<quote>Die schmale Brücke der Kunst</quote> <date>1927</date> Woolf, Virginia o:reko.wool.1927 Virginia Woolf: Die schmale Brücke der Kunst. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Kyra Stromberg. Berlin: Klaus Wagenbach 1996, S. 53-70. ISBN: 3-8031-1142-0. "The Narrow Bridge of Art", in: New York Herald Tribune (14. 8. 1927). Genre Essay Media Literatur

Der weitaus größere Teil der Kritiker kehrt der Gegenwart den Rücken und starrt unentwegt in die Vergangenheit. Aus Klugheit, ohne Zweifel, geben sie keinerlei Kommentar ab zu dem, was in diesem Augenblick wirklich geschrieben wird; sie überlassen das den Rezensenten, deren Name allein schon für Flüchtigkeit sich selbst und ihrem Gegenstand gegenüber spricht. Gelegentlich fragt man sich, ob der Kritiker unbedingt der Vergangenheit verpflichtet ist, ob sein Blick so fest nach rückwärts gerichtet sein muß? Könnte er sich nicht von Zeit zu Zeit umdrehen und, indem er wie Robinson Crusoe auf seiner wüsten Insel seine Augen beschattet, in die Zukunft blicken und inmitten ihrer Nebelschwaden die zarten Umrisse des Landes ausmachen, das wir eines Tages vielleicht erreichen werden? Ob solche Spekulationen zutreffen, läßt sich nie nachweisen, aber in einer Epoche wie der unseren liegt die Versuchung, in ihnen zu schwelgen, sehr nahe. Denn es ist ganz offenkundig eine Epoche, in der wir nirgends, wo wir uns befinden, fest verankert sind; alles bewegt sich rundum uns her; wir selbst bewegen uns. Ist es nicht die Pflicht des Kritikers, uns mitzuteilen oder wenigstens anzudeuten, wohin wir unterwegs sind?

Natürlich muß diese Frage strikt eingegrenzt werden; aber es müßte doch möglich sein, ein Beispiel unserer Enttäuschung und unserer Schwierigkeiten herauszugreifenund zu untersuchen – danach werden wir vielleicht besser erkennen können, in welche Richtung wir uns bewegen müssen.

Tatsächlich kann niemand neuere Literatur lesen, ohne daß ein vages Unbehagen uns den Zugang versperrt. Überall machen sich Schriftsteller an etwas, das sie nicht bewältigen können, zwingen sie der von ihnen gewählten Form einen Sinn auf, der ihr fremd ist. Es ließen sich viele Gründe dafür finden, hier aber wollen wir nur einen herausgreifen, nämlich: die Untauglichkeit der Lyrik – die für so viele Generationen vor uns getaugt hat – für uns und unsere Absichten. Die Lyrik kommt uns bei weitem nicht mehr so selbstverständlich entgegen wie früher. Der große Ausdrucksfluß, der so viel Kraft, so viel Genie getragen hat, scheint sich verengt oder die Richtung geändert zu haben.

Auch das gilt natürlich nur innerhalb gewisser Grenzen. Unsere Epoche ist so reich an Gedichten wie kaum ein anderes Zeitalter. Aber für unsere Generation und die nächste genügt der intensive, persönliche und (in seiner Wirkung) begrenzte lyrische Aufschrei nicht mehr. Unser Bewußtsein ist angefüllt von monströsen vieldeutigen, unbezwingbaren Gefühlen. Die Erde ist drei Milliarden Jahre alt; das menschliche Leben dauert nur eine Sekunde; dennoch ist der Umfang des menschlichen Geistes grenzenlos; das Leben ist unendlich schön und dennoch abstoßend; unsere Mitmenschen sind bewundernswert, aber auch abscheulich; Wissenschaft und Religion im Verein haben den Glauben zerstört; alle Bindungen scheinen zerrissen, dennoch muß es eine gewisse Ordnung geben. Heute müssen Schriftsteller in einer Atmosphäre von Zweifel und Konflikt schaffen, und das zarte Gespinst eines Gedichts ist ebensowenig geeignet, diese zu fassen wie ein Rosenblatt einen zerklüfteten Felsbrocken umhüllen kann.

Wenn wir uns aber fragen, was denn in der Vergangenheit dazu gedient hat, eine solche Situation voller Kontrast und Konfrontation in Worte zu fassen, eine Haltung, für die der Konflikt zwischen zwei Charakteren geradezu unerläßlich scheint und die zugleich dringend irgendeiner formenden Kraft bedarf, einer gewissen Vorstellung, die dem Ganzen Zusammenhang und Stärke verleiht, so müssen wir zugeben, daß es einmal eine Form dafür gegeben hat, und daß diese Form nicht das Gedicht war, sondern das Drama, das poetische Drama der elisabethanischen Epoche. Und gerade diese literarische Form scheint tot zu sein, jenseits jeder Möglichkeit einer Wiederauferstehung.

