<quote>Beschluss der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter</quote> <date>1796</date> Schiller, Friedrich o:reko.schi.1796 Friedrich Schiller: "Beschluss der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter nebst einigen Bemerkungen einen charakteristischen Unterschied unter den Menschen betreffend", in: Theoretische Schriften, hrsg. von Rolf-Peter Janz, unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2008, S. 776-791, 797-810. ISBN: 978-3-618-68032-1. Diese Ausgabe entspricht Band 8, hrsg. von Rolf-Peter Janz der Edition Friedrich Schiller, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992. "Beschluß der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter nebst einigen Bemerkungen einen charakteristischen Unterschied unter den Menschen betreffend", in: Die Horen 5, 1 (1796), S. 75-123. Genre Abhandlung Media Literatur

[…]Über das Verhältnis beider Dichtungsarten zu einander und zu dem poetischen Ideale ist in den vorhergehenden Untersuchungen folgendes festgesetzt worden.

Dem naiven Dichter hat die Natur die Gunst erzeigt, immer als eine ungeteilte Einheit zu wirken, in jedem Moment ein selbstständiges und vollendetes Ganze zu sein und die Menschheit, ihrem vollen Gehalt nach, in der Wirklichkeit darzustellen. Dem sentimentalischen hat sie die Macht verliehen oder vielmehr einen lebendigen Trieb eingeprägt, jene Einheit, die durch Abstraktion in ihm aufgehoben worden, aus sich selbst wieder herzustellen, die Menschheit in sich vollständig zu machen, und aus einem beschränkten Zustand zu einem unendlichen überzuge hen. Für den wissenschaftlich prüfenden Leser bemerke ich, daß beide Empfindungsweisen, in ihrem höchsten Begriff gedacht, sich wie die erste und dritte Kategorie zu einander verhalten, indem die letztere immer dadurch entsteht, daß man die erstere mit ihrem geraden Gegenteil verbindet. Das Gegenteil der naiven Empfindung ist nehmlich der reflektierende Verstand, und die sentimentalische Stimmung ist das Resultat des Bestrebens, auch unter den Bedingungen der Reflexion die naive Empfindung, dem Inhalt nach, wieder herzustellen. Dies würde durch das erfüllte Ideal geschehen, in welchem die Kunst der Natur wieder begegnet. Geht man jene drei Begriffe nach den Kategorien durch, so wird man die Natur und die ihr entsprechende naive Stimmung immer in der ersten, die Kunst als Aufhebung der Natur durch den frei wirkenden Verstand immer in der zweiten, endlich das Ideal in welchem die vollendete Kunst zur Natur zurückkehrt, in der dritten Kategorie antreffen. Der menschlichen Natur ihren völligen Ausdruck zu geben ist aber die gemeinschaftliche Aufgabe beider, und ohne das würden sie gar nicht Dichter heißen können; aber der naive Dichter hat vor dem sentimentalischen immer die sinnliche Realität voraus, indem er dasjenige als eine wirkliche Tatsache ausführt, was der andere nur zu erreichen strebt. Und das ist es auch, was jeder bei sich erfährt, wenn er sich beim Genusse naiver Dichtungen beobachtet. Er fühlt alle Kräfte seiner Menschheit in einem solchen Augenblick tätig, er bedarf nichts, er ist ein Ganzes in sich selbst; ohne etwas in seinem Gefühl zu unterscheiden, freut er sich zugleich seiner geistigen Tätigkeit und seines sinnlichen Lebens. Eine ganz andre Stimmung ist es, in die ihn der sentimentalische Dichter versetzt. Hier fühlt er bloß einen lebendigen Trieb, die Harmonie in sich zu erzeugen, welche er dort wirklich empfand, ein Ganzes aus sich zu machen, die Menschheit in sich zu einem vollendeten Ausdruck zu bringen. Daher ist hier das Gemüt in Bewegung, es ist angespannt, es schwankt zwischen streitenden Gefühlen; da es dort ruhig, aufgelöst, einig mit sich selbst und vollkommen befriedigt ist.

Aber wenn es der naive Dichter dem sentimentalischen auf der einen Seite an Realität abgewinnt, und dasjenige zur wirklichen Existenz bringt, wornach dieser nur einen lebendigen Trieb erwecken kann, so hat letzterer wieder den großen Vorteil über den erstern, daß er dem Trieb einen größeren Gegenstand zu geben im Stand ist, als jener geleistet hat und leisten konnte. Alle Wirklichkeit, wissen wir, bleibt hinter dem Ideale zurück; alles existierende hat seine Schranken, aber der Gedanke ist grenzenlos. Durch diese Einschränkung, der alles sinnliche unterworfen ist, leidet also auch der naive Dichter, da hingegen die unbedingte Freiheit des Ideenvermögens dem sentimentalischen zu statten kommt. Jener erfüllt zwar also seine Aufgabe, aber die Aufgabe selbst ist etwas begrenztes; dieser erfüllt zwar die seinige nicht ganz, aber die Aufgabe ist ein unendliches. Auch hierüber kann einen jeden seine eigne Erfahrung belehren. Von dem naiven Dichter wendet man sich mit Leichtigkeit und Lust zu der lebendigen Gegenwart; der sentimentalische wird immer, auf einige Augenblicke, für das wirkliche Leben verstimmen. Das macht, unser Gemüt ist hier durch das Unendliche der Idee gleichsam über seinen natürlichen Durchmesser ausgedehnt worden, daß nichts vorhandenes es mehr ausfüllen kann. Wir versinken lieber betrachtend in uns selbst, wo wir für den aufgeregten Trieb in der Ideenwelt Nahrung finden; anstatt daß wir dort aus uns heraus nach sinnlichen Gegenständen streben. Die sentimentalische Dichtung ist die Geburt der Abgezogenheit und Stille, und dazu ladet sie auch ein: Die naive ist das Kind des Lebens, und in das Leben führt sie auch zurück.

Ich habe die naive Dichtung eine Gunst der Natur genannt, um zu erinnern, daß die Reflexion keinen Anteil daran habe. Ein glücklicher Wurf ist sie; keiner Verbesserung bedürftig, wenn er gelingt, aber auch keiner fähig, wenn er verfehlt wird. In der Empfindung ist das ganze Werk des naiven Genies absolviert; hier liegt seine Stärke und seine Grenze. Hat es also nicht gleich dichterisch d. h. nicht gleich vollkommen menschlich empfunden, so kanndieser Mangel durch keine Kunst mehr nachgeholt werden. Die Kritik kann ihm nur zu einer Einsicht des Fehlers verhelfen, aber sie kann keine Schönheit an dessen Stelle setzen. Durch seine Natur muß das naive Genie alles tun, durch seine Freiheit vermag es wenig; und es wird seinen Begriff erfüllen, sobald nur die Natur in ihm nach einer innern Notwendigkeit wirkt. Nun ist zwar alles notwendig, was durch Natur geschieht, und das ist auch jedes noch so verunglückte Produkt des naiven Genies, von welchem nichts mehr entfernt ist als Willkürlichkeit; aber ein andres ist die Nötigung des Augenblicks, ein andres die innre Notwendigkeit des Ganzen. Als ein Ganzes betrachtet ist die Natur selbstständig und unendlich; in jeder einzelnen Wirkung hingegen ist sie bedürftig und beschränkt. Dieses gilt daher auch von der Natur des Dichters. Auch der glücklichste Moment, in welchem sich derselbe befinden mag, ist von einem vorhergehenden abhängig; es kann ihm daher auch nur eine bedingte Notwendigkeit beigelegt werden. Nun ergeht aber die Aufgabe an den Dichter, einen einzelnen Zustand dem menschlichen Ganzen gleich zu machen, folglich ihn absolut und notwendig auf sich selbst zu gründen. Aus dem Moment der Begeisterung muß also jede Spur eines zeitlichen Bedürfnisses entfernt bleiben, und der Gegenstand selbst, so beschränkt er auch sei, darf den Dichter nicht beschränken. Man begreift wohl, daß dieses nur in soferne möglich ist, als der Dichter schon eine absolute Freiheit und Fülle des Vermögens zu dem Gegenstande mitbringt, und als er geübt ist, alles mit seiner ganzen Menschheit zu umfassen. Diese Übung kann er aber nur durch die Welt erhalten, in der er lebt, und von der er unmittelbar berührt wird. Das naive Genie steht also in einer Abhängigkeit von der Erfahrung, welche das sentimentalische nicht kennet. Dieses wissen wir, fängt seine Operation erst da an, wo jenes die seinige beschließt; seine Stärke besteht darin, einen mangelhaften Gegenstand aus sich selbst heraus zu ergänzen, und sich durch eigene Macht aus einem begrenzten Zustand in einen Zustand der Freiheit zuversetzen. Das naive Dichtergenie bedarf also eines Beistandes von außen, da das sentimentalische sich aus sich selbst nährt und reinigt; es muß eine formreiche Natur, eine dichterische Welt, eine naive Menschheit um sich her erblicken, da es schon in der Sinnenempfindung sein Werk zu vollenden hat. Fehlt ihm nun dieser Beistand von außen, sieht es sich von einem geistlosen Stoff umgeben, so kann nur zweierlei geschehen. Es tritt entweder, wenn die Gattung bei ihm überwiegend ist, aus seiner Art, und wird sentimentalisch, um nur dichterisch zu sein, oder, wenn der Artcharakter die Obermacht behält, es tritt aus seiner Gattung, und wird gemeine Natur, um nur Natur zu bleiben. Das erste dürfte der Fall mit den vornehmsten sentimentalischen Dichtern in der alten römischen Welt und in neueren Zeiten sein. In einem andern Weltalter geboren, unter einem andern Himmel verpflanzt, würden sie, die uns jetzt durch Ideen rühren, durch individuelle Wahrheit und naive Schönheit bezaubert haben. Vor dem zweiten möchte sich schwerlich ein Dichter vollkommen schützen können, der in einer gemeinen Welt die Natur nicht verlassen kann.

