« zurück
Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:usb-06C-352 | Druckversion | Metadaten
Quelle: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 93( 1983) 113–130; auch in U. S.-B., Flaubert. Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats, Münster, LIT, 1995, 85–104.

Die Sprachlosigkeit der Félicité

Zur Interpretation von Flauberts Conte Un coeur simple

Verglichen mit den anderen Werken ihres Autors, fanden die Trois Contes und unter ihnen insbesondere Un coeur simple (CS) eine bemerkenswert freundliche Aufnahme. Die zeitgenössischen Rezensionen waren – trotz der ablehnenden Stellungnahme Ferdinand Brunetières – überwiegend positiv, [1] und auch später ließ die Kritik es an Lob nicht fehlen. Dabei gefiel CS vor allem jener Schule historisch-biographischer Literaturerklärung, die von P. M. Wetherill als „biocritique“ bezeichnet [2] – bekanntlich lange Zeit eine französische Spezialität bildete. Sie freute sich, hinter der Erzählung ein ganzes Mosaik Flaubertscher Kindheitserinnerungen freilegen zu können, [3] was dann – nach der Identifikation eines Großonkels im Marquis de Grémanville, einer Großtante in Mme Aubain, der Schwester Caroline und Flauberts selbst in den Kindern Paul und Virginie – das befriedigte Fazit erlaubte: „Ici tout est vrai, tout a été pris sur le vif, et l’imagination n’a que fort peu de place“. [4]
Erschien CS solcherart als „fait de souvenirs assemblés“, lag es nahe, dem Conte insgesamt Züge des Idyllischen zuzusprechen. [5] Sie wurden – wie man meinte – bestätigt durch den Einfluß George Sands, die ihren Freund in einem Brief vom 18. Dezember 1875 ermunterte, seine düstere Literatur der „désolation“ zugunsten philanthropischer „consolation“ aufzuhellen. [6] Eben diese Aufhellung im Moralischen wie im Ästhetischen hat die Kritik an CS mit begreiflicher Genugtuung immer wieder hervorgehoben. So schreibt René Dumesnil: „Dans l’oeuvre de Flaubert, empreinte d’un pessimisme altier, Un Coeur simple apparaît comme un repos, comme une détente“, und das gilt um so mehr, als: „C’est George Sand qui a inspiré ce conte, ou plutôt qui l’a commandé“. [7] Ähnlich lautet die Einschätzung Albert Thibaudets, der den Conte gegen Brunetières Vorwurf der „dérision“, „rudesse“ und „brutalité comique“ verteidigt: „Un coeur simple marque au contraire un tournant dans la littérature de Flaubert, vers plus d’amitié et de pitié humaines“, [8] während sich am entschiedensten in diesem Sinne Maurice Nadeau äußert: „Dans ce chef-d’oeuvre de naturel, les bons sentiments font de l’excellente littérature“. [9] Nur folgerichtig wirkt darauf die Meinung, das „chef-d’oeuvre de naturel“ stelle auch in seiner Erzählstruktur „la plus simple, la plus naïve, la plus ‚réaliste‘ des histoires“ dar [10] und vermittle – nach Thibaudet – vor allem „une [...] impression de simplicité, d’aisance et d’émotion directe“. [11]
In Wahrheit spricht indessen vieles dafür, daß es um die Erzählung weder so einfach noch so tröstlich bestellt ist, wie die Interpreten versichern, und daß der Eindruck einer Manifestation von allgemein akzeptablen „bons sentiments“ nicht ohne gewaltsame Verdrängung entstehen konnte. Tatsächlich gehören solche Zweifel an der traditionell unterstrichenen lichten Moralität des Conte seit geraumer Zeit zur Tagesordnung der neueren Flaubert-Kritik. Ben Stoltzfus und English Showalter Jr. z. B. nehmen in CS eine ausgesprochen anti-religiöse Ironie wahr. [12] Victor Brombert bemerkt zwar einerseits Elemente von „consolation“ und „hagiography“, andererseits jedoch auch „satirical overtones“, die mit den ersteren nicht recht zusammenpassen wollen. [13] In die gleiche Richtung weist Wetherills prägnanter-formulierte Erklärung: „Je suis de ceux qui croient que, sans cesser d’être profondément émouvante, la fin du conte est d’une ironie féroce – suprême polysémie: on ne sait trop sur quel pied danser“. [14] Diese Erklärung läßt eine Perplexität erkennen, der ich nachdrücklich beipflichten möchte. Freilich scheint sie mir deshalb doppelt gerechtfertigt, weil in ihr Paradoxien nachwirken, die nicht einfach durch den geläufigen Hinweis auf die Polysemie eines „texte indécidable“ [15] abzugelten sind. Vielmehr geht es bei ihnen um bestimmtere Aporien, welche die historisch unverwechselbare Grundfigur des Flaubertschen Spätwerks ausmachen, an der CS nicht weniger teilhat als das stets direkter irritierende Romanfragment Bouvard et Pécuchet. Diese Figur zumindest skizzenhaft anhand einer Erzählung zu beschreiben, die ihr auf den ersten Blick offenbar eklatant widerspricht, ist die Absicht des folgenden Interpretationsversuchs.
Am evidentesten nicht nur von Bouvard et Pécuchet, sondern überhaupt vom größten Teil der Flaubertschen Narrativik unterscheidet sich CS zunächst durch sein Happy Ending. Gewiß endet die Erzählung mit Félicités Tod; doch wird alles getan, um das Sterben der Dienerin, deren ‚einfaches Herz‘ dem Conte den Titel gibt, zum Paradigma des heiligen und glücklichen Sterbens zu erheben. Zumal wenn man – wie es häufig geschieht – Félicité als komplementär-konträre Gestalt neben Emma Bovary rückt, [16] fällt der pointiert gegenbildliche Charakter auf, welcher dem jeweiligen Todeserleben zu eigen ist. [17] Emmas trostlose Verzweiflung kennzeichnet die Vision des blinden Bettlers, der den Schrecken ‚ewiger Finsternis‘ evoziert: [18]
Et Emma se mit à rire, d’un rire atroce, frénétique, désespéré, croyant voir la face hideuse du misérable qui se dressait dans les ténèbres éternelles comme un épouvantement.
Dagegen steht (man beachte etwa auch die Opposition von „sourire“ und „rire atroce,“) ebenso parallel wie antithetisch Félicités durch das gleiche „croire voir“ wiedergegebene Vision des Heiligen Geistes, der ihr in der himmlischen Apotheose ihres Papageis Loulou erscheint: [19]
Ses lèvres souriaient. Les mouvements de son coeur se ralentirent un à un, plus vagues chaque fois, plus doux, comme une fontaine s’épuise, comme un écho disparaît; et, quand elle exhala son dernier souffle, elle crut voir, dans les cieux entr’ouverts, un perroquet gigantesque, planant au-dessus de sa tête.
Welche Mühe den Autor gerade dieser letzte Satz gekostet hat, läßt sich der ausführlichen Dokumentation, von George A. Willenbrink entnehmen: [20] seine Konstruktion war ja um so schwieriger zu realisieren gewesen, als er Flauberts selbstgestelltem Anspruch „Il faut finir ma Félicité d’une façon splendide“ genügen mußte. [21]
Immerhin hatte bereits die sorgfältig kalkulierte narrative Vorbereitung zur „façon splendide“ eines verklärten Sterbens das Wesentlichste beigetragen. Auch hierüber sind wir durch Willenbrinks Manuskript-Studien bestens unterrichtet.
