[…] Die Kunst denkt sich selbst gern als funktionslos.
Das ist aber nichts weiter als eine Geste der Abwehr gegen
Vereinnahmungsansprüche anderer Funktionsbereiche oder auch Fortschreibung einer
alten Tradition, die die Kunst als nutzlos betrachtete. Innerhalb der modernen
Gesellschaft ist eine Ausdifferenzierungvon Kunst nur möglich mit
Bezug auf eine spezifische Funktion, die in diesem System und nirgendwo sonst
erfüllt wird. Funktionale Differenzierung bedeutet:
Auf-sich-selbst-Stellen einzelner Funktionsbereiche mit jeweils spezifischen,
unverwechselbaren Codes. Sie bedeutet auch: Auflösung alter
Multifunktionalitäten und infolgedessen: Redundanzverzicht. Das heißt: Kein
Funktionssystem kann durch ein anderes ersetzt werden; die Kunst zum Beispiel
nicht durch Politik, aber auch die Politik nicht durch Kunst. Funktionssysteme
sind selbstsubstitutive Ordnungen. In der modernen Gesellschaft hat mithin die
Kunst eine Funktion oder sie besitzt keine Geschlossenheit der
Selbstreproduktion, also keine Autonomie.
Zugleich muß man aber konzedieren, daß Funktionen nicht als
„functional requisites“, als objektive Bestandserfordernisse des
Gesellschaftssystems begriffen werden können (was Wissenschaft als externen
Beobachter der Gesellschaft voraussetzen würde).So der ältere Strukturfunktionalismus. Siehe repräsentativ:
Aberle, D. F. u. a. (1950), S. 100-111. Vielmehr verselbständigen und
artikulieren sich Funktionen nur im Prozeß ihrer evolutionären
Ausdifferenzierung, und niemand anders ist für ihre Bestimmung zuständig als das
sich ausdifferenzierende Funktionssystem (was keineswegs ausschließt, daß
externe Beobachter die Funktion und ihren Kontext beschreiben und sie anders
beschreiben können als das Funktionssystem selbst (hierzu anhand eines Beispiels
Luhmann, N., 1986). Wir müssen mithin Kunst beobachten und befragen, wenn wir
ermitteln wollen, was die Funktion der Kunst ist und ob und inwieweit sie so
ausdifferenziert ist, daß sie durch kein anderes Funktionssystem wahrgenommen
werden kann.
Mit einer zunächst sehr
unscharf angesetzten Beschreibung sehen wir die
Funktion der Kunst in der Konfrontierung der
(jedermann geläufigen)
Realität
mit einer anderen Version
derselben Realität.
Die
Kunst läßt die Welt in der Welt erscheinen
,
und wir werden noch sehen, daß dies mit Hilfe der Ausdifferenzierung der
Differenz von Form
und Kontext, also
mit Hilfe einer kunstimmanenten Unterscheidung geschieht. Darin liegt ein
Hinweis auf die
Kontingenz
der normalen Realitätssicht, ein Hinweis darauf, daß sie auch
anders möglich ist. Schöner zum Beispiel. Oder weniger zufallsreich. Oder
mit noch verborgenem Sinn durchsetzt. Dieser Hinweis wird mit eigenen
artistischen Mitteln gegen die Normalsicht durchgesetzt. Die ältere
Kunsttheorie hatte deshalb die Erregung von Erstaunen und Verblüffung alsMerkmal der Kunst hervorgehoben. Damit konnte jedoch kein Endzweck
gemeint sein, kein perfekter Dauerzustand des Verblüfftseins, sondern nur der
Übergang zu etwas anderem. Die Frage nach dem, was die Überraschung und
Verblüffung bewirken soll, führt dann auf die Frage nach der Funktion der Kunst,
und an der Reihe der Antworten auf diese Frage läßt sich die fortschreitende
Ausdifferenzierung der Kunst ablesen. Sie ist in diesem Sinne ein historischer
Prozeß und abhängig von dem, was jeweils als Funktion der Kunst angenommen
wird.