Denn wenn wir uns den gegenwärtigen Zustand des poetischen Dramas ansehen, müssen uns schwere Zweifel kommen, ob irgendeine Macht der Welt diese Form wiederbeleben könnte. Sie wurde – und wird noch immer – von hochbegabten und ambitionierten Schriftstellern verwendet. Seit Drydens Tod scheint jeder große Dichter sich darin ausgetobt zu haben; Wordsworth und Coleridge, Shelley und Keats, Tennyson, Swinburne und Browning (um nur die toten zu nennen) haben alle lyrische Dramen geschrieben, aber keiner von ihnen mit Erfolg. Von diesen Dramen werden allenfalls Swinburnes Atalanta und Shelleys Prometheus noch gelesen, und auch sie weniger häufig als andere Werke derselben Autoren. Alle übrigen sind auf die obersten Reihen unserer Bücherregale entrückt, und dort schlafen sie, den Kopf unter die Flügel gesteckt. Niemand wird vorsätzlich ihren Schlummer stören wollen.

Dennoch fühlt man sich versucht, eine Erklärung für diesen Fehlschlag zu finden – sie könnte ein Licht auf die Zukunft werfen, die uns beschäftigt. Vielleicht liegt der Grund – warum Dichter keine lyrischen Dramen mehr schreiben – in dieser Richtung.

Es gibt da etwas Vage-Geheimnisvolles, das sich „Lebenshaltung“ nennt. Wir alle kennen – um uns für einen Augenblick von der Literatur ab- und dem Leben zuzuwenden – Leute, die unablässig mit dem Leben hadern, unglückliche Menschen, die niemals bekommen, was sie wollen; verwirrt und ständig sich beklagend, sehen sie aus ihrem unbehaglichen Blickwinkel alles schief. Andere wiederum scheinen – obgleich sie ganz zufrieden wirken – jeden Kontakt mit der Wirklichkeit verloren zu haben. Sie verschwenden all ihre Gefühle auf kleine Hunde und altes Porzellan. Sie interessieren sich für nichts als für die Wechselfälle ihrer Gesundheit und das Auf und Ab gesellschaftlicher Moden. Es gibt jedoch auch solche, die uns dadurch beeindrucken – warum genau ist schwer zu sagen –, daß sie von Natur aus oder durch die Umstände in einer Lage sind, die ihnen erlaubt, ihre Fähigkeiten auf das Wichtigste zu konzentrieren. Sie sind nicht unbedingt glücklich oder erfolgreich, aber voller Schwung und voller Interesse für das, was sie tun. Sie sind voller Leben, so scheint es. Das mag zum Teil den Umständen zuzuschreiben sein – sie sind in eine ihnen angemessene Umgebung hineingeboren –, aber mehr noch einer gewissen glücklichen Ausgewogenheit ihrer Fähigkeiten: Sie sehen die Dinge weder schief unter einem verzerrenden Blickwinkel, noch verschwommen wie in einem Nebel, sondern in der richtigen Proportion. Sie packen kräftig zu, und wenn sie in Gang kommen, dann fallen Späne.

Auch ein Schriftsteller hat ein bestimmtes Verhältnis zum Leben, aber es ist eine andere Art Leben. Auch er kann es unter einem prekären Blickwinkel sehen, kann verwirrt, frustriert sein, unfähig, das zu erreichen, was er als Schriftsteller erstrebt. Das gilt, zum Beispiel, für die Romane George Gissings. Er kann sich aber auch in einen Vorort zurückziehen und sein Interesse an Schoßhündchen und Herzoginnen verschwenden – an Niedlichkei ten, Sentimentalitäten, Snobismen; und das gilt für einige unserer höchst erfolgreichen Schriftsteller. Aber es gibt eben auch andere, die – durch die Natur oder die Umstände – es verstehen, ihre Fähigkeiten frei an Wichtiges zu wenden. Nicht etwa, daß sie schnell oder leicht schreiben oder auf Anhieb erfolgreich und berühmt werden. Man ist vielmehr versucht, an ihnen eine besondere Eigenschaft festzustellen, die sich in allen großen Epochen der Literatur findet und die besonders deutlich im Werk der elisabethanischen Dramatiker hervortritt. Sie scheinen ein Verhältnis zum Leben zu haben, das es ihnen erlaubt, sich frei zu bewegen; sie haben einen Blick, der – obwohl er gleichzeitig lauter verschiedene Dinge umfaßt – ihnen dennoch erlaubt, sie in der für ihre Absichten richtigen Perspektive zu sehen.