Sie verfolgen unter dem Titel „Preparing the Holy Spirit“ [22] , über welche Stationen Flaubert die entscheidende Identifizierung von Papagei und Heiligem Geist so zwingend herbeiführt, daß er im letzten Satz sogar darauf verzichten kann, sie ein weiteres Mal explizit zu machen, während sie in einem Entwurf (fo. 352) noch ausdrücklich vermerkt wurde: „elle crut voir, parmi des nuages d’or, à la droite du [?] Fils, à la gauche du Père, un gigantesque perroquet qui était le Saint-Esprit planant au-dessus de sa tête“. [23] Dabei erhält die Apotheose ihr besonderes erzählerisches Gewicht allein schon durch die Reservierung eines eigenen Kapitels, das zum Schluß der Geschichte einen bloßen Moment erzählter Zeit umfaßt. Mit seiner Konzentration auf wenige Stunden erhebt es sich groß, ja gleichsam monumental über den vier übrigen Kapiteln, deren Erzählzeit in jedem Fall mehrere Jahre, im unmittelbar vorangehenden Kapitel sogar ein Vierteljahrhundert abzudecken hat. [24]
Indessen sind die Entwürfe und Pläne, was die Tendenzen narrativer Sinnbildung angeht, wie immer bei Flaubert auch für CS weitaus deutlicher als der Text selbst, den gegenüber seinen Skizzen oft ein regelrechter „travail de désignifiance“ bestimmt. [25] Wie ernsthaft Félicités Tod – zumindest auf einer ersten textuellen Bedeutungsebene – die Idee des Sterbens in Glück und Heiligkeit verwirklichen soll, ist daher am klarsten aus den Resümees der Arbeitspapiere zu erfahren, welche eben dort begrifflich werden, wo die eigentliche Ecriture Begriffe höchst angestrengt zu vermeiden sucht. So skizziert bereits der erstmals von Alberto Cento publizierte „Plan primitivo“ [26] eine Ereignisfolge, die ganz im Hinblick auf die Verklärung der Schlußszene angelegt zu sein scheint. Jedenfalls betont sie fast ausschließlich das karitativ-religiöse Verhältnis zwischen „Mlle Felicité“ und dem „perroquet“, das seinen Höhepunkt in einer ‚mystischen Vision‘ findet („vision mystique, son perroquet est le st Esprit“), während es über den Tod selbst heißt: „elle meurt saintement“. [27] Vielleicht noch eindringlicher wirkt die auf fo. 381 v. umrissene Kapitelgliederung. [28] Sie kommt der endgültigen Aufteilung schon recht nah, obwohl einzelne Episoden, etwa die frühe „histoire d’amour“ – hier „Son idylle“ genannt – oder die Pflege des Père Colmiche, offenbar in stärker romanhafter Weise ausgeweitet werden sollten. Bei dieser Gliederung ist nach einem leicht erkennbaren Schema den wichtigsten Handlungsstichworten jeweils ein Adjektiv zugeordnet, das begrifflich generalisierend die Hauptqualitäten des ‚Coeur simple‘ bezeichnet. Die Serie beginnt nach dem ersten Punkt „Decrire la maison, Me Aubain, & Felicité en general“ mit der Notiz „Felicité immuable. (automatique“. Darauf folgen die Eintragungen „(sensible, pudique, tendre“ – zur Liebesepisode –, „(brave)“ – zur Stierepisode –, „(maternelle“ – in bezug auf Victor –, „(patiente, resigne, vertueuse“ – in bezug auf Mme Aubain –. Als vorletztes Adjektiv erscheint „(charitable)“ – für einen „Le père Colmiche“ betitelten Abschnitt –; das letzte lautet „(heureuse)“ und steht neben dem Titel „Le perroquet“.
Ohne Zweifel beschreibt die Reihe dieser Attribute – besonders im Aufstieg von den noch eher weltlichen Qualitäten „brave“ oder „maternelle“ zu den immer sublimer werdenden Wertungen „patiente“, „vertueuse“ oder „charitable“ – den Weg einer progressiven spirituellen Läuterung und nähert sich damit dem typischen Entwicklungsschema der Hagiographie. Dem entspricht auch die Definition der letzten und höchsten Qualität als „heureuse“. Sie wird in anderen Entwürfen (fo. 401 oder fo. 406) wiederholt auf den religiösen Begriff von Seligkeit („beatitude“) gebracht [29] und hat sicherlich ein symbolisches Äquivalent im Namen Félicité. Dazu kommt, daß die hagiographische Begrifflichkeit, die am deutlichsten aus den Planskizzen abzulesen ist, ebenfalls noch kompakt die „Brouillons“, d. h. die unmittelbare Vorstufe des zur Veröffentlichung bestimmten Textes, durchzieht. Bei ihrer Lektüre entsteht der Eindruck, als sei der prononcierte Wille zum Heiligenleben,– der die Pläne prägt, erst durch die letzte Redaktion kunstvoll ‚desartikuliert‘ und ins Implizite zurückgenommen worden. So tilgt der Text systematisch alle Notizen, in denen Félicités Heiligkeit sich mittels expliziter Konzepte ausdrückt: beispielsweise eine „inalterable patience“ bei der Tröstung Mme Aubains [30] oder eine „probité absolue“ bei der allzu lautstark geleisteten Beichte. [31] Besonders aufschlußreich ist im Hinblick auf diese Desartikulation überdeutlicher hagiographischer Absichten die Père-Colmiche-Episode am Ende des dritten Kapitels. Sie bildet im Text ein Musterbeispiel für die radikale Zuspitzung der Technik lakonisch konjunktionsloser Satzreihung, welche jede Synthese von Sinn und Bedeutung nach Möglichkeit zu erschweren sucht. Die „Brouillons“ dagegen akzentuieren Félicités Verdienste nicht nur durch die Anschwärzung derer, denen sie zugute kommen, [32] sondern auch durch ihre syntaktische Hierarchisierung in der aufsteigenden Linie einer Klimax. Dabei wird von dem Oberbegriff „de plus en plus charitable“ ein umfassender Zusammenhang gestiftet, in dessen Rahmen sich eine dreigliedrige Steigerung vollzieht. Ihre erste Stufe ist angesichts Mme Aubains die „Tendresse qu’on a pr. une mère“, worauf die Feststellung folgt: „cette affection ne l’empêchait pas d’en avoir d’autre“, sowie als Höhepunkt: „mais rien n’egala [...] [son] devouement [...] [pour le] père Colmiche“. [33]
Allerdings wird nicht nur die Explizitheit der Hagiographie solcherart unter einer desartikulierenden Ecriture verborgen. Auch ihre Orthodoxie erfährt natürlich eine Trübung durch den einigermaßen heterodoxen Gegenstand von Félicités Kult. Immerhin ist der Papagei in jenem Zimmer, das ebenso einer ‚Kapelle‘ wie einem ‚Basar‘ ähneln soll (vgl. S. 61), nicht allein ein Bild des Heiligen Geistes, sondern hat zugleich etwas von einem Fetisch an sich. Als solcher steht er zunächst in Konkurrenz mit einer „image d’Epinal“, der er Félicités Andacht gewissermaßen streitig macht: „Et Félicité priait en regardant l’image, mais de temps à autre se tournait un peu vers l’oiseau“ (S. 63). Schließlich geht sie dazu über „de dire ses oraisons agenouillée devant le perroquet“: „habitude idolâtre“, wie es heißt; und anrüchig mag gleichfalls der Umstand wirken, daß dem Glasauge des heiligen Fetisches bei geeigneter Sonnenspiegelung ein berauschender Lichtstrahl entströmt, „un grand rayon lumineux qui la mettait en extase“ (vgl. S. 66). Auf keinen Fall implizieren solche Trübungen, die ‚dévotion‘ und ‚idolâtrie‘ ineinander verschwimmen lassen, aber eine direkte Ironisierung. oder gar Negation der religiösen Erfahrung. Wenn Félicités „genre de calme & de beatitude“ nach einer bezeichnenden Notiz „moitié animale, moitié mystique“ sein soll, [34] so stimmt diese Charakteristik durchaus mit einigen Briefstellen überein, in denen Flaubert – bewußt aufklärungskritisch ‚Fanatismus‘ und ‚Aberglauben‘ als das elementare, ja schlechterdings unaufhebbare Wesen des Religiösen ebenso entdeckt wie feiert. Hierzu gehören die Passagen, welche Flauberts eigenen Formkult in den Bereich von Religion versetzen, etwa die gegen Musset gerichtete Äußerung: „On ne vit pas sans religion [35] oder der Glaube, daß aus der Aneignung des Wahren „par l’intermédiaire du Beau“ eine „espèce de sainteté“ erwachse. [36] Spezieller auf die Atmosphäre des CS zu beziehen sind zwei Briefe an Louise Colet vom 12. Juni 1852 und vom 31. März 1853. Im letzteren bemerkt Flaubert anläßlich der „gens tranchants et énergumènes“ à la Leconte de Lisle: „On ne fait rien de grand sans le fanatisme. Le fanatisme est la religion; et les philosophes du XVIIIe siècle, en criant après l’un, renversaient l’autre. Le fanatisme est la foi, la foi même, la foi ardente, celle qui fait des oeuvres et agit. La religion est une conception variable, une affaire d’invention humaine, une idée enfin; l’autre un sentiment. Ce qui a changé sur la terre, ce sont les dogmes [...]. Mais ce qui n’a pas changé, ce sont les amulettes, les fontaines sacrées, les ex-voto, etc., les brahmanes, les santons, les ermites, la croyance enfin à quelque chose de supérieur à la vie et le besoin de se mettre sous la protection de cette force“. [37] Der andere entwickelt das gleiche Argument ausgehend vom Begriff des Aberglaubens: „La superstition est le fond de la religion, la seule vraie, celle qui survit sous tou[te]s les autres. Le dogme est une affaire d’invention humaine. Mais la superstition est un sentiment éternel de l’âme et dont on ne se débarrasse pas“. [38] Angeregt wird das Argument in diesem Fall unter anderem durch die Erwähnung der Metamorphosen („L’âne d’or“) des Apuleius, eines Buches, das Flaubert während jener Epoche mit wachsender Begeisterung als „chef-d’oeuvre“ preist; denn – so eine weitere Empfehlung: „ça sent l’encens et l’urine, la bestialité s’y marie au mysticisme“. [39] Doch ist der Briefabschnitt überhaupt bemerkenswert, weil er auf engstem Raum verschiedene Motive anspricht, die für ihren Autor geradezu obsessive Bedeutung annehmen. Vor allem folgt auf die Apologie der „superstition“ eine Notiz zur Fronleichnamsprozession, welche auch Jean Bruneau mit dem letzten Kapitel von CS verbindet: [40] „Aujourd’hui, Rouen a été plein de processions, de reposoirs“; dann gibt es – hier nicht ganz konsequent – Invektiven gegen den Mythos des „peuple“ (den letzten, der sich in der Gegenwart noch bewahrt habe), bevor Flauberts Zorn schließlich das ‚Jahrhundert‘ insgesamt trifft, dessen besonderes ‚Elend‘ in den – offenbar leeren – ‚Worten‘ besteht: „Le siècle m’ennuie prodigieusement. De quelque côté que je me tourne, je n’y vois que misère. Des mots, des mots, et quels mots!“
Auch von diesem Aufschrei über die ‚Worte‘, d. h. modern gesprochen: „l’usure des signes“ [41] , lassen sich indessen Verbindungslinien zu CS ziehen – nicht weniger als von der Verteidigung des Aberglaubens oder der Erinnerung an die Altäre einer Fronleichnamsprozession. In der Tat ist es ja die ‚copia verborum‘, die in Flauberts Perspektive eine Romangestalt lächerlich, ja widerwärtig und ekelhaft zu machen pflegt. So wird Homais vor den Augen des Lesers im wesentlichen durch die Abundanz seiner Rede gerichtet, [42] und wer etwa bei den Comices agricoles oder – in L’éducation sentimentale – auf der Versammlung des ‚Club de l’Intelligence‘ das Wort (beziehungsweise gleich Homais gar die Feder) ergreift, hat als Person und Charakter in einem tieferen Sinn ausgespielt. Die Rede bedeutet hier und anderweit so regelmäßig Blamage, daß schon während des Bovaryschen Sonntagsausflugs zur „filature de lin“ der überaus lakonische Satz „Homais parlait“ [43] genügt, um die peinlichsten Resonanzen zu wecken und alle weiteren Äußerungen dieses Sprechers („Il expliquait à la compagnie l’importance future de cet établissement, supputait la force des planchers, l’épaisseur des murailles, et regrettait beaucoup de n’avoir pas de canne métrique“) mit der Konnotation des Läppisch-Eitlen zu versehen.
