<quote>Der Experimentalroman</quote> <date>1880</date> Zola, Émile o:reko.zola.1880 Émile Zola: Der Experimentalroman. Eine Studie. Autorisierte Übertragung von Julius Zeitler. Leipzig: Zeitler 1904, S. 11-62. Le roman expérimental [1879]. Paris: G. Charpentier 1880. Genre Abhandlung Media Literatur

[…]Ist in der Literatur, in der bisher die Beobachtung allein angewendet worden zu sein scheint, das Experiment möglich?

Claude Bernard widmet der Beobachtung und dem Experiment eine lange Diskussion. Zunächst besteht eine sehr genaue Grenzlinie. Nämlich diese: „‚Beobachter‘ nennt man den, der die einfachen oder zusammengesetzten Forschungsmethoden auf das Studium der Erscheinungen anwendet, die er nicht zur Veränderung bringt und daher so nimmt, wie sie ihm von der Natur geboten werden; ‚Experimentator‘ den, der die einfachen oder zusammengesetzten Forschungsmethoden anwendet, um die natürlichen Erscheinungen zu irgend einem Zweck zu verändern oder zu modifizieren und sie unter Bedingungen oder Umständen auftreten zu lassen, unter denen sie von der Natur nicht geboten werden.“ Zum Beispiel ist die Astronomie eine Beobachtungswissenschaft, weil man von einem Astronomen, der auf die Gestirne wirkt, keinen Begriff hat; dagegen ist die Chemie eine experimentelle Wissenschaft, denn der Chemiker wirkt auf die Natur ein und modifiziert sie. Das ist nach Claude Bernard der wahrhaft wichtige Unterschied, der den Beobachter vom Experimentator trennt.

Ich kann ihm in seiner Erörterung der verschiedenen bis heute gegebenen Definitionen nicht folgen. Er schliesst, wie gesagt, endlich damit, dass das Experiment im Grunde nur eine gewollte, absichtlich herbeigeführte Beobachtung ist. Ich zitiere: „In der experimentellen Methode ist die Untersuchung der Tatsachen, d. h. die Forschung, stets mit einem Urteil verknüpft, so zwar, dass der Experimentator meistens ein Experiment macht, um den Wert einer experimentellen Idee zu kontrolieren [sic] oder zu verifizieren. In diesem Fall kann man sagen, ist das Experiment eine zum Zweck der Kontrolle absichtlich gemachte Beobachtung.“ Um zur Bestimmung dessen zu kommen, was es an Beobachtung und experimentellem Verfahren im naturalistischen Roman geben kann, brauche ich schliesslich nur die folgenden Stellen:

„Der Beobachter konstatiert klar und einfach die Erscheinungen, die vor seinen Augen liegen... Er hat der Photograph der Erscheinungen zu sein; seine Beobachtung muss die Natur in exakter Weise darstellen … er behorcht die Natur und schreibt unter ihrem Diktat. Ist aber die Tatsache einmal konstatiert, die Erscheinung genau beobachtet, so tritt die Idee hinzu, das Urteil mengt sich ein, und es erscheint der Experimentator, um das Phänomen zu interpretieren. Der Experimentator ist derjenige, der kraft einer mehr oder weniger wahrschein lichen, jedoch antizipierten Interpretation der beobachteten Erscheinungen das Experiment so einrichtet, dass es nach der logischen Folge der Vermutungen ein Resultat gibt, das der Hypothese oder der vorgefassten Idee zur Kontrolle dient … Von dem Augenblick an, in dem das Resultat des Experiments zum Vorschein kommt, steht der Experimentator einer echten Beobachtung gegenüber, die er hervorrief und die er, wie jede Beobachtung, ohne vorgefasste Idee konstatieren muss. Der Experimentator muss dann verschwinden, oder vielmehr, er muss sich augenblicklich in den Beobachter umwandeln; und erst, nachdem er die Resultate des Experiments ganz genau wie die einer gewöhnlichen Beobachtung konstatiert hat, kann sich sein Geist wieder daran machen, zu denken, zu vergleichen und zu urteilen, ob die experimentelle Hypothese beglaubigt oder von den gleichen Resultaten entkräftigt wird.“

Das ist der ganze Mechanismus. Er ist etwas verwickelt und Claude Bernard ist veranlasst zu sagen: „Wenn dies alles sich zu gleicher Zeit im Kopf eines Gelehrten abspielt, der sich in einer so dunkeln Wissenschaft, wie noch die Medizin ist, der Forschung widmet, dann gibt es eine solche Verwirrung zwischen dem, was der Beobachtung entstammt, und dem, was dem Experiment zugehört, dass es unmöglich und überdies unnütz wäre, jeden dieser Standpunkte in ihrer unentwirrbaren Mischung analysieren zu wollen. Alles in allem kann man sagen, dass die Beobachtung „zeigt“ und dass das Experiment „belehrt“.

Nun! Kommen wir jetzt auf den Roman zurück, sehen wir gleichfalls, dass der Romanschriftsteller aus einem Beobachter und einem Experimentator besteht. Der Be obachter in ihm gibt die Tatsachen so, wie er sie beobachtet hat, setzt den Ausgangspunkt fest und stellt den festen Grund und Boden her, auf dem die Personen aufmarschieren und die Erscheinungen sich entwickeln können. Dann erscheint der Experimentator und bringt das Experiment zur Durchführung, d. h. er gibt den Personen ihre Bewegung in einer besonderen Handlung, um darin zu zeigen, dass die Aufeinanderfolge der Tatsachen dabei eine solche ist, wie sie der zur Untersuchung stehende Determinismus der Erscheinungen ist. Hier liegt fast stets ein Experiment „zum Greifen“ vor, wie Claude Bernard es meint. Der Romanschriftsteller geht auf die Erforschung einer Wahrheit aus. Ich will als Beispiel die Figur des Baron Hulot, in der Cousine Bette von Balzac, nehmen. Die von Balzac beobachtete Haupttatsache ist das Unheil, das von der Liebesleidenschaft eines Mannes in ihm selbst, in seiner Familie und in der Gesellschaft erzeugt wird. Sobald die Wahl seines Gegenstandes getroffen war, ging Balzac von den beobachteten Tatsachen aus, dann führte er sein Experiment ein, indem er Hulot durch verschiedene Lebenskreise hindurch einer Reihe von Prüfungen unterwarf, um damit die Tätigkeit des Mechanismus seiner Leidenschaft darzutun. Es ist also offenbar, dass hier nicht bloss eine Beobachtung, sondern auch ein experimentelles Verfahren stattfindet, da Balzac sich zu den von ihm gesammelten Tatsachen nicht genau als Photograph verhält, da er sich in einer unmittelbaren Weise einmischt, um seine Person in Verhältnisse zu bringen, deren Meister er bleibt. Das Problem besteht darin, zu wissen, was eine solche Leidenschaft, die in einem solchen Milieu und unter solchen Verhältnissen tätig ist, im Hinblick auf das Individuum und auf dieGesellschaft für „Wirkung tun wird; und ein Experimentalroman, die Cousine Bette zum Beispiel, ist einfach das Protokoll des Experiments, das der Romanschriftsteller vor den Augen des Publikums wiederholt. Kurz, das ganze Verfahren besteht darin, dass man die Tatsachen der Natur entnimmt, dann den Mechanismus der Tatsachen studiert, indem man durch die Modifikationen der Umstände und Lebenskreise auf sie wirkt, ohne dass man sich je von den Naturgesetzen entfernt. Am Ende hat man die Erkenntnis, die wissenschaftliche Erkenntnis des Menschen in seiner individuellen und sozialen Betätigung.

Ohne Zweifel sind wir hier weit von den Gewissheiten der Chemie und sogar der Physiologie entfernt. Wir kennen noch keineswegs die Reagentien, die eine Zerlegung der Leidenschaften herbeiführen und sie zu analysieren erlauben. Oftmals werde ich so in dieser Studie daran erinnern, dass der Experimentalroman jünger ist als die experimentelle Medizin, die doch kaum erst geboren ist. Ich beabsichtige jedoch nicht, die erlangten Resultate zu konstatieren, ich wünsche einfach nur eine Methode klar auseinanderzusetzen. Wenn der experimentelle Romanschriftsteller in der dunkelsten und verwickeltsten der Wissenschaften noch im Finstern tappt, so verhindert das diese Wissenschaft nicht, zu existieren. Unleugbar ist der naturalistische Roman, wie wir ihn zur Zeit verstehen, ein wirkliches Experiment, das der Romanschriftsteller am Menschen macht, indem er die Beobachtung zur Hilfe nimmt.

Übrigens ist diese Ansicht nicht bloss die meinige, sie ist auch die von Claude Bernard. Er sagt irgendwo: „In der Praxis des Lebens findet man auch nur, dass die Menschen aneinander Experimente machen.“ Und wasnoch triftiger ist, hier hat man die ganze Theorie des Experimentalromans. „Wenn wir über unsere eigenen Handlungen urteilen, haben wir einen sicheren Führer, weil wir uns dessen, was wir denken und fühlen, bewusst sind. Wollen wir jedoch die Handlungen eines anderen Menschen beurteilen und die Beweggründe kennen, aus denen er handelte, so besteht ein grosser Unterschied. Ohne Zweifel sind uns die Bewegungen dieses Mannes und seine Äusserungen sichtbar, die, dess [sic] sind wir gewiss, die Ausdrucksformen seines Gefühls- und Willenslebens bilden. Ausserdem nehmen wir noch an, dass es zwischen den Handlungen und ihrer Ursache eine notwendige Beziehung gibt; aber welches ist diese Ursache? Wir empfinden sie nicht in uns; sie wird uns nicht bewusst, wie wenn es sich um uns selbst handelt; wir sind also genötigt, sie zu interpretieren, sie nach den Bewegungen, die wir sehen und den Worten, die wir hören, zu erschliessen. Dann müssen wir die Handlungen dieses Menschen gegenseitig kontrollieren; wir betrachten, wie er unter diesen oder jenen Umständen handelt, kurz, wir nehmen unsere Zuflucht zur experimentellen Methode“. Alles, was ich eben ausführte, wird in diesem letzten von einem Gelehrten stammenden Satz zusammengefasst.

Noch ein Bild von Claude Bernard will ich anführen, das einen starken Eindruck auf mich gemacht hat: „Der Experimentator ist der Untersuchungsrichter der Natur.“ Wir Romanschriftsteller, wir sind die Untersuchungsrichter der Menschen und ihrer Leidenschaften.

Aber man sehe doch, welch höchste Klarheit quillt, wenn man sich bezüglich des Romans mit der ganzen wissenschaftlichen Strenge, die der Gegenstand heute fordert, auf den Gesichtspunkt der experimentellen Methode stellt.Ein dummer Vorwurf, den man uns macht, uns naturalistischen Schriftstellern, ist, dass wir einzig und allein, Photographen sein wollten. Es hilft uns nichts, wenn wir erklären, dass wir das Temperament, den persönlichen Ausdruck anerkennen, man fährt nicht weniger damit fort, uns mit einfältigen Argumenten zu antworten, die der Unmöglichkeit, absolut wahr zu sein, und der Nötigung gelten, die Tatsachen zur Herstellung irgend eines Kunstwerkes arrangieren zu müssen. Nun! mit der Anwendung der experimentellen Methode auf den Roman hört jeder Streit auf. Die experimentelle Idee bringt die der Modifikation mit sich. Wir gehen so wohl von den wahren Tatsachen aus, die unsere unzerstörbare Grundlage ausmachen; um jedoch den Mechanismus der Tatsachen aufzuzeigen, müssen wir die Erscheinungen erzeugen und leiten; hier liegt, was wir an Erfindung, an Genie im Werke zu leisten haben. Ohne uns um die Fragen der Form, des Stils zu kümmern, die ich später untersuchen werde, stelle ich daher schon jetzt fest, dass wir die Natur, ohne aus ihr herauszutreten, modifizieren müssen, wenn wir in unseren Romanen die experimentelle Methode anwenden. Versetzt man sich in die Definition: „Die Beobachtung zeigt auf, das Experiment belehrt“, so können wir diese hohe Lehre, die es gibt, von nun ab für unsere Bücher fordern.