Die wirkliche Natur nehmlich; aber von dieser kann die wahre Natur, die das Subjekt naiver Dichtungen ist, nicht sorgfältig genug unterschieden werden. Wirkliche Natur existiert überall, aber wahre Natur ist desto seltener, denn dazu gehört eine innere Notwendigkeit des Daseins. Wirkliche Natur ist jeder, noch so gemeine Ausbruch der Leidenschaft, er mag auch wahre Natur sein, aber eine wahre menschliche ist er nicht; denn diese erfodert einen Anteil des selbstständigen Vermögens an jeder Äußerung, dessen Ausdruck jedesmal Würde ist. Wirkliche menschliche Natur ist jede moralische Niederträchtigkeit, aber wahre menschliche Natur ist sie hoffentlich nicht; denn diese kann nie anders als edel sein. Es ist nicht zu übersehen, zu welchen Abgeschmacktheiten diese Verwechslung wirklicher Natur mit wahrer menschlicher Natur in der Kritik wie in der Ausübung verleitet hat: welche Trivialitäten man in der Poesie gestattet, ja lobpreist, weil sie leider! wirklicheNatur sind: wie man sich freuet, Karikaturen, die einen schon aus der wirklichen Welt herausängstigen, in der dichterischen sorgfältig aufbewahrt, und nach dem Leben konterfeit zu sehen. Freilich darf der Dichter auch die schlechte Natur nachahmen und bei dem satyrischen bringt dieses ja der Begriff schon mit sich: aber in diesem Fall muß seine eigne schöne Natur den Gegenstand übertragen, und der gemeine Stoff den Nachahmer nicht mit sich zu Boden ziehen. Ist nur Er selbst, in dem Moment wenigstens wo er schildert, wahre menschliche Natur, so hat es nichts zu sagen, was er uns schildert: aber auch schlechterdings nur von einem solchen können wir ein treues Gemälde der Wirklichkeit vertragen. Wehe uns Lesern; wenn die Fratze sich in der Fratze spiegelt; wenn die Geißel der Satyre in die Hände desjenigen fällt, dem die Natur eine viel ernstlichere Peitsche zu führen bestimmte; wenn Menschen, die, entblößt von allem, was man poetischen Geist nennt, nur das Affentalent gemeiner Nachahmung besitzen, es auf Kosten unsers Geschmacks greulich und schrecklich üben!

Aber selbst dem wahrhaft naiven Dichter, sagte ich, kann die gemeine Natur gefährlich werden; denn endlich ist jene schöne Zusammenstimmung zwischen Empfinden und Denken, welche den Charakter desselben ausmacht, doch nur eine Idee, die in der Wirklichkeit nie ganz erreicht wird, und auch bei den glücklichen Genies aus dieser Klasse wird die Empfänglichkeit die Selbsttätigkeit immer um etwas überwiegen. Die Empfänglichkeit aber ist immer mehr oder weniger von dem äußern Eindruck abhängig, und nur eine anhaltende Regsamkeit des produktiven Vermögens, welche von der menschlichen Natur nicht zu erwarten ist, würde verhindern können, daß der Stoff nicht zuweilen eine blinde Gewalt über die Empfänglichkeit ausübte. So oft aber dies der Fall ist wird aus einem dichterischen Gefühl ein gemeines.Wie sehr der naive Dichter von seinem Objekt abhänge, und wie viel, ja wie alles auf sein Empfinden ankomme, darüber kann uns die alte Dichtkunst die besten Belege geben. So weit die Natur in ihnen und außer ihnen schön ist, sind es auch die Dichtungen der Alten; wird hingegen die Natur gemein, so ist auch der Geist aus ihren Dichtungen gewichen. Jeder Leser von feinem Gefühl muß z. B. bei ihren Schilderungen der weiblichen Natur, des Verhältnisses zwischen beiden Geschlechtern und der Liebe insbesondere eine gewisse Leerheit und einen Überdruß empfinden, den alle Wahrheit und Naivetät in der Darstellung nicht verbannen kann. Ohne der Schwärmerei das Wort zu reden, welche freilich die Natur nicht veredelt sondern verläßt, wird man hoffentlich annehmen dürfen, daß die Natur in Rücksicht auf jenes Verhältnis der Geschlechter und den Affekt der Liebe eines edleren Charakters fähig ist, als ihr die Alten gegeben haben; auch kennt man die zufälligen Umstände, welche der Veredlung jener Empfindungen bei ihnen im Wege standen. Daß es Beschränktheit, nicht innere Notwendigkeit war, was die Alten hierin auf einer niedrigern Stufe fest hielt, lehrt das Beispiel neuerer Poeten, welche soviel weiter gegangen sind, als ihre Vorgänger, ohne doch die Natur zu übertreten. Die Rede ist hier nicht von dem, was sentimentalische Dichter aus diesem Gegenstande zu machen gewußt haben, denn diese gehen über die Natur hinaus in das idealische und ihr Beispiel kann also gegen die Alten nichts beweisen; bloß davon ist die Rede, wie der nehmliche Gegenstand von wahrhaft naiven Dichtern, wie er z. B. in der Sakontala, in den Minnesängern, in manchen Ritterromanen und Ritterepopeen, wie er von Shakespeare, von Fielding und mehrern andern, selbst deutschen Poeten behandelt ist. Hier wäre nun für die Alten der Fall gewesen, einen von außen zu rohen Stoff von innen heraus, durch das Subjekt, zu vergeistigen, den poetischen Gehalt, der der äußern Empfindung gemangelt hatte, durch Reflexion nachzuholen, die Natur durch die Idee zu ergänzen, mit einem Wort, durch eine sentimentalische Operation aus einem beschränkten Objekt ein unendliches zu machen. Aber es waren naive, nicht sentimentalische Dichtergenies; ihr Werk war also mit der äußern Empfindung geendigt.