Eine höhere Dignität behaupten demgegenüber allein jene Gestalten, die schweigen oder in entscheidenden Momenten verstummen. Zumeist sind es Randfiguren wie der Apothekergehilfe Justin in Madame Bovary. Doch schöpft auch Charles Bovary, was ihm an Würde bleibt, letztlich aus seiner Sprachlosigkeit – nach Graham Falconer der Stummheit eines „personnage de Pinter ou de Beckett qui se serait trompé de siècle“: „Dans un monde où chacun – à l’exception près de Justin – trouve un langage adéquat pour exprimer sa pensée, où Homais a toujours la phrase (et Emma le rêve) qui convient à la circonstance (et où, en même temps, cette éloquence ne cesse d’être menacée par l’ironie flaubertienne), l’incohérence du mari a de quoi étonner“. [44] Läßt Flaubert den sprach-, schreib- und klischeegewandten Apotheker reden, um ihn zu degradieren, hält er es mit dem unglücklichen Landarzt genau umgekehrt. Jedenfalls gewinnt dieser im untergründigen Konnotationsgeflecht des Romans durch sein Schweigen gerade dort an Statur, wo ihn Emma in der aktuellen Szene – wie beim Ball auf La Vaubyessard – am tiefsten erniedrigt:
– Mais tu as perdu la tête! on se moquerait de toi, reste à ta place. D’ailleurs, c’est plus convenable pour un médecin, ajouta-t-elle. Charles se tut.
Und nachdem er seine Frau beim Ankleiden mit stummer Andacht betrachtet hat, endet die Szene im erneuten Gegensatz von Sprache und Schweigen, das nur über die enthusiastische Geste verfügt:
Charles vint l’embrasser sur l’épaule. – Laisse-moi! dit-elle, tu me chiffonnes. [45]
Stärker ins Gewicht fällt solche Kargheit des Worts natürlich, wenn sie die Hauptgestalt der Erzählung selbst charakterisiert. Eben das aber geschieht in CS, wo Félicité vom ersten Kapitel an als essentiell schweigend vorgestellt wird: „Dès la cinquantaine, elle ne marqua plus aucun âge; – et, toujours silencieuse, la taille droite et les gestes mesurés, semblait une femme en bois, fonctionnant d’une manière automatique“ (S. 6). Dieser Satz ist nicht nur syntagmatisch an herausgehobener Stelle – am Ende der Einleitung des „Decrire la maison, Me Aubain, & Felicité en general“ – placiert, sondern in ihm erlangt auch die Stummheit einen eigentümlichen Nachdruck, da wir zwei Sätze zuvor auf Félicités „voix aigu“ hingewiesen werden: folglich kommt ihr eine sozusagen aktive, selbständige Qualität zu, welche sie von bloß beiläufiger, leerer Stille unterscheidet. Ähnlich steht es im dritten Kapitel – dem Kapitel der Trauer über Victor und Virginie – um die Feststellung „Et jamais elle ne parlait de ses inquiétudes“ (S. 35), welche ihr Relief durch den Umstand erhält, daß sie einen Abschnitt beschließt, der Félicités Sorgen in auktorialer Introspektivanalyse gerade sehr ausführlich mitgeteilt hat. Im übrigen sind erwartungsgemäß auch zum Thema des Schweigens die „Brouillons“ wieder expliziter als der Text. Auf die Nachricht von Victors Tod heißt es z. B. in fo. 398: „n’en parle pas. refoule tout“, [46] und als Félicité taub wird, kommentiert fo. 400: „Elle vit dans le silence“, nicht ohne vorher aufs neue die angesichts der Taubheit gesteigerte potentielle Lautstärke ihrer Stimme zu betonen: „Car elle crie dans l’eglise. & le curé la confesse au prebystère“. [47]
Das alles besagt freilich keineswegs, daß der Protagonistin die wörtliche Rede völlig entzogen würde: immerhin äußert sie sich an die zehn Mal, und fast immer sind diese direkten Äußerungen von einem auktorialen „dit-elle“ oder „elle dit“ begleitet, durch das sie auf paradoxe Weise akzentuiert werden. Paradox wirken solche Akzentuierungen deshalb, weil sie meist scharf mit der extremen Kürze der Rede kontrastieren. Tatsächlich bleiben Félicités Worte in der Regel so knapp, daß sie neben ihrem eigenen Sinn immer auch das von ihnen unterbrochene und gerade dadurch erst fühlbar gemachte Schweigen thematisieren, man denke etwa an das „‚Ah!‘ dit-elle“ (S. 8) – ihre erste direkte Rede überhaupt, mit der sie hilflos auf Théodores Avancen reagiert –, an das „‚Oui, Madame‘“ (S. 56) als stumpfe Replik zu Mme Aubains gereizten Vorwürfen oder an die wiederum auffällig hervorgehobene letzte Äußerung, die der Position des Papageis auf dem Prozessionsaltar gilt (S. 71):
Félicité roula ses prunelles, et elle dit, le moins bas qu’elle put: – „Est-il bien?“ tourmentée du perroquet.
Dazu besitzen Félicités Worte außer ihrer schieren Kargheit noch eine weitere eigentümliche Qualität, welche vielleicht am eindringlichsten die hagiographische Bedeutungsschicht des Conte fördert. Wie die Frage auf dem Totenbett beispielhaft zeigt, dienen sie in grandioser Askese fast nie der Selbstthematisierung der Sprecherin, sondern stets vorwiegend der Thematisierung der Anderen, handle es sich nun um die verzweifelte Suche nach dem Papagei (S. 55: „‚vous n’auriez pas vu, quelquefois, par hasard, mon perroquet?‘“), um die Klage über Victor (S. 38: „elle répétait par intervalles: – ‚Pauvre petit gars! pauvre petit gars!‘“) oder um einen ermutigenden Zuspruch für Mme Aubain und deren Kinder (S. 16: „–‚Ne craignez rien!‘ dit Félicité“). Wenn Félicité einmal – an der Redeoberfläche – primär von sich selber zu sprechen scheint, wird durch die Einführung dieser Rede klargemacht, daß auch hier eine Identifikation mit fremden Interessen vorausgeht und daß ihr eigentlicher Sinn nicht darin besteht, eigenes Leid (über das Fehlen einer Nachricht von Victor) zu beklagen, sondern mit dessen Beispiel Mme Aubain über die seit vier Tagen ausgebliebenen Briefe von Virginie zu trösten (S. 36):
Pour qu’elle se consolât par son exemple, Félicité lui dit: – „Moi, madame, voilà six mois que je n’en ai reçu!...“.
Nur ein einziges Mal wagt Félicité, fremdes Interesse auf eigene Belange zu lenken. Doch da ist ihre Absicht nichts anderes als Bitte um Verzeihung – für die niemals offen manifestierte Gedankensünde („Seule injustice de sa vie“ nennen es die Entwürfe), [48] den Fleischergesellen Fabu leichtfertig der Tötung Loulous verdächtigt zu haben (S. 68):
– „Pardonnez-moi“, dit-elle avec un effort pour étendre le bras, „je croyais que c’était vous qui l’aviez tué!“.