Zum Teil war das natürlich das Ergebnis bestimmter Umstände. Das öffentliche Interesse – nicht für Bücher, sondern für das Drama, das geringe Ausmaß der Städte, die Entfernungen zwischen den Leuten, die Unkenntnis, in der damals sogar die Gebildeten lebten –, all das legte es der Phantasie der Elisabethaner nahe, sich mit Löwen und Einhörnern, Herzögen und Herzoginnen, mit Gewalt und Geheimnis anzufüllen. Verstärkt wurde dies noch durch etwas, das sich nicht so leicht erklären läßt, das wir aber sicherlich nachfühlen können. Sie hatten ein Verhältnis zum Leben, das sie befähigte, sich in aller Freiheit und Fülle zu äußern. Shakespeares Stücke sind nicht das Werk eines verwirrten und frustrierten Geistes; sie sind die vollkommen geschmeidige Hülle seiner Gedanken. Ohne zu zögern, wechselt er von philosophischen Äußerungen zu trunkenem Gebrabbel, von einem Liebeslied zu einem Streit, zu schlichter Unterhaltung, zu tiefgründigen Spekulationen. Und eins gilt für alle elisabethanischen Dramatiker: Auch wenn sie uns langweilen mögen – und das tun sie –, geben sie uns nie das Gefühl,daß sie ängstlich oder unsicher sind oder daß irgend etwas den vollen Strom ihres Geistes hemmen, stören oder gar versiegen lassen könnte.

Wenn wir aber die Seiten eines modernen poetischen Dramas aufschlagen – und das gilt für einen großen Teil der modernen Dichtung –, ist unser erster Gedanke, daß der Autor sich unbehaglich fühlt. Er ist ängstlich, gezwungen, befangen. Und mit gutem Grund! könnten wir ausrufen; denn wer von uns fühlt sich schon behaglich einem Mann in einer Toga gegenüber, der Xenokrates heißt, oder vor einer Frau in einer Bettdecke, Eudoxa mit Namen? Aber aus irgendeinem Grunde handelt ein modernes Stück immer von Xenokrates und nicht von Mr. Robinson; es spielt in Thessalonien und nicht in Charing Cross Road. Wenn die Elisabethaner ihre Szene in fremde Länder verlegten und ihre Helden und Heldinnen zu Prinzen und Prinzessinnen machten, verlagerten sie den Schauplatz nur von einer Seite eines sehr dünnen Schleiers auf die andere. Es war ein ganz natürliches Mittel, ihren Figuren Tiefe und Distanz zu geben. Aber das Land blieb England, und der böhmische Prinz war die gleiche Person wie der englische Edelmann. Unsere modernen Stückeschreiber jedoch scheinen aus einem anderen Grunde nach dem distanzierenden Schleier der Vergangenheit zu greifen. Sie wollen keinen Schleier, der hervorhebt, sondern einen Vorhang, der verbirgt; sie verlegen ihre Szene in die Vergangenheit, weil sie sich vor der Gegenwart fürchten. Sie sind sich bewußt, daß, wenn sie versuchen würden, die Gedanken, die Visionen, die Zu- und Abneigungen auszudrücken, die tatsächlich in diesem Jahr des Heils 1927 in ihrem Gehirn herumtaumeln, dies gegen den poetischen Anstand verstieße; sie könnten nur stottern und stammeln und müßten sich vielleicht niedersetzen oder das Zimmer verlassen. Die Elisabethaner hatten eine Haltung, die ihnen vollkom mene Freiheit erlaubte; der moderne Stückeschreiber hat entweder überhaupt keine Haltung oder eine so angestrengte, daß sie ihm die Glieder verrenkt und die Vorstellung verzerrt. Er muß daher seine Zuflucht zu Xenokrates nehmen, der nichts sagt oder nur das, was ein Blankvers anständigerweise auszudrücken vermag.

