Der weitaus größere Teil der Kritiker kehrt der Gegenwart den Rücken
und starrt unentwegt in die Vergangenheit. Aus Klugheit, ohne Zweifel, geben
sie keinerlei Kommentar ab zu dem, was in diesem Augenblick wirklich geschrieben
wird; sie überlassen das den Rezensenten, deren Name allein schon für
Flüchtigkeit sich selbst und ihrem Gegenstand gegenüber spricht. Gelegentlich
fragt man sich, ob der Kritiker unbedingt der Vergangenheit verpflichtet ist, ob
sein Blick so fest nach rückwärts gerichtet sein muß? Könnte er sich nicht von
Zeit zu Zeit umdrehen und, indem er wie Robinson Crusoe auf seiner wüsten Insel
seine Augen beschattet, in die Zukunft blicken und inmitten ihrer Nebelschwaden die zarten Umrisse
des Landes ausmachen, das wir eines Tages vielleicht erreichen werden? Ob solche
Spekulationen zutreffen, läßt sich nie nachweisen, aber in einer Epoche wie der
unseren liegt die Versuchung, in ihnen zu schwelgen, sehr nahe. Denn es ist ganz
offenkundig eine Epoche, in der wir nirgends, wo wir uns befinden, fest
verankert sind; alles bewegt sich rundum uns her; wir selbst bewegen uns. Ist es
nicht die Pflicht des Kritikers, uns mitzuteilen oder wenigstens anzudeuten,
wohin wir unterwegs sind?
Natürlich muß diese Frage strikt eingegrenzt werden; aber es müßte
doch möglich sein, ein Beispiel unserer Enttäuschung und unserer Schwierigkeiten
herauszugreifenund zu untersuchen – danach werden wir vielleicht
besser erkennen können, in welche Richtung wir uns bewegen müssen.
Tatsächlich kann niemand neuere Literatur lesen, ohne daß ein vages Unbehagen uns den
Zugang versperrt. Überall machen sich Schriftsteller an etwas, das sie nicht
bewältigen können, zwingen sie der von ihnen gewählten Form einen Sinn auf, der
ihr fremd ist. Es ließen sich viele Gründe dafür finden, hier aber wollen wir
nur einen herausgreifen, nämlich: die Untauglichkeit der Lyrik – die für so viele Generationen vor uns
getaugt hat – für uns und unsere Absichten. Die Lyrik kommt uns bei weitem nicht
mehr so selbstverständlich entgegen wie früher. Der große Ausdrucksfluß, der so
viel Kraft, so viel Genie getragen hat, scheint sich verengt oder die Richtung
geändert zu haben.
Auch das gilt natürlich nur innerhalb gewisser Grenzen. Unsere
Epoche ist so reich an Gedichten wie kaum ein anderes Zeitalter. Aber für unsere Generation
und die nächste genügt der intensive, persönliche und (in seiner Wirkung)
begrenzte lyrische Aufschrei nicht mehr. Unser Bewußtsein ist angefüllt von
monströsen vieldeutigen, unbezwingbaren Gefühlen. Die Erde ist drei Milliarden
Jahre alt; das menschliche Leben dauert nur eine Sekunde; dennoch ist der Umfang des
menschlichen Geistes
grenzenlos; das Leben ist unendlich schön und dennoch abstoßend; unsere
Mitmenschen sind bewundernswert, aber auch abscheulich; Wissenschaft und Religion im Verein haben den Glauben
zerstört; alle Bindungen scheinen zerrissen, dennoch muß es eine gewisse Ordnung
geben. Heute müssen Schriftsteller in einer Atmosphäre von Zweifel und Konflikt
schaffen, und das zarte Gespinst eines Gedichts ist ebensowenig geeignet, diese
zu fassen wie ein Rosenblatt einen zerklüfteten Felsbrocken umhüllen kann.
Wenn wir uns aber fragen, was denn in der Vergangenheit
dazu gedient hat, eine solche Situation voller Kontrast und Konfrontation in
Worte zu fassen, eine Haltung, für die der Konflikt zwischen zwei Charakteren
geradezu unerläßlich scheint und die zugleich dringend irgendeiner formenden
Kraft bedarf, einer gewissen Vorstellung, die dem Ganzen
Zusammenhang und
Stärke verleiht, so müssen wir zugeben, daß es einmal eine Form dafür gegeben
hat, und daß diese Form nicht das Gedicht war, sondern das Drama, das poetische Drama der
elisabethanischen Epoche. Und gerade diese literarische Form scheint tot zu
sein, jenseits jeder Möglichkeit einer Wiederauferstehung.