Nach allem, was bisher gesagt wurde, mag der Anschein entstehen, als bestätige sich wenn nicht die idyllische, so doch eine entschieden erbauliche Interpretation des Conte. Dem ist (wie sich, noch herausstellen wird) keineswegs so; doch erfordert gerade eine differenziert problematisierende Lektüre der Erzählung den Respekt vor jener Bedeutungsschicht, in der sich prinzipiell unironisiert ein dem Hagiographischen verwandter Lebensweg zu „calme“ und „beatitude“ vollzieht. Sie trennt CS bei allen sonstigen Affinitäten der Grundsituation („deux femmes solitaires vieillissant ensemble“) von Goncourts Germinie Lacerteux [49] und erklärt Flauberts nun in der Tat ironische Boutade, angesichts des Assommoir oder der Fille Elisa müsse er den Eindruck erwecken, ‚für Mädchenpensionate zu schreiben‘: „On va me reprocher d’être décent et an me renverra à mes précédents ouvrages“ [50] . Nur wenn die ernsthafte, ja – im Entwurf – forcierte „sainteté“ dieser Vita anerkannt wird, ist nämlich zugleich auch die abgründige Provokation zu ermessen, welche die Umstände und Prämissen ihrer Läuterung auslösen können.
Dabei liegt das latent Skandalöse der Erzählung gewiß nicht in eventuellen „anti-religious implications“ [51] : soviel dürfte zumindest nach dem konstanten Zeugnis der bemerkenswert einstimmigen Briefpassagen evident geworden sein. Erinnern wir uns stattdessen an das „Resumé“ von fo. 381 v., das die einzelnen Stationen der Hagiographie auf den Begriff zu bringen versuchte. Unter ihnen lohnt es besonders, Anfangs- und Endpunkt näher zu betrachten. Erreicht der eine die höchste Qualität „heureuse“, wird der andere durch „immuable. (automatique“ bezeichnet. Welches Gewicht vor allem dem Begriff „automatique“ zukommt, belegt der endgültige Text, der ihn an einer Schlüsselstelle als letztes Wort des ersten Kapitels aufnimmt (vgl. S. 6). Indessen wird hier eine Präzisierung nötig. Genaugenommen bilden die zitierten Adjektive ja bloß die Extremstationen der Erzählung, nicht aber jene der erzählten Entwicklung. Das heißt: da die Qualität „automatique“ dem „Decrire [...] en general“ zugeordnet ist, präsentiert sie eben nicht einen Ausgangspunkt, von dem der Heilsweg zum „bonheur“ fortschritte, sondern sie steht mit Glück und „beatitude“ in einem Verhältnis oxymorisch gespannter Gleichzeitigkeit. Oder mit anderen Worten: wo Félicité im Inneren ‚glücklich‘ wird, ‚scheint‘ beziehungsweise ist sie für die äußere, historische Welt immer auch ‚unveränderlich‘ und – selbstentfremdet – ‚automatisch‘.
Von diesem Resümee her mag nun ein schärferes Licht auf die häufig erwähnte, [52] sonderbar irritierende Geschichtslosigkeit des Conte fallen. Sie läßt sich – wenn man so will – unter zwei Aspekten, einem allgemeineren und einem spezieller mit der Protagonistin verbundenen, nachweisen. Generell wirkt die Geschichtslosigkeit von CS ja um so frappanter, als sie nicht wie bei der Légende de Saint Julien L’Hospitalier durch Thema und Gattung von Anfang an vorgegeben ist. Vielmehr manifestiert sie sich im Rahmen eines durchaus ‚realistischen‘ Bewußtseins der historischen Zeit, das vom Erzähler vor allem durch einige genaue Datierungen – den unheilschwangeren „14 juillet 1819“ (S. 32), den nicht weniger fatalen „mois de mars 1853“ (S. 64) oder einen Hinweis auf die Julirevolution (S. 47) – vermittelt wird. [53] Bezeichnend ist freilich schon, daß das letztere Datum als eigentlich geschichtliches zurücktritt hinter den ‚Ereignissen‘ des ungeschichtlichen häuslichen Lebens (S. 46f.):
Des événements intérieurs faisaient une date, où l’on se reportait plus tard. Ainsi, en 1825, deux vitriers badigeonnèrent le vestibule; en 1827, une portion du toit, tombant dans la cour, faillit tuer un homme. L’été de 1828, ce fut à Madame d’offrir le pain bénit.
Solcherart erweist sich gerade dort, wo datiert und folglich Zeit thematisiert wird, am deutlichsten die Distanz, welche den Verlauf der Erzählung vom Fortschritt der Historie trennt. Ist für den Leser die Dimension des Historischen unübersehbar etabliert, wird ihm zugleich bewußt, wie wenig die im Conte berichteten „événements“ an ihr teilhaben. Im Positiven bestehen sie etwa aus Félicités Besänftigung des Stiers („Cet événement, pendant bien des années, fut un sujet de conversation à Pont-L’Evêque“, S. 17) oder aus Pauls Hochzeit („Un événement considérable surgit: le mariage de Paul“, S. 63), was indessen kaum gegen die Nachrichten über Verfall und Tod aufkommt, die ansonsten den Gang der Ereignisse bestimmen. So werden die oben zitierten „événements intérieurs“ in charakteristischer Weise fortgesetzt durch den Vermerk: „Bourais, vers cette époque, s’absenta mystérieusement; et les anciennes connaissances peu à peu s’en allèrent: Guyot, Liébard, MI’ Lechaptois, Robelin, l’oncle Grémanville, paralysé depuis longtemps“ (S. 47).
Zumeist aber scheint die Zeit des Conte vor dem Horizont der Geschichte stillzustehen, oder sie wird – anders ausgedrückt – als leer dargestellt. Besonders im zweiten Kapitel häufen sich Angaben, die statt Ereignissen Gewohnheiten datieren: „Tous les jeudis, des habitués venaient faire une partie de boston“ (S. 11f.); „Chaque lundi matin, le brocanteur [...] étalait par terré ses ferrailles“ (S. 12); „Quand le temps était clair, on s’en allait de bonne heure à la ferme de Geffosses“ (S. 14). Überdies gewinnt das bloße Verstreichen von Zeit einen immer stärker betonten selbständigen Ereignischarakter, der das Handeln der Menschen gleichsam zur Unerheblichkeit reduziert. Derart folgt bei der Episode von Virginies Krankheit („Virginie s’affaiblissait“) auf den Satz „Ses forces reparurent“ mit dem gleichen Gewicht die Mitteilung: „L’automne s’écoula doucement“ (S. 41). Später wiederholen sich Varianten jenes berühmten ‚blanc‘, das den Flaubert-Lesern aus dem vorletzten Kapitel der Éducation sentimentale vertraut ist. „Puis des années s’écoulèrent, toutes pareilles“ (S. 46) heißt es, als Victor und Virginie gestorben sind, oder, wie Félicité nach Mme Aubains Tod mit dem ausgestopften Papagei allein bleibt: „Ses yeux s’affaiblirent. Les persiennes n’ouvraient plus. Bien des années se passèrent“ (S. 67). Und wenn eine Erzählsequenz einmal – wie Félicités Aufbruch zur todkranken Virginie nach Honfleur – durch die Multiplikation von Temporaladverbien anscheinend stringent gegliedert wird, dann bringt gerade diese Episode narrativ und ‚historisch‘ überhaupt nichts voran (vgl. S. 421; Unterstr. U.S.-B.):
Félicité se précipita dans l’église [...]. Puis elle courut après le cabriolet, qu’elle rejoignit une heure plus tard, sauta légèrement par derrière [...] quand une réflexion lui vint [...]. Et elle descendit. Le lendemain, dès l’aube, elle se présenta chez le docteur [...]. Puis elle resta dans l’auberge [...]. Enfin, au petit jour, elle prit la diligence [...].
Zum einen spiegelt die Sequenz wohl Félicités hilflose Verwirrung, zum anderen vertieft sie durch die eigentümlich absurde Insistenz ihrer Adverbien und Umstandsbestimmungen den Widerstand einer leeren Zeit, die entgegen dem Anschein der Worte – vom menschlichen Willen eben doch nicht zu gliedern und zu beherrschen ist.
Gleichzeitig deutet sich in dieser Episode an, daß der Eindruck von Geschichtslosigkeit, den die Erzählung vermittelt, auf spezifische Art auch mit Félicité zu tun hat. In der Tat ist die Existenz der „servante“ dem Wirken der zugleich objektivierten und leeren Zeit besonders ohnmächtig ausgesetzt. „Immuable“ und „automatique“, wie sie verläuft, wird sie mehr als das Leben anderer Gestalten zu einer Folge zwanghaft iterativer Handlungen. Nach Virginies Tod besucht Félicité täglich zur gleichen Stunde den Friedhof: „A quatre heures précises, elle passait au bord des maisons [...] et arrivait devant la tombe de Virginie“ (S. 46). Während Virginies Studium bei den Ursulinen weiß sich zwar Mme Aubain halbwegs über die Leere der Zeit („le vide des heures“) hinwegzuhelfen; denn „trois fois la semaine elle en recevait une lettre, les autres jours lui écrivait, se promenait dans son jardin, lisait un peu, et de cette façon comblait le vide des heures“ (S. 30). Ihrer Dienerin dagegen bleibt lediglich die ‚Gewohnheit‘ des Blicks auf die Wände eines unbewohnten Zimmers: „Le matin, par habitude, Félicité entrait dans la chambre de Virginie, et regardait les murailles“ (ebd.).