Weit entfernt von Verkleinerung wächst der Schriftsteller hier seltsam. Ein Experiment, und sei es auch das einfachste, ist stets auf eine Idee begründet, die selbst wieder, aus einer Beobachtung herrührt. Wie Claude Bernard es sagt: „Die experimentelle Idee ist durchaus weder willkürlich, noch rein imaginär; sie muss stets einen Stützpunkt in der beobachteten Wirklichkeit haben, d. h. inder Natur.“ Auf diese Idee und auf den Zweifel gründet er die ganze Methode. „Das Erscheinen der experimentellen Idee,“ sagt er weiterhin, „ist ganz spontan, und ihre Natur ist ganz individuell; eine eigene Empfindung, ein quid proprium machen die Originalität, die Erfindungskraft oder das Genie eines jeden aus.“ Endlich gestaltet er aus dem Zweifel den grossen wissenschaftlichen Hebel. „Der Zweifler ist der wahre Gelehrte; er zweifelt nur an sich selbst und seinen Auslegungen, aber er glaubt an die Wissenschaft; er nimmt in den experimentellen Wissenschaften sogar ein Kriterium oder ein absolutes Prinzip den Determinismus der Erscheinungen an, der in den Erscheinungen der lebenden Wesen ebenso absolut ist, wie in denen der starren Körper.“ So lässt denn die experimentelle Methode den Romanschriftsteller, anstatt ihn in enge Fesseln zu schlagen, seiner ganzen Kraft des Denkens und all seines Schöpfergenies geniessen. Er wird sehen, verstehen und erfinden müssen. Die Beobachtung einer Tatsache muss die Idee des Experimentes hervorquellen lassen, das angestellt, des Romans, der geschrieben werden soll, will man die vollkommene Kenntnis einer Wahrheit erreichen. Hernach wird er, sobald er den Plan dieses Experimentes untersucht und festgesetzt hat, in jeder Minute dessen Ergebnisse mit der geistigen Freiheit eines Mannes beurteilen, der nur die Tatsachen acceptiert, die mit dem Determismus [sic] der Erscheinungen im Einklang sind. Vom Zweifel ging er aus, um zur absoluten Erkenntnis zu kommen; und er hört nur auf, zu zweifeln, wenn der Mechanismus der Leidenschaft, die er zerlegt und wieder zusammengesetzt hat, gemäss den von der Natur geordneten Gesetzen arbeitet. Es gibt weder eine grössere, noch eine freiere Betätigung für den mensch lichen Geist. Wir werden weiterhin das Elend der Scholastiker, Systematiker und Theoretiker des Ideals sehen, und neben ihnen den Triumph des Experimentators.

Ich fasse diesen ersten Teil kurz zusammen, indem ich wiederhole, dass die naturalistischen Romanschriftsteller beobachten und experimentieren, und dass ihre ganze Tätigkeit aus dem Zweifel erwächst, auf dem sie gegenüber den schlecht gekannten Wahrheiten, den unaufgeklärten Erscheinungen, fussen, bis eines Tages eine experimentelle Idee jäh ihr Genie weckt und sie dazu treibt, ein Experiment anzustellen, um die Tatsachen zu analysieren und sie zu bemeistern.

II.

Das ist also die experimentelle Methode. Man hat jedoch lange Zeit geleugnet, dass diese Methode bei lebenden Wesen zur Anwendung gebracht werden könnte. Hier liegt der bedeutsame Punkt der Frage, den ich nun mit Claude Bernard prüfen werde. Die Schlussfolgerung wird dann sehr einfach sein: wenn die experimentelle Methode aus der Chemie und Physik in die Physiologie und Medizin übertragen werden konnte, kann sie es auch aus der Physiologie in den naturalistischen Roman.

Cuvier, um nur diesen Gelehrten anzuführen, behauptete, dass das experimentelle Verfahren, das gegenüber den starren Körpern angewendet würde, gegenüber den lebenden Wesen nicht angebracht sei; nach ihm sollte die Physiologie durchaus eine Wissenschaft der anatomischen Beobachtung und Deduktion sein. Die Vitalisten nehmen noch eine Lebenskraft an, die in den lebenden Wesen einen unaufhörlichen Kampf gegen die physikalisch-chemi schen Kräfte führte und ihre Tätigkeit neutralisierte. Claude Bernard dagegen leugnet jede mysteriöse Kraft und versichert, dass das experimentelle Verfahren überall anwendbar sei. „Ich habe die Absicht, festzustellen,“ sagt er, „dass die Wissenschaft der Lebenserscheinungen keine andern Grundlagen haben kann, als die Wissenschaft von den Erscheinungen der anorganischen Körper, und dass es in dieser Hinsicht zwischen den Prinzipien der biologischen Wissenschaften und denen der physikalisch-chemischen Wissenschaften keinen Unterschied gibt. In der Tat ist das Ziel, das sich die experimentelle Methode setzt, überall das Gleiche; es besteht darin, die natürlichen Erscheinungen mittels des Experiments auf ihre Existenzbedingungen oder ihre nächsten Ursachen zurückzuführen.“

Es scheint mir unnütz, auf die komplizierten Erklärungen und Schlussfolgerungen Claude Bernards einzugehen. Ich sagte schon, dass er die Existenz eines inneren Milieu beim lebenden Wesen behauptet. „Beim Experimentieren mit starren Körpern braucht man nur ein einziges Milieu, nämlich das kosmische, das äussere, in Rechnung zu bringen; während bei den höheren Lebewesen mindestens zwei Lebenskreise in Betracht zu ziehen sind, der äussere oder ausserorganische und der innere, oder innerorganische. Die aus der Existenz eines inneren organischen Milieu herrührende komplexe Beschaffenheit ist der einzige Grund der grossen Schwierigkeiten, denen wir bei der experimentellen Determination der Lebenserscheinungen und bei der Anwendung der Mittel, die sie modifizieren können begegnen.“ Von hier geht er aus, um festzustellen, dass es feste Gesetze für die ins innere Milieu gesenkten physiologischen Elemente gibt, wie auch die ins äussere Milieu gesenkten chemischen Elemente ihre festen Gesetze haben.Von nun ab kann man am lebenden Wesen ebenso gut, wie am starren Körper experimentieren; es handelt sich nur darum, sich in die gewollten Bedingungen zu versetzen.

Ich unterstreiche dies, weil, ich wiederhole es, hier der bedeutsame Punkt der Frage liegt. Wie Claude Bernard auf die Vitalisten zu sprechen kommt, schreibt er: „Sie betrachten das Leben als eine mysteriöse und übernatürliche Einwirkung, die willkürlich arbeitet, indem sie sich von jedem Determinismus freihält, und nennen alle jene Materialisten, die sich bemühen, die Lebenserscheinungen auf bestimmte organische und physikalisch-chemische Bedingungen zurückzuführen. Das sind falsche Ideen, die nicht leicht auszurotten sind, wenn sie einmal von einem Geist Besitz ergriffen haben; nur die Fortschritte der Wissenschaft werden sie wieder zum Verschwinden bringen“. Damit stellt er das Axiom auf: „Bei den lebenden Wesen wie bei den starren Körpern ist der Existenzgrund jeder Erscheinung auf eine absolute Weise bestimmt.“

Um den Gedankengang nicht zu sehr zu komplizieren, setze ich mir Schranken. Hier hat man also den Fortschritt der Wissenschaft. Im letzten Jahrhundert ruft eine exaktere Anwendung der experimentellen Methode die Chemie und Physik hervor, die sich vom Irrationellen und Übernatürlichen loslösen. Dank der Analyse entdeckt man, dass es feste Gesetze gibt; man bemeistert die Erscheinungen. Dann wird eine neue Stufe erklommen, die lebenden Körper, in denen die Vitalisten noch eine mysteriöse Einwirkung annehmen, werden ihrerseits auf den allgemeinen Mechanismus der Materie zurückgeführt. Die Wissenschaft beweist, dass der Existenzgrund jederErscheinung in den lebenden Wesen ebenso wie in den starren Körpern der gleiche ist; und von da ab bekommt die Physiologie allmählich die Gewissheit der Chemie und der Physik. Aber soll man dabei stehen bleiben? Offenbar nicht. Wenn man bewiesen hat, dass der menschliche Körper eine Maschine ist, deren Räderwerk man eines Tages nach dem Belieben des Experimentators auseinandernehmen und wieder zusammensetzen kann, müsste man auch auf die geistigen und seelischen Handlungen des Menschen übergehen. Von nun ab betreten wir das Gebiet, das bis jetzt der Philosophie und Literatur zugehörte; hierin hat man die entscheidende Eroberung der Hypothesen der Philosophen und Schriftsteller durch die Wissenschaft vor sich. Man hat die experimentelle Chemie und Physik; man wird die experimentelle Physiologie haben; und späterhin noch den experimentellen Roman. Hier liegt ein Fortschritt vor, der Bewunderung einflösst und dessen letztes Ziel schon heute leicht vorauszusehen ist. Alles in allem, man musste vom Determinismus der starren Körper ausgehen, um zum Determinismus der lebenden zu kommen; und da Gelehrte, wie Claude Bernard jetzt beweisen, dass der menschliche Körper von festen Gesetzen regiert wird, kann man, ohne Angst vor Täuschung, die Stunde verkünden, in der die Gesetze des Denkens und der Leidenschaften ihrerseits formuliert sein werden. Der Stein auf der Strasse und das Gehirn im Menschen müssen von ein und demselben Determinismus beherrscht werden.

Diese Ansicht findet man in der „Einführung“. Ich kann nicht oft genug wiederholen, dass ich alle meine Argumente Claude Bernard entnehme. Nach der Erklärung, dass völlig spezielle Phänomene das Resultat der immer verwickelteren Verbindung oder Assoziation derorganisierten Elemente sein können, schreibt er folgendes: „Ich bin überzeugt, dass die Hindernisse, die das experimentelle Studium der psychologischen Erscheinungen umgeben, grossenteils von Schwierigkeiten dieser Art herrühren; denn trotz ihrer wunderbaren Natur und der Feinheit, mit der sie sich kundgeben, ist es nach meiner Meinung unmöglich, die Gehirnvorgänge, gleich allen Erscheinungen lebender Wesen, nicht auf die Gesetze eines wissenschaftlichen Determinismus zurückzuführen.“ Das ist klar. Ohne Zweifel wird die Wissenschaft später diesen Determinismus in allen Vorgängen des menschlichen Gehirns und der menschlichen Sinne auffinden.

Von diesem Tage an tritt also die Wissenschaft in unser Reich, zu uns Romanschriftstellern, die wir jetzt Analytiker des Menschen in seiner individuellen und sozialen Tätigkeit sind. Mit unseren Beobachtungen und Experimenten setzen wir die Arbeit des Physiologen fort, der seinerseits die des Physikers und des Chemikers fortgeführt hat. Wir schaffen in irgend einem Sinne wissenschaftliche Psychologie zur Ergänzung der wissenschaftlichen Physiologie; und zur Vollendung der Entwicklung haben wir in unsere Forschungen über die Natur und den Menschen nur das entscheidende Werkzeug der experimentellen Methode hineinzutragen. Kurz, wir müssen mit den Charakteren, den Leidenschaften, den menschlichen und sozialen Handlungen operieren, wie es der Chemiker und der Physiker mit den starren Körpern, der Physiologe mit den lebenden Wesen tut. Der Determinismus beherrscht alles. Die wissenschaftliche Forschung, die experimentelle Urteilsweise besiegen eine nach der andern die Hypothesen der Idealisten und setzen an stelledes Romans der reinen Imagination den Beobachtungs- und Experimentalroman.

