinische Autor Titus Flavius
Clemens (140/150-215) argumentierte damit, daß allein schon die von Gott
gegebene Vernunft den Menschen zur Philosophie führe, es sei ja auch der göttliche
Logos Archetyp des menschlichen Geistes. Clemens führt die von Philon von
Alexandria aufgebrachte Vorstellung fort, daß die griechische Philosophie
durch Moses initiiert worden sei, der als Lehrer des Pythagoras fungiert habe, der
seinerseits Platon ausgebildet habe. Diese Vorstellung erleichterte natürlich die
Akzeptierung der platonischen Philosophie als einer quasi genuin protochristlichen
Philosophie ungemein. Damit wurde die Kluft zwischen Athen und Jerusalem geradezu
negiert.
|
Alexandreia blieb zwar weiterhin ein Zentrum, auch nachdem die große
Bibliothek in Alexandreia durch evrschiedene Ereignisse wesentlich reduziert worden
war: neben die paganen Institutionen des Museions, des Serapeions189 trat zu Ende des
2. Jhs eine christliche Katechetenschule, an der u.a. Origines gelehrt hat, und ähnliche kleinere Institutionen dürften sich in
den frühen östlichen christlich-klösterlichen Gemeinschaften herausgebildet haben, die
wohl ihren Anteil an der Tradierung des antiken Wissensgutes haben haben dürften.
Dennnoch verfiel „die zivilisierte Welt in eine
auffallend antiexperimentelle Geisteshaltung, so daß Denker wie Plutarch sich angesichts eines praktisch
entscheidbaren Problems auf das Studium von Auctores und Auctoritates verlegen, ohne
auch nur die Möglichkeit eines Experimentes in Erwägung zu ziehen“190. Die schulplatonische Philosophie zeigt
außerdem wenig Interesse an erkentnistheoretischen Fragen; Physik und mehr noch Ethik
treten in den Vordergrund.
|
Der Prozeß, der sich von der Zeitenwende bis auf Cassiodor und Boethius vollzieht, ist der der Verchristlichung Platons
und all der vielfältigen anderen philosophischen Richtungen, die im Neuplatonismus
(s.o.) aufgesogen und verarbeitet werden, der die wichtigste, für das Mittelalter
folgenreiche geistige Strömung ist. Plotin
entwickelt die Vorstellung vom Einen als dem Höchsten, das über dem Sein ist und in
seiner überströmenden Fülle den Geist ausströmt, in dem erst Vielheit zu finden ist.
Aus dem Geist geht die Weltseele hervor und aus dieser die einzelnen Menschenseelen.
Aus den Seelen entstammt das Sinnliche, das allein wirklich ist. Die Materie ist die
Grenze zum Wirklichen und ist bereits das Prinzip des Bösen. Das Böse und die
Finsternis ermöglichen das Gute und das Licht. Der Leib ist Kerker und Grab der Seele,
die sich aus ihm befreien und zum Einen hinwenden will. Es sind dies durchwegs
Vorstellungen, die mit dem Christentum vereinbar waren und dieses auch mit geprägt
haben.
|
Auf Porphyrios
von
Tyros und seine für das Mittelalter so bedeutende Eisagoge ist bereits
hingewiesen worden. Die dem Christentum zugehörigen oder wenigstens nahestehenden
Philosophen – Origines bis Boethius – sind selbstverständlich der Spätantike zuzurechnen und nicht etwa
dem Mittelalter; Boethius allerdings steht insoferne wirklich an der Grenze zum Mittelalter,
als er in vielfältiger Hinsicht als Übermittler tätig und wirksam ist.
|
In der Entwicklung der christlichen Philosophie des
Mittelalters sind zwei Perioden zu unterscheiden:
|
– |
die Patristik von den Anfängen
des Christentums bis in das 6./7. Jh
|
– |
die Scholastik von der
karolingischen Renaissance bis zur humanistischen Renaissance
|
|
Diese Periodisierung soll hier unserer Betrachtung des
Mittelalters überhaupt zugrundegelegt werden.
|
|
Erst im 7. und mehr noch im 8. Jh sind – nachdem die paganen
Schulen untergegangen und mühsam die klösterlichen Schulen Fuß gefasst und mit der
Erkundung dessen begonnen hatten, was man vom untergangenen Wissen noch zu erahnen
mochte – im lateinischen Abendland wieder Bemühungen um Erkenntnis und Wissenschaft
registrierbar. Die Grundlagen, auf denen man aufzubauen bemüht war, waren freilich
höchst dürftig im Vergleich zu dem, was einst zur Verfügung gestanden hatte.
|
Die direkte Überlieferung ist es, was im Grunde genommen das Abendland an
die Antike anschließen ließ. Es waren dies:
|
– |
im Rahmen der im Großen wirkenden Kräfte die durch das römische
Reich ausgebildeten und dieses überdauernden lokalen politischen und
organisatorischen Strukturen und
|
– |
das römische Recht. |
als |
neu trat hinzu die Kirche, die aber doch in vielem an die durch
das römische Imperium – in dem sie sich schließlich entwickelt hat – vorgegebenen
Gegebenheiten angeschlossen hat. Die Kirche hat in zunehmendem Maße eine
Umschichtung der Bildungswerte bewirkt – es ist nun aber nicht mehr Bildung, was der
römische Verwaltungsbeamte benötigt, sondern das, was ein guter Christ wissen soll.
|
|
Hinsichtlich der Ausbildung, des Schulwesens, als Faktor der
Kontinuität ist zu bemerken, dass der klassische Schulbetrieb auf der unteren und
mittleren Ebene niemals gänzlich untergegangen ist; der Aufstieg des Christentums war
dafür kein Hindernis. Eine Reihe von alten Zentren blieb bestehen, der relativ hohe
Grad der Schriftlichkeit beweist es zusätzlich – Mailand, Ravenna, Rom, Arles,
Narbonne, Lyon, Bordeaux, Cordoba sind Zentren. Grundlage der Ausbildung war meist
Donat,
gelehrt wurde Grammatik, Rhetorik und Dialektik. Grammatik war die "mater gloriosa facundiae quae cogitare novit ad laudem, loqui sine
vitio" oder "peritia pulchre loquendi ex poetis
illustribus auctoribusque collecta". Eine geistige Verarmung trat im Westen vor
allem durch das Abhandenkommen der Griechischkenntnisse mit dem Ende des 5. Jhs ein.
Griechischkenntnisse halten sich – außer natürlich in Unteritalien – nur in Rom und in
Ravenna sporadisch, obgleich man Kontakt mit dem Osten hatte und auch byzantinische
Beamte im Westen anwesend waren.
|
Vom 6. Jh an wächst der Einfluß der geistlichen Schulen – klösterliche,
bischöfliche Schulen und Pfarrschulen. Es entstehen neue Zentren, an denen
Bibliotheken und Scriptorien aufgebaut werden: Arles, Montecassino, Vivarium u.a.
Einige der Kloster- und Bischofsschulen wurden gewissermaßen die Samen für spätere
Universitäten, während die Pfarrschulen eher für den Nachwuchs an ländlichem Klerus
sorgten. Justinians "Pragmatische Sanktion" von 554, in der die Gehälter für die
Lehrer festgelegt waren, wirkte lange nach: "quatenus
iuvenes liberalibus studiis eruditi per nostram rempublicam floreant"; sie
sicherte das Fortbestehen der nichtchristlichen Schulen in Italien, vor allem in Rom
und in Ravenna und einstweilen auch die Tradition des weltlichen byzantinischen
Schulwesens im Westen.
|
Im 7. Jh aber gehen die letzten paganen Schulen unter, und die Kirche
wird damit praktisch die einzige organisatorische Potenz in Italien bzw. im Westen.
Wichtig ist, daß in Irland, das ja nie innerhalb des Romanum imperium gewesen war und
nie an der klassischen Kultur partizipiert hatte, die kirchlichen Institutionen sich
sehr rasch entwickelten. In England treffen das Römische und irische Missionare
aufeinander, die Iren gründen geistliche Schulen und leisten damit einen wesentliche
Beitrag zur Entwicklung mittelalterlichen Kultur. Damit setzt im ausgehenden 7. Jh und
im 8. Jh neuerlich geistiger Austausch in Westeuropa ein. So unterscheidet sich das,
was die jungen Leute in York oder in Canterbury lernen, nicht wesentlich von dem, was
in Bobbio, Luxeuil oder St. Gallen gelehrt wurde. Langsam wird auch das Griechische
wieder wahrgenommen (Ende des 7. Jh gibt es den ersten Nachweis, vereinzelter
Griechischkenntnisse in Britannien, durch aus dem griechischen Raum stammende Mönche),
die karolingische Renaissance baut sich auf.
|
Die Konstante in dieser Entwicklung sind die Lehre der Grammatik, die mit
der zunehmenden Diskrepanz zwischen dem geschriebenen klassischen und dem gesprochenen
Latein bzw. den entstehenden romanischen Nachfolgesprachen zunehmend benötigt wurde,
im Zuge des Unterrichts im Lateinischen als einer Fremdsprache, und der Kanon der artes liberales überhaupt. Wesentlicher Grundtext in
Sachen Grammatik waren Donats „Ars minor“ und die jüngeren „Cunabula grammaticae artis Donati“,
aber auch gelehrte Kompilantionen wie die „Glossa de partibus orationis“. Autoren von
grammatischen Schriften waren auch Beda
Venerabilis, Aldhelm und Bonifatius.
|
Auf die Erlernung des Latein folgte die Bibelexegese (nach ihrem
dreifachen oder vierfachen Gehalt) – dies war ein Entwicklungsstrang, der von sehr
frühen christlichen Schulen im Osten (4. Jh) herrührte; diese Schulen hatten ein sehr
hohes Niveau. In Byzanz gibt es eine Ausbildungsstätte, die in wechselhaftem Schicksal
von 425 bis 1453 besteht, die auf den artes
aufbaute und für die höheren Bereiche hellenistische Werke heranzog.
|
|
Zu den bedeutendsten Ereignissen der Geistesgeschichte der
Spätantike und zugleich auch für die Anfänge der Scholastik zählt die Wiederentdeckung
der Logik und dann der weiteren Schriften des Aristoteles, die durch den herrschenden Platonismus „verschüttet“ und
praktisch unbekannt waren. Man beginnt sich wieder mit den noch vorhandenen
Überlieferungen zu befassen – und zwar mit der sogenannten „Logica vetus“, die anfangs noch stark platonisiert ausgelegt wird;
doch nach und nach findet man zur eigentlich aristotelischen Auffassung zurück – dies
ist ein langer, bis in das 10. Jh sich hinziehender Prozeß, an dessen Beginn als eine
Art Geburtshelfer Boethius steht, der auch anderweitig eine
Mittlerfunktion eingenommen hat.
|
|
Eine das Mittelalter prägende Grundlage in Hinblick auf das
Verständnis von „Wissenschaft“ war der Kanon der septem
artes oder artes liberales. Er ist
maßgeblich bestimmt worden durch einen Autor, nämlich durch Martianus Capella, der
kaum datierbar ist (vermutlich 5. Jh). Von ihm ging die für das Mittelalter
bestimmende und auch von Boethius tradierte Fassung der septem artes
liberales aus, wie sie in seinem Werk „Satura – De nuptiis Philologiae et
Mercurii“ dargestellt ist und eine Art Encyclopädie ergibt, die im Mittelalter lange
als Lehrbuch gedient hat – die Handlung von „De nuptiis“ ist die einer an seinen Sohn
gerichteten Erzählung über die Hochzeit der (sterblichen) Philologia mit Merkur; für
ihre Apotheose in den Kreis der Götter erbricht Philologia ihre Gelehrsamkeit und
diese wird von den Musen Urania und Kalliope „aufgelesen“ und in die Sieben freien
Künste aufgeteilt, die dann als Hochzeitsgeschenk in Gestalt von sieben Jungfrauen
auftreten und in ausführlichen Reden ihre Lehrgebäude (und damit das Insgesamt von
Wissenschaft) darstellen. Martianus
Capella greift auf Varros „Disciplinae“ und auf zahlreiche griechische
Autoren (von denen keine lateinische Übersetzungen bekannt sind) zurück, sodaß das
Werke eine „eine bunte Melange aus Lehrbuchmaterial,
mythisch-allegorischen Partien, Prosa und Poesie, aus nüchternem und barockem Stil,
aus Ernsthaftem und Parodistischem“ darstellt.
|
Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist aber, dass durch Martianus
Capella mit den septem artes ein damals
schon seit längerer Zeit diskutiertes und wirksames Modell der Wissenschaft und vor
allem ein (schon klassisches) didaktisches Prinzip für ein Jahrtausend fortgesetzt
wird und gewissermaßen das „Rückgrat“ der abendländischen Bildung und Ausbildung vor
aller anderen Art von Lehre wird. Dieses Modell besteht aus zwei Teilen, deren erster
gewissermaßen die Philosophie und den Keim der Geisteswissenschaften enthält, während
der zweite die Mathematik und den Keim der Naturwissenschaften darstellt:
|
–
|
Trivium („Dreiweg“,
„Wortwissenschaften“ > Geisteswissenschaften): Grammatik, Dialektik,
Rhetorik
|
–
|
Quadrivium („Vierweg“,
„Zahlenwissenschaften“ > Mathematik und Naturwissenschaften): Arithmetik,
Geometrie, Astronomie, Musik
|
|
Die Bereiche der einzelnen Artes sind vielfältig und
wechselseitig ergänzend mit einander verknüpft und ergeben ein Ganzes, wobei der
Grammatik und der Musik (Sprache und Musik seien Eines) eine umfassende Rolle zukommt.
Apoll schlägt bei Martianus
Capella vor, auch die Medizin und die Architektur anzuhören, doch wird das
von den anderen Göttern verworfen, weil diese Bereiche "ihre Sorgen auf vergängliche Gegenstände und die Erfindungsgabe auf das Irdische
richten"191. Diese Auffassung ist
später von Thomas von
Aquin geteilt worden. Die Gliederung bei Martianus
Capella ist von Boethius und dann auch von Cassiodor übernommen worden. Im
Mittelalter haben sich die Inhalte dieser Disziplinen relativ weit von dem entfernt,
was man in der Antike darunter verstand und sind vielfach ebenso weit davon, was man
heute darunter versteht192, doch änderte dies nichts an der enormen Wirkung
dieses systematischen Konzepts. Zu Capellas Werk ist im Mittelalter eine Reihe von
Kommentaren verfasst worden, u.a. von Johannes Scotus
Eriugena; den maßgeblichen Kommentar verfasste Remigius von Auxerre (†
908), die erste Übersetzung ins Deutsche stammt von Notker
Labeo (ca. 950-1022) in St. Gallen – in dieser Zeit vollzieht sich ja auch
die Lösung der septem artes aus der Hilfsfunktion
der Bibelinterpretation hin zu einem autonomen Bereich.
|
Dass der pagan-weltliche Kanon der artes auch im kirchlichen Bereich – expressis
verbis bei Augustinus – als Grundlage der Ausbildung akzeptiert und tradiert worden
ist, ist wohl einer der bedeutsamsten Faktoren in der Entwicklung des weiteren
europäischen Geisteslebens, da dieser Akt die Vorstufe weniger der Rezipierung der
Antike als für die Akzeptierung der rationalen Philosophie war.
|
Das Konzept der septem artes hat
zahlreiche bildliche Darstellungen ausgelöst; 1494 ist das Werk des Martianus
Capella gedruckt worden, noch Leibniz
dachte an eine Neuausgabe.