Denn wenn wir uns den gegenwärtigen Zustand des poetischen Dramas
ansehen, müssen uns schwere Zweifel kommen, ob irgendeine Macht der Welt diese
Form wiederbeleben könnte. Sie wurde – und wird noch immer – von hochbegabten
und ambitionierten Schriftstellern verwendet. Seit Drydens Tod scheint jeder
große Dichter sich darin ausgetobt zu haben; Wordsworth und Coleridge, Shelley
und Keats, Tennyson, Swinburne und Browning (um nur die toten zu nennen) haben
alle lyrische Dramen geschrieben, aber keiner von ihnen mit Erfolg. Von diesen
Dramen werden allenfalls Swinburnes Atalanta und Shelleys
Prometheus noch gelesen, und auch sie weniger häufig
als andere Werke derselben Autoren. Alle übrigen sind auf die obersten Reihen
unserer Bücherregale entrückt, und dort schlafen sie, den Kopf unter die Flügel
gesteckt. Niemand wird vorsätzlich ihren Schlummer stören wollen.
Dennoch fühlt man sich versucht, eine Erklärung für diesen
Fehlschlag zu finden – sie könnte ein Licht auf die Zukunft werfen, die uns
beschäftigt. Vielleicht liegt der Grund – warum Dichter keine lyrischen Dramen
mehr schreiben – in dieser Richtung.
Es gibt da etwas Vage-Geheimnisvolles, das sich
„Lebenshaltung“ nennt. Wir alle kennen – um uns für einen Augenblick von der
Literatur ab- und dem Leben zuzuwenden – Leute, die unablässig mit dem Leben
hadern, unglückliche Menschen, die niemals bekommen, was sie wollen; verwirrt
und ständig sich beklagend, sehen sie aus ihrem unbehaglichen Blickwinkel alles
schief. Andere wiederum scheinen – obgleich sie ganz zufrieden wirken – jeden
Kontakt mit der Wirklichkeit verloren zu haben. Sie verschwenden all ihre Gefühle auf
kleine Hunde und altes Porzellan. Sie interessieren sich für nichts als für die
Wechselfälle ihrer Gesundheit und das Auf und Ab gesellschaftlicher Moden. Es
gibt jedoch auch solche, die uns dadurch beeindrucken – warum genau ist schwer
zu sagen –, daß sie von Natur aus oder durch die Umstände in einer Lage sind,
die ihnen erlaubt, ihre Fähigkeiten auf das Wichtigste zu konzentrieren. Sie
sind nicht unbedingt glücklich oder erfolgreich, aber voller Schwung und voller
Interesse für das, was sie tun. Sie sind voller Leben, so scheint es. Das mag
zum Teil den Umständen zuzuschreiben sein – sie sind in eine ihnen angemessene
Umgebung hineingeboren –, aber mehr noch einer gewissen glücklichen
Ausgewogenheit ihrer Fähigkeiten: Sie sehen die Dinge weder schief unter einem
verzerrenden Blickwinkel, noch verschwommen wie in einem Nebel, sondern in der
richtigen Proportion. Sie packen kräftig zu, und wenn sie in Gang kommen, dann
fallen Späne.
Auch ein Schriftsteller hat ein bestimmtes Verhältnis zum Leben,
aber es ist eine andere Art Leben. Auch er kann es unter einem prekären
Blickwinkel sehen, kann verwirrt, frustriert sein, unfähig, das zu erreichen,
was er als Schriftsteller erstrebt. Das gilt, zum Beispiel, für die Romane
George Gissings. Er kann sich aber auch in einen Vorort zurückziehen und sein
Interesse an Schoßhündchen und Herzoginnen verschwenden – an Niedlichkei
ten, Sentimentalitäten, Snobismen; und das gilt
für einige unserer höchst erfolgreichen Schriftsteller. Aber es gibt eben auch
andere, die – durch die Natur oder die Umstände – es verstehen, ihre Fähigkeiten
frei an Wichtiges zu wenden. Nicht etwa, daß sie schnell oder leicht schreiben
oder auf Anhieb erfolgreich und berühmt werden. Man ist vielmehr versucht, an
ihnen eine besondere Eigenschaft festzustellen, die sich in allen großen Epochen
der Literatur findet und die besonders deutlich im Werk der elisabethanischen
Dramatiker hervortritt. Sie scheinen ein Verhältnis zum Leben zu haben, das es
ihnen erlaubt, sich frei zu bewegen; sie haben einen Blick, der – obwohl er
gleichzeitig lauter verschiedene Dinge umfaßt – ihnen dennoch erlaubt, sie in
der für ihre Absichten richtigen Perspektive zu sehen.