Ich beabsichtige sicherlich nicht, hier Gesetze aufzustellen. Beim gegenwärtigen Stande der Wissenschaft vom Menschen ist die Verwirrung und die Dunkelheit noch viel zu gross, als dass man die geringste Synthese wagte. Alles, was man sagen kann, ist, dass es für alle menschlichen Erscheinungen einen absoluten Determinismus gibt. Von nun ab ist die Forschung eine Pflicht. Wir haben die Methode, wir müssen vorwärts gehen, selbst wenn ein ganzes Leben voll Anstrengungen nur auf die Eroberung eines Stückchens Wahrheit hinausliefe. Seht die Physiologie: Claude Bernard hat grosse Entdeckungen gemacht, und er ist mit dem Geständnis gestorben, nichts oder fast nichts zu wissen. Auf jeder Seite bekennt er die Schwierigkeiten seiner Aufgabe. „In den phänomenalen Beziehungen, wie sie uns von der Natur geboten werden, herrscht stets eine grössere oder geringere Zusammengesetztheit. In dieser Hinsicht ist die Kompliziertheit der anorganischen Erscheinungen weit geringer, wie die der vitalen; deshalb sind die Wissenschaften, die sich der Erforschung der starren Körper widmen, schneller dazu gekommen, sich zu konstituieren. In den lebenden Wesen sind die Erscheinungen von einer ungeheuren Komplikation, und ausserdem gestaltet es die Veränderlichkeit der vitalen Eigenschaften weit schwieriger, sie zu erfassen und zu bestimmen.“ Was soll man dann von den Schwierigkeiten sagen, denen der experimentelle Roman begegnen muss, der vor der Physiologie seine Forschungen auf die kompliziertesten und feinsten Organe erstreckt, der die höchsten Äusserungen des Menschen, als Individuum wie als sozialen Gliedes, behandelt? Offenbar wird die Ana lyse hier noch komplizierter, wenn die Physiologie heute ihre Konstitution bekommt, ist es also natürlich, dass der Experimentalroman erst bei seinen ersten Schritten dazu ist. Man sieht ihn als eine notwendige Konsequenz der wissenschaftlichen Entwicklung des Jahrhunderts voraus: aber es ist unmöglich, ihn auf bestimmte Gesetze zu begründen. Wenn Claude Bernard von „den beschränkten und prekären Wahrheiten der Biologie“ redet, kann man wohl gestehen, dass die Wahrheiten der Wissenschaft vom Menschen im Hinblick auf den Mechanismus des Verstandes- und Gemütslebens, noch weit prekärer und beschränkter sind. Wir stammeln, wir sind die Nachzügler; das muss aber nur ein Stachel mehr für uns sein, uns von dem Augenblicke, wo wir das Werkzeug, die experimentelle Methode, haben und wo unser Ziel sehr klar ist, zu exakten Forschungen hin zu treiben, den Determinismus der Erscheinungen zu erkennen und uns zu Herren dieser Erscheinungen zu machen.

Ohne mich zu unterfangen, Gesetze zu formulieren, glaube ich, dass die Vererbung einen grossen Einfluss auf die Kundgebungen des menschlichen Verstandes- und Gemütslebens hat. Auch dem Milieu spreche ich eine hohe Bedeutung zu. Nun müsste man auf die Darwinschen Theorien kommen; hier handelt es sich aber nur um eine allgemeine Studie über die experimentelle Methode in ihrer Anwendung auf den Roman, und ich würde mich verlieren, wollte ich auf die Details eingehen. Ich will nur ein Wort über die Milieus, die Lebenskreise sagen. Wir sahen soeben die entscheidende Bedeutung, die Claude Bernard dem Studium des innerorganischen Lebensraumes zuschreibt, den man in Rechnung zu ziehen hat, will man den Determinismus der Erscheinungen beiden lebenden Wesen finden. Nun gut! Im Studium einer Familie, einer Gruppe lebender Wesen, hat, glaube ich, die soziale Umwelt gleichfalls eine Hauptbedeutung. Eines Tages wird uns ohne Zweifel die Physiologie den Mechanismus des Denkens und Fühlens erklären; wir werden erfahren, wie die individuelle menschliche Maschine funktioniert, wie der Mensch denkt, wie er liebt, wie er von der Vernunft zur Leidenschaft und zur Torheit kommt; diese Erscheinungen aber, diese Tatsachen des Mechanismus der Organe, die unter dem Einfluss des inneren Lebensraumes wirken, kommen nicht isoliert nach aussen und im leeren Raum zur Erzeugung. Der Mensch ist nicht allein, er lebt in einer Gesellschaft, in einer sozialen Umgebung, und von da ab modifiziert diese soziale Umgebung für uns, Romanschriftsteller, unaufhörlich die Erscheinungen. Hier, in der reciproken Wirksamkeit der Gesellschaft auf das Individuum und des Individuums auf die Gesellschaft, liegt sogar unsre grosse Aufgabe. Für den Physiologen sind das äussere und das innere Milieu rein chemisch und physikalisch, und das erlaubt ihm, deren Gesetze leicht zu finden. Wir sind nicht im stande, beweisen zu können, dass auch das soziale Milieu nur chemisch und physisch ist. Es ist es ganz gewiss, oder vielmehr, es ist das variable Produkt einer Gruppe lebender Wesen, die ihrerseits den physikalischen und chemischen Gesetzen absolut unterworfen sind, die die organischen ebenso wie die anorganischen Körper beherrschen. Von hier ab werden wir sehen, dass man auf das soziale Milieu einwirken kann, indem man auf die Erscheinungen einwirkt, über die man sich beim Menschen zum Herrn gemacht hat. Und hier liegt der Punkt, der den Experimentalroman ausmacht: den Mechanismus der Erschei nungen beim Menschen zu besitzen, das Räderwerk der Kundgebungen seines Verstandes- und Empfindungslebens, wie sie uns von der Physiologie erklärt werden, unter den Einflüssen der Vererbung und der umgebenden Verhältnisse aufzuzeigen, dann den Menschen zu zeigen, wie er in dem sozialen Milieu lebt, das er selbst geschaffen, das er alle Tage verändert, und in dessen Schosse er seinerseits eine beständige Umwandlung erfährt. So stützen wir uns also auf die Physiologie, wir nehmen den isolierten Menschen aus den Händen des Physiologen, um die Lösung des Problems fortzusetzen und wissenschaftlich die Frage zu entscheiden, wie sich die Menschen verhalten, sobald sie vergesellschaftet sind.

Diese allgemeinen Ideen genügen, um uns heute den Weg zu weisen. Später, wenn die Wissenschaft vorwärts gegangen sein wird, wenn der Experimentalroman entscheidende Resultate gebracht hat, wird ein Kritiker was ich heute nur andeute, genau präzisieren.

Ausserdem bekennt Claude Bernard, wie schwierig die Anwendung der experimentellen Methode auf die lebenden Wesen ist. „Der lebende Körper,“ sagt er, „unterscheidet sich, besonders wenn er den höheren Tieren angehört, physikalisch-chemisch stets von dem äussern Milieu, er hat eine unaufhörliche Bewegung, eine scheinbar spontane und konstante organische Entwicklung, und obwohl diese Entwicklung der äusseren Verhältnisse bedarf, um zur Erscheinung zu gelangen, ist sie in ihrem Verlauf und in ihrer Modalität dennoch unabhängig.“ Und er schliesst wie gesagt: „Im Ganzen finden wir bloss in den physikalisch-chemischen Verhältnissen des inneren Milieu den Determinismus der äusseren Lebenserscheinungen.“ Was für Komplikationen sich nun aber auch darbietenmögen, und selbst wenn spezielle Phänomene auftreten, die Anwendung der experimentellen Methode bleibt streng aufrecht erhalten. „Wenn die vitalen Erscheinungen zusammengesetzt und von denen der starren Körper scheinbar verschieden sind, so bieten sie diesen Unterschied nur auf Grund determinierter oder determinierbarer Verhältnisse, die ihnen eigentümlich sind. Wenn sich also die Wissenschaften von den Lebenserscheinungen von den andern durch Anwendungen und speziellen Gesetze unterscheiden müssen, so unterscheiden sie sich nicht hinsichtlich der wissenschaftlichen Methode.

Ich muss noch ein Wort von den Schranken sagen, die Claude Bernard der Wissenschaft zieht. Vom ‚Warum‘ der Dinge werden wir nach ihm nie etwas wissen; nur das ‚Wie‘ können wir wissen. Hierin sehen wir weiter, als das Ziel, das uns zu erreichen gegeben ist; denn die Erfahrung lehrt uns bald, dass wir über das ‚Wie‘, d. h. über die nächste Ursache oder nächsten Existenzgründe der Erscheinungen nicht hinausgehen dürfen.“ Weiterhin gibt er das Beispiel: „Wenn wir nicht wissen können, warum das Opium und seine Alkaloide in Schlaf versetzen, so werden wir doch den Mechanismus dieses Schlafs erkennen und wissen können, wie das Opium oder seine Grundstoffe den Schlaf herbeiführen; denn der Schlaf tritt nur ein, weil sich die aktive Substanz mit gewissen organischen Elementen in Kontakt setzt, die sie modifiziert.“ Und der praktische Schluss ist folgender: „Die Wissenschaft hat gerade das Privileg, uns, was wir nicht wissen, zu lehren, indem sie das Urteil und die Erfahrung an Stelle des Gefühls setzt, und uns die Grenze unserer gegenwärtigen Erkenntnis klar zeigt. Kraft einer wunderbaren Kompensation aber mehrt die Wissenschaft in demMasse, in dem sie unsern Stolz mindert, unsere Macht.“ Alle diese Beobachtungen können genau auf den Experimentalroman angewendet werden. Damit man sich in den philosophischen Spekulationen nicht irrt, damit man die idealistischen Hypothesen durch die langsame Eroberung des Unbekannten ersetzt, muss man sich an die Erforschung des Warum der Dinge halten. Hier liegt seine exakte Aufgabe, hier schöpft er, wie wir sehen werden, seine Berechtigung und seine Moral.

Ich bin damit also auf diesem Punkt angekommen: der experimentelle Roman ist eine Folge der wissenschaftlichen Entwicklung des Jahrhunderts; er setzt die Physiologie fort und ergänzt sie; die sich selbst auf die Chemie und die Physik stützt; an die Stelle des Studiums des abstrakten, des metaphysischen Menschen setzt er das Studium des natürlichen Menschen, der den physikalisch-chemischen Gesetzen unterworfen und durch die Einflüsse der Umgebung bestimmt ist; es ist mit einem Wort die Literatur unseres wissenschaftlichen Zeitalters, wie die klassische und die romantische Literatur einem Zeitalter der Scholastik und der Theologie entsprachen. Jetzt gehe ich zur grossen Frage der Anwendung und der Moral über.

III

Der Zweck der experimentellen Methode bezüglich der Physiologie und der Medizin besteht darin, die Erscheinungen zu studieren, um sie zu beherrschen. Auf jeder Seite der „Einführung“ kommt Claude Bernard auf diesen Gedanken zurück. Wie er es erklärt: „Die ganze natürliche Philosophie resümiert sich darin: das Gesetz der Erscheinungen zu erkennen. Das ganze experimen telle Problem reduziert sich darauf: die Erscheinungen vorauszusehen und zu lenken.“ Später gibt er ein Beispiel: ,,Dem experimentierenden Arzt wird es nicht wie dem empirischen genügen, zu wissen, dass Chinin das Fieber heilt; woran ihm aber überhaupt liegt, ist, zu wissen, was das Fieber ist und sich von dem Mechanismus, durch den es vom Chinin geheilt wird, Rechenschaft zu geben. Alles dies ist dem experimentierenden Arzt wichtig, weil die Tatsache der Heilung des Fiebers durch das Chinin nicht mehr eine empirische und isolierte Tatsache sein wird, sondern eine wissenschaftliche. Diese Tatsache wird sich dann mit Umständen verknüpfen, die sie wieder mit anderen Erscheinungen verbinden werden, und damit werden wir zur Erkenntnis der Gesetze des Organismus und zur Möglichkeit, seine Vorgänge zu regeln, hingeleitet.“ Im Fall der Krätze wird das Beispiel schlagend: „Heute, wo die Ursache der Krätze bekannt und experimentell bestimmt ist, ist alles wissenschaftlich geworden und der Empirismus ist verschwunden … man heilt immer und ausnahmslos, wenn man sich, um dieses Ziel zu erreichen, in die bekannten experimentellen Bedingungen versetzt.“

Dies also ist das Ziel, dies die Lehre in der experimentellen Physiologie und Medizin: das Leben zu beherrschen, um es zu lenken. Nehmen wir an, die Wissenschaft sei vorgeschritten, die Eroberung des Unbekannten sei vollständig, so wird das wissenschaftliche Zeitalter, das Claude Bernard im Traum gesehen hat, Wirklichkeit sein. Von da ab wird der Arzt Herr der Krankheiten sein; er wird mit Bestimmtheit heilen, er wird zum Glück und zur Blüte der Gattung auf die lebenden Wesen einwirken. Man wird in ein Jahrhundert eintreten, in demder allmächtige Mensch die Natur dienstbar gemacht und ihre Gesetze dazu brauchen wird, das grösstmögliche Mass von Gerechtigkeit und Freiheit auf dieser Erde herrschend zu machen. Es gibt kein edleres, kein höheres, kein grösseres Ziel. Hier müssen wir unsern Verstand üben: in das Warum der Dinge eindringen, damit wir ihnen überlegen werden und sie auf die Funktion gehorsamer Werkzeuge reduzieren.