Zunächst ist und bleibt der Hinweis auf eine Alternativversion von
Realität natürlich durch das bestimmt, was mit dieser
Alternativversion gesagt sein soll. Man denkt an eine schönere, ideale,
sinnreichere Welt und von hier aus an Religion und/ oder an die politische
Identität der Stadt oder des Herrschaftszentrums. Auf langen und verschlungenen
Wegen werden solche Anlehnungen jedoch nach und nach aufgegeben bzw. in
sekundäre, dekorative Dienstleistungen des Kunstsystems umkonstruiert.
Im Ergebnis
erscheint die Funktion von Kunst dann schließlich in der Herstellung von
Weltkontingenz selbst zu liegen. Die festsitzende Alltagsversion wird
als auflösbar erwiesen; sie wird zu einer polykontexturalen, auch anders
lesbaren Wirklichkeit – einerseits degradiert, aber gerade dadurch
auch aufgewertet.
Das Kunstwerk führt an sich selbst vor,
daß und wie das kontingent Hergestellte, an sich gar nicht Notwendige
schließlich als notwendig erscheint, weil es in einer Art Selbstlimitierung sich
selbst alle Möglichkeiten nimmt, anders zu sein. Dies mag, bei Dürer etwa, als
eine komplexere Beschreibung der Realität selbst intendiert sein; aber mit der
Differenzierung von Wissenschaft und Kunst wird auch diese Art Anlehnung
obsolet. Ohne Anlehnung fungierend, wird die Kunst schließlich ihre Mittel auf
die Kontingenzerzeugung selbst einstellen, und die kontingente Herstellung von
etwas, was nachher als notwendig erscheint, ist dann nur noch eine der
Möglichkeiten. Andere sind: der Einbau von Paradoxien oder strategisch
placierten Unschärfen, von als absichtsvoll erkennbaren Verfremdungen, von
Rätseln, von Zitaten, von Irritierungen dessen, der das Kunstwerk zu „genießen“,
das heißt sich anzueignen sucht, aber angezogen und abgewiesen wird wie Kafkas
K. Schon in der frühen Neuzeit hatte sich die Kunst auf Täuschung des Betrachters
verlegt (der dann das Kunstwerk erst bewundern konnte, wenn er durchschaute,
wiedie Täuschung gelang). Heute kommt die Verspottung des
Betrachters, des Sinnsuchers, des Inspirationsbedürftigen hinzu. Auch dabei
steht freilich Technik im Dienste eines anderen Sinns. Verblüffung, Täuschung,
Verspottung sind nicht Selbstzweck. Sie sind Durchgangsstadium für eine
Operation, die man als Entlarvung der Realität bezeichnen könnte – gleichsam für
den Schluß: Da das Kunstwerk existiert und real überzeugend (wenn
überzeugend!) erlebt werden kann, kann etwas mit der Welt nicht stimmen (siehe
hierzu Schmidt, S. J., 1984). Mit der Welt! – und gerade nicht mit der
Kunst, die ihre eigenen Möglichkeiten ja ersichtlich beherrscht.
Es ist leicht zu sehen, daß die Ausdifferenzierung im Dienste dieser
Funktion auf Autopoiesis eines eigenen Kunstsystems hinausläuft. Wenn es darum geht, die Wirklichkeit mit einer Alternative zu
konfrontieren, kann Instruktion und Inspiration dafür gerade nicht der
Wirklichkeit entnommen werden, sondern nur der Kunst selbst. Wie André Malraux immer
wieder betont hat: man orientiert sich als Künstler nicht an den Objekten,
sondern an den Vorgängern. Und wenn es ein Programm der „imitatio“ oder des
„Realismus“ gibt, ist dies ein Programm, mit dem man etwas anders und
besser machen will als zuvor. Ebenso ist aber auch das Programm des „l'art pour
l'art“ nicht die Autonomie des autopoietischen Systems, sondern nur deren
Mißverständnis. „L'art pour l'art“ will das, was das System
ist, im System zum Programm machen und verfehlt damit den elementaren
Tatbestand, daß
Autonomie die Beziehungen zur Umwelt nicht unterbindet,
sondern gerade voraussetzt und reguliert. Es bringt die Autopoiesis
der Kunst gerade an ihr Ende, wenn Abhängigkeit als Negation von Abhängigkeit
begriffen wird. Zum Glück mißlingt das Programm – aus angebbaren Gründen.Eine allgemeine systemtheoretische
Begründung hierfür gibt Foerster, H. v. (1960), S. 31-50.
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