[…]Man mag auch noch so wenig über die wechselseitige
Verknüpfung der menschlichen Erfindungen nachgedacht haben, so sieht man doch
leicht ein, daß Wissenschaften und Künste sich gegenseitig stets hilfreiche Hand leisten und daß es
demzufolge ein Band geben muß, daß [sic!] beide zusammenhält. Aber wenn es oft
schon schwierig ist, jede einzelne Wissenschaft oder Kunst für sich auf eine
kleine Anzahl von Regeln oder allgemeinen Begriffen zurückzuführen, so ist es
nicht minder schwierig, die unendlich mannigfaltigen Verzweigungen des
menschlichen Wissens zu einem einheitlichen System zusammenzuschließen.
Der erste Schritt, den wir in dieser Untersuchung zu machen hätten,
wäre also – man gestatte uns den Ausdruck – den Stammbaum und die
Entwicklungsfolge unserer Kenntnisse, ferner die Ursachen, die Ihre Entstehung
bedangen, und endlich die Merkmale zu prüfen, durch die sie sich unterscheiden;
mit einem Worte, bis auf den Ursprung und die Entstehung unserer Vorstellungen
(idées) zurückzugehen. Ganz abgesehen von dem
Vorteil, den wir für die enzyklopädische Aufzählung der Wissenschaften und
Künste daraus gewinnen, dürfte eine solche Untersuchung wohl auch an den Anfang
eines methodischen Sachwörterbuches des menschlichen Wissens gehören.
Man kann alle unsere Kenntnisse einteilen in unmittelbare (directes) und in verstandesmäßige (réfléchies)[S. 3] d. h. durch
das Denken erworbene. E.H.. Die unmittelbaren sind solche, die wir
unvermittelt, ohne irgendwelche Willenshandlung unserer
seits erhalten; die, wenn man so sagen darf, alle Türen unserer Seele
offen finden und dort ohne Widerstand und Mühe eintreten. Die verstandesmäßigen
Kenntnisse sind diejenigen, welche der Geist durch Verarbeitung der
unmittelbaren Eindrücke, durch ihre Sammlung und Verbindung erlangt.
Alle unsere unmittelbaren Kenntnisse lassen sich auf die Eindrücke
zurückführen, die wir durch die Sinne empfangen; daraus folgt also, daß unsere
Sinnesempfindungen es sind, denen wir unsere gesamten Vorstellungen
verdanken. Dieser Grundsatz der frühesten Philosophen ist von den
Scholastikern lange Zeit als ein Axiom betrachtet worden. Um ihm
diese Ehre zu erweisen, genügte ihnen die Begründung, daß er eben alt war; und
mit derselben Wärme würden sie auch die substantialen Formen
oder die verborgenen Qualitäten
(qualitates occultae) verteidigt haben. Bei der
Wiedergeburt der Philosophie verfiel denn auch diese Wahrheit demselben
Schicksal wie jene abgeschmackten Anschauungen, von denen man sie füglich hätte
unterscheiden sollen; man beseitigte sie zusammen mit diesen Anschauungen, weil
der Wahrheit nichts so gefährlich ist und sie so der Verkennung aussetzt, als
die Verknüpfung mit einem Irrtum oder selbst nur die Nachbarschaft eines
solchen. Auf das obenerwähnte Axiom der Scholastiker folgte das in mehrfacher
Hinsicht verführerische System der angeborenen Ideen, das vielleicht deshalb
solchen Eindruck machte, weil es weniger bekannt war. Noch heute, nach so langer
Geltung, hat es sich einige Anhänger bewahrt. So große Mühe hat die Wahrheit,
den Platz wiederzuerobern, von dem Vorurteile oder Trugschlüsse sie verdrängt
haben. Erst seit ganz kurzer Zeit ist man schließlich fast allgemein darüber
einig, daß die Alten mit ihrer Theorie doch recht hatten; und sie ist nicht die
einzige Frage, in der wir uns ihnen wieder zu nähern beginnen.
Nichts ist
unbestreitbarer als die Existenz unserer Sinnesempfindungen. Zum Beweise,
daß sie der Ursprung aller unserer Kenntnisse sind, genügt es zuzeigen, daß sie es sein können: denn eine gute Philosophie wird einer
Schlußfolgerung, die auf Tatsachen oder anerkannten Wahrheiten beruht, stets
vor derjenigen den Vorzug geben, die sich nur auf Hypothesen, und wären es
die geistvollsten, stützt. Warum annehmen, daß wir rein geistige
Begriffe von vornherein besitzen, wenn wir, um sie zu bilden, nur nötig haben,
über unsere Sinnesempfindungen nachzudenken? Die folgenden Ausführungen werden
zeigen, daß unsere Begriffe in der Tat gar keinen anderen Ursprung haben.