Kein Genie aus der naiven Klasse, von Homer bis auf Bodmer herab, hat diese Klippe ganz vermieden; aber freilich ist sie denen am gefährlichsten, die sich einer gemeinen Natur von außen zu erwehren haben, oder die durch Mangel an Disziplin von innen verwildert sind. Jenes ist Schuld, daßselbst gebildete Schriftsteller nicht immer von Plattheiten frei bleiben, und dieses verhinderte schon manches herrliche Talent, sich des Platzes zu bemächtigen, zu dem die Natur es berufen hatte. Der Komödiendichter, dessen Genie sich am meisten von dem wirklichen Leben nährt, ist eben daher auch am meisten der Plattheit ausgesetzt, wie auch das Beispiel des Aristophanes und Plautus, und fast aller der spätern Dichter lehret, die in die Fußstapfen derselben getreten sind. Wie tief läßt uns nicht der erhabene Shakespeare zuweilen sinken, mit welchen Trivialitäten quälen uns nicht Lope de Vega, Moliere [sic], Regnard, Goldoni, in welchen Schlamm zieht uns nicht Holberg hinab. Schlegel, einer der geistreichsten Dichter unsers Vaterlands, an dessen Genie es nicht lag, daß er nicht unter den ersten in dieser Gattung glänzt, Gellert, ein wahrhaft naiver Dichter, so wie auch Rabener, Lessing selbst, wenn ich ihn anders hier nennen darf, Lessing der gebildete Zögling der Kritik, und ein so wachsamer Richter seiner selbst – wie büßen sie nicht alle, mehr oder weniger, den geistlosen Charakter der Natur, die sie zum Stoff ihrer Satyre erwählten. Von den neuesten Schriftstellern in dieser Gattung nenne ich keinen, da ich keinen ausnehmen kann.

Und nicht genug, daß der naive Dichtergeist in Gefahr ist, sich einer gemeinen Wirklichkeit allzusehr zu nähern – durch die Leichtigkeit, mit der er sich äußert, und durch eben diese größere Annäherung an das wirkliche Leben macht er noch dem gemeinen Nachahmer Mut, sich im poetischen Felde zu versuchen. Die sentimentalische Poesie, wiewohl von einer andern Seite gefährlich genug, wie ich hernach zeigen werde, hält wenigstens dieses Volk in Entfernung, weil es nicht jedermanns Sache ist, sich zu Ideen zu erheben; die naive Poesie aber bringt es auf den Glauben, als wenn schon die bloße Empfindung, der bloßeHumor, die bloße Nachahmung wirklicher Natur den Dichter ausmache. Nichts aber ist widerwärtiger, als wenn der platte Charakter sich einfallen läßt, liebenswürdig und naiv sein zu wollen; er, der sich in alle Hüllen der Kunst stecken sollte, um seine eckelhafte Natur zu verbergen. Daher denn auch die unsäglichen Platitüden, welche sich die Deutschen unter dem Titel von naiven und scherzhaften Liedern vorsingen lassen, und an denen sie sich bei einer wohlbesetzten Tafel ganz unendlich zu belustigen pflegen. Unter dem Freibrief der Laune, der Empfindung duldet man diese Armseligkeiten – aber einer Laune, einer Empfindung, die man nicht sorgfältig genug verbannen kann. Die Musen an der Pleisse bilden hier besonders einen eigenen kläglichen Chor, und ihnen wird von den Camönen an der Leine und Elbe in nicht bessern Akkorden geantwortet.Diese guten Freunde haben es sehr übel aufgenommen, was ein Rezensent in der A. L. Z. vor etlichen Jahren an den Bürger‘schen Gedichten getadelt hat; und der Ingrimm, womit sie wider diesen Stachel lecken, scheint zu erkennen zu geben, daß sie mit der Sache jenes Dichters ihre eigene zu verfechten glauben. Aber darin irren sie sich sehr. Jene Rüge konnte bloß einem wahren Dichtergenie gelten, das von der Natur reichlich ausgestattet war, aber versäumt hatte, durch eigne Kultur jenes seltene Geschenk auszubilden. Ein solches Individuum durfte und mußte man unter den höchsten Maßstab der Kunst stellen, weil es Kraft in sich hatte, demselben sobald es ernstlich wollte genug zu tun; aber es wäre lächerlich und grausam zugleich, auf ähnliche Art mit Leuten zu verfahren, an welche die Natur nicht gedacht hat, und die mit jedem Produkt, das sie zu Markte bringen, ein vollgültiges Testimonium paupertatis aufweisen. So insipid diese Scherze sind, so kläglich läßt sich der Affekt auf unsern tragischen Bühnen hören, welcher, anstatt die wahre Natur nachzuahmen, nur den geistlosen und unedeln Ausdruck der wirklichen erreicht; so daß es uns nach einem solchen Tränenmahle gerade zu Mut ist, als wenn wir einen Besuch in Spitälern abgelegt oder Salzmanns menschliches Elend gelesen hätten. Noch viel schlimmer steht es um die satyrische Dichtkunst, und um den komischen Roman insbesondre, die schon ihrer Natur nach dem gemeinen Leben so nahe liegen, und daher billig, wie jeder Grenzposten, gerade in den besten Händen sein sollten. Derjenige hat wahrlich den wenigsten Beruf der Maler seiner Zeit zu werden, der das Geschöpf und die Karikatur derselben ist; aber da es etwas so leichtes ist, irgend einen lustigen Charakter, war es auch nur einen dicken Mann unter seiner Bekanntschaft aufzujagen, und die Fratze mit einer groben Feder auf dem Papier abzureißen, so fühlen zuweilen auch die geschworenen Feinde alles poetischen Geistes den Kitzel, in diesem Fache zu stümpern, und einen Zirkel von würdigen Freunden mit der schönen Geburt zu ergötzen. Ein rein gestimmtes Gefühl freilich wird nie in Gefahr sein, diese Erzeugnisse einer gemeinen Natur mit den geistreichen Früchten des naiven Genies zu verwechseln; aber an dieser reinen Stimmung des Gefühls fehlt es eben, und in den meisten Fällen will man bloß ein Bedürfnis befriedigt haben, ohne daß der Geist eine Foderung machte. Der so falsch verstandene, wiewohl an sich wahre Begriff, daß man sich bei Werken des schönen Geistes erhole, trägt das seinige redlich zu dieser Nachsicht bei; wenn man es anders Nachsicht nennen kann, wo nichts höheres geahnet wird, und der Leser wie der Schriftsteller auf gleiche Art ihre Rechnung finden. Die gemeine Natur nehmlich, wenn sie angespannt worden, kann sich nur in der Leerheit erholen, und selbst ein hoher Grad von Verstand, wenn er nicht von einer gleichmäßigen Kultur der Empfindungen unterstützt ist, ruht von seinem Geschäfte nur in einem geistlosen Sinnengenuß aus.

Wenn sich das dichtende Genie über alle zufälligen Schranken, welche von jedem bestimmten Zustande unzertrennlich sind, mit freier Selbsttätigkeit muß erheben können, um die menschliche Natur in ihrem absoluten Vermögen zu erreichen, so darf es sich doch auf der andern Seite nicht über die notwendigen Schranken hinwegsetzen,welche der Begriff einer menschlichen Natur mit sich bringt; denn das Absolute aber nur innerhalb der Menschheit ist seine Aufgabe und seine Sphäre. Wir haben gesehen, daß das naive Genie zwar nicht in Gefahr ist, diese Sphäre zu überschreiten, wohl aber sie nicht ganz zu erfüllen, wenn es einer äußern Notwendigkeit oder dem zufälligen Bedürfnis des Augenblicks zu sehr auf Unkosten der innern Notwendigkeit Raum gibt. Das sentimentalische Genie hingegen ist der Gefahr ausgesetzt, über dem Bestreben, alle Schranken von ihr zu entfernen, die menschliche Natur ganz und gar aufzuheben, und sich nicht bloß, was es darf und soll, über jede bestimmte und begrenzte Wirklichkeit hinweg zu der absoluten Möglichkeit zu erheben oder zu idealisieren, sondern über die Möglichkeit selbst noch hinauszugehen oder zu schwärmen. Dieser Fehler der Überspannung ist eben so in der spezifischen Eigentümlichkeit seines Verfahrens wie der entgegengesetzte der Schlaffheit, in der eigentümlichen Handlungsweise des naiven gegründet. Das naive Genie nehmlich läßt die Natur in sich unumschränkt walten, und da die Natur, in ihren einzelnen zeitlichen Äußerungen immer abhängig und bedürftig ist, so wird das naive Gefühl nicht immer exaltiert genug bleiben, um den zufälligen Bestimmungen des Augenblicks widerstehen zu können. Das sentimentalische Genie hingegen verläßt die Wirklichkeit, um zu Ideen aufzusteigen und mit freier Selbsttätigkeit seinen Stoff zu beherrschen; da aber die Vernunft ihrem Gesetze nach immer zum Unbedingten strebt, so wird das sentimentalische Genie nicht immer nüchtern genug bleiben, um sich ununterbrochen und gleichförmig innerhalb der Bedingungen zu halten, welche der Begriff einer menschlichen Natur mit sich führt, und an welche die Vernunft auch in ihrem freiesten Wirken hier immer gebunden bleiben muß. Dieses könnte nur durch einen verhältnismäßigen Grad von Empfänglichkeit geschehen, welche aber in dem sentimentalischen Dichtergeiste von der Selbsttätigkeit eben so sehr überwogen wird, als sie in dem Naiven die Selbsttätigkeit überwiegt. Wennman daher an den Schöpfungen des naiven Genies zuweilen den Geist vermißt, so wird man bei den Geburten des sentimentalischen oft vergebens nach dem Gegenstande fragen. Beide werden also, wiewohl auf ganz entgegengesetzte Weise in den Fehler der Leerheit verfallen; denn ein Gegenstand ohne Geist und ein Geistesspiel ohne Gegenstand sind beide ein Nichts in dem ästhetischen Urteil.