Zum Teil war das natürlich das Ergebnis bestimmter Umstände. Das
öffentliche Interesse – nicht für Bücher, sondern für das Drama, das geringe
Ausmaß der Städte, die Entfernungen zwischen den Leuten, die Unkenntnis, in der
damals sogar die Gebildeten lebten –, all das legte es der Phantasie der
Elisabethaner nahe, sich mit Löwen und Einhörnern, Herzögen und Herzoginnen, mit
Gewalt und Geheimnis anzufüllen. Verstärkt wurde dies noch durch etwas, das sich
nicht so leicht erklären läßt, das wir aber sicherlich nachfühlen können. Sie
hatten ein Verhältnis zum Leben, das sie befähigte, sich in aller Freiheit und
Fülle zu äußern. Shakespeares Stücke sind nicht das Werk eines verwirrten und
frustrierten Geistes; sie sind die vollkommen geschmeidige Hülle seiner
Gedanken. Ohne zu zögern, wechselt er von philosophischen Äußerungen zu
trunkenem Gebrabbel, von einem Liebeslied zu einem Streit, zu schlichter
Unterhaltung, zu tiefgründigen Spekulationen. Und eins gilt für alle
elisabethanischen Dramatiker: Auch wenn sie uns langweilen mögen – und das tun
sie –, geben sie uns nie das Gefühl,daß sie ängstlich oder unsicher
sind oder daß irgend etwas den vollen Strom ihres Geistes hemmen, stören oder
gar versiegen lassen könnte.
Wenn wir aber die Seiten eines modernen poetischen Dramas
aufschlagen – und das gilt für einen großen Teil der modernen Dichtung
–, ist unser erster Gedanke, daß der Autor sich unbehaglich fühlt. Er ist
ängstlich, gezwungen, befangen. Und mit gutem Grund! könnten wir ausrufen; denn
wer von uns fühlt sich schon behaglich einem Mann in einer Toga gegenüber, der
Xenokrates heißt, oder vor einer Frau in einer Bettdecke, Eudoxa mit Namen? Aber
aus irgendeinem Grunde handelt ein modernes Stück immer von Xenokrates und nicht
von Mr. Robinson; es spielt in Thessalonien und nicht in Charing Cross Road.
Wenn die Elisabethaner ihre Szene in fremde Länder verlegten und ihre Helden und
Heldinnen zu Prinzen und Prinzessinnen machten, verlagerten sie den Schauplatz
nur von einer Seite eines sehr dünnen Schleiers auf die andere. Es war ein ganz
natürliches Mittel, ihren Figuren Tiefe und Distanz zu geben. Aber das Land
blieb England, und der böhmische Prinz war die gleiche Person wie der englische
Edelmann. Unsere modernen Stückeschreiber jedoch scheinen aus einem anderen
Grunde nach dem distanzierenden Schleier der Vergangenheit zu greifen. Sie
wollen keinen Schleier, der hervorhebt, sondern einen Vorhang, der verbirgt; sie
verlegen ihre Szene in die Vergangenheit, weil sie sich vor der Gegenwart
fürchten. Sie sind sich bewußt, daß, wenn sie versuchen würden, die Gedanken,
die Visionen, die Zu- und Abneigungen auszudrücken, die tatsächlich in diesem
Jahr des Heils 1927 in ihrem Gehirn herumtaumeln, dies gegen den poetischen
Anstand verstieße; sie könnten nur stottern und stammeln und müßten sich
vielleicht niedersetzen oder das Zimmer verlassen. Die Elisabethaner hatten eine
Haltung, die ihnen vollkom
mene Freiheit erlaubte;
der moderne Stückeschreiber hat entweder überhaupt keine Haltung oder eine so
angestrengte, daß sie ihm die Glieder verrenkt und die Vorstellung verzerrt. Er
muß daher seine Zuflucht zu Xenokrates nehmen, der nichts sagt oder nur das, was
ein Blankvers anständigerweise auszudrücken vermag.
Aber vielleicht sollten wir uns deutlicher erklären? Was hat sich
verändert, was ist geschehen, was hat den heutigen Autor in einen solchen
Blickwinkel gedrängt, daß es ihm nicht mehr möglich ist, seinen Geist stracks in
die alten Kanäle englischer Dichtung zu ergießen? Vielleicht kann ein
Spaziergang durch die Straßen einer großen Stadt uns einer Antwort näherbringen?