Das erste, was unsere Sinnesempfindungen uns lehren und was sogar
unlöslich mit ihnen verbunden ist, ist unsere
Existenz; (2) daraus folgt, daß unsere ersten verstandesmäßigen
Vorstellungen sich auf uns selbst beziehen, das heißt auf
jenes denkende Prinzip, das unsere Wesenheit ausmacht und in nichts von unserem Ich verschieden ist. Die
zweite Erkenntnis, die wir unseren Sinnesempfindungen verdanken, ist die
Existenz der Dinge der Außenwelt, (3) worin unser eigener Körper mit
einbegriffen ist, da er von uns sozusagen als etwas Äußeres empfunden wird,
bevor wir noch die Natur des denkenden Prinzips in uns entdecken. Die unzähligen
Außendinge üben eine
so mächtige und beständige Wirkung auf uns aus und verknüpfen uns so innig mit
ihnen, daß, wenn uns auch die Vorstellungen unseres Denkens im ersten Augenblick
in unser eigenes Ich zurückführen, wir durch die uns von allen Seiten
bestürmenden Sinneseindrücke alsbald gezwungen werden, wieder aus uns
herauszugehen und uns so der Vereinsamung entreißen zu lassen, in der wir ohne
sie verharren würden. Die Vielheit dieser Sinneseindrücke, die Übereinstimmung,
die wir in ihren Äußerungen bemerken, die Abtönungen, die wir dabei beobachten,
die unfreiwilligen Einwirkungen, die wir durch sie erfahren, im Gegensatz zu der
freien Willensbestimmung, die unsere verstandesmäßigen Vorstellungen beherrscht,
sobald sie das Material unserer Sinnesempfindungen verarbeiten: alles das
erzeugt in uns den unwiderstehlichen Drang, die Existenz der Dinge, auf die uns diese
Sinnesempfindungen als derenscheinbare Ursache hinweisen, als
zweifellos gewiß anzunehmen. Ja, viele Philosophen haben diesen inneren Drang
als das Werk eines höheren Wesens angesehen und halten ihn allein schon für den
überzeugendsten Beweis für die Existenz der Außendinge E. H..
Da es tatsächlich keine Ähnlichkeit gibt zwischen irgendeiner
Sinnesempfindung und dem Gegenstande, der sie veranlaßt oder auf den wir sie
wenigstens zurückführen, so scheint es wirklich keine Möglichkeit zu geben, mit
Hilfe der Vernunft eine Brücke von der einen zum anderen zu schlagen; es gibt
nur eine Art Instinkt, der, selbstgewisser als die Vernunft, uns zwingen kann, eine so
große Kluft zu überspringen. Und dieser Instinkt ist in uns so lebhaft, daß, wenn man für
einen Augenblick nur annehmen könnte, daß er auch weiter bestände, während die
Dinge der Außenwelt verschwunden wären, ihre plötzliche Wiederkehr seine
Stärke nicht zu steigern vermöchte. Behaupten wir also ohne Zögern, daß unsere
Sinnesempfindungen wirklich außerhalb unser die Ursache haben, die wir für sie
voraussetzen, da die Wirkung, die aus der tatsächlichen Existenz dieser Ursache
sich ergeben muß, in keiner Weise von den Eindrücken abweichen könnte, die wir
erfahren. Denn wir wollen nicht jene Philosophen nachahmen, von denen Montaigne
(4) erzählt, daß sie, wenn man sie nach dem Prinzip der menschlichen Handlungen
fragt, erst noch untersuchen, ob es überhaupt Menschen gibt. Weit entfernt
davon, durch Hypothesen eine Wahrheit verdunkeln zu wollen, die selbst. von
Skeptikern, wenn sie nicht gerade streitsüchtig sind, anerkannt wird, wollen wir
den erleuchteten Metaphysikern die Sorge überlassen, das Prinzip dieser Wahrheit
weiter aufzuklären. Sie mögen, wenn sie es können, bestimmen, welchen Stufengang
unsere Seele bei diesem ersten Schritte in die Außenwelt einhält, bei dem sie
sozusagen vorwärtsgetrieben und gleich
zeitig
zurückgehalten wird von einer Menge von Wahrnehmungen, die sie einerseits zu den
äußeren Dingen hindrängen, und andererseits, weil sie eigentlich der Seele
allein zugehören, in einen engen Spielraum einzudämmen scheinen, dessen
Überschreitung sie ihr nicht gestatten.