Nun wohl! dieser Traum des experimentellen Physiologen und Mediziners ist auch der des Romanschriftstellers, der die experimentelle Methode auf das natürliche und soziale Studium des Menschen anwendet. Unser Ziel ist das ihre; auch wir, wir wollen die Herren der Erscheinungen der intellektuellen und persönlichen Elemente sein, um sie lenken zu können. Wir sind mit einem Wort experimentierende Sittenbildner, indem wir experimentell zeigen, wie sich eine Leidenschaft in einem sozialen Milieu verhält. An dem Tage, an dem wir den Mechanismus dieser Leidenschaft besitzen, wird man sie behandeln und ableiten oder doch mindestens so unschädlich wie möglich machen können. Hier findet sich auch der praktische Nutzen und die hohe Moral unserer naturalistischen Werke, die mit dem Menschen experimentieren, die die menschliche Maschine Stück um Stück zerlegen und wieder aufbauen, um sie unter dem Einfluss der Lebensweise funktionieren zu lassen. Wenn die Zeiten fortgeschritten sein werden, wenn man die Gesetze hat, handelt es sich nur mehr darum, auf die Individuen und die Milieus einzuwirken, wenn man zum besten sozialen Zustand kommen will. Auf diese Weise treiben wir praktische Soziologie, auf diese Weise unterstützen unsere Arbeiten die politischen und ökonomischen Wissenschaften. Ich kenne, umes zu wiederholen, keine vornehmere Arbeit, keine weiter reichende Betätigung. Das Gute und das Böse beherrschen, das Leben regulieren, die Gesellschaft ordnen, mit der Zeit alle Probleme des Sozialismus lösen, besonders der Rechtsprechung eine feste Grundlage geben, indem man die Fragen der Kriminalität durchs Experiment entscheidet, heisst das nicht der nützlichste und sittenförderndste Arbeiter am menschlichen Werke sein?

Man vergleiche einen Augenblick die Tätigkeit der idealistischen Romanschriftsteller mit der unsern; hier bezeichnet das Wort idealistisch die Schriftsteller, die sich der Beobachtung und Erfahrung entschlagen, um ihre Werke auf eine übernatürliche und idealistische Grundlage zu stellen, die mit einem Wort jenseits des Determinismus der Erscheinungen mysteriöse Kräfte annehmen. Claude Bernard wird wieder für mich antworten: „Was das experimentelle Denken von dem scholastischen Denken unterscheidet, ist die Fruchtbarkeit des einen und die Unfruchtbarkeit des anderen. Gerade der Scholastiker, der die absolute Gewissheit zu haben glaubt, kommt zu nichts; das ist begreiflich, da er sich mit einem absoluten Prinzip ausserhalb der Natur stellt, in der alles relativ ist. Gerade im Gegenteil ist es der Experimentator, der immer zweifelt und der über nichts absolute Gewissheit zu haben glaubt, der dahin kommt, die Erscheinungen, die ihn umgeben, zu bemeistern und seine Macht über die Natur auszustrecken.“ Hier komme ich auch auf die Frage des Ideals zurück, die im Grunde nur eine Frage des Indeterminismus ist. Claude Bernard sagt mit Recht: „Die intellektuelle Eroberung des Menschen besteht in der Verringerung und Zurückdrängung des Indeterminismus, im Masse als er mit Hilfe der experimentellen Methode demDeterminismus Raum gewinnt.“ Hier liegt unsere wahre Aufgabe, die Aufgabe von uns experimentierenden Romanschriftstellern, vom Bekannten zum Unbekannten fortzuschreiten, damit wir uns zu Herren der Natur machen; dagegen bleiben die idalistischen [sic] Romanschriftsteller dem Unbekannten gegenüber parteiisch, sie haben alle Arten religiöser und philosophischer Vorurteile und geben den niederschlagenden Vorwand kund, das Unbekannte sei edler und schöner, als das Bekannte. Wenn unsere zuweilen grausame Arbeit, wenn unsere schrecklichen Gemälde einer Entschuldigung bedürften, so fände ich wiederum bei Claude Bernard das entscheidende Argument. „Man wird niemals zu wahrhaft fruchtbaren und lichtvollen Verallgemeinerungen über die Lebenserscheinungen gelangen, bevor man nicht selbst experimentiert und im Hospital, im Hörsaal und im Laboratorium den stinkenden oder zitternden Boden des Lebens umgewühlt hat... Wenn ich ein Gleichnis geben sollte, das meine Empfindung über die Wissenschaft vom Leben ausdrückte, so würde ich sagen, sie ist ein prächtiger, vom Licht nur so strahlender Salon, in den man nur kommen kann, wenn man eine lange und schreckliche Küche passiert.“ Ich betone das von mir gebrauchte Wort experimentierende Sittenbildner, das ich auf die naturalistischen Romanschriftsteller anwandte. Eine Seite der „Einführung“ hat mich besonders betroffen, jene, auf der der Verfasser vom Kreislauf des Lebens spricht. Ich zitiere: „Die Muskeln und Nerven unterhalten die Aktivität der Organe, die das Blut vorbereiten; aber das Blut nährt seinerseits die Organe, die es erzeugen. Es besteht hier eine organische oder soziale Solidarität, die eine Art beständiger Bewegung unterhält, bis die Arbeitsstörung oder Arbeitseinstellungeines notwendigen Lebenselementes das Gleichgewicht gebrochen oder eine Verwirrung oder einen Stillstand im Spiel der tierischen Maschine hervorgerufen hat. Die Aufgabe des experimentierenden Arztes besteht also darin, den einfachen Determinismus einer organischen Störung aufzufinden, d. h. die Anfangserscheinung in die Hand zu bekommen … Wir werden sehen, wie eine Dislokation des Organismus oder eine der anscheinend verwickeltsten Störungen auf einen einfachen anfänglichen Determinismus zurückgeführt werden kann, der hierauf die verwickelteren Determiniertheiten hervorruft“. Man braucht hier nur wieder das Wort: experimentierender Arzt mit dem: experimentierender Romanschriftsteller zu vertauschen und die ganze Stelle lässt sich genau auf unsere naturalistische Literatur anwenden. Der soziale Kreislauf ist identisch mit dem Lebenskreislauf: es besteht in der Gesellschaft wie im menschlichen Körper eine Solidarität, die die verschiedenen Glieder, die verschiedenen Organe derartig miteinander verknüpft, dass, wenn ein Organ fault, viele andere davon mitergriffen werden, und dass eine sehr verwickelte Krankheit zum Vorschein kommt. Von da ab verfahren wir in unseren Romanen, wenn wir an einer schweren, die Gesellschaft vergiftenden Wunde experimentieren, wie der experimentierende Arzt, wir suchen den einfachen ursprünglichen Determinismus aufzufinden, um hierauf zum zusammengesetzten Determinismus zu kommen, dessen Wirksamkeit darauf gefolgt ist. Ich nehme wieder das Beispiel des Baron Hulot in der Cousine Bette. Man sehe das Endresultat, die Lösung des Romans: eine völlig zerstörte Familie, alle Arten von Nebendramen, die unter dem Einfluss der Liebesleidenschaft Hulots zum Ausbruch kommen. Hier, in dieser Leiden schaft, liegt der ursprüngliche Determinismus. Ein Glied, Hulot wird brandig, und sofort verdirbt alles um ihn, der soziale Kreislauf ist zerstört, die Gesundheit der Gesellschaft gefährdet. Wie hat aber auch Balzac die Figur des Baron Hulot herausgearbeitet, mit welcher peinlichen Sorgfalt hat er ihn analysiert! Das Experiment gilt vor allem ihm, weil es sich darum handelte, die Erscheinung dieser Leidenschaft zu beherrschen, um sie zu lenken; angenommen, man kann Hulot heilen oder ihn wenigstens zurückhalten und unschädlich machen, sofort hat das Drama keine Berechtigung mehr, sofort hat das Drama keine Berechtigung mehr, man stellt das Gleichgewicht, oder besser gesagt, die Gesundheit im sozialen Körper wieder her. Die naturalistischen Romanschriftsteller sind also wirklich experimentierende Sittenbildner.

Damit komme ich zu dem schweren Vorwurf, mit dem man die naturalistischen Romanschriftsteller niederzuschlagen glaubt, man behandelt sie als Fatalisten. Wie oft hat man uns beweisen wollen, von dem Augenblick an, in dem wir keinen freien Willen gelten liessen, von dem Augenblick an, in dem der Mensch für uns nur mehr eine tierische Maschine wäre, die unter dem Einfluss der Vererbung und des Milieu arbeitet, fielen wir einem groben Fatalismus anheim, degradierten die Menschheit zu dem Rang einer Herde, die unter der Peitsche des Schicksals geht. Ich muss präzisieren: wir sind keine Fatalisten, wir sind Deterministen, das ist durchaus nicht dasselbe. Claude Bernard setzt die beiden Standpunkte vortrefflich auseinander: „Den Namen Determinismus gaben wir der nächsten oder bestimmenden Ursache der Erscheinungen. Wir wirken niemals auf das Wesen der Naturerscheinungen ein, sondern nur auf ihren Determinis mus und dadurch allein, dass wir auf ihn wirken, unterscheidet sich der Determinismus vom Fatalismus, auf den man nicht zu wirken vermöchte. Der Fatalismus setzt das notwendige Eintreten einer Erscheinung unabhängig von ihren Bedingungen voraus, während der Determinismus die notwendige Bedingung einer Erscheinung ist, deren Eintreten nicht gezwungen ist. Sobald die Untersuchung des Determinismus der Erscheinungen als das Fundamentalprinzip der experimentellen Methode aufgestellt ist, gibt es weder Materialismus, noch Spiritualismus, weder tote noch lebende Materie mehr, es gibt nur Erscheinungen, deren Bedingungen man bestimmen muss, d. h. Umstände, die in bezug auf diese Erscheinungen die Rolle der nächsten Ursache spielen.“ Das ist entscheidend. Wir wenden nur diese Methode in unseren Romanen an, und wir sind also Deterministen, die die Bedingungen der Erscheinungen experimentell zu bestimmen suchen, ohne dass wir bei unseren Forschungen je die Naturgesetze verliessen. Wie Claude Bernard vortrefflich sagt, von dem Augenblick an, in dem wir auf den Determinismus der Erscheinungen einwirken können oder einwirken, indem wir z. B. die Lebenskreise verändern, sind wir keine Fatalisten.