|
|
Eine der zentralen Mittlerfiguren im Übergang von Spätantike
zum Mittelalter war, wie bereits angedeutet, Anicius Manlius Torquatus Severinus Boethius, der verschiedentlich als Vater der Scholastik bezeichnet worden
ist und zugleich als der letzte stoische Philosoph der Antike betrachtet werden muß;
er selbst hat sich als ein später Vollender Ciceros gesehen, dessen Rezipierung der griechischen Philosophie er zum
Abschluß bringen wollte, und bemühte sich, der damaligen lateinischen Öffentlichkeit
das griechische Denken des klassischen Altertums zugänglich zu machen. Er hat vor
allem durch seine Übersetzungen logischer Werke des
Aristoteles enorme Bedeutung erlangt – es wurde ihm im Mittelalter noch mehr
Übersetzungen als heute zugeschrieben. Er übersetzte zweifellos und vor allem des
Porphyrios Eisagoge und das Organon des Aristoteles mit Ausnahme der Zweiten Analytik193. Neben den
Übersetzungen schuf Boethius auch Kommentare (darunter, in einigem zeitlichen Abstand,
auch zwei zur Eisagoge), die allerdings im wesentlichen Paraphrasierungen griechischer
Kommentare sind (es kann angenommen werden, daß Boethius ein griechisches Corpus
Aristotelicum samt Kommentaren besaß). Seine Kommentare sind darüber hinaus sehr
wortbezogen, sodaß – wie häufig in dieser Zeit – die eigentlichen Probleme nicht
angesprochen, vermutlich mitunter auch gar nicht gesehen werden. Mit seinen eigenen
Arbeiten (darunter fünf Lehrbücher zur Logik) und Übersetzungen hat Boethius, dessen Schriften in der Folge sehr gut tradiert und zu
Standardtexten der Ausbildung in den septem artes
und in der Philosophie überhaupt wurden, eine Fülle von Problemen angerissen, die
aus der Kategorienlehre des Aristoteles und anderen seiner Schriften heraus die scholastischen
Philosophen über Jahrhunderte beschäftigten: welche Beziehung besteht zwischen den
Begriffen der Dialektiker und der extramentalen Wirklichkeit? Welche Beziehung also
zwischen Sprache und Wirklichkeit, zwischen Denken und Wirklichkeit? Inwieweit
beeinflussen die Kategorien das Denken, die Sprache? Auf welche Weise geben aus Worten
zusammengestellte Aussagen konkrete Gegenstände wider? Was hat es mit den Universalien
auf sich? In letzterem Zusammenhang wird es sich als bedeutungsvoll erweisen, daß
Boethius in seinem Kommentar zur Eisagoge die Feststellung machte, die Logik
handle von Worten. „Die Wirkung des Boethius auf das Denken des Mittelalters war
gewaltig“.
|
|
Eine weitere geistig einflußreiche Persönlichkeit der
Übergangszeit war Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator, der Nachfolger des
Boethius im Amt eines Chefs der Zentralverwaltung (magister officiorum) Theoderichs; er war um Ausgleich
zwischen der italischen und der gotischen Bevölkerung bemüht, nach dem Sturz des Witigis
und der Eroberung Roms durch Belisar zog er sich 537 aus der Öffentlichkeit
zurück, lebte in Ravenna, dann möglicherweise im Gefolge einer Gesandtschaft in
Konstantinopel und zog sich schließlich auf Familiengüter in der Nähe von Squillace in
Unteritalien zurück, wo er ein am Meer gelegenes „Kloster“ (eine asketische
Gemeinschaft auf Grundlage seines Privatbesitzes) stiftet (das nach den
Salzwasser-Fischteichen den Namen Vivarium erhielt),
in dem er nach dem Vorbild der Katechetenschulen vor allem in Alexandria die
Abschreibetätigkeit der Mönche forciert und damit das (Ab-)Schreiben zur einer Tugend
mönchischer Askese macht, die das ganze Mittelalter hindurch geübt wurde und ganz
wesentlich zur Überlieferung des Wissensgutes beigetragen hat. Er überliefert die
vollständigste Konsulnliste des Altertums und eine Fülle von Aktenstücken aus der
Regierungszeit Theoderichs samt Formularen. In Vivarium erarbeitete er seine
Enzyklopädie "De institutione divinarum et humanarum
litterarum", die als Einleitung in das Studium der Theologie einen Abriß der
septem artes gibt und das ganze Mittelalter
hindurch benützt worden ist; in diesem Werk stößt man auch auf die ausdrückliche
Gruppierung in Trivium und QuadriviumDer Begriff Quadrivium wurde von
Boethius geprägt – „Hoc igitur illud
quadrivium est …“ heißt es in De
institutione arithmetica.
und auf den Oberbegriff Mathematik. Cassiodor leitet den Begriff liberalis
nicht von liber = frei, sondern von liber = Buch ab195.
|
Capella, Boethius und Cassiodor haben jenen Wissenskanon geschaffen, der in Europa bis in die
Aufklärung hinein gültig und prägend gewesen ist.
|
|
Eine weitere, das Geistesleben und die Vorstellung von
Wissenschaft maßgeblich beeinflußende Persönlichkeit des Übergangs war Isidor von
Sevilla (ab 594 BF von Sevilla) mit seinen insgesamt fünf Werken zur
Erfassung der Welt der Sprache196, wobei die „Originum seu Etymologiarum
libri xx“, eine komprimierte Enzyklopädie, auch als „Brockhaus des frühen
Mittelalters“ bezeichnet und trotz ihres Umfangs in über 1000 Handschriften
überliefert, die größte Wirkung entfaltet und die weiteste Verbreitung gefunden haben;
das Werk ist nach einer Wissenschaftssystematik gegliedert (s.w.u.). Isidors
Lehrbücher für christliche Schulen sind hingegen rasch der Vergessenheit
anheimgefallen.
|
Eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Übergangsperiode
spielte Ostrom, das Byzantinischen ReichMan unterscheidet eine
Frühperiode von 395 bis 640, 640-840 Stillstand (Bildersturm etc.), 840-1453 große
Enzyklopädistik, literarische Hochblüte; das Schul- und Studienwesen erreicht im
12. Jh seinen Höhepunkt - großer Unterschied zur Entwicklung im Westen. Dennoch
aber vollzieht sich eine gewisse Erstarrung und es gelingt kein Durchbruch zu
wirklich bleibenden, originellen Leistungen., das zwar ebenfalls, aber weniger drastisch vom Niedergang erfaßt
wurde und indirekt wesentlich zur Tradierung des Wissens des klassischen Altertums
beigetragen hat. In der Zeit ab 500 ist zwar in der Wissenschaft nichts
Bemerkenstwertes mehr geschehen, doch die arabischen Initiativen – Sammeln von
Manuskripten, Berufung führender Leute etc. – scheinen Byzanz wieder stimuliert zu
haben: 863 kommt es zur Gründung einer neuen Lehranstalt im Magnaura-Palast in
Byzanz198. Leon der Mathematiker soll an dieser Anstalt (wohl aus der
alexandrinischen Tradition heraus, die ja auch die Muslime erst in Bagdad, dann auch
anderweitig inspiriert hat) optische Telegraphen und andere technische Feinheiten
konstruiert und eine medizinische Enzyklopädie verfaßt haben. Sein Hauptverdienst
liegt aber zweifellos darin, daß er es war, der die Werke der alten Autoritäten
sammeln und abschreiben ließ: praktisch unsere gesamte Überlieferung des Euklid, Apollonios, Archimedes, Diophant und Ptolemaios in griechischer Sprache beruht auf diesen Abschriften! Die
älteste erhaltene Euklid-Handschrift stammt aus dem Jahr 888 und wurde in Byzanz geschrieben,
sie liegt heute in Oxford. Eine Sammelhandschrift des Archimedes aus derselben Quelle kam im 12. Jh in die Hände der Normannen,
dann der Staufer und nach der Schlacht von Benevent 1166 in die Hand des Papstes, der
sie Wilhelm
Moerbeke für seine Übersetzungen zur Verfügung stellte; später ist sie
verschollen.
|
|
Die Patristik als kirchlich-theologische Periode ist
charakterisiert dadurch, daß in dieser Periode die Theologie und die Religion noch
wenig von der Philosophie unterschieden sind; die christliche Religion selbst wird als
die wahre Philosophie betrachtet. Antike philosophische Systeme werden in dieser
Periode für die Verteidigung des christlichen Glaubens, für die Apologie199),
den Kampf gegen „Heidentum“ und Gnostizismus200 bis etwa 200, und dann für den Ausbau eines eigenen christlichen
Lehrgebäudes herangezogen – in dieser zweiten Periode entsteht in Alexandreia die
bereits erwähnte Katechetenschule, an der u.a. Origines (185-254) lehrt201. Geistige Höhepunkte
der Patristik und von größter Bedeutung für das Mittelalter sind Augustinus und Dionysius (Pseudo-)Areopagita, dessen Schriften eine
Vermengung von Platonismus, Emanationslehre und einem gemäßigten Monophysitismus die
Theologen trotz aller Diskussion um die „Echtheit“ faszinierten und den Weg in die
spätmittelalterliche-frühneuzeitliche Mystik wiesen. |
Die christliche Philosophie entwickelt sich in der vom
Platonismus ausgehenden Philosophie und Theologie der Kirchenväter202 und wird maßgeblich mitbestimmt durch
|
|
aus Thagaste203, der zeitweise
Manichäer204, dann
Skeptiker und schließlich Neuplatoniker205 war, ehe er
in Mailand Ambrosius begegnet, der ihn 386 für das Christentum gewinnt und dessen
Synthese von Platon und Christentum, Vernunft und Glaube er übernimmt. Augustinus, eine sehr aggressive Persönlichkeit, ist bleibend durch den
Neuplatonismus beeinflußt (sogar in der Trinitätslehre) und stellt in seinem Denken
(wie schon sein Lehrer Ambrosius vor ihm) eine vollständige Symbiose zwischen
Christentum und kaiserzeitlichem Platonismus dar206. In seiner
Schrift „De vera religione“ waren nur wenige Worte – paucis mutatis verbis – zu verändern, um aus Platonikern Christen werden zu
lassen. Augustinus hat nicht nur durch seine Schriften „De doctrina christiana“ und
die „Confessiones“, sondern auch durch seine Geschichtsinterpretation und
Geschichtsphilosophie in "De civitate Dei (contra paganos)"207 die christliche Weltauffassung bis in die Neuzeit geprägt wie
kein zweiter. Augustinus plante auch eine Schrift über die artes liberales, hat aber in Mailand nur den Abschnitt über die Grammatik
fertiggestellt. In Thagaste schrieb er später über die Musik.
|
Die augustinische Philosophie, die in nahezu cartesischer Weise vom
eigenen Bewußtseinserlebnis als erster unbezweifelbarer Gewißheitsstufe ausgeht,
nämlich vom Satz "Si fallor, sum" (wenn ich mich
täusche, bin ich), ist vom Geist der Ordnung geprägt- In seinem Dialog „Über die
Ordnung“ sagt er u.a, daß Unwissenheit das beste Mittel sei, jenen "höchsten Gott, der besser im Nichtwissen gewußt wird", zu
erfassen, jenen "Schöpfer des Universums, von dem kein
Wissen in unserer Seele ist, außer daß wir wissen, wie sehr die Seele ihn nicht
kennt" – womit er Plotins Auffassung entspricht.
|
Augustinus hebt den Satz vom Widerspruch hervor: wenn wahr und falsch, Ich
und Nichtich etc. dasselbe wären, würde sich jede Philosophie erübrigen. Ursprung der
Erkenntnis ist ihm nach Platon die Seele, die Sinnesreize sind nur Anregungen für die Tätigkeit der
Seele. Alles Erkennen geschieht durch göttliche Erleuchtung (Illuminationstheorie, sie
weist den Weg zur Lichtmetaphysik); Platon
habe nicht geirrt, als er eine intelligible Welt annahm, so habe er nämlich die ewige
unveränderliche Vernunft genannt, durch welche Gott die Welt gemacht habe. Der Mensch
ist für Augustinus Bindeglied zwischen dem Göttlichen und dem Körperlichen durch
seine Vernunft, von der es zwei Arten gibt:
|
– |
höhere, sie wendet sich den Universialien und Gott zu, |
–
|
niedere, sie wendet sich dem Sinnlichen zu, strebt nach
Erkenntnis im Bereich des Sinnlichen => Wissenschaft => Stolz
=> Ursünde, aus der alle anderen Sünden hervorgehen; die Wissenschaft habe
sich der Weisheit = Schau des Ewigen, des Allgemeinen unterzuordnen; damit gibt es
keinerlei Anlaß oder Motivation zur Spezialisierung.
|
|
Diese Auffassungen des Augustinus bestimmen im christlichen Bereich die Philosophie und mit ihr
alle „wissenschaftliche“ Tätigkeit bis hin zur Aristoteles-Rezeption, d.h. bis in die Zeit um 1200.
|
Nach Augustinus hat Gott die Welt in der Zeit erschaffen, obgleich er sie auch in
der Ewigkeit hätte schaffen können. Augustinus setzt sich – vermutlich als erster seit Aristoteles – intensiv mit dem Problem der Zeit auseinander: Gott steht ihm
außerhalb der Zeit und hat deshalb alles auf einmal, d.h. „zeitlos“ erschaffen.
Manches hat er in voller Entfaltung, manches nur in Urkeimen erschaffen – das
entstammt der neuplatonischen Entwicklungstheorie. Die Seele ist ewig, weil sie Träger
der göttlichen Wahrheit ist, wie bei Platon.
Als erster christlicher Philosoph entwickelt Augustinus eine Geschichtsphilosophie, in der er die civitas Dei – den ewigen, in sich vollommenen und hierarchisch
gegliederten mundus intelligibilis – als Vorbild
für die civitas terrena hinstellt, die durch das
Böse bedroht erscheint208. Die civitas
terrena war für ihn gewissermaßen automatisch das römische Imperium. Nach
dessen Untergang 410 (Eroberung Roms durch Alarich) verändert Augustinus seine Konzeption dahingehend, daß das römische Imperium nur mehr
eines unter anderen, nun gleichrangigen Staatsgebilden wird.
|
Die Bedeutung des Augustinus liegt darin, daß er Platon in die
christliche Philosophie einführt bzw. besser: die christliche Philosophie auf Platon
aufbaut. Augustinus hat kein Problem, die ihm zutreffend erscheinenden Lehren der
griechischen Philosophie zu übernehmen; in seiner Schrift „De doctrina christiana“
schreibt er: „Wenn aber die sogenannten Philosophen,
vor allem die Platoniker, etwas gesagt haben, das wahr und unserem Glauben
angemessen ist, [...] dann sollten wir das nicht
nur nicht verabscheuen, sondern uns im Gegenteil von ihnen, als wären es
unrechtmäßige Besitzer, zu unseren Zwecken aneignen. [... denn es] besitzen auch die Lehren aller Heiden nicht nur erlogene
und aberggläubige Erfindungen und schwere Lasten überflüssiger Mühen [...], sondern sie enthalten auch die freien Künste
[liberales disciplinas], die für den Gebrauch der
Wahrheit überaus geeignet sind und einige nützliche moralische Vorschriften, und man
findet auch einiges Wahre bei ihnen über die Verehrung des einen Gottes, das der
Christ als deren Gold und Silber [wie die Juden den Ägyptern] von ihnen zum richtigen Gebrauch der Verkündigung des Evangeliums
rauben soll“209.
|
Im Hochmittelalter ist der Augustinismus längere Zeit von den
Franziskanern gegen die den Aristotelismus forcierenden Dominikaner verteidigt worden.