Dabei hat zur Bezeichnung von Félicités ‚automatischer‘ immutabilité [54] bereits bereits der erste Satz des Conte seine tiefere thematische Bedeutung: „Pendant un demi-siècle, les bourgeoises de Pont-l’Evêque envièrent à Mme Aubain sa servante Félicité“ (S. 3). [55] Auf diesen Satz findet sich in den „Brouillons“ ein offenbar kaum zu entziffernder Hinweis, den F. Fleury folgendermaßen liest: „Felicité resta. pendant. 41 ans [...] une phrase resumant toute sa vie“, [56] während Willenbrink statt „phrase resumant“ eine „phrase résonnante“ vermutet. [57] Immerhin geht es nach beiden Lesarten um einen Satz, der – möglicherweise mit forcierter Euphonie – den gesamten Lebenslauf der Félicité beinhalten oder (nach Fleury) zusammenfassend auf den Begriff bringen soll. Wenn ihm das von der Entwurfskizze reklamierte Gewicht zukommt, so fallen indessen die Änderungen, welche die Endfassung an der Tournure dieser Notiz vornimmt, doppelt ins Auge. Vor allem frappiert die Korrektur der „41 ans“ in das ebenso allgemeinere wie monumentalere „demi-siècle“. Sie schließt den Conte mit offenkundigen wörtlichen Reprisen an jene Episode der Madame Bovary an, in welcher es über den Auftritt der „vénérable Catherine-NicaiseElisabeth Leroux“ bei den Comices agricoles hieß: „Ainsi se tenait, devant ces bourgeois épanouis, ce demi-siècle de servitude“. [58] Zu beachten ist hier die Identität von drei Schlüsselbegriffen: zu dem „demi-siècle“ treten ja die oppositionell aufeinander bezogenen Konzepte „servitude“ („servante“) und „bourgeois“ („bourgeoises“). Außerdem belegt noch eine Serie weiterer Anklänge, in wie hohem Maß Catherine Leroux die Félicité des CS präfiguriert. Schon bei ihr geben die von der Arbeit deformierten Hände ein „humble témoignage de tant de souffrances subies“; ihr Gesichtsausdruck hat „quelque chose d’une rigidité monacale“, und auch .in der. Sprachlosigkeit kommt sie der Dienerin Mme Aubains gleich: „Dans la fréquentation des animaux, elle avait pris leur mutisme et leur placidité“. Als Catherine verlegen zögert, den Ehrenpreis in Empfang zu nehmen, wird sie vom Bürgermeister angefahren: „– Etes-vous sourde?“; bei der Betrachtung der Medaille wiederum geht ein „sourire de béatitude“ über ihre Züge, welches wie bei Félicité ein frommer Gedanke ausgelöst hat: „– Je la donnerai au curé de chez nous, pour qu’il me dise des messes“. Daß es in der Perspektive des Erzählers höchst billig ist, über solche „béatitude“ ‚aufgeklärt‘ zu räsonieren, beweist dann die Delegation des (eben oberflächlich) naheliegenden ‚Fanatismus‘-Vorwurfs just an Homais: „– Quel fanatisme! exclama le pharmacien, en se penchant vers le notaire“. [59]
Andererseits ergibt ein Vergleich der beiden Parallelsätze in CS und Madame Bovary aber auch, daß der erste, was die Verdinglichung der Dienerin betrifft, in gewissem Sinn noch radikalisiert worden ist. Er wirkt zunächst schärfer, indem er die Sphäre des Bürgertums essentiell als eine Welt des Besitzens und des Neidens einführt. Während die „bourgeoises de Pont-l’Evêque“ gemäß ihrer Herrschaftsfunktion die Rolle des Subjekts einnehmen, wird Félicité folgerichtig in die Rolle eines Objekts versetzt: sie ist – wie die Konstruktion suggeriert – zwar die vom Satzakzent hervorgehobene künftige Protagonistin der Erzählung, doch zugleich gesellschaftlich kaum mehr als ein überaus rentabler Gegenstand im Besitz Mme Aubains. Von Anfang an erscheint sie demnach in einer Position, die allen Vorstellungen bürgerlicher Emanzipation und Persönlichkeitsautonomie widerspricht. Das bestätigt sich anhand der hintergründigen Konstanz des ‚Ausbeutungs‘-Motivs. Ausgebeutet wird Félicité – wie die Skizzen verraten – z. B. von dem Polen „qui pr l’exploiter faisait l’amoureux“, [60] während der Text über Félicités Verwandtschaft befindet: „évidemment ils l’exploitaient“ (S. 24). Dieser Befund ist ironischerweise halb aus der Perspektive Mme Aubains gesehen, welche ja selber die wesentliche – und gerade deshalb von den übrigen „bourgeoises“ beneidete – Nutznießerin einer Ausbeutung darstellt, die im zweiten Satz auch ökonomisch exakt taxiert wird: „Pour cent francs par an, elle faisait la cuisine et le ménage, cousait, lavait, repassait, savait brider un cheval, engraisser les volailles, battre le beurre, et resta fidèle à sa maîtresse, – qui cependant n’était pas une personne agréable“ (S. 3).
Die letzte Bemerkung des zitierten Satzes deutet im übrigen an, daß eben Mme Aubain, wiewohl später von Félicité „avec un dévouement bestial et une vénération religieuse“ (S. 49) geliebt, die typischste Repräsentantin jener einleitend evozierten neiderfüllten und besitzstolzen Bürgerwelt abgibt. Beispielhaft dafür steht ihre Ablehnung von Félicités Verwandten. Auf den ersten Blick scheint sie dem Schutz der Dienerin zu gelten; doch enthüllt ein Nachsatz das wahre Motiv im sinister alltäglichen Standesegoismus der Herrin: „évidemment ils l’exploitaient. Cette faiblesse agaçait Mme Aubain, qui d’ailleurs n’aimait pas les familiarités du neveu, – car il tutoyait son fils“ (S. 24). Besonders akzentuiert wird dieser Egoismus in den Entwürfen. Dort ‚verletzt‘ er Félicités Liebesbedürfnis schon bei den ersten Spielen mit Paul und Virginie: „Les caresse trop. Me Aubain la reprend là dessus & la blesse“. [61] Zweimal wird nach Virginies Tod hervorgehoben, daß es Mme Aubain ganz im Gegensatz zu Félicité an Frömmigkeit mangelt: „n’avait jamais été bien devote, trouve le ciel injuste“ [62] beziehungsweise „Bien qu[’] elle pratiquat elle n’avait pas beaucoup de religion“. [63] Die deutlichsten Formulierungen fallen, als sich die Herrin brüsk über Félicités Sorgen um Victor hinwegsetzt: „Son egoïsme [est] naif & dur & blesse Felicité qui ne s’en plaint pas. ou plutôt ne blesse pas F. qui trouve cela tout simple“. [64]
Wenn die Endfassung hier manche Akzente dämpft oder völlig tilgt, ist der Grund leicht einzusehen. In erster Linie ging es Flaubert wohl darum, eine allzu plakative Antithese zwischen Herrin und Dienerin zu vermeiden, welche die Rezeption des Conte einseitig dem Klischee eines direkt sozialkritischen „misérabilisme“ überantwortet hätte. [65] Trotzdem genügen auch die im Text verbliebenen Kontraste, um vor dem Hintergrund von Mme Aubains bürgerlich egoistischer Weltlichkeit die distinktiven Merkmale von Félicités „sainteté“ zu verdeutlichen. Sieht man beide zusammen, erweist sich das ‚einfache Herz‘ letztlich als Ausdruck der tiefsten Entfremdung, oder genauer gesagt: der Nicht-Individuation. Dienend und ausgebeutet, „immuable“ und „automatique“, existiert Félicité – anders als Mme Aubain, Sohn Paul oder M. Bourais – tatsächlich ohne eigene Geschichte, und was ihr widerfährt, erlebt sie stets abgeleitet und uneigentlich durch die Identifikation mit den Anderen: mit Mine Aubains Kindern, für die sie – laut Entwurf [66] – „leur bete de somme, leur chien“ ist, mit ihrem Neffen Victor, dessen Reisen sie in ungelenken Tagträumen nachvollzieht, schließlich – trotz aller Brüskierungen – sogar mit Mme Aubain, wozu fo. 399 vermerkt: „la subissait, n’en etait pas agacée, & tâchait de s’identifier avec elle“. [67] Nachdem sich diese Identifikationen in einer Kette von Verlusten aufgelöst haben, bleibt ihr am Ende einzig der Fetisch des Papageis: „Il remplace tout pr elle. Il est tout“ [68]
Freilich macht es die düstere Pointe der Erzählung aus, daß Félicités Weg zur Heiligkeit nicht nur von äußeren Verlusten begleitet und paradox gefördert wird. Ebenso wichtig und entschieden anstößiger ist der – wenn man so will – innere Verfall, der die höchsten Qualitäten ihres „bonheur“ und „calme“ [69] weniger begleitet als daß er mit ihnen koinzidiert, ja sie allererst verursacht. Diese Kehrseite des Glücks, die geradezu oxymorisch den Verzicht auf Individuation und Selbstbewußtsein umfaßt, ließ sich durchgängig an der Sprach- und Begriffslosigkeit eines Verhaltens aufzeigen, welches von vornherein die Erkenntnis wie den geschichtlichen Wandel zurückweist. In zwei offenbar verschiedenen Kontexten bringen Flauberts Notizen die Ignoranz, die dem zugrundeliegt, gewissermaßen als Leitmotiv der Félicité in Erinnerung. Fo. 396 spricht – anläßlich der Kindererziehung im zweiten Kapitel – von „son ignorance profonde. nulle envie de savoir“ [70] , während fo. 381 r. zunächst eine Aufzeichnung „ignorance profonde. – aucun desir de savoir. Elle n’avait qu’un besoin: aimer“ enthält, um dann weiter unten „son genre de reverie ou plutot de meditations [...] pareil à celui des animaux, des plantes“ zu erwähnen. [71]