Von allen Dingen, die uns durch ihre Gegenwart affizieren, empfinden
wir die Existenz unseres eigenen Körpers deshalb am meisten, weil er am innigsten zu uns
gehört. Aber kaum merken wir die Existenz unseres Leibes, so werden wir uns auch
sofort bewußt, welche Aufmerksamkeit erforderlich ist, um die ihn umgebenden
Gefahren von ihm abzuwenden. Da er tausend Bedürfnissen unterworfen und für die
Einwirkung der Außendinge im höchsten Grade empfindlich ist, so würde er bald
zerstört werden, wenn uns die Sorge um seine Erhaltung nicht erfüllte. Nicht als
ob alle Dinge der
Außenwelt uns nur unangenehme Gefühle verursachten; einige scheinen
uns sogar durch das Vergnügen, das sie uns durch ihre Einwirkung bereiten,
schadlos zu halten. Aber wir Menschen haben nun einmal die unglückselige
Beschaffenheit, daß der Schmerz das lebhafteste Gefühl in uns zurückläßt; daß
die Lust uns weniger berührt und fast nie ausreicht, um uns über den Schmerz
hinwegzutrösten. Vergebens behaupteten einige Philosophen, indem sie die
Klagerufe in ihren Leiden unter, drückten, daß der Schmerz gar kein Übel sei;
vergebens erklärten wiederum andere die Wollust für das höchste Glück, obgleich
sie sich ihr aus Furcht vor ihren Folgen unablässig versagten. Sie alle würden
für unsere Natur besseres Verständnis gezeigt haben, wenn sie sich damit begnügt
hätten, das höchste Gut des diesseitigen Lebens auf die Befreiung vom Schmerz zu
beschränken und zugleich einzugestehen, daß wir dieses höchste Gut nie ganz zu
erreichen, sondern uns ihm nur nach Maßgabe unserer Sorgfalt und Wachsamkeit
mehr oder minder zu nähern vermögen. Zu diesen natürlichen Überlegungen würde
unfehlbar jeder Mensch gelangen, der sich seinen eigenen Gedanken überließe und
die Vorurteile der Erziehung und Schule von sich fernhielte; denn sie bilden das
erste Ergeb
nis des Eindruckes, den er von den
Dingen empfängt, und man kann sie zu den ursprünglichen Erregungen der Seele
zählen, die von den wahren Weisen für wertvoll und beachtenswert gehalten, aber
von der Schulphilosophie nicht berücksichtigt oder gar verworfen werden, weil
sie deren Voraussetzungen meist Lügen strafen.(5) —
Die Notwendigkeit, unseren Leib vor Schmerz und Vernichtung zu
schützen, veranlaßt uns zu prüfen, welche Dinge der Außenwelt für uns nützlich oder schädlich sein
können, um die einen zu suchen, die anderen zu meiden. Aber kaum beginnen wir,
diese Dinge zu mustern, so entdecken wir unter ihnen eine große Anzahl von
Wesen, die uns ganz ähnlich sehen, d. h. deren Gestalt der unseren völlig gleich
ist, und die, soweit wir es beim ersten Anblick beurteilen können, dieselben
Wahrnehmungen wie , wir zu haben scheinen. Das alles bringt uns auf
den Gedanken, daß sie auch dieselben Bedürfnisse, wie wir, verspüren und
folglich dasselbe Interesse an ihrer Befriedigung haben. Demnach müßte sich ja
ein großer Vorteil für uns daraus ergeben, daß wir uns mit ihnen zu dem Zwecke
vereinigen, um in der Natur zu erforschen, was zu unserer Erhaltung beitragen
oder uns schädlich sein kann. Der Austausch der Ideen bildet den Anfang und die
Stütze dieser Vereinigung und macht die Erfindung von Zeichen zur Notwendigkeit. Und damit
haben wir den Ursprung der Gesellschaftsbildung und die durch sie bedingte
Entstehung der Sprachen. (6)[…]