Unter dem Einfluß der Rezipierung durch das Übersetzungswerk setzt sich im 13. Jh der
Aristotelismus durch und beherrscht in der Folgezeit die Entwicklung.
|
Im 6. Jh erlahmt die geistige Tätigkeit in Europa mehr und
mehr, im 7. Jh geschieht so gut wie nicht, was für die Fortentwicklung von Belang
gewesen wäre. Erst im 8. Jh setzt wieder ein Aufschwung ein, der von den britischen
Inseln ausgeht, wo in den iro-schottischen Skriptorien kontinuierlich gearbeitet wurde
und von wo aus über den Karolingerhof eine geistige Erneuerung einsetzte.
|
Mathematik, Astronomie, Physik sind im Früh- und Hochmittelalter auf
Grund des Umstandes, daß die Kirchenväter die forschende Naturbetrachtung als für das
Seelenheil überflüssig, ja geradezu schädlich bezeichneten, stark vernachlässigt
worden – "wer ein wahrer Christ sein will, muß die
geometrischen Methoden der Toren und Lügenschmiede fahren lassen. Zu denen, die
Christen sein wollen und doch die Erde für eine Kugel halten, wird Gott am Tage des
Gerichts nach dem Apostel Matthäus sagen: 'Ich kenne euch nicht ...'", so heißt
es (in allerdings auch für seine Zeit extremer Weise) bei Kosmas
Indikopleustes im 6. Jh in dessen „Topographia Christiana“ drastisch (nicht
unwidersprochen durch Philoponos und auch ganz im Gegensatz zu Boethius).
|
Diese Entwicklung führte dazu, daß die wissenschaftlichen
Errungenschaften des Altertums schließlich nur mehr in dürftigen Rudimenten verfügbar
waren und lediglich zur Erläuterung der Bibel herangezogen, schließlich in die
Kommentierung und Tradierung der heiligen Schriften selbst eingebracht, also von
diesen überwölbt und ummantelt wurden. Deshalb nimmt das Schrifttum auch einen
gänzlich anderen Charakter an. Die Wissenschaft wird nur insoferne und auch nur
insoweit betrieben, als sie dem christlichen Weltverständnis nützt. Dementsprechend
werden ihr auch entsprechende Inhalte unterlegt. Damit hat Augustinus in seiner Schrift "De doctrina christiana" begonnen, wenn er dort
die Kenntnis der Mathematik für die richtige Erfassung der Zahlenangaben in der Bibel
fordert und eine Interpretation der Vierzahl, Zehnzahl, Siebenzahl etc. gibt, die
durch nahezu 1000 Jahre tradiert, ja mitunter wortwörtlich fortgeschrieben worden
ist.
|
Gleichwohl sind – unbeabsichtigt und nebenher, als „Ausläufer“
gewissermaßen der alexandrinischen Philologie – zumindest in der Frühzeit noch
wissenschaftliche Leistung von Bedeutung erbracht worden. Nämlich in der Textkritik
und im Übersetzen und Kommentieren von Offenbarungstexten durch die klassischen
kirchlichen Autoren, die z.T. als Kirchenväter in die Geschichte eingegangen sind, wie
Origines, der gemeinsam mit Plotin
bei Ammonios
Sakkas in Alexandria studierte und als erster die kirchliche Glaubenslehre
systematisch zusammenfaßte (Beginn der Dogmatik), wofür er die weltliche Philosophie
als Hilfsmittel heranzog; er schuf eine Bibelausgabe mit vergleichendem hebräischen
und griechischen Text. Eusebius von Caesarea schrieb eine Weltchronik und eine
Kirchengeschichte bis 323, die als historiographische Leistungen langehin Vorbild
waren. Bedeutsam ist auch seine Arbeit an der Bibelübersetzung. Hieronymus hat die Arbeit
des Eusebius fortgeführt und die in der katholischen Kirche bis in das 20. Jh
gültige Bibelübersetzung geschaffen.
|
Was die Systematik anlangte, so hat Augustinus in seiner Schrift "De doctrina christiana" praktisch die stoische
Triade in christlich-theologischer Verbrämung übernommen:
|
Ethik: philosophia moralis, Gott als
Grund der Lebensweise
|
Physik: philosophia naturalis, Gott
als Grund der Substanz
|
Logik: philosophia rationalis, Gott
als Grund der Erkenntnis
|
Um 500 gliedert Boethius
(480-525), auf Aristoteles aufbauend, die theoretischen Wissenschaften aus und
unterteilt sie nach dem Grad ihrer Abstraktheit:
|
Naturalia =Naturwissenschaften
|
Mathematica = Mathematik
|
Metaphysica = theologische
Wissenschaften.
|
Das zentrale und wirksamste Gliederungsprinzip hinsichtlich des
Wissens blieb aber das der septem artes liberales.
Es darf dem Umstand, dass dieser verfestigte Kanon als durchgehendes Element bis in
die Gegenwart den Kern aller wissenschaftlichen Betätigung blieb, enorme Bedeutung
beigemessen werden. Es ist nämlich damit ein außerhalb der Glaubenslehre stehender und
von dieser nicht angefochtener, schließlich im 13. Jh sogar als für die Glaubenslehre
selbst anwendbar bezeichneter Bereich geistiger Tätigkeit akzeptiert worden, aus dem
heraus schließlich in der Spätscholastik und endgültig in der Neuzeit die
Rationalisierung des abendländischen Weltbildes erfolgte. Darin besteht ein sehr
wesentlicher Unterschied zu anderen Kulturen, in denen eine derartige Entwicklung
unterblieben ist.
|
Die Kontinuität der Entwicklung wurde wesentlich getragen vom
insularen Bereich, der nie vollständig unter römische Herrschaft gelangt war, in dem
das Christentum erfolgreich Fuß gefasst hatte und wo sich Skriptorien als zentren
geistiger Arbeit ausformten, denen die Überlieferung zahlreicher Texte und der höchste
Blüten der mittelalterlichen Buchkunst zu verdanken sind. Im Wege der iro-schottischen
Mission ist schließlich die Rückführung auf den Kontinent erfolgt. In dieser Tradition
ist Beda
Venerabilis zu sehen, der als einer frühesten und als der bedeutendste
frühmittelalterliche Autor vor der karolingischen Renaissance gelten kann.
|
|
Der Prozeß der Übernahme des verlorengegangenen Wissens des
klassischen Altertums im Verlaufe des ausgehenden Hochmittelalters ist in Gang gebracht
und wesentlich bestimmt worden durch die Überlieferung im Wege der Übersetzungen aus dem
Arabischen. Die griechische Autoren sind – vielfach durch Syrer – im 8.–10. Jh in einem
ersten, wesentlich durch die Abbasidenkalifen210 ermöglichten Übersetzungswerk aus
dem Griechischen in das Arabische und dann – im 12 und 13. Jh – einem zweiten
Übersetzungswerk aus dem Arabischen in das Lateinische übersetzt worden. In diesem
zweiten Übersetzungswerk haben auch jüdische Übersetzer und Übersetzungen in das
Hebräische eine wichtige Rolle gespielt. Erst im 13. Jh wird dann (z.T. in Zusammenhang
mit den Kreuzzügen ermöglicht) aus der griechischen Originalsprache in das Lateinische
übersetzt, soweit noch griechische Überlieferungen vorhanden waren.
|
Die Muslime haben die griechischen Texte nicht nur übersetzt, sondern
natürlich auch inhaltlich rezipiert und zur Grundlage ihrer eigenen weiterführenden
wissenschaftlichen Arbeit gemacht. Im Wege der nachfolgenden Übersetzungen aus dem
Arabischen in das Lateinische haben sie somit nicht nur die griechsichen Texte in
arabischer Fassung samt reichen Kommentare zu den griechischen Autoren weitergegeben,
sondern auch durch ihre eigenen fortführenden und in vielen Bereichen erheblich über
Status der griechischen Erkenntnisse hinausgehenden Arbeiten den „Westen“ stark
beeinflusst. Das bekannteste Beispiel ist wohl der Philosoph Averroes, dessen Auffassung vor allem den für die weitere Entwicklung so
maßgeblichen Thomas
von
Aquin, aber auch andere Denker in wesentlicher Weise beeinflusst hat.
|
Der Koran fordert Lernen und Erforschen der Natur211 – Wissen und Vermehrung
des Wissens werden als Gottesdienst angesprochen, indem sie der besseren Erkenntnis
Gottes dienen. Dabei ist es gleichgültig, woher das Wissen erworben wird – „suche Wissen, auch wenn in China“, heißt es in der
Tradition von Mohammed, „erwirb Weisheit, aus welcher Quelle
sie stammen mag [...] empfange Wissen, sogar von
den Lippen der Ungläubigen“. Al-Kindi schreibt im 9. Jh „Wir sollen uns nicht schämen, die Wahrheit anzuerkennen und sie uns
anzueignen, aus welcher Quelle sie auch stammen mag. Für jenen, der Wahrheit sucht,
gibt es keinen höheren Wert als die Wahrheit selbst. Sie setzt den, der sie sucht,
niemals herab“212.
|
Ganz ähnliche Ansätze liegen im Judentum vor: das Wort „Thora“ bedeutet
„Lehre“, Midrasch, Mischna, Gemara, Talmud bedeuten „Forschung“, „Einprägung“,
„Folgerung“ und „Studium“; ein zentrales jüdisches Gebet apostrophiert Gott in Bezug auf
Lehre: „Du begnadest den Menschen mit Erkenntnis und
lehrst den Menschen das Verstehen, begnade uns von Dir mit Erkenntnis, Einsicht und
Verstand!“213; auch der
Gottesname JHWH wird in seiner Nähe zum Futurum von „sein“ in diese Richtung
intepretiert.
|
Der Rezipierungsprozeß „der Araber“ wurde auch dadurch gefördert,
daß das Arabische als Sprache sich hervorragend zur exakten Erörterung von Problemen
eignet. Als günstig erwies sich zweifellos auch die Einführun des Papiers als
Beschreibstoff214.
|
„Die Araber“ verfügten anfangs außerhalb des Korans über keine eigene
Philosophie, dürften jedoch sehr früh aus dem mittelpersischen Bereich beeinflusst
worden und insoferne gewissermaßen auf die Rezipierung der griechischen Autoren zur Zei
der Abbasidenkalifen vorbereitet gewesen sein. Im Zuge der Rezipierung lösten sich
offenbar persischer und indischer, dann erst griechischer Einfluss als prägende
Wissenschaft ab – die Rezipierung der wissenschaftlichen Texte der Antike erfolgte
jedenfalls nicht in ein Vakuum hinein. Der deutsche Arabist und Mathematikhistoriker
Julius Ruska schrieb bereits 1917: „Es kann nicht oft
und nachdrücklich genug gesagt werden, dass die Araber, die die persischen und
römischen Provinzen überfluteten, weder Rechtswissenschaften noch Staatsverwaltung
fertig mitbrachten, sondern gezwungen waren, die Verwaltungsmethoden und Rechtsformen
der eroberten Länder im wesentlichen unverändert zu übernehmen. Daß es ihnen mit
erstaunlicher Schnelligkeit gelang, sich in größere Verhältnisse hineinzufinden und
nicht nur die nur die staatlichen Einrichtungen, sondern auch alle anderen früchte
einer alten, ausgereiften Kultur sich zu eigen zu machen, ist bekannt. Das wäre aber
gewiß unmöglich gewesen, wenn der geistige Abstand zwischen dem Eroberervolk und den
zeitgenössischen Persern, Griechen und Ägyptern so groß gewesen wäre, wie man es bis
in die neueste Zeit anzunehmen pflegte. Insbesondere darf man sich die städtischen
Araber, die Träger der geistigen und politischen Bewegung, nicht als halbe Wilde
vorstellen, die vor dem Auftreten Muhammeds jedem Kultureinflusse von seiten der
Nachbarvölker unzugänglich gewesen wären oder gar in der Zeit, zu der sie für die
Geschichte der Mathematik wichtig werden, kaum hätten schreiben können“215. Als übermächtig im
Rezipierungsprozess erwies sich sehr rasch griechischer Einfluss und hier insbesondere
die Philosophie des Aristoteles, den Ibn Rushd (lat. Averroes) seiner überragenden Bedeutung wegen einfach
mit „der Philosoph" bezeichnet216. Ibn Sina (lat. Avicenna) hat um das Jahr 1000 einen Kommentar des Aristoteles
in 20 Bänden erstellt, der allerdings nur indirekt und fragmentarisch durch den
Kommentar des Michael
Scotus erhalten ist. Averroes scheitert, weil er zu sehr das Fremde, das Heidnische, das
Griechische betonte, so daß man seine Lehre – bis heute! – als für den Islam gefährlich
einstufte.
|
Der Prozess der Rezipierung der griechischen Philosophie setzte im
ausgehenden 8. Jh ein und fiel wesentlich in jene Zeit, in der auch – insbesondere unter
Harun
al-Raschids Nachfolger al-Mamun
– die eher rationale religiöse Richtung der Mutaziliten217 gefördert wurde, sodaß der
Rezipierungsprozess relativ unbeeinflusst vor sich gegehen konnte und die
wissenschaftliche Arbeit rein weltlichen Charakters von Fürsten und Kaufleuten betrieben
bzw. gefördert wurde218 – der
Prozess ähnelt stark dem in der Renaissance, weniger dem christlichen Mittelalter. Vice
versa scheint dieser Prozess die Position der Mutazila gestärkt zu haben, die die Lehre
der Prädestination leugneten, die Willensfreiheit des Menschen und die Auffassung
vertraten, dass der Koran für die Menschen in einer bestimmten zeitlichen Situation
unter bestimmten Umständen geschaffen worden sei, also keine absolute ewige Gültigkeit
beanspruche. Als der sunnitisch-orthodoxe Nachfolger al-Mamuns, al-Mutawakkil (847–861), die Richtung der Mutazila verdammte, hatte dies eine
Polarisierung zwischen mohammedanischer Orthodoxie und Assimilation und zu Ende des
10. Jhs den Rückzug der Mutazila in den persischen Bereich zur Folge219. Es war dies eine weitreichende Entscheidung, denn
damit scheiterte auch der Versuch, die philosophischen Lehrinhalte der aus der
griechischen Antike überkommenen Wissenschaft mit dem Koran in Einklang zu bringen, und
der Dogmatismus der islamischen Orthodoxie nahm mehr und mehr zu und sich verhärtete
sich – eine der zentralen Figuren in diesem Prozess war al-Ghazali. Damit wurde aber ein Kompromiß zwischen fides und ratio, wie er im
lateinischen Bereich im Übergang vom 13. auf das 14. Jh erreicht wurde (und in dem auch
Averroes
eine wichtige Rolle spielte), verhindert220. Bedeutsam war dabei, dass es an einem
durchgängigen Ausbildungssystem mit einem festen Kanon, wie den septem artes, mangelte. Als ein derartiges System mit den Medresen
ab der Mitte des 11. Jhs durch die Seldschuken-Herrscher geschaffen wurde, bezweckte es
die Ausbildung von Theologen, Rechtsgelehrten und von Verwaltungsbeamten, bewirkte im
Wege der bevorzugten Bestiftung in Zusammenhang mit Moscheen den Untergang der
zahlreichen freien Bibliotheken und die Koppelung der Medresen an die Moscheen, sodaß
ein Typus von Koranschulen entstande, der eine freiere, nicht an die Theologie gebundene
Entwicklung wissenschaftlicher Betätigung nicht mehr zuließ221. 1195 ist Averroes
wegen seiner philosophischen Ansichten, die als mit dem Koran unvereinbar beurteilt
wurden (was bis heute aufrecht ist), verurteilt und verbannt worden – „Mit der Verurteilung des Averroes endete die wissenschaftliche Kultur der
arabischen Welt; der Sieg der philosophiefeindlichen Theologen war endgültig und die
arabischen Länder schieden aus der Geschichte der Philosophie aus“ – so urteilt
Kurt Flasch222; und dieses Urteil ist dahingehend zu ergänzen, daß
die islamischen Länder nicht nur aus der Geschichte der Philosophie, sondern –
naheliegenderweise – auch aus der Geschichte der Wissenschaft ausschieden. Es ist
bezeichnend, dass keiner der Beiträge in der 1996 erschienenen und zu einem erheblichen
Teil von Muslimen bestrittenen „Encyclopedia of the History of Arabic Science“ in
essentiellen Belangen zeitlich über den Beginn des 15. Jhs hinausgeht.