Aber vielleicht sollten wir uns deutlicher erklären? Was hat sich verändert, was ist geschehen, was hat den heutigen Autor in einen solchen Blickwinkel gedrängt, daß es ihm nicht mehr möglich ist, seinen Geist stracks in die alten Kanäle englischer Dichtung zu ergießen? Vielleicht kann ein Spaziergang durch die Straßen einer großen Stadt uns einer Antwort näherbringen? Die langen, von Backstein-Fassaden gesäumten Straßen sind in Gehäuse aufgeteilt, in denen lauter verschiedene menschliche Wesen wohnen, die Schlösser an ihren Türen und Sicherungen an ihren Fenstern angebracht haben, um sich ein wenig Privatleben zu retten; aber dennoch sind sie durch Drähte über ihren Köpfen und durch Schallwellen miteinander verbunden, die durch das Dach dringen und ihnen von Schlachten und Morden, von Streiks und Revolutionen in der ganzen Welt berichten. Und wenn wir hineingehen und mit einem von ihnen reden, werden wir feststellen, daß er ein argwöhnisches, mißtrauisch sich verborgen haltendes Tier ist, höchst befangen und entschieden darauf bedacht, sich nicht zu verraten. Und nichts in unserem modernen Leben zwingt ihn ja dazu. In unserem Privatleben gibt es keine Gewalt; wir sind höflich, tolerant, liebenswürdig, wenn wir uns begegnen. Selbst Streit wird eher zwischen Verbänden und Gemeinschaften ausgetragen als unter Individuen. Das Duell gehört der Vergangenheit an, eheliche Bindungen sind außerordentlich dehnbar, ohne zu zerreißen. Der Durchschnittsmensch heute ist ruhiger, geschmeidiger, behender, selbstbeherrschter als früher. Wiederum wür den wir feststellen, wenn wir unseren Freund auf einen Spaziergang mitnähmen, daß er außerordentlich offen ist für alles – Häßlichkeit, Schmutz, Schönheit, Vergnügen. Er folgt jedem Gedanken – unbekümmert darum, wohin er ihn führen könnte. Er diskutiert in aller Öffentlichkeit, was einst nicht einmal im vertrauten Kreise erwähnt werden durfte. Und diese Freiheit und Neugier sind vielleicht der Grund für eine allem Anschein nach hervorstechende Eigentümlichkeit der Gegenwart: die sonderbare Art und Weise, wie Dinge, die doch offenkundig keinerlei Verbindung miteinander haben, in seinem Bewußtsein assoziiert werden. Gefühle, die sich jeweils getrennt und für sich äußerten, äußern sich so nicht mehr. Die Schönheit ist zum Teil häßlich, das Vergnügen zum Teil Abscheu; Lust zum Teil Schmerz. Emotionen, die einstmals heil und ganz ins Bewußtsein drangen, werden nun an seiner Schwelle gebrochen.

Zum Beispiel: Es ist eine Frühlingsnacht, der Mond steht hoch am Himmel, die Nachtigall singt, die Weiden hängen über dem Fluß. Ja, aber gleichzeitig zupft eine kranke alte Frau auf einer häßlichen Eisenbank an ihren schmutzigen Fetzen. Sie und der Frühling dringen zugleich in das Bewußtsein, sie mischen sich, aber verschmelzen nicht. Die beiden widersprüchlichen Emotionen, die da zusammenkommen, beißen und schlagen einander. Keats aber hatte, als er die Nachtigall singen hörte, ein einziges, in sich geschlossenes Gefühl, auch wenn es vom Entzücken an der Schönheit in die Trauer um das Unglück menschlichen Geschicks übergeht. Bei ihm gibt es keinen Widerspruch. In seinem Gedicht ist der Schmerz der Schatten der Schönheit. Im modernen Bewußtsein ist die Schönheit nicht vom Schmerz begleitet, sondern von ihrem Gegenteil, der Häßlichkeit. Für den modernen Dichter singt die Nachtigall „dschag dschag für schmutzige Ohren“. Mit der modernen Schönheit geht ein spöt tischer Geist einher, der hohnvoll über die Schönheit grinst, eben weil sie schön ist; der den Spiegel zur Seite dreht und uns zeigt, daß ihre andere Wange von Pockennarben verunstaltet ist. Es ist, als ob das moderne Bewußtsein, das alle Empfindungen immer genau feststellen möchte, das Vermögen eingebüßt hätte, etwas einfach als das hinzunehmen, was es ist. Ganz ohne Zweifel hat dieser skeptisch prüfende Geist die Seele von grundauf erfrischt und stimuliert. Das moderne Schreiben zeigt eine Nüchternheit und Aufrichtigkeit, die heilsam, ja höchst genußreich sind. Die moderne Literatur, die mit Oscar Wilde und Walter Pater etwas Schwüles und Parfümiertes angenommen hatte, erholte sich sofort von ihrer Neunzehntes-Jahrhundert-Mattigkeit, als Samuel Butler und Bernhard Shaw sich ihre Federn verbrannten und sie daran schnuppern ließen. Sie erwachte; sie setzte sich auf; sie nieste. Natürlich waren die Dichter verschreckt und liefen davon.

Denn selbstverständlich war die Dichtung immer ganz und gar auf Seiten der Schönheit. Immer hat sie auf gewisse Vorrechte gepocht wie zum Beispiel Reim, Metrik, poetische Ausdrucksweise. Niemals war sie für alltägliche Zwecke des Lebens benutzt worden. Diese ganze Schmutzarbeit hat die Prosa auf sich genommen; sie hat Briefe beantwortet, Rechnungen bezahlt, Artikel geschrieben, Reden verfaßt, hat den Bedürfnissen von Geschäftsleuten, Ladenbesitzern, Rechtsanwälten, Soldaten und Bauern gedient.