Alle Dichter, welche ihren Stoff zu einseitig aus der Gedankenwelt schöpfen, und mehr durch eine innre Ideenfülle als durch den Drang der Empfindung zum poetischen Bilden getrieben werden, sind mehr oder weniger in Gefahr, auf diesen Abweg zu geraten. Die Vernunft zieht bei ihren Schöpfungen die Grenzen der Sinnenwelt viel zu wenig zu Rat und der Gedanke wird immer weiter getrieben, als die Erfahrung ihm folgen kann. Wird er aber so weit getrieben, daß ihm nicht nur keine bestimmte Erfahrung mehr entsprechen kann, (denn bis dahin darf und muß das Idealschöne gehen) sondern daß er den Bedingungen aller möglichen Erfahrung überhaupt widerstreitet, und daß folglich um ihn wirklich zu machen, die menschliche Natur ganz und gar verlassen werden müßte, dann ist es nicht mehr ein poetischer, sondern ein überspannter Gedanke: vorausgesetzt nehmlich, daß er sich als darstellbar und dichterisch angekündiget habe; denn hat er dieses nicht, so ist es schon genug, wenn er sich nur nicht selbst widerspricht. Widerspricht er sich selbst, so ist er nicht mehr Überspannung, sondern Unsinn; denn was überhaupt nicht ist, das kann auch sein Maß nicht überschreiten. Kündigt er sich aber gar nicht als ein Objekt für die Einbildungskraft an, so ist er eben so wenig Überspannung; denn das bloße Denken ist grenzenlos und was keine Grenze hat, kann auch keine überschreiten. Überspannt kann also nur dasjenige genannt werden, was zwar nicht die logische aber die sinnliche Wahrheit verletzt, und auf diese doch Anspruch macht. Wenn daher ein Dichter den unglücklichen Einfall hat, Naturen, die schlechthin übermenschlich sind, und auch nicht andersvorgestellt werden dürfen, zum Stoff seiner Schilderung zu erwählen, so kann er sich vor dem Überspannten nur dadurch sicher stellen, daß er das Poetische aufgibt und es gar nicht einmal unternimmt, seinen Gegenstand durch die Einbildungskraft ausführen zu lassen. Denn täte er dieses, so würde entweder diese ihre Grenzen auf den Gegenstand übertragen, und aus einem absoluten Objekt ein beschränktes menschliches machen (was z. B. alle griechischen Gottheiten sind und auch sein sollen); oder der Gegenstand würde der Einbildungskraft ihre Grenzen nehmen, d. h. er würde sie aufheben, worin eben das Überspannte besteht.

Man muß die überspannte Empfindung von dem Überspannten in der Darstellung unterscheiden; nur von der ersten ist hier die Rede. Das Objekt der Empfindung kann unnatürlich sein, aber sie selbst ist Natur, und muß daher auch die Sprache derselben führen. Wenn also das Überspannte in der Empfindung aus Wärme des Herzens und einer wahrhaft dichterischen Anlage fließen kann, so zeugt das Überspannte in der Darstellung jederzeit von einem kalten Herzen und sehr oft von einem poetischen Unvermögen. Es ist also kein Fehler, vor welchem das sentimentalische Dichtergenie gewarnt werden müßte, sondern der bloß dem unberufenen Nachahmer desselben drohet, daher er auch die Begleitung des Platten, Geistlosen, ja des Niedrigen keineswegs verschmäht. Die überspannte Empfindung ist gar nicht ohne Wahrheit, und als wirkliche Empfindung muß sie auch notwendig einen realen Gegenstand haben. Sie läßt daher auch, weil sie Natur ist, einen einfachen Ausdruck zu, und wird vom Herzen kommend auch das Herz nicht verfehlen. Aber da ihr Gegenstand nicht aus der Natur geschöpft, sondern durch den Verstand einseitig und künstlich hervorgebracht ist, so hat er auch bloß logische Realität, und die Empfindung ist also nicht rein menschlich. Es ist keine Täuschung, was Heloise für Abelard, was Petrarch für seine Laura, was S. Preux für seine Julie, was Werther für seine Lotte fühlt, und was Agathon, Phanias, Peregrinus Proteus (den Wielandischen meine ich) für ihre Ideale empfinden; die Empfindung ist wahr, nur der Gegenstand ist ein gemachter und liegt außerhalb der menschlichen Natur. Hätte sich ihr Gefühl bloß an die sinnliche Wahrheit der Gegenstände gehalten, so würde es jenen Schwung nicht haben nehmen können; hingegen würde ein bloß willkürliches Spiel der Phantasie ohne allen innern Gehalt auch nicht im Stande gewesen sein, das Herz zu bewegen, denn das Herz wird nur durch Vernunft bewegt. Diese Überspannung verdient also Zurechtweisung, nicht Verachtung, und wer darüber spottet, mag sich wohl prüfen, ob er nicht vielleicht aus Herzlosigkeit so klug, aus Vernunftmangel so verständig ist. So ist auch die überspannte Zärtlichkeit im Punkt der Galanterie und der Ehre, welche die Ritterromane, besonders die spanischen charakterisiert, so ist die skrupulöse, bis zur Kostbarkeit getriebene Delikatesse in den französischen und englischen sentimentalischen Romanen (von der besten Gattung) nicht nur subjektiv wahr, sondern auch in objektiver Rücksicht nicht gehaltlos; es sind echte Empfindungen, die wirklich eine moralische Quelle haben, und die nur darum verwerflich sind, weil sie die Grenzen menschlicher Wahrheit überschreiten. Ohne jene moralische Realität – wie wäre es möglich, daß sie mit solcher Stärke und Innigkeit könnten mitgeteilt werden, wie doch die Erfahrung lehrt. Dasselbe gilt auch von der moralischen und religiösen Schwärmerei, und von der exaltierten Freiheits- und Vaterlandsliebe. Da die Gegenstände dieser Empfindungen immer Ideen sind und in der äußern Erfahrung nicht erscheinen, (denn was z. B. den politischen Enthusiasten bewegt, ist nicht was er siehet, sondern was er denkt) so hat die selbsttätige Einbildungskraft eine gefährliche Freiheit und kann nicht, wie in andern Fällen, durch die sinnliche Gegenwart ihres Objekts in ihre Grenzen zurückgewiesen werden. Aber weder der Mensch überhaupt noch der Dichter insbesondre darf sich der Gesetzgebung der Natur anders entziehen, als um sich unter die entgegengesetzte der Vernunft zu begeben; nur für das Ideal darf er die Wirklichkeit verlassen, denn an einem von diesen beiden Ankern muß die Freiheit befestiget sein. Aber der Weg von der Erfahrung zum Ideale ist so weit, und dazwischen liegt die Phantasie mit ihrer zügellosen Willkür. Es ist daher unvermeidlich, daß der Mensch überhaupt wie der Dichter insbesondere, wenn er sich durch die Freiheit seines Verstandes aus der Herrschaft der Gefühle begibt, ohne durch Gesetze der Vernunft dazu getrieben zu werden, d. h. wenn er die Natur aus bloßer Freiheit verläßt, solang ohne Gesetz ist, mithin der Phantasterei zum Raube dahingegeben wird.