Damit wäre also die sittliche Aufgabe des experimentierenden Romanschriftstellers genau umschrieben. Ich habe oft gesagt, dass wir aus unseren Werken keinen Schluss zu ziehen hätten, und das will besagen, dass unsere Werke ihre Schlussfolgerung in sich selbst tragen. Ein Experimentator hat nicht zu schliessen, gerade weil das Experiment für ihn schliesst. Hundertmal, wenns sein muss, wird er das Experiment vor dem Publikum wiederholen, er wird es erklären, aber es ist weder seine Auf gabe, sich persönlich darüber zu entrüsten, noch es zu billigen: dies ist die Wahrheit, dies der Mechanismus der Erscheinungen; Aufgabe der Gesellschaft ist es, diese Erscheinung immer oder nicht mehr zu produzieren, je nachdem das Resultat nützlich oder schädlich ist. Man begreift, wie ich anderswo sagte, einen Gelehrten nicht, der sich gegen den Stickstoff erzürnt, weil der Stickstoff nicht zum Leben taugt; er unterdrückt den Stickstoff, wenn er schädlich ist, nichts weiter. Da unsere Macht nicht dieselbe ist, wie dieses Gelehrten, da wir Experimentatoren sind, ohne Praktiker zu sein, müssen wir uns damit zufrieden geben, den Determinismus der sozialen Erscheinungen zu suchen, indem wir den Gesetzgebern, den Männern der Praxis die Sorge überlassen, diese Erscheinungen früher oder später dermassen zu lenken, dass unter dem Gesichtspunkt des Nutzens für den Menschen die guten entwickelt und die schlechten vermindert werden.

Ich resumiere die Aufgabe, die wir als experimentierende Sittenbildner haben. Wir zeigen den Mechanismus des Nützlichen und des Schädlichen, wir legen den Determinismus der menschlichen und der sozialen Erscheinungen bloss, damit man sie eines Tages beherrschen, und lenken kann. Mit einem Wort, wir arbeiten mit dem ganzen Jahrhundert an dem grossen Werke der Eroberung der Natur, der Verzehnfachung der menschlichen Macht. Man sehe neben der unsrigen die Tätigkeit der idealistischen Schriftsteller, die sich auf das irrationelle und übernatürliche stützen, und bei denen jedem Aufschwung ein tiefer Sturz in das metaphysische Chaos folgt. Wir haben die Kraft, wir haben die Moral.

IV.

Die „Einführung“ wählte ich, wie gesagt, aus dem Grunde, weil die Medizin von vielen Menschen noch als eine Kunst betrachtet wird. Claude Bernard beweist, dass sie eine Wissenschaft sein muss und wir wohnen hier dem Emporblühen einer Wissenschaft bei, einem an sich sehr lehrreichen Schauspiel, das uns beweist, dass sich das Gebiet der Wissenschaft ausdehnt und alle Äusserungen des menschlichen Verstandes umfasst. Wenn die Medizin, die eine Kunst war, eine Wissenschaft wird, warum sollte die Literatur nicht selbst dank der experimentellen Methode, eine Wissenschaft werden?

Man muss bemerken, dass alles in allem, wenn das Gebiet des experimentierenden Arztes der menschliche Körper in seinen organischen Erscheinungen im normalen und im pathologischen Zustand ist, unser Gebiet in gleicher Weise der menschliche Körper ist, aber in den Erscheinungen seines Gehirns- und Sinnenlebens, in gesundem und kranken Zustand. Wenn wir es nicht bei dem metaphysischen Menschen des klassischen Zeitalters bewenden lassen wollen, müssen wir uns wohl von den neuen Ideen, die sich unser Zeitalter von der Natur und vom Menschen bildet, Rechenschaft geben. Wie durchs Schicksal bestimmt setzen wir, ich wiederhole es, die Arbeit des Physiologen und des Mediziners fort, die ihrerseits die des Physikers und des Chemikers fortführten. Von nun ab treten wir in die Wissenschaft ein. Die Frage des Gefühls und der Form behalte ich mir vor, ich werde später darüber reden.

Sehen wir zuerst, was Claude Bernard von der Medizin sagt. „Gewisse Ärzte denken, die Medizin könne nur aufMutmassungen beruhen, und sie schliessen daraus, der Arzt sei ein Künstler, der dem Indeterminismus besonderer Fälle durch sein Genie, durch seinen persönlichen Takt zu Hilfe kommen muss. Dies sind naturwissenschaftliche Ideen, gegen die man sich mit allen seinen Kräften stemmen muss, weil sie es sind, die dazu beitragen, die Medizin in dem Zustand, in dem sie sich schon seit so langem befindet, verkümmern zu lassen. Alle Wissenschaften haben notwendigerweise mit Mutmassungen begonnen; noch heute gibt es in jeder Wissenschaft hypothetische Gebiete. Die Medizin ist noch fast überall auf Mutmassungen gebaut, ich leugne es nicht; ich will jedoch nur sagen, dass sich die moderne Wissenschaft bemühen muss, aus diesem provisorischen Zustand, der ebensowenig für die Medizin, wie für die anderen Wissenschaften eine definitive wissenschaftliche Stellung bedeutet, herauszukommen. Der wissenschaftliche Zustand wird wegen der Zusammengesetztheit der Erscheinungen in der Medizin länger dazu brauchen, bis er sich herausgebildet hat und schwieriger zu erreichen sein; das Ziel des gelehrten Arztes besteht jedoch darin, in seiner Wissenschaft wie in allen anderen das Unbestimmte auf das Bestimmte zurückzuführen.“ Hier hat man den ganzen Mechanismus der Geburt und der Entwicklung einer Wissenschaft. Man behandelt den Arzt noch als Künstler, weil in der Medizin den Hypothesen noch ein ungeheurer Spielraum gelassen ist. Natürlicherweise wird der Romanschriftsteller den Namen Künstler noch viel mehr verdienen, da er ja noch viel mehr ins unbestimmte versunken ist. Wenn Claude Bernard gesteht, dass die Zusammengesetztheit der Erscheinungen auf lange hinaus die Konstituierung der Medizin als Wissenschaft ver hindern wird, was hat dies für eine Bedeutung für den experimentellen Roman, in dem die Erscheinungen noch verwickelter sind? Dies wird jedoch den Roman nicht verhindern, die Bahn der Wissenschaft zu beschreiten, und der allgemeinen Entwicklung des Jahrhunderts zu folgen.

Übrigens hat Claude Bernard selbst die Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes aufgezeigt. „Der menschliche Geist ist“, sagte er, „in den verschiedenen Perioden seiner Entwicklung nacheinander durch das Gefühl, den Verstand und die Erfahrung hindurchgegangen. Zuerst schuf das Gefühl allein, indem es sich der Vernunft aufprägte, die Glaubenswahrheiten, d. h. die Theologie. Die Vernunft oder die Philosophie, die dann zur Herrschaft kam, gebar die Scholastik. Endlich lehrte die Erfahrung, d. h. das Studium der natürlichen Erscheinungen, dem Menschen, dass sich die Wahrheiten der äusseren Welt weder im Gefühl noch im Verstande sogleich formuliert vorfinden. Sie sind bloss unsere durchaus notwendigen Führer; um jedoch jene Wahrheiten zu erhalten, muss man notwendiger Weise in die objektive Realität der Dinge hinuntersteigen, wo sie sich mit ihrer phänomenellen Form verborgen finden. So kam kraft des natürlichen Fortschritts der Dinge die experimentelle Methode herauf, die alles zusammenfasst und die sich nacheinander auf die drei Zweige dieses unveränderlichen Dreifusses stützt: auf das Gefühl, den Verstand, das Experiment. In der Erforschung der Wahrheit mittels dieser Methode hat das Gefühl stets die Initiative, es erzeugt die apriorische Idee oder die Intuition; der Verstand oder die Urteilskraft entwickelt hiermit die Idee und leitet ihre logischen Konsequenzen ab. Wenn jedoch das Ge fühl vom Licht des Verstandes erleuchtet sein muss, so muss der Verstand seinerseits vom Experiment geleitet werden.“

Ich habe diese Seite ganz wiedergegeben, weil sie von der grössten Bedeutung ist. Sie stellt bezüglich des experimentellen Romans deutlich den Anteil fest, den, unabhängig vom Stil, die Persönlichkeit des Romanschriftstellers hat. Von dem Augenblick an, in dem das Gefühl den Ausgangspunkt der experimentellen Methode bildet, in dem dann der Verstand einschreitet, um endlich ins Experiment zu münden, das ihn kontrolliert, beherrscht das Genie des Experimentators alles; das ist übrigens auch der Grund, weshalb die in andern Händen träge experimentelle Methode in den Händen Claude Bernards ein so mächtiges Werkzeug geworden ist. Ich sagte soeben das Wort: die Methode ist nur ein Werkzeug; der Arbeiter, die Idee, die er hinzubringt, vollzieht das Meisterwerk. Ich führte schon den Satz an: „Ein besonderes Gefühl, ein quid proprium ist es, das die Originalität, die Erfindungskraft oder das Genie eines Jeden ausmacht.“ Hier hat man also den Anteil, den beim experimentellen Roman das Genie hat. Wie wiederum Claude Bernard sagt: „Die Idee ist das Samenkorn; die Methode ist der Boden, der die Bedingungen liefert, dass es sich entwickeln, gedeihen und entsprechend der Natur seine besten Früchte geben kann.“ Hiernach reduziert sich alles auf eine Frage der Methode. Bleibt man bei der apriorischen Idee und beim Gefühl, ohne dass man sich auf den Verstand stützt und ihn durch das Experiment verifiziert, so ist man ein Dichter, so wagt man Hypothesen, die durch nichts bewiesen sind, so streitet man mühsam und nutzlos über den Indeterminismus, nicht ohne dass man da mit häufig Schaden anrichtet. Man höre aus der „Einführung“ die folgenden Zeilen: „Der Mensch ist natürlich Metaphysiker und von Hochmut besessen; er konnte glauben, dass die idealen Schöpfungen seines Geistes, die seinen Gefühlen entsprechen, auch die Realität darstellten. Hieraus folgt, dass die experimentelle Methode keineswegs ursprünglich und dem Menschen natürlich ist, dass er erst dann, nachdem er lange in theologischen und scholastischen Erörterungen herumgeirrt war, endlich die Fruchtlosigkeit seiner Anstrengungen auf diesem Wege erkannt hat. Der Mensch erkannte dann, dass er der Natur keine Gesetze diktieren kann, weil er die Kenntnis und das Kriterium der äusseren Welt nicht in sich selbst trägt; und er begriff, dass er, um zur Wahrheit zu gelangen, im Gegenteil die Gesetze der Natur studieren und seine Ideen, wenn nicht seinen Verstand, der Erfahrung, d. h. dem Kriterium der Tatsachen, unterstellen müsse?“ Was wird also bei dem experimentellen Romanschriftsteller aus dem Genie? Es bleibt das Genie, die apriorische Idee, es steht nur unter der Kontrolle des Experiments. Natürlich kann das Experiment das Genie nicht zerstören, es bestätigt es im Gegenteil. Ich nehme einen Dichter; ist es denn zum Beweis seiner Genialität nötig, dass sein Gefühl, dass seine apriorische Idee falsch sind? Offenbar nicht, denn das Genie eines Menschen wird umso grösser sein, je mehr das Experiment die Wahrheit seines persönlichen Gedankens bewiesen haben wird. Es ist wirklich unser lyrisches Zeitalter, unsre romantische Krankheit dazu nötig, dass man das Genie eines Menschen nach der Menge von Dummheiten und Narrheiten bemisst, die er in Umlauf setzt. Ich schliesse damit, dass ich sage, von jetzt ab muss in unserem wissenschaftlichenJahrhundert das Experiment die Probe auf das Genie sein.

Hier liegt unser Streit mit den idealistischen Schriftstellern. Sie gehen stets von irgend einer irrationellen Quelle aus, wie von einer Offenbarung, einer Tradition oder einer konventionellen Autorität. Wie Claude Bernard es erklärt: „Man darf nichts occultes annehmen; es gibt nur Erscheinungen und Bedingungen von Erscheinungen.“ Wir naturalistischen Schriftsteller unterwerfen jede Tatsache der Beobachtung und dem Experiment; dagegen nehmen die idealistischen Schriftsteller mysteriöse Einwirkungen an, die sich der Analyse entziehen und bleiben von hier ab im Unbekannten, jenseits der Naturgesetze. Diese Idealfrage reduziert sich vom wissenschaftlichen Standpunkt aus auf die Frage des Determinierten und des Indeterminierten. Alles, was wir nicht wissen, alles, was uns noch entschlüpft, ist das Ideale, und das Ziel unserer menschlichen Arbeit besteht Tag um Tag darin, das Ideale zu vermindern, die Wahrheit über das Unbekannte zu erobern. Wir sind alle Idealisten, wenn man darunter versteht, dass wir uns alle mit dem Idealen beschäftigen. Ich nenne Idealisten nur die, die sich in das Unbekannte flüchten, um des Vergnügens willen, darin zu sein, die nur an den gewagtesten Hypothesen Geschmack finden, die es verschmähen, sie der Kontrolle des Experiments zu unterstellen, wobei sie den Vorwand brauchen, die Wahrheit sei in ihnen und nicht in den Dingen. Diese verrichten, ich wiederhole es, eine unnütze und schädliche Arbeit, während der Beobachter und der Experimentator die einzigen sind, die sich an der Macht und am Glücke des Menschen betätigen, indem sie ihn allmählich zum Herrn der Natur machen. Es ist keineRede von edler Gesinnung, von Würde, von Schönheil von Sittlichkeit, wenn man nichts weiss, lügt, behauptet, man sei umso grösser, je mehr man in Irrtum und Verwirrung hineinschwillt. Nur die Werke der Wahrheit sind die grossen und sittlichen Werke.