|
Ähnlich wie die Griechen sind die Araber und in ihrem Gefolge
andere muslimische Völkerschaften in den Prozess systematsichen und organisierten
Denkens eingetreten. Sie habe, ohne über ein besonderes eigenständiges kulturelles
Substrat zu verfügen, rezipiert, was ihnen zur Verfügung gestellt wurde: die
Errungenschaften der Griechen, Vieles aus dem indischen Bereich und dann wohl auch
Einiges im Kontakt mit China.Wie bereits angedeutet, haben die Muslime nicht
reflexionslos rezipiert. Man sich sehr früh bemüht, die in der zu übersetzenden
Literatur vorgefundenen Ergebnisse zu überprüfen – so hat man beispielsweise im Zuge der
Übersetzung des Almagest des Ptolemaios die Angaben hinsichtlich des Erdumfanges eigenständig überprüft,
indem man die Distanz zwischen zwei Orten, die nun wirklich in einer Distanz von einem
Grad an einem Meridian lagen, mit einer Kette ausmaß. Man arbeitete sich im Zuge der
Übersetzung in die Materie ein und verfeinerte z.B. die astronomischen Messungen durch
die Herstellung immer größerer und damit auch genauerer Instrumente, sodaß man zu
Ergebnissen gelangte, die z.T. erst durch Tycho
Brahe überboten worden sind. In der Mathematik erzielte man enorme
Fortschritte, die die Ablösung dieses Bereiches als einer eigenständigen Disziplin von
der Astronomie, der sie bsi dahin im Wesentlichen gedient hatte, bewirkte. So haben auf
Grundlage des Übernommenen die Muslime – Araber erst, dann Perser, Mongolen und
Angehörige der zahlreichen Völkerschaften, die im Verlaufe des 11. und 12. Jhs in den
Vorderen Orient und in den mittleren Osten strömen, bis hin zu Chinesen, die an
muslimischen Observatorien im persischen Raum unter mongolischer Herrschaft
mitgearbeitet haben – in der Folge in nahezu allen wissenschaftlichen Bereichen ihrer
Zeit Großes geleistet. Dies gilt ganz besonders für die Astronomie, die Mathematik, für
Teilbereiche der Physik und für die Geographie. Sie haben außerdem gigantische
zusammenfassende Werke verfaßt, über die aus sprachlichen Gründen im Westen nur wenig
oder eigentlich so gut wie nichts bekannt ist, da sie wegen ihrer Dimension nie
übersetzt worden sind223.
|
Im muslimischen Raum haben sich im Wesentlichen drei geistige
Bereiche mit z.T. wechselnden Zentren von hohem Rang ausgebildet: der Osten mit dem
abbassidische Bagdad, später mit Zentren wie Maragha, Rayy und Isfahan, dem Raum um
Sarmakand und Buchara sowie der Westen auf der iberischen Halbinsel und im Maghreb, vor
allem aber mit dem Umayyaden-Khalifat Cordoba. Nicht ganz diese Bedeutung zu erlangen
vermochte Kairo unter fatimidischer Herrschaft224,
speziell unter al-Hakim.
|
Von großer Bedeutung waren die hervorragende Organisation der muslimischen
Städte, wie sie zuerst in Bagdad erkennbar ist und die der Entwicklung eines intensiven
geistigen Lebens sehr förderlich war – mit öffentlichen Bibliotheken, hervorragend
organisierten Lehrkrankenhäusern, und die Ausformung lokaler, von Herrschern großzügig
geförderter Wissenschaftszentren (meist aus der Befassung mit der Astronomie heraus an
großen Observatorien wie etwa in Maragah225). Ein weiterer
wesentlicher Umstand war, dass mit dem Arabischen eine lingua franca eines Raumes zur Verfügung stand, dessen Dimension das Imperium
Romanum weit übertraf, was unter dem Aspekt hoher Mobilität und
Kommunikationsorganisation die Ausformung einer frühen scientific community ermöglichte, die allerdings weniger von durchgängigen
Strukturen als von Individuen getragen wurde.
|
Die Verbindungen aus dem muslimischen Raum nach dem christlichen
Westen waren – nicht zuletzt unter Mitwirkung der Juden, deren viele bis in unsere Zeit
als „Araber“ angesehen worden sind – stärker und vielfältiger, als man lange angenommen
hat. Sicherlich ist diesbezüglich längst noch nicht alles bekannt.
|
Der Stellenwert der wissenschaftlichen Leistungen im muslimischen Bereich
ist in Europa zwar in der Aufklärung als ein Element der kontinuierlichen
Fortentwicklung von Wissenschaft eingeschätzt und anerkannt worden, dann aber im Gefolge
der Historisierung und der Philologisierung mit ihrer Zentrierung auf das klassische
Altertum im 19. Jh in den Hintergrund gerückt226. Dies führte dazu, dass in der
europäischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung um 1900 und noch weiter im 20. Jh
verschiedentlich behauptet wurde, dass die Muslime das Wissen der Griechen nur rezipiert
und (unverändert) weitergegeben hätten, sodaß man erst im Spätmittelalter in Europa die
griechischen Errungenschaften, wo z.B. Ptolemaios aufgehört hätte227, fortgeführt habe. Dies ist eine enorme Fehleinschätzung, die
sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jhs gehalten hat und gegen die nun von Seiten
muslimischer Wissenschaftshistoriker zu Recht angekämpft wird. Dem steht freilich
gegenüber, dass der muslimische Bereich bis heute selbst über keine hinreichende
Darstellung der wissenschaftlichen Leistungen zu verfügen scheint228 und seinerseits den Mangel an Übersetzungen in
westliche Sprachen beklagt, obgleich doch in den umfassenden Arbeiten von Fuat Sezgin
eine höchst beeindruckende und umfassende Darstellung des arabisch-muslimischen
Schrifftums bis in die Mitte des 11. Jhs vorliegt229, die allerdings (vermutlich weil
in deutscher Sprache) vergleichsweise wenig wahrgenommen wird.
|
Das irrige Bild ist eine Folge des Umstandes, dass das europäische
Bildungsideal durch den Neuhumanismus und aus der Kenntnis des Griechischen und des
Lateinischen heraus geprägt ist und die Wissenschaftsentwicklung in diesem Kulturbereich
dementsprechend als die genuine und vertraute Grundlage der Entwicklung in Europa
empfunden wurde, während kaum ein europäischer Wissenschaftshistoriker des Arabischen
mächtig ist, weshalb die Einschätzung der Leistungen der Muslime auf sehr schmaler
Quellengrundlage und aus dieser abgeleiteten Rückschlüssen beruhte. Erst in jüngster
Zeit – nicht zuletzt ausgelöst durch neue Manuskriptfunde um die Schule von Maragha –
wird von Seiten muslimischer Wissenschaftler versucht, dieses Bild zu korrigieren, wobei
es naturgemäß wohl auch zu mitunter überzogenen „Korrekturen“ kommen wird230.
|
|
In Bagdad gab es, nach der Machtübernahme durch die Abbasiden
im Jahre 749, von etwa 754-861 eine Epoche spezieller intensiver
Wissenschaftsförderung. Es entstand dort unter dem Sohn Harun Al-Raschids
(786-809), Al-Mamun231 (813/819-833) um 825-830 aus einer berühmten
nestorianischen Schule für Theologie, Naturwissenschaften und Medizin das sogenannte
"Haus der Weisheit" (Dar el Hikhma, Bayt
al-hikmah) – eine Art Akademie mit einer zweifellos höchst wertvollen Bibliothek, an
der eine Reihe von Wissenschaftlern beschäftigt war, die sich mit der Übersetzung
wissenschaftlicher Werke in das Arabische befassten – Vorbild dafür war möglicherweise
die bereits seit 271 nChr bestehende Sassaniden-Akademie in Jundischapur232; als Leiter sind der Nestorianer233
Hunain Ibn
Ishaak und nach ihm Thabit Ibn qurra bekannt. Dennoch ist die Rolle
dieser Institution nicht wirklich fassbar – die Mehrzahl der Übersetzer bezieht sich
auf konkrete Anregungen oder Aufträge durch den Kalif oder hochrangige Mitglieder des
Hofes. Die in einer neueren Arbeit entworfene Vorstellung von der Organisation der
Institution, derzufolge ein Sekretär einen richtigen Übersetzungsbetrieb organisiert
haben sollte, ist mittlerweile wieder verworfen worden. Die Aufgabe der Einrichtung
war offenbar nicht mehr, als Manuskripte und Übersetzungen zur Verfügung zu stellen.
Vermutlich hat das Bayt al-hikma als in die Entwicklung der Mutazila involvierte
Institution die sunnitisch-orthodoxe Reaktion des Nachfolgers von al-Mamun, al-Mutawakkil (847–861), der die Richtung der Mutazila verdammte, wenn
überhaupt, nur mit Mühe überstanden.
|
Sicher ist, dass man in Bagdad wissenschaftliche Schriften aus allen
Ländern sammelte und aus dem Griechischen, Syrischen, Persischen und "Indischen" ins
Arabische übersetzte. Hauptsächlich interessierte man sich für naturwissenschaftliche
und philosophische Werke. Deshalb wurden die klassische griechische Literatur – die
großen Tragiker, Aristophanes etc. – und die Historiographie der Antike eigentlich erst in
der Renaissance entdeckt, als man wieder direkt auf die antiken Texte zurückgriff.
Dieser Umstand hat wohl auch wesentlich zur Entstehung der Kluft zwischen den
Naturwissenschaften und den Humaniora beigetragen.
|
Sehr rasch wurden der gesamte damals bekannte Aristoteles und Galen übersetzt sowie große Teile des Euklid,
Ptolemaios und hippokrates von Kos234. Zur Sammlung der Vorlagen wurden sogar Kommissionen nach
Byzanz und Indien entsandt235. Doch nimmt man heute an, dass diese Aktionen von
inferiorer Bedeutung gewesen seien gegenüber dem Umstand, dass im hellenistischen Raum
des Vorderen Orients einschließlich Ägyptens zahlreiche Institutionen, vielfach
christliche Klöster, noch immer existierten, die über wesentliche Teil des alten
Wissengutes verfügten, und oft auch ihrerseits in das Syrische übersetzten, sodass
Übersetzungs- und Arbeitsunterlagen wohl schneller und leichter von dort denn aus
Byzanz zu beschaffen waren – wozu nicht nur al-Mamun, sondern auch wohlhabender Privatpersonen, wie etwa die Banu
Musa, beigetragen haben.
|
Insgesamt kann dieser Prozess aber wohl als ein wissenschaftlicher
Konzentrierungsprozeß betrachtet werden, der vielleicht den beim Aufbau des Museions
noch übertroffen hat, indem er eine größere Vielfalt wissenschaftlicher Kenntnisse und
Bereiche zusammengeführt haben mag – griechisches, indisches, südostasiatisches und
vielleicht auch chinesisches Wissen dürften hier in der einen oder anderen Weise
Eingang gefunden haben.
|
Große Bedeutung für das Übersetzungswerk im Osten hatten |
– |
die christlich-nestorianischen
syrischen
Gelehrten, die viele Texte ins Syrische übersetzt
hatten und sich offenbar – da sie ja in Byzanz als Ketzer betrachtet wurden und sich
mit der Staatskirche nicht verstanden – sehr rasch mit den neuen Machthabern
angefreundet haben, die ihnen ihre Religion beließen. Nicht zu übersehen ist dabei
allerdings, daß die Nestorianer primär an der Theologie und weniger an der
Philosophie interesssiert waren. Ihre Zentren waren erst die Schule von Edessa
(heute Urfa in der Türkei), die wegen des herrschenden Nestorianismus auf Befehl
Kaiser Zenons 489 zerstört worden war, und daraus hervorgehend die Schulen zu
Nisibis (im oberen Mesopotamien) und zu Jundischapur (südlich des heutigen Dezful im
Iran) unter den persischen Sassaniden.
|
– |
die syrischen
Monophysiten, die insbesondere in den Aristoteles-Studien an den Schulen zu Rasain und Kinnesrin in Syrien, in
der Gegend von Aleppo, hervortraten.
|
– |
und letztlich muß bewußt wahrgenommen werden, daß es auch arabisch-christliche
Gelehrte gab, deren Leistungen von den Muslimen
sehr wohl anerkannt worden sind.
|
|
Die wichtigster Übersetzer in Bagdad: |
|
Ibn Matar
hat erstmals Euklids Elementa übersetzt (und zwar zweimal, einmal unter Harun-al-Rashid und einmal unter Al-Mamun; beide Übersetzungen sind
verloren), 829/30 übersetzte er den Almagest des Ptolemaios aus dem Syrischen unter dem Titel "Kitab al-mijistis" (woraus
die Bezeichnung "Almagest" entsteht); andere Schriften zur Algebra und Geometrie
folgten: Er wird als Zeitgenosse des Al-Khwarizmi beschrieben.
|
|
Er war Nestorianer, arbeitete zuerst in Jundischapur, dann in
Bagdad, wo er selbst übersetzte und die Übersetzungstätigkeit leitete und auch
korrigierte. Hunain hat selbst die Methode des Übersetzens erläutert und
beschrieben – er ist Anhänger der inhaltlichen Durchdringung und "Nacherzählung",
nicht der sklavischen wortweisen Übersetzung und versucht auch, mehrere
Handschriften mit einander zu vergleichen. Was er nicht versteht, übersetzt er auch
nicht; Hunain gibt auch eine Kritik bereits gelieferter Übersetzungen
anderer.
|
Hunain sammelte und übersetzte systematisch griechische
medizinische Literatur (Galen, Hippokrates
von Kos, Plato, Aristoteles, Dioscorides, und das Opus quadripartitum des Ptolemaios). Er spielte hinsichtlich der medizinischen Literatur in etwa
die Rolle des Ibn Qurra hinsichtlich der mathematischen und astronomischen
Texte.
|
Über seine Übersetzungstätigkeit hinaus verfaßte Hunain aber auch
eigenständige Werke, so zur Ophthalmologie und eine vor allem später unermeßlich
weit verbreitete Einführung in Galens „Ars parva“, aber auch Arbeiten zu physikalischen Fragen
(Regenbogen-Theorie, Gezeiten, Meteore etc.). Darüber hinaus war er auch als
Philologe tätig und erarbeitete eine syrische Grammatik, das „Buch der
(diakritischen) Punkte“, und das älteste Wörterbuch zur Erläuterung griechischer
Worte im Syrischen.
|
Hunain kommt überragende Bedeutung zu; dies kommt auch in
Beurteilungen seitens der neueren Forschung zum Ausdruck, in der er als „Erasmus der
islamischen Renaissance“, als „Cicero der arabischen Literatur“ und ähnlich
bezeichnet worden ist.
|
Sein gleichnamiger Sohn (gest. 910) führte die Übersetzungstätigkeit
fort.
|
|
Ibn Qurra stammte aus Harran und gehörte der Gruppe der
Sabier von Harran an (Anhänger einer alten mesopotamischen Gestirnsreligion); er war
als Mathematiker, Astronom, Astrologe, Mediziner etc. tätig, vor allem aber auch als
Übersetzer, ja er begründete eine Schule von Übersetzern, meist Familienmitglieder;
er persönlich war einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Griechischen in das
Arabische überhaupt. Übersetzte Apollonios, Euklid (erhalten!), Theodosius, Archimedes, Ptolemaios, Galen, Eutrocios, etc. Als Mathematiker entwickelte er die Theorie
verwandter Zahlen, in der Astronomie fügte er den acht Sphären des Ptolemaios eine 9. Sphäre hinzu für die irrig angenommene Schwankung der
Äquinoktien (er ist für die Verbeitung dieses Irrtums verantwortlich). Schrieb
selbst auf Arabisch und auch in Syrisch (Aramäisch).
|
Um 900 waren in einem etwas über hundert Jahre
dauernden Prozeß die wichtigsten griechischen Autoren ins Arabische
übersetzt.
|
Das zweite Zentrum war nach der Übernahme durch die Umayyaden
982 (bis 1031) die Stadt Cordoba, im 10. Jh nach
Byzanz die größte Stadt Europas236. Der Kalif von Cordoba verfügte über eine Bibliothek von
angeblich 400.000 Bänden.
|
Der enorme Reichtum der islamischen Herrscher ermöglichte es ihnen, an
ihren Höfen Wissenschaftler in großer Zahl zu halten, und auch sie selbst
beschäftigten sich vielfach sehr ernsthaft mit wissenschaftlichen Studien. In
besonderem Maße gilt dies für die Astronomie, die besondere Förderung erfuhr, sodaß
die Observatorien in Bagdad, in Maragha und in Sarmakand große Gelehrtenzentren
waren, an denen Astronomie und Mathematik gepflegt wurden.
|
|
Die früheste Systematik ist bei al-Kindi (800-873) erkennbar, der seinen „Brief über die Zahl der Bücher des
Aristoteles und was für das studium der Philosophie nötig ist“ mit der Reihung der
Werke des Aristoteles beginnt237:
Logik > Physik > Metaphysik > Theologie > Moral >
Sonstiges. Das Studium der Philosophie müsse beginnen mit der Mathematik – Arithmetik
> Geometrie > Astronomie > Musik.