Daß sowohl ganze Völker als einzelne Menschen, welche der sichern Führung der Natur sich entzogen haben, sich wirklich in diesem Falle befinden, lehrt die Erfahrung, und eben diese stellt auch Beispiele genug von einer ähnlichen Verirrung in der Dichtkunst auf. Weil der echte sentimentalische Dichtungstrieb, um sich zum idealen zu erheben, über die Grenzen wirklicher Natur hinausgehen muß, so geht der unechte über jede Grenze überhaupt hinaus, und überredet sich, als wenn schon das wilde Spiel der Imagination die poetische Begeisterung ausmache. Dem wahrhaften Dichtergenie, welches die Wirklichkeit nur um der Idee willen verlasset, kann dieses nie oder doch nur in Momenten begegnen, wo es sich selbst verloren hat; da es hingegen durch seine Natur selbst zu einer überspannten Empfindungsweise verführt werden kann. Es kann aber durch sein Beispiel andre zur Phantasterei verführen, weil Leser von reger Phantasie und schwachem Verstand ihm nur die Freiheiten absehen, die es sich gegen die wirkliche Natur herausnimmt, ohne ihm bis zu seiner hohen innern Notwendigkeit folgen zu können. Es geht dem sentimentalischen Genie hier, wie wir bei dem naiven gesehen haben. Weil dieses durch seine Natur alles ausführte, was es tut, so will der gemeine Nachahmer an seiner eigenen Natur keine schlechtere Führerin haben. Meisterstücke aus der naiven Gattung werden daher gewöhnlichdie plattesten und schmutzigsten Abdrücke gemeiner Natur, und Hauptwerke aus der sentimentalischen ein zahlreiches Heer phantastischer Produktionen zu ihrem Gefolge haben, wie dieses in der Literatur eines jeden Volks leichtlich nachzuweisen ist.

[…][…]Dieses führt mich auf einen sehr merkwürdigen psychologischen Antagonism unter den Menschen in einem sich kultivierenden Jahrhundert: einen Antagonism, der, weil er radikal und in der innern Gemütsform gegründet ist, eine schlimmere Trennung unter den Menschen anrichtet, als der zufällige Streit der Interessen je hervorbringen könnte; der dem Künstler und Dichter alle Hoffnung benimmt, allgemein zu gefallen und zu rühren, was doch seine Aufgabe ist, der es dem Philosophen auch wenn er alles getan hat, unmöglich macht, allgemein zu überzeugen, was doch der Begriff einer Philosophie mit sich bringt, der es endlich dem Menschen im praktischen Leben niemals vergönnen wird, seine Handlungsweise allgemein gebilliget zu sehen: kurz einen Gegensatz, welcher Schuld ist, daß kein Werk des Geistes und keine Handlung des Herzens bei Einer Klasse ein entscheidendes Glück machen kann, ohne eben dadurch bei der andern sich einen Verdammungsspruch zuzuziehen. Dieser Gegensatz ist ohne Zweifel so alt, als der Anfang der Kultur und dürfte vor dem Ende derselben schwerlich anders als in einzelnen seltenen Subjekten, deren es hoffentlich immer gab und immergeben wird, beigelegt werden; aber obgleich zu seinen Wirkungen auch diese gehört, daß er jeden Versuch zu seiner Beilegung vereitelt, weil kein Teil dahin zu bringen ist, einen Mangel auf seiner Seite und eine Realität auf der andern einzugestehen, so ist es doch immer Gewinn genug, eine so wichtige Trennung bis zu ihrer letzten Quelle zu verfolgen, und dadurch den eigentlichen Punkt des Streits wenigstens auf eine einfachere Formel zu bringen.

Man gelangt am besten zu dem wahren Begriff dieses Gegensatzes, wenn man, wie ich eben bemerkte, sowohl von dem naiven als von dem sentimentalischen Charakter absondert, was beide poetisches haben. Es bleibt alsdann von dem erstern nichts übrig, als, in Rücksicht auf das theoretische, ein nüchterner Beobachtungsgeist und eine feste Anhänglichkeit an das gleichförmige Zeugnis der Sinne; in Rücksicht auf das praktische eine resignierte Unterwerfung unter die Notwendigkeit (nicht aber unter die blinde Nötigung) der Natur: eine Ergebung also in das, was ist und was sein muß. Es bleibt von dem sentimentalischen Charakter nichts übrig, als (im theoretischen) ein unruhiger Spekulationsgeist, der auf das Unbedingte in allen Erkenntnissen dringt, im praktischen ein moralischer Rigorism, der auf dem Unbedingten in Willenshandlungen bestehet. Wer sich zu der ersten Klasse zählt, kann ein Realist, und wer zur andern, ein Idealist genannt werden; bei welchen Namen man sich aber weder an den guten noch schlimmen Sinn, den man in der Metaphysik damit verbindet, erinnern darf.Ich bemerke, um jeder Mißdeutung vorzubeugen, daß es bei dieser Einteilung ganz und gar nicht darauf abgesehen ist, eine Wahl zwischen beiden, folglich eine Begünstigung des Einen mit Ausschließung des andern zu veranlassen. Gerade diese Ausschließung, welche sich in der Erfahrung findet, bekämpfe ich; und das Resultat der gegenwärtigen Betrachtungen wird der Beweis sein, daß nur durch die vollkommen gleiche Einschließung beider dem Vernunftbegriffe der Menschheit kann Genüge geleistet werden. Übrigens nehme ich beide in ihrem würdigsten Sinn und in der ganzen Fülle ihres Begriffs, der nur immer mit der Reinheit desselben, und mit Beibehaltung ihrer spezifischen Unterschiede bestehen kann. Auch wird es sich zeigen, daß ein hoher Grad menschlicher Wahrheit sich mit beiden verträgt, und daß ihre Abweichungen von einander zwar im einzelnen, aber nicht im Ganzen, zwar der Form aber nicht dem Gehalt nach eine Veränderung machen.

Da der Realist durch die Notwendigkeit der Natur sich bestimmen läßt, der Idealist durch die Notwendigkeit der Vernunft sich bestimmt, so muß zwischen beiden dasselbe Verhältnis Statt finden, welches zwischen den Wirkungen der Natur und den Handlungen der Vernunft angetroffen wird. Die Natur, wissen wir, obgleich eine unendliche Größe im Ganzen, zeigt sich in jeder einzelnen Wirkung abhängig und bedürftig; nur in dem All ihrer Erscheinungen drückt sie einen selbstständigen großen Charakter aus. Alles individuelle in ihr ist nur deswegen, weil etwas anderes ist; nichts springt aus sich selbst, alles nur aus dem vorhergehenden Moment hervor, um zu einem folgenden zu führen. Aber eben diese gegenseitige Beziehung der Erscheinungen auf einander sichert einer jeden das Dasein durch das Dasein der andern, und von der Abhängigkeit ihrer Wirkungen ist die Stätigkeit und Notwendigkeit derselben unzertrennlich. Nichts ist frei in der Natur aber auch nichts ist willkürlich in derselben.

Und gerade so zeigt sich der Realist, sowohl in seinem Wissen als in seinem Tun. Auf alles, was bedingungsweise existiert, erstreckt sich der Kreis seines Wissens und Wirkens, aber nie bringt er es auch weiter als zu bedingten Erkenntnissen, und die Regeln, die er sich aus einzelnen Erfahrungen bildet, gelten in ihrer ganzen Strenge genommen, auch nur Einmal; erhebt er die Regel des Augenblicks zu einem allgemeinen Gesetz, so wird er sich unausbleiblich in Irrtum stürzen. Will daher der Realist in seinem Wissen zu etwas unbedingten gelangen, so muß er es auf dem nehmlichen Wege versuchen, auf dem die Natur ein un endliches wird, nehmlich auf dem Wege des Ganzen und in dem All der Erfahrung. Da aber die Summe der Erfahrung nie völlig abgeschlossen wird, so ist eine komparative Allgemeinheit das höchste, was der Realist in seinem Wissen erreicht. Auf die Wiederkehr ähnlicher Fälle baut er seine Einsicht, und wird daher richtig urteilen in allem, was in der Ordnung ist; in allem hingegen, was zum erstenmal sich darstellt, kehrt seine Weisheit zu ihrem Anfang zurück.