Doch bleibt es in Félicités Heilsgeschichte, die im irdischen Sinn immer mehr aufhört, überhaupt eine Geschichte zu sein, nicht allein beim apriorischen Wissensverzicht. Sie realisiert sich, soweit sie einen Progreß verwirklicht, auch durch den zunehmenden Verlust von Perzeption und Kommunikation, der Flauberts Conte etwa radikal von Lamartines sentimentaler Glorifizierung der „domesticité“ in Geneviève – Histoire d’une servante unterscheidet. [72] Dabei fällt an Félicités wörtlicher Rede neben deren bloßer Wortarmut insbesondere der Umstand auf, daß sie häufig ihr kommunikatives Ziel verfehlt: Mme Aubain mißversteht brutal Félicités Tröstungsversuch (vgl. S. 36), und Fabu entrüstet sich gar über ihre Bitte um Verzeihung (vgl. S. 68f.). Während des vierten Kapitels mehren sich die Hinweise auf eine wachsende Isolierung: „Loulou, dans son isolement, était presque un fils, un amoureux“ (S. 57), und als Loulou gestorben ist, wird zwar einerseits betont, mit welcher Ruhe sich Félicité der vergangenen Tage erinnert – „sans douleur, pleine de tranquillité“ –, andererseits scheint aber gerade diese Ruhe auf die unmittelbar folgende Feststellung zurückzugehen: „Ne communiquant avec personne, elle vivait dans une torpeur de sonnambule“ (S. 62). Nach Mme Aubains Tod gilt für lange Zeit: „Elle ne sortait guère“ (S. 66); dann: „Les persiennes n’ouvraient plus. Bien des années se passèrent“ (S. 67), bevor erst Félicités Erkrankung – bezeichnenderweise in einer letzten Identifikation mit Madame (und Virginie) die „Pneumonie“ [73] – erneut einige wenige, zumal durch die Riten des religiösen Lebens motivierte Kontakte mit sich bringt. Charakteristisch wirkt auch, daß im vierten Kapitel die politischen Ereignisse von 1848 oder 1851 nunmehr spurlos und unbemerkt vorübergehen, während die Juli-Revolution immerhin die Ankunft eines neuen Sous-Préfet bedeutet hatte.
Mit dem Kommunikationsverlust aufs engste verbunden ist die narrativ noch stärker unterstrichene Reduktion jeglicher Wahrnehmung. Sie geht aus von Félicités umfassender ‚Ignoranz‘, der Kargheit ihrer „éducation littéraire“ (S. 14) wie ihrer „éducation religieuse“ (S. 27), welche durch gelegentliche Kuriositäten M. Bourais’ Gelächter erregen, „tant son intelligence était bornée!“ (S. 37). Solche „Borniertheit“ vertieft sich mit dem Verlust des Gehörs: „Le petit cercle de ses idées se rétrécit encore“ (S. 56); erst recht mit der Erblindung, die Félicité zum Schluß nur noch erlaubt, den gleichfalls zerfallenden Vogelfetisch zu ertasten („aveugle à présent, elle le baisa au front, et le gardait contre sa joue“, S. 69) und sterbend – „avec une sensualité mystique“ – den Duft des Weihrauchs einzuatmen (vgl. S. 73). Von zentraler Bedeutung ist dabei das Taubwerden, das Félicité endgültig der Sprache, den Begriffen und den ‚Ideen‘ entzieht. Auf ihm insistieren die Entwürfe, die es auch direkter als die Endfassung zur Konsequenz einer Überanstrengung bei Félicités Suche nach dem verschollenen Papagei erklären, mit geradezu fanatischen Wiederholungen, wie sie in fo. 400 [74] und vor allem in fo. 405 auffallen: [75]
des lors F. qui avait toujours eu l’oreille dure devient sourde [tout à fait] [...] –[puis sourde tout à fait la solitude plus gde. – pas d’idées entendues. – rien que ce qu elle peut voir] Rien n’arrive plus à elle. – monde des sourds.
So wird Félicité nach den Maßstäben der bürgerlichen Außenwelt zum personifizierten Inbegriff der ‚Dummheit‘: ein Urteil, das sie in ihrer Taubheit kommunikationslos anerkennt (S. 56):
Souvent sa maîtresse lui disait: – „Mon Dieu! comme vous êtes bête!“ elle répliquait: – „Oui, Madame,“ en cherchant quelque chose autour d’elle.
Eben diese ‚Dummheit‘, die sich von der Wortarmut zu Kommunikations- und Realitätslosigkeit verschärft, steht aber hinter den Qualitäten „immuable“ und „automatique“, welche Félicité gemäß der oxymorischen Struktur des „Resumé“ „charitable“ und letztlich „heureuse“ machen. Sicher ist kein Zufall, daß die Skizzen jenes „Que vous etes bête Felicité“ [76] einer Erzählung über ‚Glück‘ und ‚Seligkeit‘ beinahe als Grundakkord unterstellen. Es taucht nicht nur in drei Entwürfen derselben Szene auf, [77] sondern in fo. 387 v. auch bezüglich einer ganz anderen Situation, der Heirat von Félicités Schwester. [78] Als ein thematischsymbolisches Hauptelement des Conte ging das Dictum den einzelnen Szenenentwürfen offensichtlich voraus, und erst im nachhinein war die Episode zu bestimmen, in der es realiter ausgesprochen werden sollte. Dazu korrespondiert, daß die „Brouillons“ immer dort, wo sie Félicités dunkles Glück in „Son genre de calme & de beatitude“ umreißen, zugleich regelmäßig ihr „affaiblissement intellectuel“ hervorkehren. Das geschieht in fo. 406 [79] , nicht weniger akzentuiert indessen in fo. 391, welches „calme. tranquillité de son âme“ und „affaissement intellectuel“ verbindet, [80] und besonders in fo. 401. Hier scheint „son genre de [calme & de (?)] beatitude“ ein doppelter, innerer wie äußerer, Verfall zu umgeben; denn zunächst ist die Rede von „progressive decadence physique & morale de Felicité“, und dann heißt es: „La maison vieillit“. [81]
So zeigt sich, daß die Grundfigur der Erzählung nicht allein – wie oft gewiß zu Recht versichert wird – auf ein Gegenbild zu Madame Bovary hinaus will. Stellt man sie in den spezielleren Kontext von Flauberts Spätwerk, läßt sie – was die Struktur betrifft – vielmehr noch deutlichere Übereinstimmungen mit Bouvard et Pécuchet erkennen, einem Buch, zu dem CS gewissermaßen ein Verhältnis der chiastischen Umkehrung einnimmt. Dazu müssen wir uns des dialektischen Charakters entsinnen, der dem unvollendeten Roman eignet. Einerseits ist er ja eine Erzählung vom Unglück, das sich in zahllosen Episoden hektischer Bewegung ebenso vielgestaltig multipliziert wie monoton wiederholt. Andererseits entsteht in ihm dies Unglück – sowohl individuell-biographisch wie ‚universalgeschichtlich‘ – aus der bürgerlichen Aufklärung, d. h. der beschleunigten Ausbreitung und Vertiefung von Wissen, Reflexion und Ideen. [82] Als Motto könnte solcher Dialektik jener Ecclesiastes-Vers „Et qui addit scientiam, addit et laborem“ (I 18) dienen, welcher in Flauberts „phrase capitale“ [83] „Et ayant plus d’idées, ils eurent plus de souffrances“ [84] wiederaufgenommen scheint, wonach sich die Entwicklung der beiden traurigen Wissenschaftler schon im ersten Kapitel ins Leidvolle wendet. Führt die rasche Zunahme an autonomen „idées“ hier zu ständig gesteigerten „souffrances“, dann ergibt CS nichts anderes als die exakte Gegenprobe dieses Befundes. Im fast bewegungslosen, ‚automatischen‘ Verharren wird Félicité „heureuse“; doch haben Glück und Seligkeit der Dienerin ihre Prämisse in dem Satz: „Le petit cercle de ses idées se rétrécit encore“. Auch das mag, da es ja um Heiligkeit geht, eine Resonanz auf Biblisches sein, etwa auf die Botschaft der Bergpredigt vom „Beati pauperes spiritu: quoniam ipsorum est regnum caelorum“ (Matth. 5,3). Indessen ist nicht zu übersehen, daß Flaubert an diesem Versprechen kaum weniger unerbittlich das Dunkle der „pauperes spiritu“ gegenüber einer lichten Beatitudo hervorhebt, wie er beim Ecclesiastes-Vers die „scientia“ hinter dem „labor“ zurücktreten läßt. Wenn es für Félicité Seligkeit gibt, so liegt sie jedenfalls außerhalb der Werte einer mehr und mehr verblassenden Geschichte: wo das höchste Glück wäre, da müßte – wie es Flauberts Spätwerk will – auch die Revokation von Aufklärung und eine Regression des Bewußtseins stattfinden. Um das noch einmal im antithetisch-komplementären Bezug auf Bouvard et Pécuchet zu verdeutlichen: Dort wird der durch den Satz „Au fond d’un horizon plus lointain chaque jour, ils apercevaient des choses à la fois confuses et merveilleuses“ konstatierten Sinnes- und Bewußtseinserweiterung die folgende begriffliche Synthese vorangestellt: „Leur intelligence se développa“. [85] Dagegen verbindet sich mit Félicités progressiver Sprachlosigkeit, mit ihrem selbstentfremdeten „dévouement bestial“ und ihrer „vénération religieuse“ (S. 49) die abgründig parallel formulierte Alternative: „La bonté de son coeur se développa“.