|
Eine frühe Systematik erstellten die in der 1. H. des 10. Jhs in der
Mitte zwischen Ultraorthodoxen und Ultramodernen stehende und der Bewegung der
Mutaziliten zuzurechnende Gruppe der Getreuen von
Basrah, auch als "Lautere Brüder" bezeichnet, die eine relativ verworrene,
vielfältig eklektizistische aus 51 Abhandlungen bestehende Enzyklopädie der Wissenschaften (Ihwan al-Safa) erarbeiteten, die
letztlich aristotelisch und in vier Gruppen gegliedert ist:
|
1 |
Propädeutik und Logik, |
2 |
Physik und Anthropologie, |
3 |
Lehre von der Weltseele, |
4 |
Theologie. |
|
Ihre Wissenschaftssystematik sieht neun Bereiche vor: 1 Der
Schöpfer, 2 Der Intellekt, 3 Die Seele, 4 Die Materie, 5 Die Natur, 6 Der Körper,
7 Die Sphären, 8 Die vier Elemente, 9 Die irdische Welt: Minerale, Pflanzen,
Tiere.
|
Muhammed ibn Ahmad al-Khwarizmi (Ende 10. Jh, nicht zu verwechseln mit dem berühmten
Mathematiker) stellte u.a. eine umfassende systematisierende Enzyklopädie zusammen:
Die Schlüssel der Wissenschaft, in welchem Werk er
die Wissenschaften in zwei Gruppen teilt, die klar einen kulturbezogenen Hintergrund
haben:
|
1 |
die genuin arabischen Disziplinen: Jurisprudenz,
(muslimisch-)scholastische Theologie, Grammatik, Sekretärswesen–Administration,
Prosodie und Dichtung, Geschichte, und
|
2 |
die exotischen, rezipierten Disziplinen: Philosophie, Logik,
Medizin, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik, Mechanik (Lehre von den
Erfindungen), Alchemie.
|
|
Die Systematiken so bedeutender Gelehrter wie al-Farabi und Avicenna sind klar von Aristoteles beeinflusst und unterscheiden jeweils zwischen einer
theoretischen und einer praktischen Ausformung der einzelnen Disziplinen.
|
Al-Farabi (870–950) listet in seiner Abhandlung „Ihsa al-ulum“
(Die Aufzählung der Wissenschaften) auf:
|
– |
Sprachwissenschaft im Sinne |
|
• |
des Verständnisses dessen, was die Nationen und die Wissenschaften
inhaltlich heißen sollen
|
• |
des Wissens um die Regeln, die dem Sprachgebrauch der Nationen
zugrunde liegen
|
|
|
• |
der Überlegungen, die man für sich selbst anstellt, |
• |
der Regeln, die der Rede, also der Auseinandersetzung mit anderen,
zugrunde liegen
|
|
– |
Mathematische Wissenschaften |
|
• |
Arithmetik |
|
– praktisch und theoretisch |
• |
Geometrie |
|
– praktisch und theoretisch |
• |
De aspectibus, d.h. wie die Dinge uns erscheinen (was einen
Unterschied macht zu dem, was und wie sie sind)
|
• |
Astronomie |
|
– Ordnung der Gestirne, die Prognose gestattet und mathematische
Behandlung des laufes der Gestirne
|
• |
Musik |
|
– praktisch und theoretisch |
• |
Wissenschaft vom Gewicht und davon, wie es festgestellt wird (von den
Waagen)
|
• |
Wissenschaft von der Herstelllung von Instrumenten, Waffen, Gebäuden etc.,
wozu man die Mathematik benötigt
|
|
– |
Physik, d.h. Naturwissenschaften – von den natürlichen Körpern,
al-Farabi bezieht sich konkret auf Aristoteles |
– |
Theologie oder Metaphysik |
– |
Politische Wissenschaften – alles, was den Menschen und sein
Verhalten betrifft.
|
|
Auch Avicenna hat – unter dem Einfluß des Aristoteles und in der alexandrinischen spätantiken Tradition stehend – in
seinem Hauptwerk eine Gliederung der gesamten Philosophie vorgenommen, die er in
anderen Werken inhaltlich ausgeweitet hat:
|
A |
Logik |
|
Eisagoge, Kategorien, De Interpretatione, Syllogismus (= Erste
Analytik), Beweis (= Zweite Analytik), Dialektik (= Topik), Sophistik, Rhetorik und
Poetik
|
B |
Theoretische Philosophie resp. Wissenschaften |
|
Höchste Wissenschaft: die Theologie, Metaphysik |
|
|
„Mittlere“ Wissenschaften: |
|
|
Mathematik: Primäre = reine Mathematik: Arithmetik, Geometrie;
Sekundäre = angewandte Mathematik: Rechnen, Algebra, Flächenmessung. Mechanik,
Zugkraft, Waagen und Gewichte, Graduierte Meßgeräte, Optische Apparate und
Spiegel
|
|
Astronomie: Primäre = reine theoretische Astronomie; Sekundäre =
angewandte Astronomie: Aufstellung von astronomischen Geräten und geographischen
Tabellen
|
|
Musik: Primäre = reine Musik: Musik (Theorie); Sekundäre Musik:
Musikinstrumente
|
|
Physik: Primäre = reine Physik: Wissenschaft von Materie, Form
und Bewegung, von den primären Körpern, aus denen die Welt besteht, von den
Elementen, vom Entstehen und Vergehen, von den Himmelskörpern und Meorologie, von
den Mineralien, von den Geschöpfen, von den Pflanzen, von den Tieren, von der Seele
und ihren Fähigkeiten, von der menschlichen Seele, von der tierischen Seele;
Sekundäre = angewandte Physik: Medizin, Astrologie, Physiognomik, Traumdeutung,
Alchimie, Magie
|
|
C |
Praktische Philosophie resp. Wissenschaften |
|
Wiss. von der Verwaltung der Städte (= Politik) |
|
Wiss. von der Führung der Hauswirtschaft (= Ökonomie) |
|
Wiss. vom Menschen (= Ethik) |
|
In seiner Schrift zur Traumdeutung hat Avicenna bereits die drei später in der abendländischen Aufklärung zur
Grundlage der Systematik gemachten Fähigkeiten des menschlichen Geistes unterschieden:
|
– |
Gedächtnis: memoria,
|
– |
Verstand: ratio,
|
– |
Einbildungskraft: imaginatio |
|
Avicenna bemerkt dazu: "Vom Gedächtnis
wahrgenommene Erscheinungen werden durch Einbildungskraft aufgenommen, dem
Denkzentrum gemeldet, und das Denkzentrum stellt pflichtgemäß die Richtigkeit oder
Irrtümlichkeit der eingeprägten Erscheinunge fest und behält sie im Gedächtnis, um
sich im erforderlichen Augenblick an sie zu wenden."
|
Avicenna hat damit genau jene Kriterien benannt, die später die
abendländischen Klassifikationen bei Huarte, bei Francis
Bacon und der Enzyklopädisten bestimmen.
|
|
Die muslimische Philosophie bedient sich der hellenistischen
Denk- und Diskussionsweise und wird auch im Zusammenhang mit der Rezeption intensiv
betrieben, um die griechisch-hellenistischen wissenschaftlichen Arbeiten besser
verstehen zu können.
|
Für die philosophische Rezeption ist wesentlich, daß die Muslime von
vornherein nur einen neuplatonisch interpretierten Aristoteles kennenlernten und auch auf vermeintlich aristotelischen
Schriften aufbauten wie auf der sogenannten „Theologie des Aristoteles“, die in
Wahrheit eine Kompilation aus Plotins „Enneaden“ war, und auf dem „Buch der Gründe“ (eine Kompilation auf
Grundlage von des Proklos Elementen der Theologie).
|
Alle philosophischen Bemühungen wurden letztlich immer wieder von
religiös-teleologischen Aspekten überwölbt. Bereits ab dem 9. Jh kommt es zu einer
engeren Verbindung zwischen Philosophie und Mystik.
|
|
Al-Kindi gilt als der erste und größte aller arabischen
Philosophen; er stammte aus einer vornehmen arabischen Familie und trug den Beinamen
„Philosoph der Araber“. Als Prinzenerzieher am Abbasidenhof in Bagdad befand er sich
an der Quelle und vermochte so beträchtliche Kenntnisse der griechischen
Wissenschaft und Philosophie zu erwerben, er studierte eingehend – vom
neuplatonischen Gesichtspunkt aus – den Aristoteles, galt auch weiterhin den Muslimen als der erste und
entschiedene Aristoteliker; seine Originalität wird allerdings nicht als sonderlich
hoch eingeschätzt. Von Al-Kindi sind 265 großteils verlorene Werke zur Mathematik,
Astrologie, Physik, Musik, Medizin, Pharmazie und Geographie bekannt; nur 30 Werke
in arabischer und 4 in lateinischer Sprache sind erhalten; vieles ist von Gerhard von
Cremona ins Lateinische übersetzt worden. Noch nach 1945 sind 24 Schriften
al-Kindis neu entdeckt und in Kairo gedruckt worden. Al-Kindi war auch selbst interessiert und beteiligt an Übersetzungen aus
dem Griechischen in das Arabische. Noch Cardano hat Al-Kindi zu den 12 größten Gelehrten gezählt, s.w.u.
|
Die zwei bedeutendsten überlieferten Schriften Al-Kindis sind
|
– |
Fi l-aql – De intellectu, eine kurze, aber sehr einflußreiche Schrift,
die die weitere muslimische und auch scholastische Philosophie maßgeblich
beeinflußt hat, da sie bereits im 12. Jh zweimal ins Lateinische übersetzt worden
ist; die darin angestellten Überlegungen beruhen auf der neuplatonischen
Interpretation des tätigen Intellekts bei Aristoteles; al-Kindi nimmt drei Stufen des Intellekts, d.h. der Erkenntnis in den
einzelnen Seelen an: potentieller Intellekt (= Denkvermögen an sich),
aktualisierter oder erworbener Intellekt (= verfügbares, aber im Augenblick nicht
tätiges Wissen) und der Intellekt, der das erworbene Wissen anwendet und damit
nach außen hin manifest wird. Diese Vorstellung ist von nachfolgenden muslimischen
Philosophen wie Al-Farabi, Avicenna
und Averroes fortgeführt und ausgebaut worden.
|
–
|
Fi l-falsafa al-ula – Über die
erste Philosophie, dies ist das um 840 entstandene Hauptwerk Al-Kindis; es ist unvollständig, bildet aber als „erstes Buch“ in sich
eine geschlossene Einheit. Philosophie wird hier definiert als „das Wissen um das Wesen der Dinge, soweit es dem Menschen möglich
ist“. Al-Kindi differenziert klar zwischen theoretischer und
praktischer Philosophie und fordert – Aristoteles z.T. wörtlich übernehmend – Erkenntnis ex causis. In diesem Werk findet sich auch die berühmte
Stelle, man dürfe sich „nicht schämen, die Wahrheit
anzuerkennen und zu übernehmen, von wo sie auch komme, und sei es von früheren
Generationen und fernen Völkern“. Al-Kindi schränkt den Bereich der
Philosophie allerdings ein: sie könne den Menschen nur schrittweise an die
Wahrheit heranführen, während in der Offenbarung den Menschen die ganze Wahrheit
zuteil werde, da es sich dabei um göttliches Wissen handle. Alles, was nicht
bewegt sei, ist für Al-Kindi Gegenstand der Metaphysik.
|
|
Die Welt war für al-Kkindi nicht ewig: Gott ist
Schöpfer der Welt, die nicht ewig ist – weil sie von ihm erschaffen wurde; alles
ist endlich außer Gott, er vertritt diesbezüglich Platons Anschauungen – es sei unmöglich, daß die Vergangenheit unendlich
sei, wenn sie aber endlich ist, muß die Welt erschaffen sein, und zwar willentlich
aus dem Nichts. Die äußerste Sphäre des Kosmos ist für ihn lebendig und überträgt
das Leben auf die Welt. Gott hat keine Qualität, Quantität, Relation oder sonst
etwas, er ist die reine Einheit (die sich auch in den Erscheinungen der Natur
erkennen lasse), das Eine an sich, er kann auch nicht als Teil, Alles, Seele oder
Geist oder Bewegung gesehen werden. Die Seele ist ihm eine unsterbliche Substanz.
|
|
In seiner Philosophie hält sich Al-Kindi an die Dogmen
des Islam und ordnet das rationale Denken im Zweifelsfalle diesen unter. So strebt
er nach einer der Verbindung der islamischen Theologie mit der
aristotelisch-neuplatonischen Philosophie.
|
|
Neben Al-Kindi steht in der 1. H. des 10. Jhs die in
der Mitte zwischen Ultraorthodoxen und Ultramodernen stehende und der Mutazila
zuzurechnende Gruppe der Getreuen von Basrah (zu
deren Wissenschaftssystematik s.w.o.). Den Kosmos fassten die Getreuen von Basrah in
Analogie zum Körper des Menschen auf, und sie entwickeln in diesem Zusammenhang eine
Seinskette, die von der unbelebten Natur, den Mineralien über die Pflanzen und
schließlich die Tiere zum Menschen erstreckt – man hat diese Auffassung
verschiedentlich als eine frühe Form des Darwinismus interpretiert, was aber
insoferne nicht zutrifft, als man sich eine gegeben gestufte Hierarchie und nicht
eine Entwicklung, Evolution vorstellte.
|
In religiöser Hinsicht waren die Getreuen von Basrah – ihrem
Eklektizismus entsprechend – eher liberal. Ihre Schriften erfreuten sich großer
Beliebtheit.
|
Dieser Gruppe stand nahe: |
|
Rhases war einer der berühmtesten Ärzte überhaupt; er wurde
als Freidenker, der jegliche Offenbarung ablehnte, angefeindet, weshalb sein Werk
auch nur fragmentarisch und z.T. sekundär aus Kritiken überliefert ist. Rhases
stellt gewissermaßen den Höhepunkt einer „arabischen Aufklärung“ dar (s.w.u.) und
vertrat die Philosophie Platons
|
– |
as-Sira al-falsafiya – Die
Lebensweise eines Philosophen ist eine Art Rechtfertigungsschrift am Ende
seines Lebens. Philosophie ist ihm eine Nachahmung Gottes durch das Streben nach
Wissen, Ziel ist es, ein Maximum an Lust bei einem Minimum an Leid für sich und
alle anderen Lebewesen zu erlangen, Leid dürfe nur zugefügt werden, wenn daraus
der Menschheit ein größeres Gut entstehe. Die Welt sei aus fünf Urprinzipien
hervorgegangen: Gott, Materie, Seele, Raum, Zeit.
|
– |
At-Tibb ar-ruhani – die geistige
Medizin, befaßt sich mit ethischen Fragen.
|
|
|
Al-Farabi, auch der Zweite
Meister (nach Aristoteles) genannt; er stammte aus einer türkischen Familie in
Transoxanien und war einer der wegweisenden muslimischen Philosophen, der zwar den
Großteil seines Lebens in Bagdad verbrachte (wo er auch studierte), sich aber bewußt
von der Philosophie al-Kindis absetzte; seinerseits wurde er das Vorbild für Avicenna und Averroes. Al-Farabi stand ganz in der Tradition des Aristoteles, studierte aber auch Platon und die neuplatonischen Kommentare. Er war der Überzeugung, daß
nach den Griechen nun „die islamische Welt die Heimat
der Philosophie sei“ (Volpi-Rudolph). Al-Farabi ist in Damaskus gestorben,
wo sich ebenfalls ein Wissenschaftszentrum nach dem Vorbild Bagdads befand und wohin
er 942 berufen worden war. Er war einer der orginellsten muslimischen Denker und
gilt als erster muslimischer Vertreter einer nominalistischen Auffassung.
|
– |
Kommentare zu fast allen Werken
des Aristoteles – besonders wichtig sind jene zu verlorenen Werken des
Aristoteles)
|
– |
Kommentare zu Platons Staat und Gesetzen.
|
– |
De intellectu et intellecto -
Psychologie – Al-Farabi greift hier die schon von al-Kindi geführte Diskussion um den Intellekt weit umfassender und
kritischer auf und unterscheidet vier Arten des Intellekts: potentialer, aktualer,
erworbener und agens. Dem Menschen ist Freiheit eigen, sie ist das Vermögen zu
wollen, was möglich ist. Wie Al-Kindis Schrift wurde auch seine bereits im
12. Jh ins Lateinische übersetzt und damit nicht nur im muslimischen Bereich,
sondern auch in der Scholastik wirksam
|
– |
Was man wissen muß, bevor man Philosophie
studiert
|
– |
Versöhnung zwischen Plato und
Aristoteles – beruht auf einer vermeintlich Aristoteles zugeschriebenen, tatsächlich aber von Plotin stammenden Arbeit
|
– |
Die Ideen der Bewohner des
Musterstaates, nach Platons Staat, enthält auch ausführlichere metaphysische Überlegungen,
wobei er sich der Plotinschen Emanationstheorie bedient
|
– |
Ihsa al-Ulum - Aufzählung der
Wissenschaften, wurde von Gerhard
von Cremona übersetzt (s.w.o.)
|
|
Al-Farabi, der u.a. auch zu Musik und Poetik schrieb,
beschäftigte sich eingehend mit dem Gottesproblem. Erstellt eine Hierarchie der
Seinsarten absteigend vom Einen/Ersten, die 10 Intelligenzen hervorbringt. Wird dann
von Avicenna übernommen. Das Sein gliedert sich ein zufälliges und in ein
notwendiges, das erste hat eine Ursache, das zweite nicht das ist die Grundlage für
den dritten Gottesbeweis bei Thomas von
Aquin: aus der Zufälligkeit der Dinge schließen wir auf ein notwendiges
Wesen, weil sonst alles einmal nicht gewesen sein könnte, nämlich auf Gott = wir
haben nur die Ursache nicht erkannt.
|
|
Auch als Dritter
Aristoteles, als Meister des Wissens, Fürst
unter den Philossophen bezeichnet. Ibn
Sina war ein Schüler des Al-Farabi und ein bedeutender Mediziner. Als
Philosoph war er der größte Vermittler des griechischen Denkens an die Welt des
Islam, wobei er die Philosophie des Aristoteles mit der des Neuplatonismus verschmolz. Ursprünglich wollte er
sich eigentlich von der griechischen Philosophie befreien und eine eigenständige
Philosophie begründen, scheiterte aber daran vollständig und wurde (und blieb) der Peripatetiker unter den arabischen Philosophen.