Was von dem Wissen des Realisten gilt, das gilt auch von seinem (moralischen) Handeln. Sein Charakter hat Moralität, aber diese liegt, ihrem reinen Begriffe nach, in keiner einzelnen Tat, nur in der ganzen Summe seines Lebens. In jedem besondern Fall wird er durch äußre Ursachen und durch äußre Zwecke bestimmt werden; nur daß jene Ursachen nicht zufällig, jene Zwecke nicht augenblicklich sind, sondern aus dem Naturganzen subjektiv fließen, und auf dasselbe sich objektiv beziehen. Die Antriebe seines Willens sind also zwar in rigoristischem Sinne weder frei genug, noch moralisch lauter genug, weil sie etwas anders als den bloßen Willen zu ihrer Ursache und etwas anders als das bloße Gesetz zu ihrem Gegenstand haben; aber es sind eben so wenig blinde und materialistische Antriebe, weil dieses andre das absolute Ganze der Natur, folglich etwas selbstständiges und notwendiges ist. So zeigt sich der gemeine Menschenverstand, der vorzügliche Anteil des Realisten, durchgängig im Denken und im Betragen. Aus dem einzelnen Falle schöpft er die Regel seines Urteils, aus einer innern Empfindung die Regel seines Tuns; aber mit glücklichem Instinkt weiß er von beiden alles Momentane und Zufällige zu scheiden. Bei dieser Methode fährt er im Ganzen vortrefflich und wird schwerlich einen bedeutenden Fehler sich vorzuwerfen haben; nur auf Größe und Würde möchte er in keinem besondern Fall Anspruch machen können. Diese ist nur der Preis der Selbstständigkeit und Freiheit, und davon sehen wir in seinen einzelnen Handlungen zu wenige Spuren.

Ganz anders verhält es sich mit dem Idealisten, der aus sich selbst und aus der bloßen Vernunft seine Erkenntnisse und Motive nimmt. Wenn die Natur in ihren einzelnen Wirkungen immer abhängig und beschränkt erscheint, so legt die Vernunft den Charakter der Selbstständigkeit und Vollendung gleich in jede einzelne Handlung. Aus sich selbst schöpft sie alles, und auf sich selbst bezieht sie alles. Was durch sie geschieht, geschieht nur um ihrentwillen; eine absolute Größe ist jeder Begriff den sie aufstellt, und jeder Entschluß den sie bestimmt. Und eben so zeigt sich auch der Idealist, soweit er diesen Namen mit Recht führt, in seinem Wissen, wie in seinem Tun. Nicht mit Erkenntnissen zufrieden, die bloß unter bestimmten Voraussetzungen gültig sind, sucht er bis zu Wahrheiten zu dringen, die nichts mehr voraussetzen und die Voraussetzung von allem andern sind. Ihn befriedigt nur die philosophische Einsicht, welche alles bedingte Wissen auf ein unbedingtes zurückführt, und an dem Notwendigen in dem menschlichen Geist alle Erfahrung befestiget; die Dinge, denen der Realist sein Denken unterwirft, muß Er Sich, seinem Denkvermögen unterwerfen. Und er verfährt hierin mit völliger Befugnis, denn wenn die Gesetze des menschlichen Geistes nicht auch zugleich die Weltgesetze wären, wenn die Vernunft endlich selbst unter der Erfahrung stünde, so würde auch keine Erfahrung möglich sein.

Aber er kann es bis zu absoluten Wahrheiten gebracht haben, und dennoch in seinen Kenntnissen dadurch nicht viel gefördert sein. Denn alles freilich steht zuletzt unter notwendigen und allgemeinen Gesetzen, aber nach zufälligen und besondern Regeln wird jedes einzelne regiert; und in der Natur ist alles einzeln. Er kann also mit seinem philosophischen Wissen das Ganze beherrschen, und für das Besondre, für die Ausübung, dadurch nichts gewonnen haben: ja, indem er überall auf die obersten Gründe dringt, durch die alles möglich wird, kann er die nächsten Gründe, durch die alles wirklich wird, leicht versäumen; indem er überall auf das Allgemeine sein Augenmerk richtet, wel ches die verschiedensten Fälle einander gleich macht, kann er leicht das besondre vernachlässigen, wodurch sie sich von einander unterscheiden. Er wird also sehr viel mit seinem Wissen umfassen können, und vielleicht eben deswegen wenig fassen, und oft an Einsicht verlieren, was er an Übersicht gewinnt. Daher kommt es daß, wenn der spekulative Verstand den gemeinen um seiner Beschränktheit willen verachtet, der gemeine Verstand den spekulativen seiner Leerheit wegen verlacht; denn die Erkenntnisse verlieren immer an bestimmten Gehalt, was sie an Umfang gewinnen.

In der moralischen Beurteilung wird man bei dem Idealisten eine reinere Moralität in einzelnen, aber weit weniger moralische Gleichförmigkeit im Ganzen, finden. Da er nur in so fern Idealist heißt, als er aus reiner Vernunft seine Bestimmungsgründe nimmt, die Vernunft aber in jeder ihrer Äußerungen sich absolut beweist, so tragen schon seine einzelnen Handlungen, sobald sie überhaupt nur moralisch sind, den ganzen Charakter moralischer Selbstständigkeit und Freiheit, und gibt es überhaupt nur im wirklichen Leben eine wahrhaft sittliche Tat, die es auch vor einem rigoristischen Urteil bliebe, so kann sie nur von dem Idealisten ausgeübt werden. Aber je reiner die Sittlichkeit seiner einzelnen Handlungen ist, desto zufälliger ist sie auch; denn Stätigkeit und Notwendigkeit ist zwar der Charakter der Natur aber nicht der Freiheit. Nicht zwar, als ob der Idealism mit der Sittlichkeit je in Streit geraten könnte, welches sich widerspricht; sondern weil die menschliche Natur eines konsequenten Idealism gar nicht fähig ist. Wenn sich der Realist, auch in seinem moralischen Handeln, einer physischen Notwendigkeit ruhig und gleichförmig unterordnet, so muß der Idealist einen Schwung nehmen, er muß augenblicklich seine Natur exaltieren, und er vermag nichts, als insofern er begeistert ist. Alsdann freilich vermag er auch desto mehr, und sein Betragen wird einen Charakter von Hoheit und Größe zeigen, den man in den Handlungen des Realisten vergeb lich sucht. Aber das wirkliche Leben ist keineswegs geschickt, jene Begeisterung in ihm zu wecken und noch viel weniger sie gleichförmig zu nähren. Gegen das Absolutgroße, von dem er jedesmal ausgeht, macht das Absolutkleine des einzelnen Falles, auf den er es anzuwenden hat, einen gar zu starken Absatz. Weil sein Wille der Form nach immer auf das Ganze gerichtet ist, so will er ihn, der Materie nach, nicht auf Bruchstücke richten, und doch sind es mehrenteils nur geringfügige Leistungen, wodurch er seine moralische Gesinnung beweisen kann. So geschieht es denn nicht selten, daß er über dem unbegrenzten Ideale den begrenzten Fall der Anwendung übersiehet, und von einem Maximum erfüllt, das Minimum verabsäumt, aus dem allein doch alles Große in der Wirklichkeit erwächst.