Weit davon entfernt, idyllisch erbauliche „bons sentiments“ kundzutun, nimmt auch der Conte CS, in dem wie in Dostoevskijs Idiot das Fin-de-Siècle-Thema einer tragisch-absurden Nachfolge Christi durchscheint, [86] an jener eigentümlich negativen Aufklärungskritik teil, die in Flauberts Spätwerk manchmal wie eine noch begriffslose Vorwegnahme der Aufklärungsdialektik Adornos und Horkheimers anmutet. Liest man neben dem Spätwerk die frühere Korrespondenz, wird freilich – zumindest in schemenhaften Umrissen – noch eine weitere Schicht möglicher, wenngleich untergründiger und wohl unbewußter Sinnbildung sichtbar. Sie enthält auf den ersten Blick überraschende Fragmente zu einer poetologischen Allegorie, welche hier nicht mehr explizit entwickelt, sondern lediglich angedeutet werden soll. Ihre Ansatzpunkte stammen aus den Briefpassagen, in denen Flaubert die. Kunst-Idee nicht nur der Religion, [87] sondern – wie im Brief des 31. März 1853 – pointierter deren Elementarformen von „superstition und „fanatisme“ zuordnet. Dabei wird immer wieder das Konzept der Mystik und des mystischen Lebens aufgerufen. So heißt es einmal: „A l’écart de la foule, un mysticisme nouveau grandira“. [88] Ihn kann der Dichter verwirklichen, falls ihm die Isolation gelingt: „Il faut se renfermer, et continuer tête baissée dans son oeuvre, comme une taupe“. [89] Anderenorts wird Louise Colet ermahnt: „Aimonsnous donc en l’Art, comme les mystiques s’aiment en Dieu, et que tout pâlisse devant cet amour!“ [90] , und am 21. 8. 1853 schreibt Flaubert: „On s’étonne des mystiques. Mais le secret est là; leur amour, à la manière des torrents, n’avait qu’un seul lit, étroit, profond, en pente, et c’est pour cela qu’il emportait tout“. [91]
Ähnlich der mystischen Liebe verlangt auch das Schöne ein „Sacrifice“: „L’art, comme le dieu des Juifs, se repaît d’holocaustes“. Daher folgt diesem Satz ein Aufruf zur spiritualisierenden Selbstkasteiung: „Allons! déchire-toi, flagelle-toi, roule-toi dans la cendre, avilis la matière, crache sur ton corps, arrache ton coeur; tu seras seul, tes pieds saigneront“. [92] Als letztes Ziel solcher Qualen soll indessen jene „tranquillité“ [93] entstehen, die neben dem Endstadium von Félicités Glück gleichfalls den Status aller großen Kunst bildet; denn auch die „très belles oeuvres“ gehen stets über den Begriff und den kommunikativen Zweck („de faire rire“, „de faire pleurer“, „de vous mettre en rut ou en fureur“) hinaus: „Elles sont sereines d’aspect et incompréhensibles“. [94] Ihr spezifischer Ausdruck ist eben die Ruhe: „Et cependant quelque chose de singulièrement doux plane sur l’ensemble! C’est l’éclat de la lumière, le sourire du soleil, et c’est calme! c’est calme!“. [95] Dazu gehört, daß die derart ausgezeichneten Dichtungen nichts strikter zu meiden haben als den Geist im Sinne von Esprit und aufklärerischer Intelligenz: „l’esprit [...] est incompatible avec la vraie poésie. Qui a eu plus d’esprit que Voltaire et qui a été moins poète?“. [96] Deshalb müssen gerade die ‚Meisterwerke‘ auf eine bestimmte Weise ‚dumm‘ sein: „Musset aime la gaudriole. Eh bien! pas moi. Elle sent l’esprit (que je l’exècre en l’art!). Les chefs-d’oeuvre sont bêtes“. [97]
Gewiß steht jedes dieser Zitate in verschiedenartigen Argumentationszusammenhängen und wird durch die hier vorgenommene Reihung jeweils ein wenig verfälscht. Trotzdem zeigen unverkennbare Analogien von Worten, Begriffen und Werten, daß auch zur verdüsterten Hagiographie der Félicité die Selbstprojektion des Schriftstellers Flaubert, die zugleich Selbstvernichtung und Selbstverklärung ist, ein beträchtliches Maß beigetragen hat. In solcher Selbstprojektion wird unbewußt wohl nicht nur die Kunst allgemein allegorisiert, sondern mehr noch ein ganz spezieller, historisch einzigartiger Begriff der Kunst. Gemeint ist jene „vraie poésie“, die den leblos zerfallenden Papagei gegen alle Realität in eine Erscheinung des Heiligen Geistes verwandelt und so ihr Heil, „Son genre de calme & de beatitude“, durch die mystische Opferung der Welt bei sich selbst findet. Gleichzeitig ähnelt diese „poésie“ Flauberts seliger Dienerin im Verzicht, mit dem das Heil reiner, weltloser Signifikanz erkauft wird. Solcher Verzicht betrifft die Wahrnehmung der Wirklichkeit, erst recht die Verständigung über etwas Wahrgenommenes, welche zur Kommunikation noch immer des – sei’s auch verschlissensten – Begriffs bedarf. Derart nähert sich die in CS evozierte Dichtung ihrem Ziel und ihrer Grenze im Verstummen: ein erster Vorschein radikaler Moderne, die – bis hin zu Beckett oder Adornos (Beckett zu widmender) „Ästhetischer Theorie“ nicht aufhören wird, an die Größe wie an die Aporien von Félicités Sprachlosigkeit zu erinnnern.
1 Einige Pressestimmen zitiert Jacques Suffel im Vorwort seiner Ausgabe: G. Flaubert, Trois Contes, Paris (Garnier-Flammarion) 1965, S. 22f.
2 Vgl. P. M. Wetherill, „Les dimensions du texte: brouillons, manuscrit et version définitive – Le cas d’Un coeur simple“, ZFSL 89 (1979), S. 159–171, hier S. 169.
3 Vgl. E. Gérard-Gailly, Flaubert et les fantômes de Trouville, Paris 1930, S. 183–206.
4 R. Dumesnil, Gustave Flaubert – L’homme et l’oeuvre, Paris 1932, S. 383.
5 Besonders unbeschwert tut das J. Suffel, wenn er noch 1965 zu den Trois Contes erklärt: „Un coeur simple, placé en tête, est une peinture du pays normand. Envahi par la nostalgie du passé, Flaubert s’est plu à rassembler là des souvenirs d’autrefois, à peindre des figures familières“ (G. Flaubert, Trois Contes, ebd., S. 16).
6 Vgl. R. Dumesnil, ebd., S. 384f.
7 Ebd., S. 384.
8 A. Thibaudet, Gustave Flaubert, Paris 1973 (1. Aufl. 1935), S. 192.
9 M. Nadeau, Gustave Flaubert écrivain, Paris 1969, S. 280.
10 Vgl. ebd., S. 278.
11 Vgl. A. Thibaudet, ebd., S. 192.
12 Vgl. B. Stoltzfus, „Point of View in Un Coeur simple“, in: French Review 35 (1961), S. 19–25; E. Showalter Jr., „Un Coeur simple as an Ironic Reply to Bernardin de Saint-Pierre“, in: French Review 40 (1966), S. 47–55.
13 Vgl. V. Brombert, The Novels of Flaubert – A Study of Themes and Techniques, Princeton 1966, S. 238ff.
14 P. M. Wetherill, ebd., S. 167, Anm. 34
15 Vgl. dazu auch den Diskussionsbeitrag von Claude Duchet in: Langages de Flaubert – Actes du Colloque de London (Canada) 1973, Paris 1976, S. 112f.