Einzig zu akzeptieren ist allein, was ich den Stachel des Ideals benennen will. Gewiss ist neben der ungeheuren Masse von Dingen, die wir nicht wissen, unser Wissen noch sehr gering. Dieses unermessliche Unbekannte, das uns umgibt, muss uns nur den Wunsch einflössen, es zu durchdringen, es mit den wissenschaftlichen Methoden zu erklären. Und es handelt sich nicht allein um die Gelehrten; alle Äusserungen des menschlichen Geistes hängen an der Notwendigkeit, dass wir uns zu Herren der Wahrheit machen, alle unsere Anstrengungen zielen dahin ab. Das drückt Claude Bernard vortrefflich aus, wenn er schreibt: „Von den Wissenschaften besitzt jede, wenn nicht eine eigene Methode, so doch wenigstens ein spezielles Verfahren, und ausserdem dienen sie einander gegenseitig als Werkzeuge. Die Mathematik dient der Physik, der Chemie, der Biologie, in den verschiedenen Grenzen als Werkzeug; Physik und Chemie bilden ein mächtiges Werkzeug für die Physiologie und die Medizin. Bei dieser gegenseitigen Unterstützung, die sich die Wissenschaften leisten, muss man den Gelehrten, der jede Wissenschaft vorwärtsbringt, von dem, der sich ihrer bedient, wohl unterscheiden. Der Physiker und der Chemiker sind keine Mathematiker, weil sie den Kalkül anwenden; der Physiologe ist weder Chemiker noch Physiker, weil er chemische Reagentien oder physikalische Instrumente gebraucht, ebensowenig, als der Chemiker und der Physiker Physiologen sind, weil sie die Zu sammensetzung oder die Eigenschaften bestimmter Flüssigkeiten und tierischer oder vegetabilischer Gewebe studieren.“ Dies die Antwort, die Claude Bernard für uns naturalistische Romanschriftsteller den Kritikern gibt, die sich über unsere Ansprüche an die Wissenschaft lustig gemacht haben. Wir sind weder Chemiker, noch Physiker, noch Physiologen; wir sind einfach Romanschriftsteller, die sich auf die Wissenschaften stützen. Unsere Ansprüche gehen sicherlich nicht dahin, Entdeckungen in der Physiologie zu machen, in der wir keine Praxis haben; wir glauben nur, da wir den Menschen zu studieren haben, uns nicht davon entbinden zu können, uns von den neuen physiologischen Wahrheiten Rechenschaft abzulegen. Ich will noch hinzufügen, dass die Romanschriftsteller sicherlich die Arbeiter sind, die sich zu gleicher Zeit auf die grösste Anzahl von Wissenschaften stützen, denn sie handeln über alles und müssen alles wissen, wie denn der Roman eine allgemeine Untersuchung über die Natur und den Menschen geworden ist. Auf diese Weise sind wir dazu gebracht worden, in unsere Arbeit die experimentelle Methode einzuführen, seit dem Tag, an dem diese Methode das mächtigste Werkzeug der Forschung geworden ist. Wir resümieren die Forschung, wir stürzen uns auf die Eroberung des Idealen, indem wir alle Kenntnisse des Menschen zur Betätigung bringen.

Wohlverstanden rede ich hier von dem Wie der Dinge und nicht von dem Warum. Für einen experimentierenden Gelehrten liegt das Ideal, das er zu vermindern sucht, das Indeterminierte, immer nur in dem Wie. Das andere Ideal, das des Warum, an dessen endlicher Determination er verzweifelt, lässt er den Philosophen. Ich glaube, die experimentellen Romanschriftsteller dürfensich gleichfalls nicht mit diesem Unbekannten präokkupieren, wenn sie sich nicht in die Narrheiten der Dichter und der Philosophen verlieren wollen. Es bedeutet schon eine ziemlich umfangreiche Arbeit, wenn man den Mechanismus der Natur zu erkennen sucht, ohne sich über das Moment des Ursprungs dieses Mechanismus zu beunruhigen. Gelangt man eines Tages dazu, ihn zu erkennen so geschieht es zweifellos Dank der Methode, das beste ist also, am Anfang mit der Untersuchung der Erscheinungen zu beginnen, anstatt die Hoffnung zu hegen, dass uns eine plötzliche Offenbarung das Geheimnis der Welt enthüllen wird. Wir sind Werkleute, wir lassen den Spekulanten jenes unbekannte Feld des Warum, auf dem sie seit Jahrhunderten vergeblich kämpfen und halten uns dagegen an das Unbekannte des Wie, das sich jeden Tag vor unserer Forschung verringert. Das einzige Ideal, das es für uns experimentelle Romanschriftsteller geben muss, ist jenes, das wir erobern können.

Übrigens gestehen wir bei der langsamen Eroberung dieses Unbekannten, das uns umgibt, demütig die Unwissenheit, in der wir uns befinden. Wir fangen an, vorwärts zu kommen, nichts weiter; und unsre einzige wirkliche Kraft liegt in der Methode. Claude Bernard selbst kennt, nachdem er gestanden hat, dass die experimentelle Medizin noch stammelt, kein Zögern, in der Praxis der empirischen Medizin eine breite Stelle einzuräumen. „Im Grunde,“ sagt er, „ist der Empirismus, d. h. die Beobachtung oder das zufällige Experiment, der Ursprung aller Wissenschaften gewesen. In den komplizierten menschlichen Wissenschaften wird der Empirismus die Praxis notwendigerweise sehr viel länger beherrschen, als in den einfachen Wissenschaften.“ Er räumt auch ohne Schwie rigkeit ein, dass es am Kissen eines Kranken, wenn der Determinismus der pathologischen Erscheinung nicht gefunden ist, am besten ist, noch empirisch zu verfahren; das verbleibt übrigens auch in dem natürlichen Fortschritt unserer Kenntnisse, da der Empirismus dem wissenschaftlichen Stand einer Erkenntnis notwendigerweise vorangeht. Wenn sich die Ärzte in fast allen Fällen an den Empirismus halten dürfen, dann müssen wir uns mit um so grösserem Recht gleichfalls an ihn halten, wir Romanschriftsteller, deren Wissenschaft verwickelter ist, und weniger gefestigt. Es handelt sich nicht darum, ich sage es noch einmal, die Wissenschaft des Menschen als Individuum und als soziales Glied in allen Stücken zu schaffen; es handelt sich darum, allmählich und mit allem notwendigen Herumtappen aus der Dunkelheit herauszukommen, die uns über uns selbst umfängt, glücklich, wenn wir mitten in so vielen Irrtümern eine Wahrheit feststellen können. Wir experimentieren, das will besagen, dass wir auf lange hinaus noch das Falsche anwenden müssen, um zum Wahren zu kommen.

Das ist das Gefühl des Starken. Claude Bernard erhebt gegen jene, die in dem Arzt einzig einen Künstler sehen wollen, offenen Kampf. Er kennt den gewohnten Einwand jener, die sich die Miene geben, die experimentelle Medizin als eine „theoretische Konzeption“ zu betrachten, „deren praktische Realität im Augenblicke durch Nichts erwiesen wird, weil keine Tatsache beweist, dass man in der Medizin die wissenschaftliche Genauigkeit der experimentellen Wissenschaften erreichen kann.“ Er lässt sich jedoch nicht stören, er beweist, dass „die experimentelle Medizin nur die natürliche Entfaltung der praktischen medizinischen Forschung unter der Leitung eineswissenschaftlichen Geistes ist.“ Und hier sein Schluss: „Ohne Zweifel sind wir weit entfernt von jener Epoche, in der die Medizin wissenschaftlich geworden sein wird; das verhindert uns aber nicht, die Möglichkeit zu begreifen und alle Anstrengungen aufzubieten, um darauf hinzuzielen, indem wir schon heute in die Medizin die Methode einzuführen suchen, die uns dahinbringen soll.“

Alles dies, ich will nicht müde werden, es zu wiederholen, ist genau auf den Experimentalroman anwendbar. Man setze hier wieder das Wort „Roman“ an Stelle des Wortes „Medizin“ und der Satz bleibt wahr.

An die junge literarische Generation, die heranwächst, will ich die folgenden grossen und starken Worte Claude Bernards richten. Ich kenne keine männlicheren: „Die Medizin ist dazu bestimmt, allmählich aus dem Empirismus herauszukommen, und sie wird ihn ebenso wie alle anderen Wissenschaften mit der experimentellen Methode hinter sich bringen. Diese tiefe Überzeugung hält mein wissenschaftliches Leben aufrecht und lenkt es. Ich bin taub gegen die Stimmen der Mediziner, die verlangen, dass man ihnen die Masern und den Scharlach experimentell erklärt, die hieraus ein Argument gegen die Anwendung der experimentellen Methode in der Medizin zu schöpfen glauben. Diese entmutigenden und negativen Einwände rühren im allgemeinen von systematischen oder trägen Geistern her, die es vorziehen, sich auf ihren Systemen auszuruhen oder in den Finsternissen einzuschlafen, anstatt zu arbeiten und sich anzustrengen herauszukommen. Die experimentelle Richtung der Medizin ist heute definitiv. In der Tat hat man hier nicht die Tatsache des ephemeren Einflusses irgend eines persönlichen Systems vor sich; es ist das Resultat der wissenschaftlichenEntwicklung der Medizin selbst. Das sind meine wissenschaftlichen Überzeugungen in dieser Hinsicht, mit denen ich den Geist der jungen Ärzte, die meinen Kursen am Collège de France folgen, zu durchdringen suche … Man muss vor allem den jungen Leuten den wissenschaftlichen Geist einflössen und sie in die Begriffe und Richtungen der modernen Wissenschaften einführen.“

Sehr oft schrieb ich die gleichen Worte, gab ich dieselben Ratschläge und werde sie wiederholen. „Die experimentelle Methode allein kann den Roman aus den Lügen und Irrtümern, in denen er sich hinschleppt, herausbringen. Mein ganzes literarisches Leben wurde von dieser Überzeugung geleitet. Ich bin taub gegen die Stimmen der Kritiker, die von mir verlangen, ich solle die Gesetze der Vererbung in den Persönlichkeiten, und die des Einflusses der Umgebungen formulieren; wer diese negativen und entmutigenden Einwände gegen mich erhebt, richtet sie nur aus geistiger Trägheit, aus starrsinniger Eingenommenheit für die Tradition, aus mehr oder weniger be-bewusster [sic] Anhänglichkeit an philosophische und religiöse Glaubensregeln gegen mich … Die experimentelle Richtung, die der Roman nimmt, ist heute definitiv. In der Tat steht man hier nicht vor der Tatsache des ephemeren Einflusses irgend eines persönlichen Systems; es ist das Resultat der menschlichen Entwicklung, des Studiums des Menschen selbst. Dies sind in dieser Hinsicht meine Überzeugungen, mit denen ich den Geist der jungen Schriftsteller, die mich lesen, zu durchdringen suche, denn ich halte dafür, dass man ihnen vor allem den wissenschaftlichen Geist einflössen und sie in die Begriffe und Richtungen der modernen Wissenschaften einführen muss.

V.

Bevor ich schliesse, habe ich noch verschiedene untergeordnete Punkte zu behandeln.