Will man also dem Realisten Gerechtigkeit wiederfahren lassen, so muß man ihn nach dem ganzen Zusammenhang seines Lebens richten; will man sie dem Idealisten erweisen, so muß man sich an einzelne Äußerungen desselben halten, aber man muß diese erst herauswählen. Das gemeine Urteil, welches so gern nach dem einzelnen entscheidet, wird daher über dem Realisten gleichgültig schweigen, weil seine einzelnen Lebensakte gleich wenig Stoff zum Lob und zum Tadel geben; über den Idealisten hingegen wird es immer Partei ergreifen, und zwischen Verwerfung und Bewunderung sich teilen, weil in dem einzelnen sein Mangel und seine Stärke liegt.

Es ist nicht zu vermeiden, daß bei einer so großen Abweichung in den Prinzipien beide Parteien in ihren Urteilen einander nicht oft gerade entgegengesetzt sein, und, wenn sie selbst in den Objekten und Resultaten übereinträfen, nicht in den Gründen auseinander sein sollten. Der Realist wird fragen, wozu eine Sache gut sei? und die Dinge nach dem, was sie wert sind, zu taxieren wissen: der Idealist wird fragen, ob sie gut sei? und die Dinge nach dem taxieren, was sie würdig sind. Von dem was seinen Wert und Zweck in sich selbst hat (das Ganze jedoch immer ausgenommen) weiß und hält der Realist nicht viel; inSachen des Geschmacks wird er dem Vergnügen, in Sachen der Moral wird er der Glückseligkeit das Wort reden, wenn er diese gleich nicht zur Bedingung des sittlichen Handelns macht; auch in seiner Religion vergißt er seinen Vorteil nicht gern, nur daß er denselben in dem Ideale des höchsten Guts veredelt und heiligt. Was er liebt wird er zu beglücken, der Idealist wird es zu veredeln suchen. Wenn daher der Realist in seinen poetischen Tendenzen den Wohlstand bezweckt, gesetzt daß es auch von der moralischen Selbstständigkeit des Volks etwas kosten sollte, so wird der Idealist, selbst auf Gefahr des Wohlstandes, die Freiheit zu seinem Augenmerk machen. Unabhängigkeit des Zustandes ist jenem, Unabhängigkeit von dem Zustand ist diesem das höchste Ziel, und dieser charakteristische Unterschied läßt sich durch ihr beiderseitiges Denken und Handeln verfolgen. Daher wird der Realist seine Zuneigung immer dadurch beweisen, daß er gibt, der Idealist dadurch, daß er empfängt; durch das, was er in seiner Großmut aufopfert, verrät jeder, was er am höchsten schätzt. Der Idealist wird die Mängel seines Systems mit seinem Individuum und seinem zeitlichen Zustand bezahlen, aber er achtet dieses Opfer nicht; der Realist büßt die Mängel des seinigen mit seiner persönlichen Würde, aber er erfährt nichts von diesem Opfer. Sein System bewährt sich an allem, wovon er Kundschaft hat, und wornach er ein Bedürfnis empfindet – was bekümmern ihn Güter, von denen er keine Ahnung und an die er keinen Glauben hat? Genug für ihn, er ist im Besitze, die Erde ist sein, und es ist Licht in seinem Verstande, und Zufriedenheit wohnt in seiner Brust. Der Idealist hat lange kein so gutes Schicksal. Nicht genug, daß er oft mit dem Glücke zerfällt, weil er versäumte, den Moment zu seinem Freunde zu machen, er zerfällt auch mit sich selbst, weder sein Wissen, noch sein Handeln kann ihm Genüge tun. Was er von sich fodert, ist ein Unendliches, aber beschränkt ist alles, was er leistet. Diese Strenge, die er gegen sich selbst beweist, verleugnet er auch nicht in seinem Betragen gegen andre. Er ist zwar großmütig, weiler sich Andern gegenüber, seines Individuums weniger erinnert, aber er ist öfters unbillig, weil er das Individuum eben so leicht in andern übersieht. Der Realist hingegen ist weniger großmütig, aber er ist billiger, da er alle Dinge mehr in ihrer Begrenzung beurteilt. Das Gemeine, ja selbst das Niedrige im Denken und Handeln kann er verzeihen, nur das Willkürliche, das Exzentrische nicht; der Idealist hingegen ist ein geschworner Feind alles Kleinlichen und Platten, und wird sich selbst mit dem Extravaganten und Ungeheuren versöhnen, wenn es nur von einem großen Vermögen zeugt. Jener beweist sich als Menschenfreund, ohne eben einen sehr hohen Begriff von den Menschen und der Menschheit zu haben; dieser denkt von der Menschheit so groß, daß er darüber in Gefahr kommt, die Menschen zu verachten.

Der Realist für sich allein würde den Kreis der Menschheit nie über die Grenzen der Sinnenwelt hinaus erweitert, nie den menschlichen Geist mit seiner selbstständigen Größe und Freiheit bekannt gemacht haben; alles Absolute in der Menschheit ist ihm nur eine schöne Schimäre und der Glaube daran nicht viel besser als Schwärmerei, weil er den Menschen niemals in seinem reinen Vermögen, immer nur in einem bestimmten und, eben darum begrenzten Wirken erblickt. Aber der Idealist für sich allein würde eben so wenig die sinnlichen Kräfte kultiviert und den Menschen als Naturwesen ausgebildet haben, welches doch ein gleich wesentlicher Teil seiner Bestimmung, und die Bedingung aller moralischen Veredlung ist. Das Streben des Idealisten geht viel zu sehr über das sinnliche Leben und über die Gegenwart hinaus; für das Ganze nur, für die Ewigkeit will er säen und pflanzen; und vergißt darüber, daß das Ganze nur der vollendete Kreis des Individuellen, daß die Ewigkeit nur eine Summe von Augenblicken ist. Die Welt wie der Realist sie um sich herum bilden möchte, und wirklich bildet, ist ein wohlangelegter Garten, worin alles nützt, alles seine Stelle verdient, und was nicht Früchte trägt verbannt ist; die Welt unter den Händen des Idealistenist eine weniger benutzte aber in einem größeren Charakter ausgeführte Natur. Jenem fällt es nicht ein, daß der Mensch noch zu etwas andern da sein könne, als wohl und zufrieden zu leben; und daß er nur deswegen Wurzeln schlagen soll, um seinen Stamm in die Höhe zu treiben. Dieser denkt nicht daran, daß er vor allen Dingen wohl leben muß, um gleichförmig gut und edel zu denken, und daß es auch um den Stamm getan ist, wenn die Wurzeln fehlen.

Wenn in einem System etwas ausgelassen ist, wornach doch ein dringendes und nicht zu umgehendes Bedürfnis in der Natur sich vorfindet, so ist die Natur nur durch eine Inkonsequenz gegen das System zu befriedigen. Einer solchen Inkonsequenz machen auch hier beide Teile sich schuldig, und sie beweist, wenn es bis jetzt noch zweifelhaft geblieben sein könnte, zugleich die Einseitigkeit beider Systeme und den reichen Gehalt der menschlichen Natur. Von dem Idealisten brauch ich es nicht erst insbesondere darzutun, daß er notwendig aus seinem System treten muß, sobald er eine bestimmte Wirkung bezweckt; denn alles bestimmte Dasein steht unter zeitlichen Bedingungen und erfolgt nach empirischen Gesetzen. In Rücksicht auf den Realisten hingegen könnte es zweifelhafter scheinen, ob er nicht auch schon innerhalb seines Systems allen notwendigen Foderungen der Menschheit Genüge leisten kann. Wenn man den Realisten fragt: warum tust du was recht ist und leidest was notwendig ist? so wird er im Geist seines Systems darauf antworten: weil es die Natur so mit sich bringt, weil es so sein muß. Aber damit ist die Frage noch keineswegs beantwortet, denn es ist nicht davon die Rede, was die Natur mit sich bringt, sondern was der Mensch will, denn er kann ja auch nicht wollen, was sein muß. Man wird ihn also wieder fragen können: warum willst du denn, was sein muß? Warum unterwirft sich dein freier Wille dieser Naturnotwendigkeit, da er sich ihr eben so gut, (wenn gleich ohne Erfolg, von dem hier auch gar nicht die Rede ist) entgegensetzen könnte, und sich in Millionen deiner Brüder derselben wirklich entgegensetzt? Du kannstnicht sagen, weil alle andern Naturwesen sich derselben unterwerfen, denn du allein hast einen Willen, ja du fühlst, daß deine Unterwerfung eine freiwillige sein soll. Du unterwirfst dich also, wenn es freiwillig geschieht, nicht der Naturnotwendigkeit selbst, sondern der Idee derselben; denn jene zwingt dich bloß blind, wie sie den Wurm zwingt, deinem Willen aber kann sie nichts anhaben, da du, selbst von ihr zermalmt, einen andern Willen haben kannst. Woher bringst du aber jene Idee der Naturnotwendigkeit; aus der Erfahrung doch wohl nicht, die dir nur einzelne Naturwirkungen aber keine Natur (als Ganzes) und nur einzelne Wirklichkeiten aber keine Notwendigkeit liefert. Du gehst also über die Natur hinaus, und bestimmst dich idealisch, so oft du entweder moralisch handeln oder nur nicht blind leiden willst. Es ist also offenbar, daß der Realist würdiger handelt, als er seiner Theorie nach zugibt, so wie der Idealist erhabener denkt, als er handelt. Ohne es sich selbst zu gestehen, beweist jener durch die ganze Haltung seines Lebens die Selbstständigkeit, dieser durch einzelne Handlungen die Bedürftigkeit der menschlichen Natur.