Die Dichtung hat sich in der Obhut ihrer Priester alledem enthoben. Vielleicht hat sie Bußgeld für diese Zurückgezogenheit zahlen müssen, indem sie ein wenig steif wurde. Ihr Auftritt mit allem Aufwand – den Schleiern, Girlanden, Erinnerungen, Assoziationen – beeindruckt uns, während sie spricht. Wenn wir sie dann aber bitten, uns diese Unstimmigkeit zu erklären – diesen Hohn, die sen Widerspruch, diese Neugier, die raschen seltsamen Emotionen, die in kleinen abgelegenen Zimmern ausgebrütet werden, die umfassenden allgemeinen Ideen, die uns die Zivilisation lehrt –, ist sie dazu nicht schnell, nicht einfach, nicht umfassend genug. Ihre Betonung ist zu deutlich vernehmbar; ihr Verhalten zu emphatisch. Als Ersatz bietet sie uns lyrisch gedämpfte Ausbrüche der Leidenschaft; mit majestätischer Armbewegung fordert sie uns auf, in die Vergangenheit zu flüchten; aber sie hält nicht Schritt mit dem Bewußtsein, stürzt sich nicht rasch, behende oder leidenschaftlich in seine vielen verschiedenen Leiden und Freuden. Byron hat in Don Juan den Weg gewiesen; er hat gezeigt, was für ein geschmeidiges Instrument die Dichtung sein kann, aber niemand ist seinem Beispiel gefolgt, hat sein Instrumentarium aufgenommen. Bis heute haben wir kein lyrisches Drama.

Deshalb müssen wir darüber nachdenken, ob Dichtung die Aufgabe erfüllen kann, die wir ihr heute stellen. Es kann sein, daß die hier in Umrissen skizzierten und dem modernen Bewußtsein zugeschriebenen Gefühle der Prosa mehr entsprechen als der Poesie. Es ist durchaus möglich, daß die Prosa einige Aufgaben übernimmt – bereits übernommen hat –, die einst von der Poesie erfüllt wurden.

Wenn wir also Mut haben, wenn wir riskieren, uns lächerlich zu machen, und zu erkennen versuchen, in welche Richtung wir, die wir uns so rasch zu bewegen scheinen, denn eigentlich gehen, werden wir vielleicht erfahren, daß es auf die Prosa zugeht, und daß diese in zehn bis fünfzehn Jahren für Zwecke verwendet wird, für die sie noch nie verwendet wurde. Der Roman, dieser Kannibale, der schon so viele Kunstformen verschlungen hat, wird bis dahin noch mehr verschlungen haben. Wir werden gezwungen sein, uns neue Namen für die verschiedenen Buchgattungen auszudenken, die sich da – unter einund demselben Titel – verbergen. Und es ist möglich, daß sich unter den sogenannten Romanen einer befinden wird, den wir kaum zu benennen wissen. Er wird in Prosa geschrieben sein, aber in einer Prosa, die viele Merkmale der Dichtung hat. Sie wird etwas von der Exaltation der Poesie haben, aber auch viel von der Gewöhnlichkeit der Prosa. Sie wird dramatisch sein und dennoch kein Drama. Sie wird gelesen, nicht dargestellt werden. Welchen Namen sie haben wird, ist kaum von Bedeutung. Wichtig ist, daß so ein Buch, wie wir es am Horizont auftauchen sehen, vielleicht dazu dienen kann, Gefühle auszusprechen, die im Augenblick noch von der reinen und einfachen Dichtung ausgesperrt sind und auch im Drama keine Unterkunft finden. Versuchen wir also, uns etwas näher auf dieses Buch einzulassen und uns vorzustellen, welche Wirkung es ausüben und was für eine Zukunft ihm beschieden sein könnte.