Die langen, von Backstein-Fassaden gesäumten Straßen sind in Gehäuse aufgeteilt,
in denen lauter verschiedene menschliche Wesen wohnen, die Schlösser an ihren
Türen und Sicherungen an ihren Fenstern angebracht haben, um sich ein wenig
Privatleben zu retten; aber dennoch sind sie durch Drähte über ihren Köpfen und
durch Schallwellen miteinander verbunden, die durch das Dach dringen und ihnen
von Schlachten und Morden, von Streiks und Revolutionen in der ganzen Welt
berichten. Und wenn wir hineingehen und mit einem von ihnen reden, werden wir
feststellen, daß er ein argwöhnisches, mißtrauisch sich verborgen haltendes Tier
ist, höchst befangen und entschieden darauf bedacht, sich nicht zu verraten. Und
nichts in unserem modernen Leben zwingt ihn ja dazu. In unserem
Privatleben gibt es keine Gewalt; wir sind höflich, tolerant, liebenswürdig,
wenn wir uns begegnen. Selbst Streit wird eher zwischen Verbänden und
Gemeinschaften ausgetragen als unter Individuen. Das Duell gehört der
Vergangenheit an, eheliche Bindungen sind außerordentlich dehnbar, ohne zu
zerreißen. Der Durchschnittsmensch heute ist ruhiger, geschmeidiger, behender,
selbstbeherrschter als früher. Wiederum wür
den wir
feststellen, wenn wir unseren Freund auf einen Spaziergang mitnähmen, daß er
außerordentlich offen ist für alles – Häßlichkeit, Schmutz, Schönheit,
Vergnügen. Er folgt jedem Gedanken – unbekümmert darum, wohin er ihn führen
könnte. Er diskutiert in aller Öffentlichkeit, was einst nicht einmal im
vertrauten Kreise erwähnt werden durfte. Und diese Freiheit und Neugier sind
vielleicht der Grund für eine allem Anschein nach hervorstechende
Eigentümlichkeit der Gegenwart: die sonderbare Art und Weise, wie Dinge, die
doch offenkundig keinerlei Verbindung miteinander haben, in seinem Bewußtsein
assoziiert werden. Gefühle, die sich jeweils getrennt und für sich äußerten,
äußern sich so nicht mehr. Die Schönheit ist zum Teil häßlich, das Vergnügen zum
Teil Abscheu; Lust zum Teil Schmerz. Emotionen, die einstmals heil und ganz ins
Bewußtsein drangen, werden nun an seiner Schwelle gebrochen.
Zum Beispiel: Es ist eine Frühlingsnacht, der Mond steht hoch am
Himmel, die Nachtigall singt, die Weiden hängen über dem Fluß. Ja, aber
gleichzeitig zupft eine kranke alte Frau auf einer häßlichen Eisenbank an ihren
schmutzigen Fetzen. Sie und der Frühling dringen zugleich in das Bewußtsein, sie
mischen sich, aber verschmelzen nicht. Die beiden widersprüchlichen Emotionen,
die da zusammenkommen, beißen und schlagen einander. Keats aber hatte, als er
die Nachtigall singen hörte, ein einziges, in sich geschlossenes Gefühl, auch
wenn es vom Entzücken an der Schönheit in die Trauer um das Unglück menschlichen
Geschicks übergeht. Bei ihm gibt es keinen Widerspruch. In seinem Gedicht ist
der Schmerz der Schatten der Schönheit. Im modernen Bewußtsein ist die Schönheit
nicht vom Schmerz begleitet, sondern von ihrem Gegenteil, der Häßlichkeit. Für
den modernen Dichter singt die Nachtigall „dschag dschag für schmutzige Ohren“.
Mit der modernen Schönheit geht ein spöt
tischer
Geist einher, der hohnvoll über die Schönheit grinst, eben weil sie schön ist;
der den Spiegel zur Seite dreht und uns zeigt, daß ihre andere Wange von
Pockennarben verunstaltet ist. Es ist, als ob das moderne Bewußtsein, das alle
Empfindungen immer genau feststellen möchte, das Vermögen eingebüßt hätte, etwas
einfach als das hinzunehmen, was es ist. Ganz ohne Zweifel hat dieser skeptisch
prüfende Geist die Seele von grundauf erfrischt und stimuliert. Das moderne
Schreiben zeigt eine Nüchternheit und Aufrichtigkeit, die heilsam, ja höchst
genußreich sind. Die moderne Literatur, die mit Oscar Wilde und Walter Pater
etwas Schwüles und Parfümiertes angenommen hatte, erholte sich sofort von ihrer
Neunzehntes-Jahrhundert-Mattigkeit, als Samuel Butler und Bernhard Shaw sich
ihre Federn verbrannten und sie daran schnuppern ließen. Sie erwachte; sie
setzte sich auf; sie nieste. Natürlich waren die Dichter verschreckt und liefen
davon.
Denn selbstverständlich war die Dichtung immer ganz und gar auf Seiten der Schönheit.
Immer hat sie auf gewisse Vorrechte gepocht wie zum Beispiel Reim, Metrik,
poetische Ausdrucksweise. Niemals war sie für alltägliche Zwecke des Lebens
benutzt worden. Diese ganze Schmutzarbeit hat die Prosa auf sich genommen; sie
hat Briefe beantwortet, Rechnungen bezahlt, Artikel geschrieben, Reden verfaßt,
hat den Bedürfnissen von Geschäftsleuten, Ladenbesitzern, Rechtsanwälten,
Soldaten und Bauern gedient.