Einem aufmerksamen und parteilosen Leser werde ich nach der hier gegebenen Schilderung (deren Wahrheit auch derjenige eingestehen kann, der das Resultat nicht annimmt) nicht erst zu beweisen brauchen, daß das Ideal menschlicher Natur unter beide verteilt; von keinem aber völlig erreicht ist. Erfahrung und Vernunft haben beide ihre eigene Gerechtsame, und keine kann in das Gebiet der andern einen Eingriff tun, ohne entweder für den innern oder äußern Zustand des Menschen schlimme Folgen anzurichten. Die Erfahrung allein kann uns lehren, was unter gewissen Bedingungen ist, was unter bestimmten Voraussetzungen erfolgt, was zu bestimmten Zwecken geschehen muß. Die Vernunft allein kann uns hingegen lehren, was ohne alle Bedingung gilt, und was notwendig sein muß. Maßen wir uns nun an, mit unserer bloßen Vernunft über das äußre Dasein der Dinge etwas ausmachen zu wollen, so treiben wir bloß ein leeres Spiel unddas Resultat wird auf Nichts hinauslaufen; denn alles Dasein steht unter Bedingungen und die Vernunft bestimmt unbedingt. Lassen wir aber ein zufälliges Ereignis über dasjenige entscheiden, was schon der bloße Begriff unsers eigenen Seins mit sich bringt, so machen wir uns selber zu einem leeren Spiele des Zufalls und unsre Persönlichkeit wird auf nichts hinauslaufen. In dem ersten Fall ist es also um den Wert (den zeitlichen Gehalt) unsers Lebens, in dem zweiten um die Würde (den moralischen Gehalt) unsers Lebens getan.

Zwar haben wir in der bisherigen Schilderung dem Realisten einen moralischen Wert und dem Idealisten einen Erfahrungsgehalt zugestanden, aber bloß insofern beide nicht ganz konsequent verfahren und die Natur in ihnen mächtiger wirkt als das System. Obgleich aber beide gegen das Ideal vollkommener Menschheit verlieren, so ist zwischen beiden doch der wichtige Unterschied, daß der Realist zwar dem Vernunftbegriff der Menschheit in keinem einzelnen Falle Genüge leistet, dafür aber dem Verstandesbegriff derselben auch niemals widerspricht, der Idealist hingegen zwar in einzelnen Fällen dem höchsten Begriff der Menschheit näher kommt, dagegen aber nicht selten sogar unter dem niedrigsten Begriffe derselben bleibet. Nun kommt es aber in der Praxis des Lebens weit mehr darauf an, daß das Ganze gleichförmig menschlich gut als daß das Einzelne zufällig göttlich sei – und wenn also der Idealist ein geschickteres Subjekt ist, uns von dem was der Menschheit möglich ist, einen großen Begriff zu erwecken und Achtung für ihre Bestimmung einzuflößen, so kann nur der Realist sie mit Stätigkeit in der Erfahrung ausführen, und die Gattung in ihren ewigen Grenzen erhalten. Jener ist zwar ein edleres aber ein ungleich weniger vollkommenes Wesen; dieser erscheint zwar durchgängig weniger edel, aber er ist dagegen desto vollkommener; denn das Edle liegt schon in dem Beweis eines großen Vermögens, aber das Vollkommene liegt in der Haltung des Ganzen und in der wirklichen Tat.

Was von beiden Charakteren in ihrer besten Bedeutung gilt, das wird noch merklicher in ihren beiderseitigen Karikaturen. Der wahre Realism ist wohltätiger in seinen Wirkungen und nur weniger edel in seiner Quelle; der falsche ist in seiner Quelle verächtlich und in seinen Wirkungen nur etwas weniger verderblich. Der wahre Realist nehmlich unterwirft sich zwar der Natur und ihrer Notwendigkeit; aber der Natur als einem Ganzen, aber ihrer ewigen und absoluten Notwendigkeit nicht ihren blinden und augenblicklichen Nötigungen. Mit Freiheit umfaßt und befolgt er ihr Gesetz, und immer wird er das individuelle dem allgemeinen unterordnen; daher kann es auch nicht fehlen, daß er mit dem echten Idealisten in dem endlichen Resultat übereinkommen wird, wie verschieden auch der Weg ist, welchen beide dazu einschlagen. Der gemeine Empiriker hingegen unterwirft sich der Natur als einer Macht, und mit wahlloser blinder Ergebung. Auf das Einzelne sind seine Urteile, seine Bestrebungen beschränkt; er glaubt und begreift nur was er betastet, er schätzt nur, was ihn sinnlich verbessert. Er ist daher auch weiter nichts, als was die äußern Eindrücke zufällig aus ihm machen wollen, seine Selbstheit ist unterdrückt, und als Mensch hat er absolut keinen Wert und keine Würde. Aber als Sache ist er noch immer etwas, er kann noch immer zu etwas gut sein. Eben die Natur, der er sich blindlings überliefert, läßt ihn nicht ganz sinken; ihre ewigen Grenzen schützen ihn, ihre unerschöpflichen Hülfsmittel retten ihn, sobald er seine Freiheit nur ohne allen Vorbehalt aufgibt. Obgleich er in diesem Zustand von keinen Gesetzen weiß, so walten diese doch unerkannt über ihm, und wie sehr auch seine einzelnen Bestrebungen mit dem Ganzen im Streit liegen mögen, so wird sich dieses doch unfehlbar dagegen zu behaupten wissen. Es gibt Menschen genug, ja wohl ganze Völker, die in diesem verächtlichen Zustande leben, die bloß durch die Gnade des Naturgesetzes, ohne alle Selbstheit bestehen, und daher auch nur zu etwas gut sind, aber daß sie auch nur leben und bestehen beweist, daß dieser Zustand nicht ganz gehaltlos ist.

Wenn dagegen schon der wahre Idealism in seinen Wirkungen unsicher und öfters gefährlich ist, so ist der falsche in den seinigen schrecklich. Der wahre Idealist verläßt nur deswegen die Natur und Erfahrung, weil er hier das unwandelbare und unbedingt notwendige nicht findet, wornach die Vernunft ihn doch streben heißt; der Phantast verläßt die Natur aus bloßer Willkür, um dem Eigensinne der Begierden und den Launen der Einbildungskraft desto ungebundener nachgeben zu können. Nicht in die Unabhängigkeit von physischen Nötigungen, in die Lossprechung von moralischen setzt er seine Freiheit. Der Phantast verleugnet also nicht bloß den menschlichen – er verleugnet allen Charakter, er ist völlig ohne Gesetz, er ist also gar nichts und dient auch zu gar nichts. Aber eben darum, weil die Phantasterei keine Ausschweifung der Natur sondern der Freiheit ist, also aus einer an sich achtungswürdigen Anlage entspringt, die ins unendliche perfektibel ist, so führt sie auch zu einem unendlichen Fall in eine bodenlose Tiefe, und kann nur in einer völligen Zerstörung sich endigen.