Den "tätigen Verstand" des Aristoteles faßte er als Weltgeist auf. Sein Hauptwerk ist
|
– |
Al-Shifa = Sufficientiae, es umfasst Logik, Mathematik, Physik und
Metaphysik, klarer und übersichtlicher findet sich der Stoff in seinem
|
– |
Al-Najat = Buch der Thesen und Erklärungen
|
|
Avicenna ist der Höhepunkt der östlichen islamischen Philosophie, er hat
großen Einfluß auf die Philosophie der Hochscholastik, auf Thomas von
Aquin und vor allem auf Albertus
Magnus, ausgeübt.
|
|
Al-Ghazali ist ein entschiedener Gegner des Avicenna wie auch der Mutaziliten. Er war offenbar zuerst Theologe und
Jurist, dann Professor und Leiter einer Schule in Bagdad. Die Berechtigung der
Philosophie sieht er allein in der Vorbereitung auf die Theologie, in der er aber
nicht findet, was er sucht, worauf er sich der Mystik der Sufi zuwendet. Al-Ghazali war ein sehr scharfer Geist, übte starken Einfluß auf die
Dichtung aus und bewirkt einen starken Aufschwung der religiösen, islamischen
Philosophie, in der die Philosophie des Aristoteles nur mehr eine untergeordnete, schwindende Rolle spielt. Unter diesen Aspekten bedeutet Al-Ghazali praktisch das
Ende der „reinen“ Philosophie im Osten. Al-Ghazali hat ein umfangreiches
philosophisches Werk hinterlassen:
|
– |
Tahafut al-falasifah = Der innere
Widerspruch in dem System der griechischen Philosophie, 1095, diskutiert in
20 Thesen in zwei Abteilungen die Grundpositionen der griechischen und der
islamischen Philosophie, wobei er den Versuch bekämpft, das islamische Dogma aus
der griechischen Philosophie zu begründen (also gegen Al-Kindi). Wendet
sich scharf gegen die Vorstellung einer vor- und außergöttlichen Materie. In
seiner Philosophie unterscheidet er zwei Fragengruppen:
|
|
1. |
jene Fragen, die die Phiosophen als Ungläubige erweisen: die
Fragen nach der Ewigkeit der Welt, nach Auferstehung, nach Gottes Kenntnis in
besonderen Dingen (nicht nur in den Universalien).
|
2. |
Gruppe: sekundäre Probleme. |
|
– |
Die Intentionen der Philosophen
gibt – in Vorbereitung auf den Angriff – eine Zusammenfassung der Lehren des
Al-Farabi und des Avicenna,
|
– |
Die Inkohärenz der
Philosophen – dieses Werk ist ein sehr spitzfindiger Angriff auf Al-Farabi und Avicenna und erklärt die Philosophen für unfähig; dieses Werk löste den
Angriff des Averroes auf Al-Ghazali mit dem Buch "Die Inkohärenz der Inkohärenz"
aus
|
– |
Ihja ulum al-din = Belebung der
Wissenschaften und der Religion oder Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften, dies ist Al-Ghazalis Hauptwerk, in dem er versucht, den Islam von Formalismus zu
befreien und einen gemäßigten Sufismus238 zu
vertreten. Al-Ghazali führt Elemente des Sufismus in die sunnitische
Orthodoxie ein.
|
|
Die Weiterentwicklung Philosophie vollzieht sich fortan im
Westen, auf der iberischen Halbinsel und im Maghreb, und hier unter jüdischem
Einfluß mit Betonung der Rolle des Einzelnen gegenüber dem Ganzen, der Gesellschaft,
was schließlich in die Soziologie Ibn
Khalduns mündet.
|
|
Avempace ist der erste Aristoteliker in Spanien, er
verfasste zahlreiche Schriften in vielen Disziplinen, er war auch Arzt; zu erwähnen
sind
|
– |
Kommentar zu Aristoteles' De anima
|
– |
Die Leitung des Einsamen, ist
sein Hauptwerk, in dem er seine Vorstellung entwickelt, wie der Mensch durch die
Wissenschaft zur geistigen Vollendung gelangt.
|
|
|
Ibn Tufail war Wesir und Leibarzt des Almohadenherrschers im
Süden der iberischen Halbinsel, besaß eine große Bibliothek und betätigte sich auch
als Poet und als Amateurphilosoph. Sein Bestreben ist es die überlieferte
griechische Wissenschaft und orientalisches Wissen zu einer modernen Weltsicht zu
vereinigen. Er greift auf Avicenna zurück und vertritt in neuplatonischer Haltung die Vollendung des
Indivduums hin bis zur Gottesschau, was er in seinem philosophischen Roman
|
– |
Hai ibn Yaqzan – Der Lebende, Sohn des Wachenden (d.i. Gottes)
(andere Titelformen: „Philosophus autodidactus“, „Der von sich selbst gelehrte
Weltweise“) beschreibt, in dem ein auf einer einsamen Insel ausgesetztes und von
einer Gazelle gesäugtes Kind durch Beobachtung und Reflexion zu den höchsten
Stufen der Natur- und Gotteserkenntnis gelangt – es ist nicht bewiesen, daß dieser
Roman die Vorlage für Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ abgegeben habe. Der Roman wurde jedenfalls ab
1671 in den verschiedensten Sprachen herausgegeben, das erstemal in Oxford,
mehrere englische Auflagen um 1700 bezeugen die große Verbreitung, die erste
deutsche Ausgabe wurde von Johann Gottfried Eichhorn veranstaltet unter dem Titel "Der Naturmensch oder Geschichte
des Hai Ebn Yokdhan" (Berlin 1782).
|
|
|
Averroes ist der wichtigste Philosoph des muslimischen Westens und stellt
insgesamt die Vollendung der islamischen Philosophie dar. Seine Werke werden mit nur
geringer zeitlicher Verzögerung in das Lateinische übersetzt (vor allem durch Jakob
Anatoli, 1194-1256) und bewirken die Strömung der Averroisten (s.w.u.).
Averroes wirkte in einer Zeit, in der auch im Westen bereits eine
religiöse Bewegung gegen die zu freie Entfaltung der Wissenschaft und zu große
Unabhängigkeit von der Religion eingesetzt hatte. Ibn Tofail hat ihn dem
Almohadenherrscher vorgestellt, und es ist ein Bericht über diese erste Begegnung
erhalten, wobei aus der Gesprächsführung bereits erkennbar ist, dass die Situation
relativ delikat war. Ibn Rushd war Arzt239 und Jurist und einige Zeit hindurch
auch Richter in Sevilla, dann in Cordoba, bis er 1195 wegen angeblicher
Koranfeindlichkeit seiner Philosophie in Ungnade fiel, als das Studium der
griechischen Philosophie überhaupt verboten wurde, da Allah das höllische Feuer für
sie bestimmt habe; logische und metaphysische Schriften wurden damals verbrannt.
Später wurde er wieder zu Hof gelassen240.
|
Als Philosoph war Averroes – der wenig Eigenständiges erbracht hat – von fast religiöser
Verehrung für Aristoteles erfüllt, der ihm die höchste Vollendung der menschlichen Natur
war und von dem er nur als der Philosoph sprach.
Seine umfangreichen Aristoteles-Kommentare waren im Mittelalter "der Kommentar", Averroes selbst schlichtweg „der
Kommentator". Averroes war auch gar nicht bestrebt, selbst ein neues philosophisches
System aufzustellen, sondern lediglich bemüht, Aristoteles seiner Mitwelt besser bekannt zu machen, weshalb er eine Reihe
von Aristoteles-Kommentaren (meist dreifach) schuf. Durch diese Kommentare übte er großen Einfluß auf das christliche
Mittelalter und auf die weitere Entwicklung der Philosophie aus. Die
Kommentare existieren zum großen Teil nur in hebräischer und in lateinischer
Überlieferung, nicht aber auf Arabisch. Es ist bei Averroes zwischen drei Arten von Aristoteles-Kommentaren zu unterscheiden:
|
1) |
Große Kommentare, arab. sharh = der Aristoteles-Text wird als Ganzes reproduziert und Stück für Stück
erläutert, kommentiert wurden: die Metaphysik (auch auf arabisch überliefert), De
coelo und De anima, 1560-62 in 11 Bänden in Venedig gedruckt
|
2) |
mittlere Kommentare, arab.
talklis, lat. media expositio oder paraphrasis =
freie Paraphrasen zum Text, z.B. die Rhetorik,
|
3) |
Epitome, arab. jawami, lat. paraphrasis resolutissima = einfache Zusammenfassung ohne unmittelbaren
Bezug zum Aristoteles-Text.
|
|
An selbständigen philosophischen Werken des Averroes sind zu nennen
|
– |
Tahafut al-tahafut – Destructio
destructionis – Die Inkohärenz der Inkohärenz, es ist dies die Antwort auf
al-Ghazalis Angriff auf al-Farabi und Avicenna; Averroes agrumentiert, die Philosophen hätten das Recht, die
Religion im Lichte der Vernunft zu interpretieren, denn die Religion gesteht uns
das Recht zu, die Vernunft zu gebrauchen.
|
– |
Die Übereinstimmung zwischen der
Religion und der Philosophie: Die Religion treibt uns zur Erkenntnis des
Wahren; das Wahre kann sich nicht dem Wahren widersetzen, der Philosoph strebt
nach dem Wahren, also müssen Religion und Vernunft übereinstimmen, wo das nicht
der Fall ist, müsse die Religion im Sinne der Vernunft interpretiert werden; die
religiösen Texte enthielten zweierlei Sinn: einen äußeren für die Masse und einen
inneren für den Denker – daraus leitete man im Christentum den Vorwurf gegenüber
Averroes ab, er lehre zweierlei Wahrheiten, die "doppelte Wahrheit"241.
|
|
In den drei großen Fragen, die die Philosophie damals
beschäftigten: Ewigkeit der Welt, Freiheit Gottes oder Kausalität in der Natur und
Unsterblichkeit der Seele, vertrat Averroes die Ewigkeit der Welt in dem Sinne, daß die Materie in ihrer
Potenz immer schon vorhanden war und sein wird; sie bedarf aber der Form, die sie im
Schöpfungsakt Gottes erhält. So ist die Welt ewig und dennoch von Gott erschaffen –-
das ist der Kern des Averroismus in der Hochscholastik. Die ganze Welt wird durch
notwendig wirkende Naturgesetze beherrscht, deshalb kennt die Wissenschaft nicht die
Wunder der Theologie. Das Individuum, die einzelne Seele ist nicht unsterblich,
unsterblich ist nur der tätige Verstand, der für alle Menschen nur einer, nämlich
Gott ist – dies ist die zweite Grundthese des Averroismus.
|
Er wagte es, den Koran nach den Lehren des Aristoteles zu modifizieren, und sah in der Logik für den Menschen den
einzigen Weg, zu Glückseligkeit zu gelangen.
|
Damit ist Averroes vollständig dem Aristoteles gefolgt und hat die Dogmen des Islam preisgegeben. Er ist
deshalb von den Orthodoxen angegriffen worden und versuchte, durch die
Interpretation, der Koran habe mehrere Inhalte – einen buchstäblichen für die Masse
und einen hermetischen für die Denker –, sich den Angriffen zu entziehen; dies
führte zum Vorwurf der doppelten Wahrheit: es
könne, was für einen ungebildeten Gläubigen wahr ist, für einen Philosophen falsch
sein, weil für ihn etwas anderes wahr ist. Da aber sowohl die Lehre des Aristoteles als auch der Koran auf göttliche Eingebung beruhten, könne –
so argumentiert Averroes – zwischen beiden kein wirklicher Widerspruch existieren, weshalb
auch deshalb der Vorwurf der doppelten Wahrheit nicht zutreffe.
|
Mit dem sukzessiven Untergang der muslimischen Herrschaft auf
der iberischen Halbinsel nach der Schlacht von Las Navas de Tolosa (1212) geht auch
die arabische Philosophie unter, wenn es auch im Osten noch eine gewisse Nachblüte
gibt.
|
In Rezipierung, Auseinandersetzung und Fortführung des
naturwissenschaftlichen (insbesondere astronomischen) und mathematischen Erbes des
klassischen Altertums und der dann auch aus Indien, Südostasien und auch aus China
hinzukommenden Kenntnisse haben die muslimischen Denker – ähnlich wie es etwas
später im christlichen Abendland auch geschah – über die fachspezifischen
Vorstellungen hinaus von den theologischen Aspekten abgesonderte Vorstellungen
bezüglich rational orientierten wissenschaftlichen Handelns entwickelt, was sie
naturgemäß in Widerspruch zu traditionellen Vorstellungen und insbesondere zur
Offenbarungslehre bringen musste. Dies sei an zwei Beispielen skizziert:
|
al-Razi (lat. Rhazes, 865– 925) war der wohl größte Kliniker nicht nur der
Muslime, sondern des Mittelalters überhaupt. Er verkörpert den rational denkenden
Wissenschaftler im muslimischen Bereich schlechthin. Als skeptischer und rational
orientierter Philosoph und Arzt trat er gegen Kurpfuscher und Quacksalber auf und
vertrat öffentlich die Ansicht, dass auch ein noch so guter Arzt nicht alle
Krankheiten heilen könne; dem entsprechend unterschied er zwischen heilbaren und
unheilbaren Krankheiten und verwies in diesem Zusammenhang auf Krebs und Lepra.