Die Dichtung hat sich in der Obhut ihrer Priester alledem enthoben.
Vielleicht hat sie Bußgeld für diese Zurückgezogenheit zahlen müssen, indem sie
ein wenig steif wurde. Ihr Auftritt mit allem Aufwand – den Schleiern,
Girlanden, Erinnerungen, Assoziationen – beeindruckt uns, während sie spricht.
Wenn wir sie dann aber bitten, uns diese Unstimmigkeit zu erklären – diesen
Hohn, die
sen Widerspruch, diese Neugier, die
raschen seltsamen Emotionen, die in kleinen abgelegenen Zimmern ausgebrütet
werden, die umfassenden allgemeinen Ideen, die uns die Zivilisation lehrt –, ist
sie dazu nicht schnell, nicht einfach, nicht umfassend genug. Ihre Betonung ist
zu deutlich vernehmbar; ihr Verhalten zu emphatisch. Als Ersatz bietet sie uns
lyrisch gedämpfte Ausbrüche der Leidenschaft; mit majestätischer Armbewegung
fordert sie uns auf, in die Vergangenheit zu flüchten; aber sie hält nicht
Schritt mit dem Bewußtsein, stürzt sich nicht rasch, behende oder
leidenschaftlich in seine vielen verschiedenen Leiden und Freuden. Byron hat in
Don
Juan den Weg gewiesen; er hat gezeigt, was für ein
geschmeidiges Instrument die Dichtung sein kann, aber niemand ist seinem
Beispiel gefolgt, hat sein Instrumentarium aufgenommen. Bis heute haben wir kein
lyrisches Drama.
Deshalb müssen wir darüber nachdenken, ob Dichtung die Aufgabe
erfüllen kann, die wir ihr heute stellen. Es kann sein, daß die hier in Umrissen skizzierten
und dem modernen Bewußtsein zugeschriebenen Gefühle der Prosa mehr entsprechen als der Poesie. Es ist durchaus
möglich, daß die Prosa einige Aufgaben übernimmt – bereits übernommen hat –, die
einst von der Poesie erfüllt wurden.
Wenn wir also Mut haben, wenn wir riskieren, uns lächerlich zu
machen, und zu erkennen versuchen, in welche Richtung wir, die wir uns so rasch
zu bewegen scheinen, denn eigentlich gehen, werden wir vielleicht erfahren, daß
es auf die Prosa zugeht, und daß diese in zehn bis fünfzehn Jahren für Zwecke
verwendet wird, für die sie noch nie verwendet wurde. Der Roman, dieser Kannibale, der schon so viele
Kunstformen verschlungen hat, wird bis dahin noch mehr verschlungen haben. Wir
werden gezwungen sein, uns neue Namen für die verschiedenen Buchgattungen
auszudenken, die sich da – unter einund demselben Titel – verbergen.
Und es ist möglich, daß sich unter den sogenannten Romanen einer befinden wird,
den wir kaum zu benennen wissen. Er wird in Prosa geschrieben sein, aber in
einer Prosa, die viele Merkmale der Dichtung hat. Sie wird etwas von der Exaltation der
Poesie haben, aber auch
viel von der Gewöhnlichkeit der Prosa. Sie wird dramatisch sein und dennoch kein
Drama. Sie wird gelesen, nicht dargestellt werden. Welchen Namen sie haben wird,
ist kaum von Bedeutung. Wichtig ist,
daß so ein Buch, wie
wir es am Horizont auftauchen sehen, vielleicht dazu dienen kann, Gefühle
auszusprechen, die im Augenblick noch von der reinen und einfachen Dichtung
ausgesperrt sind und auch im Drama keine Unterkunft finden. Versuchen wir
also, uns etwas näher auf dieses Buch einzulassen und uns vorzustellen,
welche Wirkung es ausüben und was für eine Zukunft ihm beschieden sein
könnte.