16 Vgl. hier vor allem S. E. Douyère, ‚Un coeur simple‘ de Gustave Flaubert, Paris 1974, S. 71–77.
17 Vgl. dazu bereits die treffenden Hinweise von A. Thibaudet, ebd., S. 193.
18 Flaubert, Madame Bovary, hg. v. C. Gothot-Mersch, Paris 1971, S. 332f.
19 G. Flaubert, Trois Contes, hg. v. E. Maynial, Paris (Classiques Garnier) 1960, S. 73. Auf diese Ausgabe beziehen sich im weiteren die Seitenangaben nach den Zitaten im Text.
20 Vgl. G. A. Willenbrink, The Dossier of Flaubert’s ‚Un Coeur simple‘, Amsterdam 1976, S. 227235.
21 Vgl. ebd., S. 195. Der Vorsatz findet sich in einem Brief an die Nichte Caroline vom 7. August 1876. Im Manuskript ist der Schluß des Conte übrigens durch eine sehr eigenwillige, von zahlreichen Gedankenstrichen gleichsam dramatisierte Interpunktion ausgezeichnet, auf die Willenbrink (ebd., S. 235) aufmerksam macht.
22 Vgl. ebd., S. 195–235.
23 Ebd., S. 232.
24 Vgl. dazu die Berechnungen von K. D. Bertl, Gustave Flaubert – Die Zeitstruktur in seinen erzählenden Dichtungen, Bonn 1974, S. 144f.
25 Vgl. dazu C. Duchet, „Ecriture et désécriture de l’histoire dans Bouvard et Pécuchet“, in: Flaubert à l’oeuvre, Paris 1980, S. 105–133, hier S. 119 und S. 127: „Le texte met à l’écart ce qui engage trop, ou donne trop de sens“.
26 Vgl. A. Cento, „Il plan primitivo di „Un Coeur simple“, in: Studi Francesi 13 (1961), S. 101103.
27 Vgl. G. Flaubert, Plans, notes et scénarios de ‚Un Coeur simple‘, hg. v. F. Fleury, Rouen 1977, S.94.
28 Vgl. ebd., S. 10f.
29 Vgl. ebd., S. 73 und 92.
30 Vgl. ebd., S. 75 (fo. 402).
31 Vgl. ebd., S. 70 (fo. 400).
32 Vgl. ebd., S. 83f. Dort wird etwa notiert: „Me A.n etait pas toujours commode. – reproches. pr la depense. mefiante.]“; der Pole ist jemand „[qui pr l’exploiter faisait l’amoureux]“; der Père Colmiche ist „ignoble. de misère & d’immoralité. [des gens au bagne, de l’inceste]“.
33 Vgl. ebd. Zu kontrastieren wäre die Überbietungsstruktur dieser Entwicklung mit der flächigen Juxtaposition in G. Flaubert, Trois Contes, hg. v. E. Maynial, ebd., S. 49f.
34 Vgl. G. Flaubert, Plans, hg. v. F. Fleury, ebd., S. 92.
35 Vgl. Flaubert, Correspondance, hg. v. J. Bruneau, Bd. 2, Paris 1980, S. 116 (26. 6. 1852).
36 Vgl. ebd., S. 698 (30. 3. 1857). Im gleichen Brief, der freilich stark durch den ‚Erwartungshorizont‘ der Adressatin Mlle Leroyer de Chantepie beeinflußt ist, findet sich auch das Geständnis: „Chaque dogme en particulier m’est répulsif, mais je considère le sentiment qui les a inventés comme le plus naturel et le plus poétique de l’humanité. Je n’aime point les philosophes qui n’ont vu là que jonglerie et sottise. J’y découvre, moi, nécessité et instinct; aussi je respecte le nègre baisant son fétiche autant que le catholique aux pieds du Sacré-Coeur.“
37 Ebd., S. 291f. Auch diese Passage geht nach dem Fanatismus der Religion unmittelbar zum Fanatismus der Kunst über: „Dans l’Art aussi, c’est le fanatisme de l’Art qui est le sentiment artistique“.
38 Ebd., S. 104.
39 Ebd., S. 119 (27. 6. 1852); vgl. außerdem S. 133, 140 oder 151.
40 Vgl. ebd., S. 1077.
41 Vgl. dazu V. Brombert, „Usure et rupture chez Flaubert: l’exemple de Novembre“, in: Ch. Carlut (Hg.), Essais sur Flaubert, Paris 1979, S. 145–154.
42 Vgl. dazu U. Schulz-Buschhaus, „Homais oder die Norm des fortschrittlichen Berufsbürgers“, RJb 28 (1977), S. 126–149 [in diesem Band: S. 7–29, hier S. 9f.]
43 Flaubert, Madame Bovary, ebd., S. 104.
44 G. Falconer, „Flaubert assassin de Charles...“, in: Langages de Flaubert, ebd., S. 115–136, hier S. 117f.
45 Flaubert, Madame Bovary, ebd., S. 51.
46 G. Flaubert, Plans, hg. v. F. Fleury, ebd., S. 63.
47 Ebd., S. 70f.
48 Vgl. ebd., S. 72.
49 Vgl. dazu S. E. Douyère, ebd., S. 38–42.
50 Vgl. G. Flaubert, Correspondance, Bd. 8, Paris (conard) 1930, S. 25 (2. 4. 1877)
51 Vgl. v. Brombert, The Novels of Flaubert, a.a.o., S. 241.
52 Vgl. etwa A. Thibaudet, ebd., S. 193, oder V. Brombert, The Novels of Flaubert, ebd., S. 243f.
53 Dabei tut es nichts zur Sache, wenn zwischen diesen Daten gelegentlich auch Inkonsistenzen entstehen, wie sie Willenbrink (vgl. ebd., S. 153) aufgefallen sind.
54 Vgl. G. Flaubert, Plans, hg. v. F. Fleury, ebd., S. 35.
55 Vgl. hierzu den Kommentar von Willenbrink, ebd., S. 118.
56 Vgl. G. Flaubert, Plans, hg. v. F. Fleury, ebd., S. 36.
57 Vgl. G. A. Willenbrink, ebd., S. 118.
58 Vgl. Flaubert, Madame Bovary, ebd., S. 155.
59 Vgl. ebd.
60 G. Flaubert, Plans, hg. v. F. Fleury, ebd., S. 83.
61 Ebd., S. 54.
62 Ebd., S. 75.
63 Ebd., S. 80.
64 Ebd., S. 62.
65 Vgl. dazu R. Debray-Genette, „La technique romanesque de Flaubert dans Un Coeur simple“, in: Langages de Flaubert, ebd., S. 95–108, hier S. 105.
66 Vgl. G. Flaubert, Plans, hg. v. F. Fleury, ebd., S. 53.
67 Ebd., S. 66f.
68 Ebd., S. 74.
69 Ebd., S. 70.
70 Vgl. ebd., S. 56.
71 Vgl. ebd., S. 9.
72 Vgl. dazu die präzise Gegenüberstellung von Alison Fairlie, „La contradiction créatrice – Quelques remarques sur la genèse d’Un Coeur simple“, in: Ch. Canut (Hg.), Essais sur Flaubert, ebd., S. 203–231, hier S. 217–222.
73 Vgl. dazu R. Debray-Genette, ebd., S. 100.
74 Vgl. G. Flaubert, Plans, hg. v. F. Fleury, ebd., S. 70f.
75 Ebd., S. 88.
76 Vgl. ebd., S. 71. Als „– Ah! qu’elle est bête!“ wird es übrigens schon in der Catherine-Leroux-Episode der Madame Bovary (ebd., S. 154) vorweggenommen.
77 Vgl. dazu noch ebd., S. 29 und 89.
78 Vgl. ebd., S. 27: „n’importe joie de Felicité quand elle apprend que sa soeur se marie. ‚que vous
etes bête, Felicité‘“.
79 Vgl. ebd., S. 92.
80 Vgl. ebd., S. 40.
81 Vgl. ebd., S. 73.
82 Vgl. dazu U. Schulz-Buschhaus, „Der historische Ort von Flauberts Spätwerk – Interpretationsvorschläge zu Bouvard et Pécuchet“, ZFSL 87 (1977), S. 193–211 [in diesem Band: S. 105–119].
83 Zu ihrer romaninternen Bedeutung vgl. A. Cento, Commentaire de ‚Bouvard et Pécuchet‘, Napoli 1973, S. 25.
84 G. Flaubert, Bouvard et Pécuchet, hg. v. C. Gothot-Mersch, Paris (Colt. Folio) 1979, S. 61.
85 Ebd.
86 Vgl. zu diesem Thema den Überblick „Doppelgänger Christi“, in: H. Hinterhäuser, Fin de Siècle, München 1977, S. 13–43, bes. S. 41ff.
87 Vgl. etwa Flaubert, Correspondance, hg. v. J. Bruneau, Bd. 2, ebd., S. 451 (12. 10. 1853).
88 Ebd., S. 437 (22. 9. 1853)
89 Ebd.
90 Ebd., S. 393 (14. 8. 1853)
91 Ebd., S. 402.
92 Ebd., S. 402f.
93 Vgl. ebd., S. 403.
94 Ebd., S. 417 (26. 8. 1853).
95 Ebd.
96 Ebd., S. 385 (15. 7. 1853).
97 Ebd., S. 119 (27. 6. 1852).
« zurück