Ursprünglich überzeugt von der Möglichkeit der alchemistischen Transmutation
minderer Metalle in Silber und Gold, soll er erklärt haben, er glaube (nach langen
Versuchen) nicht mehr an diese Möglichkeit. al-Razi hat entschieden jegliche Autorität zurückgewiesen und auf
kritischer Betrachtung aller Bereiche bestanden. Bezüglich der Medizin hat er das so
erläutert: „Medizin ist Philosophie
[=Wissenschaft] und das ist nicht vereinbar mit der
Zurückweisung von Kritik, auch nicht hinsichtlich führender Autoren“, wie
eben Galen, den er selbst der Kritik unterzieht – so sei auch Aristoteles von seinen Schülern kritisiert worden. So wie
wissenschaftliche Dogmen hat er auch religiöse Dogmen zurückgewiesen – die
religiösen Wunder beruhten nur auf Tricks der Propheten der drei großen
monotheistischen Religionen wie der Manichäer. Männer der Wissenschaft wie Euklid und Hippokrates
von Kos seien deshalb weit bedeutender als irgendwelche Propheten. Auf die
Frage, wie ein Philosoph es mit durch Propheten geoffenbarter Religion halte,
antwortete al-Razi: „Wie kann jemand philosophisch
denken und gleichzeitig doch Altweibererzählungen lauschen, die auf Widersprüchen
verstockter Unwissenheit und auf Dogmatismus beruhen?“. Von ihm ist eine
Autobiographie erhalten, die näheren Einblick in seine Wissenschaftsauffassung
bietet. Es ist bezeichnend für diese frühe Phase der muslimischen Welt, dass al-Razi trotz seiner erstaunlichen Ansichten keine ernstlichen
Schwierigkeiten bekam.
|
Ein anderes sehr bedeutsames Beispiel wissenschaftlichen Verhaltens ist
die Auseinandersetzung um die ptolemaischen Planetentheorie in der muslimischen
Astronomie. Der Mann, der die Kritik an Ptolemaios in besonderem Maße forcierte, damit eine Zäsur in der
muslimischen Astronomie bewirkte und dabei auch die Prinzipien wissenschaftlichen
Handelns ansprach, war al-Haytham, der im Westen vor allem in Bezug auf die Optik bekannt
geworden ist, nicht weniger aber enormen Einfluß in der Entwicklung der Astronomie
ausgeübt hat. In seinem Werk „al-Shukuk ala Batlamyus“ (= Kritik an Ptolemaios),
weist er aus eigener kritischer Auseinandersetzung mit Ptolemaios und in Reaktion auch auf von anderen Astronomen geübte Kritik
dem alexandrinischen Astronomen diverse Inkonsequenzen nach, aus denen schließlich
in vielen Details die Unmöglichkeit des ptolemaischen System resultiert. Al-Haytham erhebt den Vorwurf, der Almagest sei ein abstraktes Werk, in
dem Ptolemaios zur „Rettung“ theoretischer Ansätze geometrische Konstruktionen
eingeführt habe, die der physikalischen Wirklichkeit nicht gerecht würden242. Mit Al-Haythams Einwendungen verliert der Almagest
des Ptolemaios im Bereich der professionellen Astronomen seine unangefochtene
Position und man bemüht sich in der muslimischen Astronomie (insbesondere dann al-Tusi in Maragha), eine neue Theorie zu entwickeln, die sich an den
physikalischen Aspekten orientiert243. Für Al-Haytham, der auch in der Optik Kritik an Ptolemaios geübt und in beiden Bereichen bessere Theorien gefordert hat,
war klar, dass diese Forderungen erst von künftigen Generationen eingelöst werden
würde. Wissenschaft war für ihn bereits ein letztlich offener Diskussionsprozess.
Seine Kritik ist im Speziellen wie auch als ein generelles Phänomen sowohl im Osten
als auch im Westen des muslimischen Raumes von namhaften Denkern aufgegriffen
worden, die sich vielfach auf ihn beziehen.
|
An der Auseinandersetzung mit Ptolemaios entzündeten sich sehr interessante, ein allgemein kritische und
wissenschaftliches Vorgehen reflektierende Äußerungen al-Haythams, in der es um die Zielsetzung von Theorien ging, nämlich um
die Frage, ob eine Theorie die Erscheinungen „retten“ soll (wie dies schon bei Platon in Zusammenhang mit der Erklärung der Planetenbewegung als Problem
aufgetreten war244) oder ob sie die den Erscheinungen zugrunde liegende
Gegebenheiten erklären soll. Es ist bezeichnend für die Schwierigkeiten, denen
wissenschaftshistorische Untersuchungen und damit auch Darstellungen immer wieder
ausgesetzt sind, dass die Interpretation des in diesem Zusammenhang bei al-Haytham gegebenen Wortlautes einiger essentieller Passagen Gegenstand
laufender Auseinandersetzungen ist245. Al-Haytham entwickelt in seiner Kontroverse mit Ptolemaios das Bild einer Wissenschaft, die ein offenes und in steter
Entwicklung befindliches System ist, innerhalb dessen der einzelne, keineswegs
fehlerfreie Wissenschaftler agiert246; sein Vorwurf gegenüber Ptolemaios ist, dass er dieser gewissermaßen die Möglichkeit einer besser
Theorie als der seinen leugnet. Dies führt ihn zur Feststellung: „A person, who studies scientific books aiming at the knowledge of the
real facts, ought to turn himself into an opponent of everything that he studies,
he should thoroughly assess its main as well as its marginal parts, and oppose it
from every point of view and in all its aspects. And while thus engaged in his
opposition, he should also be suspicious of himself and not allow himself to
become abusive or be indulgent (in his assessment). If he takes this course, the
real facts will be revealed to him, and the possible shortcomings and flaws of his
predecessors’ discours will stand out clearly.”
|
Es zeugen diese Beispiele von einer hohen und fortgeschrittenen
Auffassung von wissenschaftlichem Handeln, die in Zusammenhang auch mit der kaum
abschätzbaren Intensität wissenschaftlicher Tätigkeit247 Zeugnis ablegt von einem lebhaftem
Wissenschaftsleben im muslimischen Bereich, das sich vom ausgehenden 8. Jh bis in
das 13., in Ausläufern bis in das 14. Jh erstreckt, dann allerdings weitgehend
erlischt.
|
Die Überleitung der im muslimischen Bereich erarbeiteten Erkenntnisse
in den lateinischen Westen ist für manche Autoren bzw. Fachgebiete einigermaßen
Geklärt (so z.B. in der Optik), in anderen wieder Gegenstand hitziger Diskussion (so
in Hinblick auf den zu vermutenden oder nicht unwahrscheinlichen, jedoch nicht
nachweisbaren Einfluss auf Kopernikus hinsichtlich der Planetentheorie, nicht jedoch
hinsichtlich der Heliozentrik), in wieder anderen Bereichen dürfte die Schwierigkeit
der Materie der Tradierung Grenzen auferlegt haben (dies ist für die Mathematik,
insbesondere die höhere Algebra, anzunehmen). Nicht übersehen werden darf, dass sich
ab dem 12. Jh Tradierung klassischer wie älterer muslimischer Autoren im Wege des
Übersetzungswerkes und Neuentwicklung im muslimischen Bereich zeitlich
überlappten.
|
|
Unter jüdischer Philosophie wird in der Regel eine Verbindung von
wissenschaftlicher Philosophie und jüdischer Theologie verstanden. Hier ist
zurückzugreifen auf die jüdisch-hellenistische Philosophie in Alexandreia
|
|
Philon von
Alexandria ist um den Ausgleich zwischen der griechischen Philosophie und der
jüdischen Religion bemüht, er erstellt eine komplette Gotteslehre, in der der Logos
der ältere Sohn, die Welt der jüngere Sohn Gottes ist. Der Logos ist Ort der
platonoischen Ideen und Vermittler zwischen Gott und der Welt. Kommentiert den
Pentateuch, die Genesis etc., wobei er zur allegorischen Deutung übergeht, um die
Inhalte mit philosophischen Vorstellungen in Einklang zu bringen. Was mit dem
Pentateuch absolut nicht zu koordinieren war, verwarf er. Philon von
Alexandria, der die jüdischen religiösen Vorstellungen zu verteidigen suchte,
scheint mehr Wirkung bei den Christen als bei den Juden gehabt zu haben.
|
Eine so zu bezeichnende jüdische Philosophie gibt es in
weiterer Folge erst wieder im Zusammenhang mit der Entwicklung von Philosophie im
Islam – eine Folge der Akkordierung des Islam mit der griechischen Philosophie in der
Frühzeit und der Assimilierung der Juden im muslimischen Bereich, die ja auch zur
Folge hatte, dass nicht wenige jüdische Philosophen erst im 19. und 20. Jh als solche
erkannt worden sind, nachdem sie zuvor für Araber gehalten worden waren.
|
Auch für die jüdische Philosophie nimmt Aristoteles im weiteren lange eine zentrale Stellung ein. Man kann für das
Mittelalter in etwa in folgende Richtungen gliedern:
|
– |
transformierter platonisch-aristotelische Philosophie, s.
Gebirol
|
– |
die mystische Richtung der Kabbala mit den beiden Büchern Jezirah
(= Schöpfung, 9. Jh) und Sohar (= Glanz, 12. Jh, vielleicht 1300 durch Mose ben Schem Tob
de Leon niedergeschrieben), einzelne kabbalistische Grundlehren sind älter,
daher gibt es auch unterschiedliche, z.T. weiter zurückgehende Datierungen.
|
|
|
stammte aus Ägypten, war jüdischer Philosoph und ab 928 Leiter
der rabbinischen Akademie in Sura bei Babylon, wo er auch gestorben ist (nach seinem
Tod verlagert sich das Zentrum der jüdischen Gelehrsamkeit von Babylon nach Spanien).
Gaon
ist der Begründer der jüdischen Religionsphilosophie; stand aber offensichtlich unter
dem Einfluß der islamischen Mutaziliten. Er schrieb teils arabisch, teils hebräisch,
schuf eine arabische Übersetzung des Alten Testaments, die bis heute verwendet wird,
sowie talmudische Kommentare und auch juristische Werke. Seine Hauptleistung ist
das
|
– |
Buch von Glaube und Wissen,
gewissermaßen ein apologetisches Essay zugunsten der jüdischen Religion, in dem
Gaon
das menschliche Wissen und seine Quellen erläutert: die Sinne, die Vernunft (sie
erkennt aus sich heraus wahren Sätze), die Schlußfolgerung und verläßliches Zeugnis.
Die ersten drei Wege stehen für ihn mit der Religion in Einklang. Deshalb ist ihm
die menschliche Vernunft auch befähigt, ohne göttliche Offenbarung die grundlegenden
ethischen Wahrheiten und Prinzipien zu erkennen. Die Welt ist für ihn geschaffen,
kann nicht von jeher existiert haben, denn dann müßte ja vor der jeweiligen
Gegenwart bereits ein unendlich langer Zeitraum verstrichen sein – das ist ihm aber
nicht möglich; und dies ist ihm gleichzeitig Beweis der Existenz eines
Schöpfers.
|
|
Gaon war in vieler Hinsicht ein Pionier, er gründete eine neue Schule der
biblischen Exegese, die rationale, wissenschaftliche Untersuchung der Inhalte wie der
Texte gekennzeichnet ist; wobei er stets den gesamten Text zu betrachten bemüht ist.
Gaon
kann auch als Begründer der hebräischen Philologie gesehen werden, er verfaßte die
erste hebräische Grammatik und ein kleines hebräisches Wörterbuch, das in der Bibel
nur selten verwendete Wörter verzeichnet, mit dem Titel Agron (= Zusammenstellung),
das viel verwendet wurde und als Grundstein der hebräischen Lexikographie und auch
einer komparativen Philologie gilt (Gaon
erklärte hebräische Begriffe mit Hilfe des Arabischen); der Titel Agron war lange ein
Synonym für „Wörterbuch“; das Werk entstand im Zusammenhang mit der gleichsam
endgültigen Erstellung des hebräischen Textes des Alten Testaments durch ben Asher von
Tiberias, dessen Text, die Masorah, der der später gedruckten Fassungen
ist.
|
|
Yisraeli wurde wie sein Zeitgenosse Gaon in
Ägypten geboren und war ein angesehener Mediziner (insbesondere Ophthalmologe), dessen
Werke 1087 in das Lateinische übersetzt und in Salerno verwendet wurden; 1515 sind sie
in Lyon gedruckt worden. Er verfasste neben naturphilosophischen Schriften (über die
Elemente, über die Substanzen) auch ein
|
– |
Buch der Definitionen, aus
welchem Werk Thomas von
Aquin seine Definition des Begriffes „Wahrheit“ übernimmt, was er auch
durch ein Zitat belegt.
|
|
Yisraeli ist stark vom Neuplatonismus beeinflußt, den er in die jüdische
Philosophie einführt. Er vertritt die Auffassung, daß Gott die Welt aus den Nichts
erschaffen habe. Yisraeli unterscheidet zwischen den Erleuchteten, die die göttliche Wahrheit
unmittelbar verstehen, und den anderen, die nur das verstehen können, was ihnen in den
Bildern der Sinnenwelt übermittelt wird.
|
|
Gabirol gilt als "der jüdische Platon"; Platon
ist der einzige bei Gabirol namentlich genannte Philosoph! Gabirol wurde von den
christlichen Scholastikern für einen Araber (Abu Ajjub Soleiman ibn Jahja ibn Gabirul)
gehalten – die Gleichsetzung bzw. seine jüdische Herkunft ist erst 1846 durch einen
Fund in der Pariser Nationalbibliothek geklärt worden. Gabirol war nicht nur
Philosoph, sondern auch ein gefeierter Dichter und wurde von den muslimischen
Herrschern in Spanien gefördert. Er war einer der ersten Vertreter des Neuplatonismus
in Europa und hat seine Philosophie konsequent von jüdisch-religiösen Vorstellungen
frei gehalten, dem entsprechend hat er im Judentum keine Wirkung erzielt, wohl aber in
der christlichen Philosophie großen Einfluß ausgeübt, indem sein Werk zum Streitpunkt
zwischen den platonistischen Franziskanern und den aristotelischen Dominikanern wurde,
wobei Gabirol für einen Christen gehalten wurde. Sein Hauptwerk
|
– |
Mekor Chayim – Fons vitae – Quelle des Lebens (auch unter dem inhaltsbezogenen
Titeln „De materia et forma“ bzw. „De materia universali“) besteht eigentlich aus
fünf Arbeiten und wurde ursprünglich in arabischer Sprache geschrieben; es enthält
eine weitgehend platonische Philosophie in Dialogform (Lehrer-Schüler) und hat
bedeutenden Einfluß auf die Scholastik ausgeübt. Das Original ist verloren, es
existieren nur lateinische Übersetzungen (eine in Lilienfeld in Niederösterreich).