Als erstes läßt sich
vermuten, daß es sich vom Roman, wie wir ihn heute vor allem kennen, dadurch
unterscheiden wird, daß es sich weiter vom Leben entfernt hält. Es wird, wie
die Lyrik, eher den Umriß anbieten als Einzelheiten. Es wird wenig Gebrauch
machen von dem wunderbaren Vermögen, Tatsachen zu berichten, das ein Merkmal
der Romanliteratur ist. Es wird uns sehr wenig über die Häuser, das
Einkommen, die Tätigkeiten der Figuren mitteilen, es wird wenig
Verwandtschaft haben mit dem Gesellschafts- oder dem Milieuroman. Trotz
dieser Einschränkungen wird es die Gefühle und Vorstellungen der
Romanfiguren genau und lebhaft ausdrücken, aber unter einem anderen
Blickwinkel. Es wird dem Gedicht insofern ähneln, als es nicht nur – oder
nicht einmal vor allem – die Beziehungen der Menschen zueinander und ihr
gemeinsames Tun beschreibt, wie es der Roman bislang getan hat, sondern es
wird die Beziehung des Bewußtseins zu allgemeinen Ideen und sein einsamesSelbstgespräch schildern. Denn unter der Herrschaft des
bisherigen Romans haben wir zwar einen Teil des Bewußtseins genau beobachtet,
einen anderen aber gänzlich außer acht gelassen. Wir haben vergessen, daß ein
ganz erheblicher Teil unseres Lebens aus Empfindungen zu Rosen und Nachtigallen,
zu Morgendämmerung, Sonnenuntergang, Leben, Tod und Schicksal besteht; wir
vergessen, daß wir viel Zeit damit verbringen zu schlafen, zu träumen, zu
denken, zu lesen – und das allein; wir sind nicht ausschließlich mit
persönlichen Beziehungen beschäftigt, nicht all unsere Energie richtet sich auf
unseren Lebensunterhalt. Die Schreiber psychologischer Romane neigen dazu,
Psychologie auf den persönlichen Umgang zu begrenzen; wir möchten manchmal der
unaufhörlichen und erbarmungslosen Analyse von Liebe und Trennung, der
Empfindungen Toms für Judith und Judiths – vielleicht nicht ganz so starken –
Empfindungen für Tom entrinnen. Wir sehnen uns nach einer etwas unpersönlicheren
Art der Beziehung. Wir sehnen uns nach Ideen, Träumen, Vorstellungen – nach
Dichtung.
Und es ist das Großartige der elisabethanischen Dramatiker, daß sie
uns das geben. Der Dichter ist jederzeit imstande, die besondere Beziehung
Hamlets zu Ophelia zu überschreiten und uns mit seiner Frage nach dem eigenen
Schicksal zugleich die nach dem Stand des gesamten menschlichen Seins zu
übermitteln. In Maß für Maß zum Beispiel, mischen sich
Passagen von außerordentlicher psychologischer Feinheit mit tiefen Gedanken und
weit ausgreifenden Phantasien. Aber man sollte nicht verkennen, daß Shakespeare
uns zwar Tiefsinn und diese Art Psychologie vermittelt, aber nicht den
geringsten Versuch macht, uns gewisse andere Einsichten mitzuteilen. Seine
Stücke haben als „angewandte Soziologie“ nicht den geringsten Wert. Wollten wir
uns auf sie verlassen, was die Kenntnis gesellschaftlicher und ökonomischerVerhältnisse im Leben der Elisabethaner angeht, wären wir verloren.
In
dieser Hinsicht wird der in Zukunft geschriebene Roman – der Roman in seiner Vielfalt –
einige Merkmale der Dichtung übernehmen. Er wird Beziehungen herstellen
zwischen Mensch und
Natur und
Schicksal; er wird seine Vorstellungen enthalten, seine Träume. Aber er wird
auch den Hohn, den Widerspruch, die Frage enthalten, die Dichte und
Komplexität des Lebens. Er wird die Gußform abgeben für dieses seltsame
Konglomerat aus Widersprüchen, das moderne Bewußtsein. Deshalb wird er die
kostbaren Vorrechte der demokratischen Prosakunst begierig an sich ziehen: ihre
Freiheit, ihre Unerschrockenheit, ihre Geschmeidigkeit. Denn die Prosa ist so
bescheiden, daß sie überall hingehen kann; kein Ort ist ihr zu armselig, zu
schmutzig, zu gemein. Sie ist von unendlicher Geduld und in aller Bescheidenheit
lernbegierig. Mit ihrer langen klebrigen Zunge kann sie die winzigsten
Bruchstücke des Faktischen auflecken und sie in den allerfeinsten Labyrinthen
verstauen. Sie kann schweigend an Türen lauschen, hinter denen allenfalls ein
leises Gemurmel, ein Flüstern zu hören ist. Wendig in der Handhabung eines
Instruments, das ständig in Gebrauch ist, vermag sie allen Windungen zu folgen
und alle Wandlungen festzustellen, die so typisch sind für das moderne
Bewußtsein. Mit Proust und Dostojewski im Rücken müssen wir dem zustimmen.