Was man vor allen Dingen genau festzustellen hat, das ist der unpersönliche Charakter der Methode. Man warf Claude Bernard vor, er gebe sich die Allüren eines Neuerers und er antwortete mit seiner hohen Vernunft: „Ich masse mir gewiss nicht an, zuerst den Vorschlag gemacht zu haben, die Physiologie auf die Medizin anzuwenden. Das hat man schon lange empfohlen und hat die zahlreichsten Versuche in dieser Richtung gemacht. Ich tue in meinen Arbeiten und in meinem Unterricht am Collège de France nichts, als dass ich eine Idee verfolge, die in der Anwendung auf die Medizin bereits ihre Früchte bringt.“ Das habe ich selbst geantwortet, als man behauptete, ich würfe mich als Neuerer, als Führer einer Schule auf. Ich sagte, ich brächte nichts auf, ich versuchte bloss in meinen Romanen und in meiner Kritik, die schon lang in Gebrauch stehende wissenschaftliche Methode anzuwenden. Aber natürlich stellte man sich, als verstände man mich nicht, und fuhr fort, von meiner Eitelkeit und meiner Unwissenheit zu reden.

Was ich zwanzigmal wiederholte, dass der Naturalismus keine persönliche Einbildung sei, dass er die Bewegung des Geistes des Jahrhunderts selbst sei, Claude Bernard sagt es ebenfalls, mit grösserer Autorität allerdings und vielleicht wird man ihm glauben. „Die Revolution,“ schreibt er, „die die experimentelle Methode in den Wissenschaften bewirkt hat, besteht darin, dass sie an die Stelle der persönlichen Autorität ein wissenschaftliches Kriterium gesetzt hat. Im Charakter der experimentellen Methodeliegt es, dass sie nur von sich selbst abhängt, weil sie ihr Kriterium, das Experiment, einschliesst. Sie erkennt keine andere Autorität an, als die der Tatsachen und befreit sich von der persönlichen Autorität.“ Demzufolge gibt es keine Theorie mehr. „Die Idee muss stets ihre Unabhängigkeit bewahren, sie darf nicht gefesselt werden, ebenso wenig durch wissenschaftliche Glaubensregeln, wie durch philosophische oder religiöse. In der Kundgebung seiner Ideen muss man sich kühn und frei zeigen, man muss seinem Gefühl folgen und darf sich mit dieser knabenhaften Angst, Theorien zu widersprechen, nicht aufhalten… Man muss die Theorie modifizieren, um sie der Natur anzupassen, nicht die Natur, um sie der Theorie anzupassen.“ Von hier eröffnet sich ein unvergleichlich weites Feld. „Die experimentelle Methode ist die wissenschaftliche Methode, die die Freiheit des Gedankens proklamiert. Sie schüttelt nicht allein das philosophische und theologische Joch ab, sondern sie lässt auch keine persönliche wissenschaftliche Autorität mehr zu. Das ist durchaus kein Stolz und keine Überhebung; der Experimentator zeigt im Gegenteil seine Demut, indem er die persönliche Autorität leugnet, denn er zweifelt auch an seinen eigenen Erkenntnissen und er unterwirft die menschliche Autorität der des Experiments und der Naturgesetze.“

Aus diesem Grunde sagte ich oftmals, der Naturalismus sei keine Schule, z. B. incarniere er sich nicht in dem Genie eines Menschen oder in der Verrücktheit einer Gruppe, wie die Romantik, er bestehe einfach in der Anwendung der experimentellen Methode auf das Studium der Natur und des Menschen. Von da ab gibt es nur mehr eine umfassende Entwicklung, einen Vormarsch, an dem jedermann seinem Genie entsprechend mitarbeitet. AlleTheorien sind zugelassen und die Theorie, die den Sieg davonträgt, ist jene, die am meisten erklärt. Es scheint keinen literarischen oder wissenschaftlichen Weg zu geben, der breiter oder gerader wäre. Die Grossen wie die Kleinen, alle bewegen sich frei auf ihm, sie arbeiten an der gemeinsamen Forschung, jeder in seinem besonderen Fach, und erkennen keine andere Autorität an als die durchs Experiment bewiesene Autorität der Tatsachen. Im Naturalismus kann es also weder Neuerer, noch Häupter einer Schule geben. Es gibt einfach Arbeiter, von denen die einen mächtiger sind, wie die anderen.

Dergestalt drückt Claude Bernard das Misstrauen aus, das man Theorien gegenüber bewahren muss. „Man muss ein starkes Vertrauen haben und nicht glauben; das meine ich so: man muss in der Wissenschaft fest an die Prinzipien glauben und an den Formeln zweifeln; in der Tat sind wir einerseits sicher, dass der Determinismus besteht, aber wir sind niemals sicher, dass wir ihn haben. Bezüglich der Prinzipien der experimentellen „Wissenschaft (des Determinismus) muss man unerschütterlich sein und darf nicht absolut an die Theorien glauben.“ Ich will noch die folgende Stelle anführen, wo er das Ende der Systeme ankündigt. „Die experimentelle Medizin ist kein neues medizinisches System, sondern im Gegenteil die Negation aller Systeme. In der Tat wird die Heraufkunft der experimentellen Medizin zum Resultat haben, alle individuellen Gesichtspunkte aus der „Wissenschaft zum Verschwinden zu bringen, um sie durch unpersönliche und allgemeine Theorien zu ersetzen, die wie in den anderen Wissenschaften nur eine regelmässige und begründete Koordination der durchs Experiment gelieferten Tatsachensein werden.“ Genau dasselbe wird in bezug auf den Experimentalroman der Fall sein.

„Wenn Claude Bernard sich dagegen verteidigt, ein Neuerer, oder vielmehr ein Erfinder zu sein, der eine persönliche Theorie beibringt, so kommt er gleichfalls verschiedene Male auf die Gefahr zurück, die für einen Gelehrten darin läge, dass er sich um die philosophischen Systeme beunruhigte. ,,Für die experimentellen Physiologen kann es,“ sagte er, „weder Spiritualismus noch Materialismus geben. Diese Worte gehören einer Naturphilosophie an, die alt geworden ist, durch den Fortschritt der Wissenschaft selbst kamen sie ausser Gebrauch. Wir werden weder den Geist noch die Materie je erkennen, und wäre hier der Ort, so würde ich leicht beweisen können, dass man von der einen Seite, wie von der anderen bald zu wissenschaftlichen Negationen gelangt, woraus folgt, dass alle Betrachtungen dieser Art eitel und unnütz sind. Wir haben nur Erscheinungen zu studieren, die materiellen Bedingungen ihres Auftretens zu erkennen und die Gesetze dieser Äusserungen zu bestimmen.“ Ich sagte, dass es beim Experimentalroman das beste wäre, wir hielten uns an diesen streng wissenschaftlichen Gesichtspunkt, wenn wir unsere Untersuchungen auf einen festen Boden begründen wollten. Man soll sich nicht vom Wie entfernen und nicht am Warum hängen. Dennoch ist es sehr sicher, dass wir diesem Bedürfnis unseres Geistes, dieser unruhigen Neugierde, die uns dahin bringt, das Wesen der Dinge erkennen zu wollen, nicht immer entrinnen können. Ich halte dafür, dass wir dann das philosophische System acceptieren müssen, das sich dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft am besten anpasst, aber bloss unter einem spekulativen Gesichtspunkt. Z. B. ist der Trans formismus gegenwärtig das wissenschaftlichste System, das sich am unmittelbarsten auf unsere Naturerkenntnis stützt. Hinter einer Wissenschaft, hinter irgend welcher Äusserung des menschlichen Geistes steht immer, was auch Claude Barnard dazu sagen mag, ein mehr oder weniger klares philosophisches System. Man kann ihm nicht in Ergebenheit anhangen und es bei den Tatsachen bewenden lassen, indem man sich der Pflicht, das System zu modifizieren, wenn die Tatsachen es verlangen, los und ledig spricht. Aber das System existiert darum nicht weniger, und es existiert umso mehr, je weniger fortgeschritten und je weniger kräftig die Wissenschaft ist. Für uns experimentierende Romanschriftsteller, die wir noch stammeln, ist die Hypothese eine schicksalsvolle. Just eben werde ich mich mit der Rolle der Hypothese in der Literatur beschäftigen.

Übrigens erkennt Claude Bernard, obgleich er in der Anwendung die philosophischen Systeme verwirft, die Notwendigkeit der Philosophie an. „Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus stellt die Philosophie die ewige Inspiration des menschlichen Geistes in der Richtung auf die Erkenntnis des Unbekannten dar. Von nun ab halten sich die Philosophen stets im Bereich unbestrittener Fragen und in erhabenen Regionen auf, in höheren Gebieten wie die Wissenschaften. Hierdurch verleihen sie dem wissenschaftlichen Denken eine Bewegung, die es belebt und veredelt; sie stärken den Geist, indem sie ihn durch eine allgemeine geistige Gymnastik entwickeln, während sie ihn zu gleicher Zeit unaufhörlich auf die unerschöpfliche Lösung der grossen Probleme hintreiben; sie erhalten so einen Durst nach dem Unbekannten und das heilige Feuer der Forschung, das bei einem Gelehrtennie erlöschen darf.“ Die Stelle ist schön, aber nie hat man den Philosophen mit besseren Worten gesagt, dass ihre Hypothesen reine Poesie sind. Claude Bernard betrachtet offenbar die Philosophen, unter denen er viele Freunde zu haben glaubt, als Musiker, die zuweilen Genie haben, deren Musik die Gelehrten während ihrer Arbeiten ermutigt und ihnen das heilige Feuer der grossen Entdeckungen einflösst. Was die sich selbst überlassenen Philosophen betrifft, so sängen sie immer und fänden nie eine Wahrheit.

Ich habe bisher die Frage der Form bei dem naturalistischen Schriftsteller vernachlässigt, weil gerade sie die Literatur spezialisiert. Das Genie liegt in bezug auf den Schriftsteller nicht allein im Gefühl, in der apriorischen Idee, sondern auch in der Form, im Stil. Allein, die Frage der Methode und die Frage der Rhetorik sind verschieden.. [sic] Und der Naturalismus besteht, ich sage es nochmals, einzig und allein in der experimentellen Methode, in der Anwendung der Beobachtung und des Experiments auf die Literatur. Für den Augenblick hat also die Rhetorik nichts hier zu schaffen. Stellen wir die Methode auf, die gemeinsam sein muss, und akzeptieren wir dann in der Literatur alle rednerischen Künste, die hervorgebracht werden; betrachten wir sie als den Ausdruck der literarischen Temperamente der Schriftsteller.

Wenn man meine runde Meinung haben will, so gibt man heute der Form ein übertriebenes Übergewicht. Ich hätte viel darüber zu sagen; es würde jedoch die Grenzen dieser Studie überschreiten. Im Grunde halte ich dafür, dass die Methode die Form selbst trifft, dass eine Sprache nur eine Logik, eine natürliche und wissenschaftliche Konstruktion ist. Am besten wird nicht der schreiben,der am tollsten unter den Hypothesen herumgaloppiert. sondern der, der gerade mitten auf die Wahrheiten zusteuert. Wir sind gegenwärtig angefault von Lyrismus, wir glauben sehr zu Unrecht, dass der grosse Stil einem erhabenen Aussersichsein entstammt, das stets nahe daran ist, in den Wahnsinn zu purzeln; der grosse Stil besteht aus Logik und Klarheit.