Gabirol setzt die neuplatonische Philosophie bereits voraus, er nimmt eine
universale Materie an, die eigentlich immateriell ist und erst in Zusammenhang mit
Form materiell wird – universale Materie + universale Form = universal Seiendes. Das
Bindeglied ist der Wille Gottes. Alles andere sind individuelle Ausformungen. Gabirol vertritt also eine strikt dualistische Metaphysik.
|
– |
Vervollkommung der Eigenschaften der
Seele – eine kleine, aber originelle Ethik, die 1045 in Saragossa entstanden
ist und ein System abseits religiöser Vorstellungen entwirft.
|
|
Die jüdische Philosophie wird im 12. Jh vom Aristotelismus
erfaßt – allerdings von dem durch die Muslime betriebenen neuplatonisch eingefärbten
Aristotelismus: der Erste Beweger des Aristoteles ist weitgehend schon der Eine des Neuplatonismus. Der
berühmteste jüdische Philosoph des Mittelalters ist
|
|
Wurde und wird auch einfach RaMbaM genannt. Maimonides – sein arabischer Name lautet: Abu Imran Musa ibn Maimun ubn Ubad
Allah – war ein Zeitgenosse des Averroes und wurde in Cordoba geboren; als dieses von einer fanatischen
muslimischen Sekte übernommen wird, flieht die Familie und läßt sich schließlich 1159
in Fez in Marokko nieder, zog dann 1165 nach Jerusalem, dann nach Alexandria und
schließlich nach Kairo, wo Maimonides Oberhaupt der jüdischen Gemeinde in Ägypten und Leibarzt des
Sultans wird. Er verfügte trotz aller Schwierigkeiten über eine exzellente Ausbildung
und wird ein führender jüdischer Rechtsgelehrter, der sich um eine systematische
Kodifikation des Rechts bemüht. Der Medizin widmete sich Gabirol erst in späten
Jahren aus finanziellen Gründen. Maimonides bewundert Al-Farabi; seine eigenen philosophischen Schriften
sind nicht übermäßig originell, haben aber ganz wesentlich dazu beigetragen, daß die
Juden sich eingehend mit der aristotelischen Philosophie zu beschäftigen begannen,
wodurch sie ja schließlich zu ihrer hervorragenden Rolle im Übersetzungswerk befähigt
wurden.
|
– |
Dalalat al-Hairin – More Nebuchim –
Dux perplexorum – Führer der Umherirrenden, der Unschlüssigen; dieses Werk
wurde um 1190 vollendet, war ursprünglich arabisch geschrieben, wurde aber noch zu
des Maimonides Zeiten vom Samuel ben Tibbon ins Hebräische übersetzt und schwer angegriffen als Verrat an der jüdischen
Religion zugunsten der griechisch-muslimischen Philosophie. Die „Unschlüssigen“ sind
wohl jene, die nicht wußten, wie sie die Philosophie mit dem Glauben in
Übereinstimmung bringen sollten; der „Führer“ ist Aristoteles, der von den Propheten abgesehen, die höchste Stufe
menschlicher Erkenntnis erstiegen habe und dessen Werk die Grundlage für alles
wissenschaftliche Erkenntnisstreben sei,
|
|
Lediglich in der Frage des Ewigwährens der Welt verwirft Maimonides die Auffassung des Aristoteles, beharrt beim Glauben und nimmt die Erschaffung der Welt aus
dem Nichts an. Maimonides, der in seinen Schriften primär nach der Erklärung unklarer
Stellen im Alten Testament und bei den Propheten strebt, findet allerdings, daß der
Großteil der Naturwissenschaften und die Wissenschaft von Gott von der Masse der
Menschen ferngehalten werden sollten, weil diese nicht fähig seien, sie
verstandesmäßig zu erfassen. Maimonides meint, daß wir von Gott eher erfassen, was
er nicht ist; denn was er ist, ist er in solcher Vollendung, daß es uns unerfassbar
ist. In Zusammenhang mit seinem Gottesbeweis stützt er sich auf 25 Hypothesen, die
von Aristoteles und anderen nach ihm bewiesen worden seien, und fügt eine
26. These selbst dazu, nämlich die der Ewigkeit der Welt, die er mit der Annahme
eines Schöpfungsaktes auszugleichen sucht. Die aristotelische, durch Avicenna wirksam verbreitete Ansicht, daß alles vom unbewegten Beweger
ausgehe, also eine außerordentlich starke, wenn nicht überhaupt alles beherrschende
Determinierung vorhanden sei, hat Maimonides dahingehend abzumildern gesucht, daß er von der freien
Schöpfung der Welt durch Gott (nach dem Pentateuch) ausgegangen ist, Gott habe die
Welt nach seinem freien Willen so und nicht anders, und nicht aus Notwendigkeit
geschaffen.
|
|
Der „Dux perplexorum“ ist im 13. Jh ins Lateinische übersetzt
worden und übte großen Einfluß auf christliche Philosophen, vor allem auf Thomas von
Aquin, aus; später noch auf Spinoza, der ihn im seinem „Tractatus theologico-politicus“
kritisierte.
|
|
Maimonides verfasste außerdem noch zehn medizinische Arbeiten in arabischer
Sprache, darunter ein vergleichendes Wörterbuch für 2000 Heilmittel in arabischer,
griechischer, persischer, spanischer und berberischer Benennung, aber ohne genau
Beschreibung.
|
Maimonides hatte große Auswirkung nicht nur auf die nachfolgenden jüdischen
Gelehrte, sondern auch auf christliche – Thomas von
Aquin zitierte ihn als "Rabbi Mose". Alle der rationalen Philosophie
anhängenden Juden waren entweder dem Maimonides (konservativ) oder dem Averroes verhaftet, dies waren im weiteren die beiden Hauptrichtungen in der
jüdischen Philosophie, wobei die Maimonides folgende Richtung überwog.
|
Im Judentum gibt es im 13. Jh vor allem in Frankreich, in
Italien und auch in Böhmen hervorragende Talmudisten.
|
In Frankreich lebte Nicholas Donin
von La Rochelle ( – ), ein zum Christentum übergetretetener Jude, der durch
Verleumdungen des Talmud beim Papst etc. maßgeblich zur Judenverfolgung im 13. Jh
beigetragen hat; 1240 hat Ludwig der Heilige alle Juden in Frankreich aufgefordert,
ihre Talmud-Handschriften abzuliefern, und arrangierte dann eine öffentliche
Talmud-Diskussion zwischen vier Rabbis und Donin,
die am 12. Juni 1240 begann und an der auch Albertus
Magnus teilgenommen hat. Sie endete mit der Verdammung des Talmud und der
Verbrennung zahlreicher Exemplare und anderer jüdischer Bücher in Paris. 1247/48 gab
es eine neuerliche Diskussion, die rasch durch eine neue Verurteilung des Talmud
beendet wurde – dies alles hat die Talmudstudien in Frankreich schwer getroffen248, hat aber das
Interesse der Nichtuden am Hebräischen, um den Talmud selbst lesen zu können, eher
gesteigert. Schwere Verfolgung erlitten die Juden aber auch in Spanien durch die
Dominikaner und in England, wo Edward I. die Juden mit 1. November 1280
ausgewiesen hat.
|
In der 1.H. 13. Jh kam es zur weiteren Ausformung der Kabbala vor allem bei den spanischen, aber auch bei den deutschen
Juden (Judah Ha-Hasid von Regensburg und Eleazar von
Worms, der das Sefer ha-roqeah, Das Buch der Wohlgerüche schrieb).
|
Bei den Juden ist zu unterscheiden zwischen den spanischen, den
katalanischen, den provencalischen, den italienischen und den deutschen Juden. Unter
den Provencalen sind Moses Ben Tibbon und Jacob Ben
Mahir hervorzuheben, die zu den besten
Kennern der griechischen und arabischen Welt dieser Zeit zählten und neben ihrer
intensiven Übersetzungstätigkeit mit dem Talmudismus befasst waren und enormes
Interesse an philosophischen Fragen bewiesen.
|
Die jüdische Philosophie ist bezüglich der
aristotelisch-muslimischen Philosophie und Weltauffassung gespalten, es gibt glühende
Verteidiger und Verdammer.
|
|
Gerson war ein Anhänger des Averroes. Er wurde in Südfrankreich geboren, lebte meist in Orange, Avignon
und in Perpignan. Obgleich er verschiedentlich als Rabbi bezeichnet wurde, hat er
diese Funktion nie ausgeübt. Er war Mathematiker und Astronom, verfaßte aber auch
einen Kommentar zum Pentateuch und zu anderen biblischen Schriften. Gerson
hat sich kritisch mit Aristoteles auseinandergesetzt und sich ihm in dieser Kritik wohl mehr
genähert als die meisten anderen jüdischen Autoren. Gerson vertritt die
Erschaffung der Welt aus freiem Willen Gottes, aber nicht aus dem Nichts; sondern aus
einer ewigen unerschaffenen Materie; die Zeit beginnt für ihn mit dem Schöpfungsakt.
Gerson bewahrte sich bei aller Anerkennung des Averroes und des Aristoteles in seinem Ringen um eine Synthese von Talmud und Aristotelismus
dennoch seine Unabhängigkeit als Denker und steht offen zu Widersprüchlichkeiten. Er
ist deshalb seitens der Orthodoxie der Häresie bezichtigt worden. Obgleich von ihm nur
ein größeres Werk bekannt ist, gilt Gerson doch als neben Maimonides bedeutendster jüdischer Philosoph des Mittelalters. Sein
Hauptwerk ist
|
– |
Sefer Milhamot Adonai – Die Kämpfe
Gottes, entstanden zwischen 1317 und 1329; er behandelt darin eine Reihe von
seiner Meinung nach von Maimonides und anderen nur unbefriedigend und unvollständig behandelten
Fragen bezüglich der Materie, der Prädestination, der Seele u.a.m. und befasst sich
im letzten Buch auch mit der Astronomie.
|
|
Gerson hat darüber hinaus eine Reihe von Kommentaren, vor
allem zu Aristoteles, verfasst.
|
|
Crescas entstammte einer Gelehrtenfamilie in Katalanien; er bewertete die
Absicherung der jüdischen Religion gegenüber der rationalen griechisch-muslimischen
Philosophie durch Gaon, Maimonides oder Gerson als zu schwach. Neben anderen Schriften verfasste er
vor allem
|
– |
Or Hashem – (Or Adonai) – Das Licht des Herrn, eine interessante Kritik der
Physik des Aristoteles, indem er zwischen Ort und Raum unterscheidet, was Aristoteles in ungenügender Weise getan habe, Crescas streift dabei auch das Vakuum-Problem. Und kritisiert Gerson
hinsichtlich der Zeit: unendliche Zeit sei auch endlich zu denken, denn es gebe
ausgewählte, willkürliche Zeiteinheiten wie Tage, vor denen liegen andere endliche
Zeiteinheiten, und das eben unendlich. Die Frage, ob die Welt von Ewigkeit her
geschaffen sei oder nicht, ist ihm zweitrangig, wichtig ist ihm die Anerkenennung
des Schöpfers, und dessen Haupteigenschaft sei nicht, wie bei Aristoteles das Denken, sondern die Gutheit – Crescas geht von der rationalen Ebene zurück auf die ursprüngliche, die
religiöse. Er diskutiert neuerlich Determiniertheit und freien Willen, Abhängigkeit
bzw. Unabhängigkeit vom Willen Gottes, damit verbunden die Frage nach dem Bösem bzw.
dem Sinn von Strafe – wenn alles determiniert ist, ist Strafe sinnlos. – In mancher
Hinsicht gelangt Crescas zu jener Position, die auch Al-Ghazali eingenommen hat: der
Philosophie komme hinsichtlich der Erfassung Gottes keinerlei Kompetenz zu. Er hat
auch noch Spinoza beeinflußt.
|
|
Die Versuche, einen Ausgleich zwischen dem Gesetz Mosis und der
Philosophie des Aristoteles zu schaffen, wurden von nicht wenigen orthodoxen Juden als
Ausdruck der Unterwerfung unter den Rationalismus der Philosophie bewertet – die
Philosophen seien in erster Linie Philosophen und erst in zweiter Linie vielleicht
jüdische Gläubige.
|
Der reflektierende Verstand aber konnte sich immer weniger bereit finden,
die stark anthropomorphen Aussagen der Bibel über Gott wörtlich zu nehmen – so öffnete
sich wie im Islam und im Christentum die Kluft zwischen fides und ratio. Im jüdischen Bereich
entwickelte sich daraus die Tendenz, den eigentlichen Sinn der Offenbarungstexte
hinter der vordergründigen Aussage zu suchen, also eine spirituelle, hermetische
Bedeutung des Textes aufzuspüren. Dies dies ist der Weg zur Entwicklung der Kabbala (=
Tradition), die eine Mischung aus jüdischem, persischem, hellenistischem und
gnostizistischem Gedankengut ist. Sie versteht sich trotz der Verwendung
philosophischer Elemente als über der rationalistischen Philosophie stehend und
begründete eine neue mystische und theosophische Richtung – was durchaus in der
Tradition auch des Neuplatonismus zu sehen ist. Die Bewegung der Kabbala verdichtete
sich nach Anfängen in der Antike im 12. Jh in Frankreich und Spanien und mehr noch im
13. Jh249.
|
Auf Grund ihrer besonderen Situation – in Assimilation oder in
die Eigenständigkeit betonender Hinwendung zum religiösen Tradition des Judentums –
haben die Juden, die ja auch rein zahlenmäßig in keiner vergleichbaren Situation
waren, eine eigenständige rational wissenschaftliche Betätigung nicht in dem Ausmaß zu
entwickeln vermocht, wie dies bei den Muslimen und später im Christentum der Fall war;
sie sind vielmehr im einen wie im anderen Bereich integriert worden.
|
|
Bezüglich des Wiedereinsetzens wissenschaftlichen Lebens und
Denkens im lateinischen Mittelalter und in der Frühen Neuzeit sind drei Phasen zu
sehen:
|
1) |
Die Zeit des Neubeginns aus der direkten Überlieferung im Wege der
Spätantike heraus (auf der Grundlage von Autoren wie Boethius, Isidor von Sevilla, Donat) und – nachdem es zuvor lange keine
größeren und schon gar nicht kulturell mächtigen staatlichen Gebilde in Kerneuropa
gegeben hatte – ausgeweitet in der karolongischen Renaissance bis hin in das 11. Jh,
bis zum Einsetzen des Übersetzungswerkes; inhaltlich handelt es sich dabei um die
mühselige Wiedererarbeitung der Basiskenntnisse in der Logik, der Mathematik und der
Astronomie und um die Erringung eines bereits beachtlichen Niveaus der Kritik, die
sich auf Grundlage der Logik vor allem im Sprachlichen bemerkbar macht.
|
2) |
Die Zeit des Übersetzungswerkes und damit der Rezipierung des Aristoteles; diese Phase, die vom 11. bis in das ausgehende 13. Jh währte,
eröffnete weitgehend den Zugang zu den Errungenschaften des klassischen Altertums und
im späteren Verlauf auch der diese fortführenden, erweiternden muslimischen
Leistungen; dabei ist jedoch nicht zu übersehen, dass es sich dabei nicht um einen
homogenen und problemslosen Prozess handelt, sondern um eine Durchdringung des bis
dahin Erarbeiteten durch neue Inhalte in höchst unterschiedlicher Qualität, da ja
anfangs viele klassische Autoren nur in mangelhaften oder überhaupt nur sekundären und
im Lichte späterer Entwicklungen interpretierten Überlieferungen oder Kommentaren
zugänglich waren und erst sukzessive die ursprünglichen Fassungen erkannt werden
konnten (wozu u.a. im 13. Jh der Rückgriff auf griechische Überlieferungen beigetragen
hat). In dieser Phase entwickelt sich auf Grundlage des kritischen
Grundverständnisses, wie es in der ersten Phase entstanden ist, und der enormen
Entwicklung der logischen und sprachlichen Instrumentariums neuerdings eine rationale
Philosophie bzw. Wissenschaft, die sich erfolgreich von der Theologie zu lösen vermag
und die Grundlage bildet für die gesamte weitere Wissenschaftsentwicklung.
|
3) |
Die Zeit ab der Wende vom 13. zum 14. Jh bis in das beginnende
17. Jh, in der das eigenständige Erarbeiten in Fortführung des Übernommenen zu
überwiegen beginnt und – in den verschiedenen Bereichen unterschiedlich – eine
autochthone Entwicklung einsetzt, die schließlich über die klassischen wie die
muslimischen Errungenschaften hinausgeht. Diese Phase ist wesentlich bestimmt von der
teils harmonischen, teils aggressiven Loslösung von den Traditionen – von Aristoteles einerseits und dem Einfluss der Theologie andererseits.
|
|
|
Der Großteil des hier zu behandelnden Zeitraumes fällt in eine
Periode, die unter christlich-theologischem Aspekt als Scholastik bezeichnet wird. Mit
dem Begriff Scholastik ist in Europa in der Regel die lateinische Scholastik gemeint,
der jedoch eine zumeist übersehene griechische Scholastik vorangeht, die bis zur
Schließung der Schulen in Athen (der „platonischen Akademie“) im Jahre 529 dauert, und
neben der auch eine arabische Scholastik steht, mit ihren Häuptern Avicenna und Averroes.
|
Unter „Scholastik“250 wird ein über mehr denn ein halbes Jahrtausend währender
und in vier Stufen251 gegeliederter Prozeß bezeichnet, der bei aller Vielfalt
seiner Erscheinungen geprägt ist
|
– |
von einem engen Naheverhältnis von Religion und Philosophie;
andererseits aber ist sie die Zeit der Ablösung der Philosophie von der Theologie –
wobei zu berücksichtigen ist, daß der Begriff „Philosophie“ damals noch alle
wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen in sich birgt;
|
– |
von der griechischen Philosophie des Altertums, erst der Platons,
dann vor allem der des Aristoteles, aber auch durch neuplatonische und nicht geringe
arabische Einflüsse im Wege der Rezipierung der Übersetzungen aus dem Arabischen und
durch die umfassenden Aristoteles-Kommentare vor allem des Averroes, der stark auf Thomas von
Aquin einwirkt;
|
– |
der seine eigenen Metho | |