Aber kann Prosa, so mögen wir fragen, so angemessen sie in der
Behandlung des Gewöhnlichen und des Vielfältigen erscheinen mag – kann Prosa
auch die in ihrer Einfachheit ungeheuerlichen Dinge ausdrücken? Kann sie die
plötzlich uns überwältigenden Gefühle wiedergeben? Kann sie eine Elegie oder
einen Hymnus auf die Liebe ertönen lassen oder Schreckensschreie ausstoßen, ist
sie imstande, eine Rose, eine Nachtigall oder die Schönheit der Nacht zu
preisen? Vermag sie – wie der Dichter – miteinem Sprung das Herz
der Dinge zu
erreichen – ins Innerste ihres Gegenstands zu dringen? Ich glaube
nicht. Das ist die Strafe dafür, daß sie auf Beschwörung und Geheimnis, auf Reim
und Versmaß verzichtet hat. Es stimmt, daß Prosaschreiber wagemutig sind; sie
zwingen ihr Instrument immer wieder dazu, diesen Versuch zu machen. Aber es
bleibt gegenüber dem purpurnen Flicken oder dem Prosagedicht immer ein gewisses
Unbehagen. Der Einwand gegen den Purpurflicken hingegen ist nicht, daß er aus
Purpur, sondern daß er ein Flicken ist. Man nehme zum Beispiel Meredith‘
„Divertimento für eine Pfennig-Pfeife“ in Richard
Feverel. Wie ungeschickt, wie überbetont ist der Anfang mit seinem
gebrochenen Versmaß: „Golden ruhen die Weiden, golden rinnen die Bäche; Rotgold
ruht auf den Tannenstämmen. Die Sonne läßt sich zur Erde herab und streift über
Felder und Gewässer.“ Oder denken wir an die berühmte Schilderung des Sturms am
Schluß von Charlotte Brontës Villette. Diese Passagen
sind beredt, lyrisch, glanzvoll; sie lesen sich sehr gut, wenn man sie für sich
nimmt, in einer Anthologie zum Beispiel; aber im Kontext mit dem Roman
verursachen sie uns Unbehagen. Denn sowohl Meredith als auch Charlotte Brontë
bezeichneten sich als Romanautoren; sie hielten sich dicht ans Leben; sie lassen
uns also den Rhythmus, die Beobachtungen und die Sehweise der Prosa erwarten.
Man spürt den plötzlichen Ruck und die Anstrengung, wir sind noch nicht ganz aus
der Trance des Einverständnisses und der Illusion erwacht, in der wir uns der
machtvollen Phantasie des Autors unterwerfen.
Aber nehmen wir einmal ein anderes Buch, das – ob gleich es in
Prosa geschrieben ist und als Roman gilt – sich von Anfang an in Struktur und
Rhythmus anders gibt, das sich vom Leben fern hält und uns eine andere Sehweise
erwarten läßt – Tristram Shandy. Es ist ein Buch voller
Poesie, aber sie stört uns nicht; es ist ein tief von Purpurdurchdrungenes Buch – aber der Purpur erscheint nie als Flicken. Hier gibt es
– bei allem Wechsel der Stimmungen – keinen Ruck, keinen Schock, der uns aus den
Tiefen unseres Einverständnisses reißt. Sterne lacht und höhnt im gleichen
Atemzug, reißt eine Zote und geht zu einer Passage wie der folgenden über:
„Die Zeit vergeht zu schnell: Jeder Buchstabe, den ich aufzeichne,
sagt mir, mit welcher Hurtigkeit das Leben meiner Feder folgt; seine Tage und
Stunden, wertvoller, meine liebe Jenny! als die Rubine um deinen Hals, fliegen
über unsere Köpfe hinweg wie leichte Wölkchen eines windigen Tages, um nie
wiederzukehren – alles drängt weiter – während du eine Locke drehst – sieh! sie
wird grau; und jeder Kuß, den ich dir zum Abschied auf die Hand drücke, und jede
Abwesenheit, die darauf folgt, sind Vorspiele der ewigen Trennung, die uns in
kurzem bevorsteht. –
– Der Himmel habe Erbarmen mit uns beiden!“
Und weiter geht‘s mit Onkel Toby, dem Korporal, mit Mrs. Shandy und
all den übrigen.
Hier wird, wie man sieht, Poesie leicht und natürlich zu Prosa,
Prosa zu Poesie. Sterne hält sich ein wenig abseits und geht leichthändig mit
Vorstellungen, Verstand und Phantasie um. Und indem er hoch oben in die Zweige
greift, wo solche Dinge gedeihen, verwirkt er natürlich – und zweifellos aus
freien Stücken – sein Recht auf die nahrhafteren Gemüse, die am Boden wachsen.
Denn unseligerweise scheint ein Verzicht unausweichlich. Man kann die schmale
Brücke der Kunst nicht überqueren, wenn man mit ihrem gesamten Instrumentarium
beladen ist. Einiges muß man zurücklassen, sonst läßt man Teile mitten über dem
Fluß fallen, oder, was schlimmer ist, man verliert die Balance und stürzt selbst
hinein und ertrinkt.