Als erstes läßt sich vermuten, daß es sich vom Roman, wie wir ihn heute vor allem kennen, dadurch unterscheiden wird, daß es sich weiter vom Leben entfernt hält. Es wird, wie die Lyrik, eher den Umriß anbieten als Einzelheiten. Es wird wenig Gebrauch machen von dem wunderbaren Vermögen, Tatsachen zu berichten, das ein Merkmal der Romanliteratur ist. Es wird uns sehr wenig über die Häuser, das Einkommen, die Tätigkeiten der Figuren mitteilen, es wird wenig Verwandtschaft haben mit dem Gesellschafts- oder dem Milieuroman. Trotz dieser Einschränkungen wird es die Gefühle und Vorstellungen der Romanfiguren genau und lebhaft ausdrücken, aber unter einem anderen Blickwinkel. Es wird dem Gedicht insofern ähneln, als es nicht nur – oder nicht einmal vor allem – die Beziehungen der Menschen zueinander und ihr gemeinsames Tun beschreibt, wie es der Roman bislang getan hat, sondern es wird die Beziehung des Bewußtseins zu allgemeinen Ideen und sein einsamesSelbstgespräch schildern. Denn unter der Herrschaft des bisherigen Romans haben wir zwar einen Teil des Bewußtseins genau beobachtet, einen anderen aber gänzlich außer acht gelassen. Wir haben vergessen, daß ein ganz erheblicher Teil unseres Lebens aus Empfindungen zu Rosen und Nachtigallen, zu Morgendämmerung, Sonnenuntergang, Leben, Tod und Schicksal besteht; wir vergessen, daß wir viel Zeit damit verbringen zu schlafen, zu träumen, zu denken, zu lesen – und das allein; wir sind nicht ausschließlich mit persönlichen Beziehungen beschäftigt, nicht all unsere Energie richtet sich auf unseren Lebensunterhalt. Die Schreiber psychologischer Romane neigen dazu, Psychologie auf den persönlichen Umgang zu begrenzen; wir möchten manchmal der unaufhörlichen und erbarmungslosen Analyse von Liebe und Trennung, der Empfindungen Toms für Judith und Judiths – vielleicht nicht ganz so starken – Empfindungen für Tom entrinnen. Wir sehnen uns nach einer etwas unpersönlicheren Art der Beziehung. Wir sehnen uns nach Ideen, Träumen, Vorstellungen – nach Dichtung.

Und es ist das Großartige der elisabethanischen Dramatiker, daß sie uns das geben. Der Dichter ist jederzeit imstande, die besondere Beziehung Hamlets zu Ophelia zu überschreiten und uns mit seiner Frage nach dem eigenen Schicksal zugleich die nach dem Stand des gesamten menschlichen Seins zu übermitteln. In Maß für Maß zum Beispiel, mischen sich Passagen von außerordentlicher psychologischer Feinheit mit tiefen Gedanken und weit ausgreifenden Phantasien. Aber man sollte nicht verkennen, daß Shakespeare uns zwar Tiefsinn und diese Art Psychologie vermittelt, aber nicht den geringsten Versuch macht, uns gewisse andere Einsichten mitzuteilen. Seine Stücke haben als „angewandte Soziologie“ nicht den geringsten Wert. Wollten wir uns auf sie verlassen, was die Kenntnis gesellschaftlicher und ökonomischerVerhältnisse im Leben der Elisabethaner angeht, wären wir verloren. In dieser Hinsicht wird der in Zukunft geschriebene Roman – der Roman in seiner Vielfalt – einige Merkmale der Dichtung übernehmen. Er wird Beziehungen herstellen zwischen Mensch und Natur und Schicksal; er wird seine Vorstellungen enthalten, seine Träume. Aber er wird auch den Hohn, den Widerspruch, die Frage enthalten, die Dichte und Komplexität des Lebens. Er wird die Gußform abgeben für dieses seltsame Konglomerat aus Widersprüchen, das moderne Bewußtsein. Deshalb wird er die kostbaren Vorrechte der demokratischen Prosakunst begierig an sich ziehen: ihre Freiheit, ihre Unerschrockenheit, ihre Geschmeidigkeit. Denn die Prosa ist so bescheiden, daß sie überall hingehen kann; kein Ort ist ihr zu armselig, zu schmutzig, zu gemein. Sie ist von unendlicher Geduld und in aller Bescheidenheit lernbegierig. Mit ihrer langen klebrigen Zunge kann sie die winzigsten Bruchstücke des Faktischen auflecken und sie in den allerfeinsten Labyrinthen verstauen. Sie kann schweigend an Türen lauschen, hinter denen allenfalls ein leises Gemurmel, ein Flüstern zu hören ist. Wendig in der Handhabung eines Instruments, das ständig in Gebrauch ist, vermag sie allen Windungen zu folgen und alle Wandlungen festzustellen, die so typisch sind für das moderne Bewußtsein. Mit Proust und Dostojewski im Rücken müssen wir dem zustimmen.