Auch hegt Claude Bernard, der den Philosophen die Rolle von Musikern zuweist, die die Marseillaise der Hypothesen spielen, während die Gelehrten sich in den Sturm gegen das Unbekannte stürzen, beinahe dieselbe Ansicht von den Künstlern und von den Schriftstellern. Ich bemerkte, dass viele Gelehrte, und darunter die grössten, in ihrer starken Eifersucht auf die wissenschaftliche Gewissheit, die sie festhalten, dermassen die Literatur in das Ideal einschliessen wollen. Sie selbst scheinen nach ihren exakten Arbeiten das Bedürfnis eines Lügenspiels zu empfinden, und gefallen sich in den gewagtesten Hypothesen, in Fiktionen, die sie als durchaus falsch und lächerlich kennen. Sie erlauben, dass man ihnen eine Flötenweise vorspielt. So hatte Claude Bernard Recht, zu sagen: „Die literarischen und künstlerischen Erzeugnisse altern niemals, sie sind der Ausdruck von Gefühlen, die unveränderlich sind wie die menschliche Natur.“ In der Tat genügt die Form, um ein Werk unsterblich zu machen; das Schauspiel einer mächtigen Individualität, die in einer prachtvollen Sprache die Natur interpretiert, wird für alle Zeitalter interessant bleiben; allein, man wird unter demselben Gesichtspunkt auch einen grossen Gelehrten immer lesen, weil das Schauspiel eines grossen Gelehrten, der schreiben gekonnt hat, ganz ebenso interessant ist, wie das eines grossen Dichters. Dieser Gelehrte mag sich inseinen Hypothesen tüchtig täuschen, er steht doch auf gleichem Fuss mit dem Dichter, der sich ganz gewiss auch getäuscht hat. Es muss gesagt werden, dass unser Gebiet nicht einzig und allein aus Gefühlen besteht, die unveränderlich sind wie die menschliche Natur; denn dann muss man immer noch den wahren Mechanismus dieser Gefühle spielen lassen können. Wir haben unseren Stoff nicht erschöpft, wenn wir den Zorn, die Habsucht, die Liebe gezeichnet haben; die ganze Natur und der ganze Mensch gehören uns, nicht bloss in ihren Erscheinungen, sondern auch in den Ursachen dieser Erscheinungen. Ich weiss sehr wohl, hier liegt ein ungeheures Feld, in das man uns den Eintritt sperren wollte; wir haben aber die Schranken zerbrochen und jetzt triumphieren wir darin. Aus diesem Grunde akzeptiere ich die folgenden Worte Claude Bernards nicht: „In Kunst und Literatur beherrscht die Persönlichkeit alles. Es handelt sich hier um eine spontane Schöpfung des Geistes, und das hat mit der Konstatierung der Naturerscheinungen, in denen unser Geist nichts schaffen darf, nichts gemein.“ Ich überrasche hier einen der berühmtesten Gelehrten bei dem Bedürfnis, der Literatur den Eintritt in das Gebiet der Wissenschaft zu weigern. Ich weiss nicht, von welcher Literatur er reden will, wenn er ein literarisches Werk definiert als „eine spontane Schöpfung des Geistes, die mit der Konstatierung der Naturerscheinungen nichts gemein hat.“ Ohne Zweifel denkt er an die lyrische Poesie, denn hätte er an den Experimentalroman, an die Werke Balzacs und Stendhals gedacht, hätte er den Satz nicht geschrieben. Ich kann nur wiederholen, was ich sagte: lassen wir die Form, den Stil auf der Seite, so ist der experimentelle Romanschriftsteller nichts weiter wie ein Fachgelehrter,der das Werkzeug der anderen Gelehrten, die Beobachtung und die Analyse, verwendet. Unser Gebiet ist dasselbe, wie das des Physiologen, wenn es nicht umfassender ist. Gleich ihm wirken wir auf den Menschen ein, denn alles lässt glauben, und Claude Bernard erkennt es selbst an, dass die Gehirnerscheinungen wie die anderen Erscheinungen bestimmt werden können. Allerdings kann uns Claude Bernard sagen, dass wir in der dicksten Hypothese schwimmen; aber es wäre übel angebracht, hieraus zu schliessen, dass wir niemals zur Wahrheit kommen werden, denn er hat sein ganzes Leben gekämpft, aus der Medizin, die von der überaus grossen Majorität seiner Kollegen als eine Kunst betrachtet wird, eine Wissenschaft zu machen.

Nun wollen wir von dem experimentellen Romanschriftsteller eine klare und deutliche Definition geben. Claude Bernard definiert den Künstler folgendermassen: „Was ist ein Künstler? Ein Mensch, der in einem Kunstwerk eine Idee oder ein Gefühl realisiert, die er persönlich hat.“ Diese Definition weise ich unbedingt zurück. So hätte ich also, im Falle ich einen Menschen darstellen würde, der auf den Händen ginge, ein Kunstwerk gemacht, wenn das mein persönliches Gefühl wäre. Ich wäre ein Narr, nichts weiter. Man muss also hinzufügen, dass das persönliche Gefühl des Künstlers der Kontrolle der Wirklichkeit unterworfen bleibt. So gelangen wir zur Hypothese. Der Künstler geht vom selben Punkt aus, wie der Gelehrte; er stellt sich vor die Natur, er hat eine apriorische Idee und arbeitet gemäss dieser Idee. Da allein trennt er sich von dem Gelehrten, wenn er seine Idee bis zu Ende führt, ohne die Genauigkeit durch die Beobachtung und das Experiment zu verifizieren.Man könnte experimentelle Künstler die nennen, die das Experiment in Rechnung ziehen; aber jetzt, wo man die Kunst als die Summe persönlicher Irrtümer betrachtet, die der Künstler in sein Naturstudium hineinbringt, da würde man sagen, sie sind keine Künstler mehr. Ich konstatiere, dass nach meiner Meinung die Persönlichkeit des Schriftstellers nur in der apriorischen Idee und in der Form liegen kann. Sie kann nicht auf dem starrsinnigen Festhalten am Falschen beruhen. Ich will sie wiederum gern in der Hypothese sein lassen, aber hier muss man sich verstehen.

Man hat oft gesagt, die Schriftsteller müssten den Gelehrten den Weg bahnen. Das ist wahr, denn wir haben soeben, in der „Einführung“ gesehen, wie die Hypothese und der Empirismus dem letzten Orts durch die experimentelle Methode begründeten Stand der Wissenschaft voranschreiten und ihn vorbereiten. Der Mensch fing damit an, bestimmte Erklärungen der Erscheinungen zu wagen, die Dichter sprachen ihr Gefühl aus und dann kamen die Gelehrten, um die Hypothesen zu kontrollieren und die Wahrheit festzustellen. Claude Bernard weist die Philosophen stets die Aufgabe von Pionieren zu. Das ist eine vornehme Aufgabe und die Schriftsteller haben noch heute die Pflicht, sie zu erfüllen. Nur müssen jedesmal, wenn eine Wahrheit von den Gelehrten festgestellt ist, die Schriftsteller unverzüglich ihre Hypothese aufgeben, um diese Wahrheit aufzunehmen; sonst müssten sie im Irrtum befangen bleiben, ohne dass es für jemand Gewinn hätte. So gibt die Wissenschaft in dem Mass, als sie fortschreitet, uns Schriftstellern einen festen Boden, auf den wir uns stützen müssen, um uns in neue Hypothesen vorzuschwingen. Mit einem Wort, jede deter minierte Erscheinung zerstört die Hypothese, an deren Stelle sie tritt, und fordert, dass sie von da ab weiter hinausgerückt wird, in ein neues unbekanntes Feld, das sich bietet. Ich will ein sehr simples Beispiel nehmen, um mich verständlicher zu machen: es ist bewiesen, dass sich die Erde um die Sonne dreht; was würde man von einem Dichter denken, der den alten Glauben annähme, die Sonne drehe sich um die Erde? Offenbar wird der Dichter, wenn er eine persönliche Erklärung einer Tatsache wagen will, eine Tatsache wählen, deren Ursache noch nicht erkannt ist. Man sieht also, was die Hypothese für uns experimentelle Romanschriftsteller sein muss; wir müssen die determinierten Tatsachen strikt akzeptieren, wir dürfen keine persönlichen Meinungen über sie wagen, die lächerlich wären, wir haben uns bis zum Letzten auf das von der Wissenschaft eroberte Gebiet zu stützen; dann können wir vor dem Unbekannten, und hier allein, unsere Intuition walten lassen und der Wissenschaft voranschreiten, mit der Freiheit, uns zuweilen täuschen zu dürfen, aber beglückt, wenn wir Dokumente zur Lösung von Problemen beibringen. Übrigens bleibe ich hier im praktischen Programme Claude Bernards, der gezwungen ist, den Empirismus als ein nutzbringendes Herumtappen zu akzeptieren. So werden wir in unserm experimentellen Roman sehr wohl Hypothesen über die Fragen der Vererbung und des Einflusses der Umgebungen wagen können, wenn wir alles berücksichtigten, was die Wissenschaft heute über die Materie weiss. Wir bereiten die Wege, wir liefern Beobachtungstatsachen, menschliche Dokumente, die sehr nützlich werden können. Ein grosser lyrischer Dichter rief jüngst aus, unser Jahrhundert sei das Jahrhundert der Propheten. Ja, wenn man will; es muss nurverstanden sein, dass sich die Propheten weder auf das Irrationelle, noch auf das Übernatürliche stützen sollen. Wenn die Propheten, wie man's sieht, die elementarsten Begriffe in Frage stellen dürfen, wenn sie die Natur zu einer merkwürdigen philosophischen und religiösen Brühe zusammenpantschen dürfen, wenn sie den metaphysischen Menschen aufs Tapet bringen, alles verwirren und alles verdunkeln dürfen, werden die Propheten trotz ihrem Rhetorikergenie immer nur gigantische Sudler sein, die nicht wissen, dass man sich nass macht, wenn man ins Wasser geht. In unserer wissenschaftlichen Zeit ist es eine schwierige Aufgabe, zu prophezeien, weil man an offenbarte Wahrheiten nicht mehr glaubt und weil man, um das Unbekannte vorauszusehen, damit beginnen muss, das Bekannte zu kennen.

Ich wollte zu dem Schluss kommen: wenn ich den experimentellen Roman definieren würde, sagte ich nicht wie Claude Bernard, ein literarisches Werk beruht ganz und gar auf dem persönlichen Gefühl, denn für mich ist das persönliche Gefühl nur der erste Antrieb. Dann ist die Natur da, die sich Geltung verschafft, oder mindestens der Teil der Natur, dessen Geheimnis uns die Wissenschaft enthüllt hat, und über den wir zu lügen kein Recht mehr haben. Experimenteller Romanschriftsteller ist also derjenige, der die bewiesenen Tatsachen akzeptiert, der im Menschen und in der Gesellschaft den Mechanismus der Erscheinungen aufzeigt, die von der Wissenschaft beherrscht werden, und der seine persönliche Meinung nur bei den Erscheinungen zur Geltung bringt, deren Determinismus überhaupt noch nicht festgestellt ist, indem er diese persönliche Meinung, diese apriorische Idee so sehr wie möglich durch Beobachtung und Erfahrung zu kontrollieren versucht.

Anderswie kann ich unsere naturalistische Literatur nicht verstehen. Ich sprach nur vom experimentellen Roman, ich lebe indessen in der festen Überzeugung, dass die Methode, nachdem sie in der Geschichte und in der Kritik triumphiert hat, überall, auf dem Theater und sogar in der Poesie triumphieren wird. Es ist eine Entwicklung voller Notwendigkeit. Was man auch sagen kann, die Literatur liegt nicht vollständig in dem Arbeiter, sie liegt auch in der Natur, die sie schildert und in dem Menschen, den sie studiert. Oder wenn die Gelehrten die Naturbegriffe wechseln, wenn sie den wirklichen Mechanismus des Lebens finden, zwingen sie uns, ihnen zu folgen, ja sie zu überholen, damit wir unsere Rolle in den neuen Hypothesen spielen. Der metaphysische Mensch ist tot. Unser ganzer Boden wandelt sich mit dem physiologischen Menschen um. Zweifellos werden der Zorn des Achilles, die Liebe der Dido ewig schöne Gemälde bleiben; aber nun haben wir das Bedürfnis, Zorn und Liebe zu analysieren und aufs genaueste zu sehen, wie diese Leidenschaften im menschlichen Wesen funktionieren. Der Standpunkt ist neu, er wird experimentell, anstatt philosophisch zu sein. Kurz alles liegt in dieser grossen Tatsache beschlossen. Die experimentelle Methode ist ebenso in der Literatur wie in der Wissenschaft, auf dem Weg, die natürlichen, die individuellen und die sozialen Erscheinungen zu determinieren, über die bisher die Metaphysik nur irrationelle und übernatürliche Erklärungen gegeben hatte.