Der noch unbenannte neue Roman wird also aus einem gewissen Abstand zum Leben
geschrieben werden, weilsich auf diese Weise ein umfassenderer
Blick auf einige wichtige Erscheinungen gewinnen läßt. Und er wird
in Prosa geschrieben werden. Denn einer Prosa, die von der Eselsfron befreit ist
– die so viele Roman-Autoren ihr aufzwingen –, ganze Ladungen von Einzelheiten
und haufenweise Tatsachen zu transportieren, wird es gelingen, sich – nicht mit
einem Satz, sondern in Schwüngen und Windungen – hoch über den Boden zu erheben
und zugleich in Berührung mit den unendlichen Vergnügungen und Vorlieben des
täglichen Lebens zu bleiben.
Es bleibt allerdings noch eine weitere Frage: Kann Prosa dramatisch
sein? Ganz offenkundig haben Shaw und Ibsen mit größtem Erfolg dramatische Prosa
verwendet, aber sie sind auch der Form des Dramas treu geblieben. Es läßt sich
voraussagen, daß dies nicht die Form ist, die den Bedürfnissen des lyrischen
Dramatikers der Zukunft entsprechen wird.
Ein Stück in Prosa ist zu trocken, zu eingeschränkt, zu emphatisch
für seine Zwecke. Es läßt die Hälfte dessen, was er sagen möchte, durch die
Maschen schlüpfen. Er kann in den Dialog nicht alles an Kommentar, an Analyse,
an Fülle hineinpressen, was er mitzuteilen wünscht. Dennoch gelüstet es ihn nach
dem explosiven Gefühlseffekt des Dramas; er will das Blut seiner Leser sehen und
nicht nur die Empfänglichkeit ihres Intellekts streicheln und kitzeln. Es gehört
zu der lockeren Fügung und Freiheit des Tristram Shandy,
die auf wunderbare Weise Figuren wie Onkel Toby und Korporal Trim umgeben und in
Gang setzen, daß nicht der Versuch gemacht wird, diese Leute in dramatischem
Gegensatz zueinander aufmarschieren zu lassen. Der Schreiber jenes
anspruchsvollen Buchs der Zukunft muß daher die verallgemeinernde und
vereinfachende Kraft einer strengen, logischen Imagination auf seine
aufgerührten und widersprüchlichen Gefühle einwirken lassen. Aufruhr ist
abstoßend; Verwirrung has
senswert; in einem
Kunstwerk sollte alles gemeistert und geordnet sein. Sein Bemühen wird es sein,
zugleich zusammenzufassen und aufzubrechen: Anstatt Einzelheiten aufzuzählen,
wird der Autor Blöcke formen. Seine Charaktere werden auf diese Weise eine
dramatische Kraft erhalten, die in den genau gezeichneten Figuren des
Gegenwartsromans häufig dem psychologischen Interesse zum Opfer fällt.
Und obgleich das alles noch kaum sichtbar am äußersten Rand des
Horizonts erscheint, kann man sich vorstellen, daß dieser künftige Autor den
Umfang seines Interesses so weit ausdehnen wird, daß er einige der Einflüsse,
die eine so große Rolle im Leben spielen, aber dem Romanautor bislang entgangen
sind, „dramatisiert“: die Macht der Musik, den Reiz des Sichtbaren, die Wirkung
der Silhouette eines Baums oder des Farbenspiels, die Gefühle, die Massen in uns
erregen, den dunklen Schrecken oder den Haß, der uns an bestimmten Orten oder in
Gegenwart bestimmter Menschen so irrational befällt, das Vergnügen an der
Bewegung, den Wein und den Rausch. Jeder Augenblick ist der Treffpunkt einer
außerordentlichen Zahl von Wahrnehmungen, die bisher noch nicht zur Sprache
gebracht worden sind. Das Leben jedenfalls ist immer viel reicher als wir, die
wir versuchen, ihm Ausdruck zu geben.
Aber es bedarf keiner besonders prophetischen Gabe, um zu wissen,
daß, wer auch immer den oben beschriebenen Versuch unternimmt, all seinen Mut
braucht. Die Prosa wird keinen neuen Schritt für den erstbesten tun. Aber wenn
man den Zeichen der Zeit überhaupt trauen darf, so ist ein Bedürfnis nach neuen
Entwicklungen zu spüren. Ganz sicher gibt es weit über England, Frankreich und
Amerika verstreut Autoren, die versuchen, sich aus einer Abhängigkeit zu
befreien, die ihnen lästig geworden ist. Autoren, die ihr Verhalten korrigieren
möchten, da
mit sie auf leichte und
selbstverständliche Weise ihren Platz dort wieder finden, wo sie ihre Kraft ganz
und gar den wichtigeren Dingen widmen können. Und wenn ein Buch dann als
Ergebnis einer solchen Haltung auffällt, und weniger durch Schönheit oder
glänzende Intelligenz, wissen wir, daß es den Samen für ein langes Leben in sich
trägt.