Aber kann Prosa, so mögen wir fragen, so angemessen sie in der Behandlung des Gewöhnlichen und des Vielfältigen erscheinen mag – kann Prosa auch die in ihrer Einfachheit ungeheuerlichen Dinge ausdrücken? Kann sie die plötzlich uns überwältigenden Gefühle wiedergeben? Kann sie eine Elegie oder einen Hymnus auf die Liebe ertönen lassen oder Schreckensschreie ausstoßen, ist sie imstande, eine Rose, eine Nachtigall oder die Schönheit der Nacht zu preisen? Vermag sie – wie der Dichter – miteinem Sprung das Herz der Dinge zu erreichen – ins Innerste ihres Gegenstands zu dringen? Ich glaube nicht. Das ist die Strafe dafür, daß sie auf Beschwörung und Geheimnis, auf Reim und Versmaß verzichtet hat. Es stimmt, daß Prosaschreiber wagemutig sind; sie zwingen ihr Instrument immer wieder dazu, diesen Versuch zu machen. Aber es bleibt gegenüber dem purpurnen Flicken oder dem Prosagedicht immer ein gewisses Unbehagen. Der Einwand gegen den Purpurflicken hingegen ist nicht, daß er aus Purpur, sondern daß er ein Flicken ist. Man nehme zum Beispiel Meredith‘ „Divertimento für eine Pfennig-Pfeife“ in Richard Feverel. Wie ungeschickt, wie überbetont ist der Anfang mit seinem gebrochenen Versmaß: „Golden ruhen die Weiden, golden rinnen die Bäche; Rotgold ruht auf den Tannenstämmen. Die Sonne läßt sich zur Erde herab und streift über Felder und Gewässer.“ Oder denken wir an die berühmte Schilderung des Sturms am Schluß von Charlotte Brontës Villette. Diese Passagen sind beredt, lyrisch, glanzvoll; sie lesen sich sehr gut, wenn man sie für sich nimmt, in einer Anthologie zum Beispiel; aber im Kontext mit dem Roman verursachen sie uns Unbehagen. Denn sowohl Meredith als auch Charlotte Brontë bezeichneten sich als Romanautoren; sie hielten sich dicht ans Leben; sie lassen uns also den Rhythmus, die Beobachtungen und die Sehweise der Prosa erwarten. Man spürt den plötzlichen Ruck und die Anstrengung, wir sind noch nicht ganz aus der Trance des Einverständnisses und der Illusion erwacht, in der wir uns der machtvollen Phantasie des Autors unterwerfen.

Aber nehmen wir einmal ein anderes Buch, das – ob gleich es in Prosa geschrieben ist und als Roman gilt – sich von Anfang an in Struktur und Rhythmus anders gibt, das sich vom Leben fern hält und uns eine andere Sehweise erwarten läßt – Tristram Shandy. Es ist ein Buch voller Poesie, aber sie stört uns nicht; es ist ein tief von Purpurdurchdrungenes Buch – aber der Purpur erscheint nie als Flicken. Hier gibt es – bei allem Wechsel der Stimmungen – keinen Ruck, keinen Schock, der uns aus den Tiefen unseres Einverständnisses reißt. Sterne lacht und höhnt im gleichen Atemzug, reißt eine Zote und geht zu einer Passage wie der folgenden über:

„Die Zeit vergeht zu schnell: Jeder Buchstabe, den ich aufzeichne, sagt mir, mit welcher Hurtigkeit das Leben meiner Feder folgt; seine Tage und Stunden, wertvoller, meine liebe Jenny! als die Rubine um deinen Hals, fliegen über unsere Köpfe hinweg wie leichte Wölkchen eines windigen Tages, um nie wiederzukehren – alles drängt weiter – während du eine Locke drehst – sieh! sie wird grau; und jeder Kuß, den ich dir zum Abschied auf die Hand drücke, und jede Abwesenheit, die darauf folgt, sind Vorspiele der ewigen Trennung, die uns in kurzem bevorsteht. –

– Der Himmel habe Erbarmen mit uns beiden!“

Und weiter geht‘s mit Onkel Toby, dem Korporal, mit Mrs. Shandy und all den übrigen.

Hier wird, wie man sieht, Poesie leicht und natürlich zu Prosa, Prosa zu Poesie. Sterne hält sich ein wenig abseits und geht leichthändig mit Vorstellungen, Verstand und Phantasie um. Und indem er hoch oben in die Zweige greift, wo solche Dinge gedeihen, verwirkt er natürlich – und zweifellos aus freien Stücken – sein Recht auf die nahrhafteren Gemüse, die am Boden wachsen. Denn unseligerweise scheint ein Verzicht unausweichlich. Man kann die schmale Brücke der Kunst nicht überqueren, wenn man mit ihrem gesamten Instrumentarium beladen ist. Einiges muß man zurücklassen, sonst läßt man Teile mitten über dem Fluß fallen, oder, was schlimmer ist, man verliert die Balance und stürzt selbst hinein und ertrinkt.

Der noch unbenannte neue Roman wird also aus einem gewissen Abstand zum Leben geschrieben werden, weilsich auf diese Weise ein umfassenderer Blick auf einige wichtige Erscheinungen gewinnen läßt. Und er wird in Prosa geschrieben werden. Denn einer Prosa, die von der Eselsfron befreit ist – die so viele Roman-Autoren ihr aufzwingen –, ganze Ladungen von Einzelheiten und haufenweise Tatsachen zu transportieren, wird es gelingen, sich – nicht mit einem Satz, sondern in Schwüngen und Windungen – hoch über den Boden zu erheben und zugleich in Berührung mit den unendlichen Vergnügungen und Vorlieben des täglichen Lebens zu bleiben.

Es bleibt allerdings noch eine weitere Frage: Kann Prosa dramatisch sein? Ganz offenkundig haben Shaw und Ibsen mit größtem Erfolg dramatische Prosa verwendet, aber sie sind auch der Form des Dramas treu geblieben. Es läßt sich voraussagen, daß dies nicht die Form ist, die den Bedürfnissen des lyrischen Dramatikers der Zukunft entsprechen wird.

Ein Stück in Prosa ist zu trocken, zu eingeschränkt, zu emphatisch für seine Zwecke. Es läßt die Hälfte dessen, was er sagen möchte, durch die Maschen schlüpfen. Er kann in den Dialog nicht alles an Kommentar, an Analyse, an Fülle hineinpressen, was er mitzuteilen wünscht. Dennoch gelüstet es ihn nach dem explosiven Gefühlseffekt des Dramas; er will das Blut seiner Leser sehen und nicht nur die Empfänglichkeit ihres Intellekts streicheln und kitzeln. Es gehört zu der lockeren Fügung und Freiheit des Tristram Shandy, die auf wunderbare Weise Figuren wie Onkel Toby und Korporal Trim umgeben und in Gang setzen, daß nicht der Versuch gemacht wird, diese Leute in dramatischem Gegensatz zueinander aufmarschieren zu lassen. Der Schreiber jenes anspruchsvollen Buchs der Zukunft muß daher die verallgemeinernde und vereinfachende Kraft einer strengen, logischen Imagination auf seine aufgerührten und widersprüchlichen Gefühle einwirken lassen. Aufruhr ist abstoßend; Verwirrung has senswert; in einem Kunstwerk sollte alles gemeistert und geordnet sein. Sein Bemühen wird es sein, zugleich zusammenzufassen und aufzubrechen: Anstatt Einzelheiten aufzuzählen, wird der Autor Blöcke formen. Seine Charaktere werden auf diese Weise eine dramatische Kraft erhalten, die in den genau gezeichneten Figuren des Gegenwartsromans häufig dem psychologischen Interesse zum Opfer fällt.

Und obgleich das alles noch kaum sichtbar am äußersten Rand des Horizonts erscheint, kann man sich vorstellen, daß dieser künftige Autor den Umfang seines Interesses so weit ausdehnen wird, daß er einige der Einflüsse, die eine so große Rolle im Leben spielen, aber dem Romanautor bislang entgangen sind, „dramatisiert“: die Macht der Musik, den Reiz des Sichtbaren, die Wirkung der Silhouette eines Baums oder des Farbenspiels, die Gefühle, die Massen in uns erregen, den dunklen Schrecken oder den Haß, der uns an bestimmten Orten oder in Gegenwart bestimmter Menschen so irrational befällt, das Vergnügen an der Bewegung, den Wein und den Rausch. Jeder Augenblick ist der Treffpunkt einer außerordentlichen Zahl von Wahrnehmungen, die bisher noch nicht zur Sprache gebracht worden sind. Das Leben jedenfalls ist immer viel reicher als wir, die wir versuchen, ihm Ausdruck zu geben.

Aber es bedarf keiner besonders prophetischen Gabe, um zu wissen, daß, wer auch immer den oben beschriebenen Versuch unternimmt, all seinen Mut braucht. Die Prosa wird keinen neuen Schritt für den erstbesten tun. Aber wenn man den Zeichen der Zeit überhaupt trauen darf, so ist ein Bedürfnis nach neuen Entwicklungen zu spüren. Ganz sicher gibt es weit über England, Frankreich und Amerika verstreut Autoren, die versuchen, sich aus einer Abhängigkeit zu befreien, die ihnen lästig geworden ist. Autoren, die ihr Verhalten korrigieren möchten, da mit sie auf leichte und selbstverständliche Weise ihren Platz dort wieder finden, wo sie ihre Kraft ganz und gar den wichtigeren Dingen widmen können. Und wenn ein Buch dann als Ergebnis einer solchen Haltung auffällt, und weniger durch Schönheit oder glänzende Intelligenz, wissen wir, daß es den Samen für ein langes Leben in sich trägt.