<quote>Das dynamische Prinzip der Welt-Konstruktion im Zusammenhange mit der funktionellen Bedeutung der konstruktiven Gestaltung</quote> <date>1923</date> Kemény, Alfréd o:reko.keme.1923 Alfréd Kemény: "Das dynamische Prinzip der Welt-Konstruktion im Zusammenhange mit der funktionellen Bedeutung der konstruktiven Gestaltung", in: Charles Harrison/Paul Wood (Hrsg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Für die deutsche Ausgabe ergänzt von Sebastian Zeidler. Bd. I. 1895-1941. Übersetzt von Jürgen Blasius u.a. Ostfildern-Ruit: Verlag Gerd Hatje 1998, S. 412-414. ISBN 3-7757-0739-5. "Das dynamische Prinzip der Welt-Konstruktion im Zusammenhang mit der funktionellen Bedeutung der konstruktiven Gestaltung", in: Der Sturm 14 (1923), S. 62-64. Genre Essay Media Kunst

[…] Die Welt-Konstruktion ist aufgebaut von dynamischen Kontrasten zentrifugaler-zentripetaler Kräfte. Die gesetzmässige Einheit der Welt beruht daher auf der strengen Organisiertheit von Bewegungs-Relationen der Weltkörper, wo ein jeder Teil im Verhältnis zu der Weltbewegung funktioniert. Konstruktivität der allseitigen Dynamik fügt die Körperteile der Welt zu einer dynamischen Welt-Konstruktion zusammen.

Ein jeder mikrokosmische Teil des Makrokosmos beruht auf derselben konstruktiven Gesetzmässigkeit dynamischer Gegensätze wie der Makrokosmos selbst. Der Mensch, der in seinem organischen Aufbau den Gesetzen des dynamisch-konstruktiven Weltsystems gehorchend funktioniert, ist daher in der Funktionalität seines organischen Apparates bedingt von dem funktionellen Prinzipe des Welt-Mechanismus: der Bewegung , das heisst, der Mensch ist ein nach kineto-mechanischen Gesetzen funktionierender Apparat. Die gesetzmässige Einheit des menschlichen Organismus – homolog der Einheit der Welt – beruht ebenfalls auf der strengen Organisiertheit von Bewegungs-Verhältnissen der einzelnen Organe, wo ein jedes Organ im Verhältnisse zu der Bewegungs-Einheit des Organismus funktioniert. Konstruktivität der gegenseitigen Dynamik fügt auch die Körper-Teile des Menschen zu einer dynamischen Mensch-Konstruktion zusammen. Bewegung ist die Funktion des Kosmos wie des Menschen.

Jede menschliche Gestaltung und Erfindung auf dem Gebiete der Kunst wie im Bereiche der Wissenschaft, der Gesellschaft und der Technik hat vor allem im Verhältnisse zu der Funktionalität des menschlichen Organismus eine Bedeutung, indem jede schöpferische Arbeit durch ihre neue aktive Gesetzmässigkeit die funktionellen Möglichkeiten des menschlichen Organismus erweitert. Sie zwingt das entsprechende menschliche Organ, worauf sie mit ihrer Funktionalität primär wirkt, nach Aufhebung der Widerstände der Trägheit, mit der sich das entsprechende Organ an die alte, bereits erschöpfte Gesetzmässigkeit klammert, mit ihrer Aktivität die neue vitale Gesetzmässigkeit aufzunehmen. Dadurch entsteht immer durch den Zusammenhang des betreffenden einzelnen Organs mit der Funktionalität des gesamten Organismus eine Erweiterung der Funktionsmöglichkeiten des menschlichen Organismus. Zum Beispiel neue optische Gesetzmässigkeiten in ihrer Materialisation als Farbgestaltung wirken primär erweiternd auf das menschliche Organ: Auge, neue akustische Gesetzmässigkeiten als Ton-Gestaltung primär auf den akustischen Apparat: Ohr. Durch die funktionelle Zusammengehörigkeit des Ohres und des Auges – siehe Hausmann: Optophonetik – [wirken sie] fördernd aufeinander und durch den funktionellen Zusammenhang sämtlicher Organe auf den ganzen Organismus des Menschen. Darin besteht der ethische Wert der gestaltenden – erfinderischen – Arbeit primär, dass durch sie ein Gefühl der Organ-Minderwertigkeit immer aufgehoben wird, und daraus eine Bereicherung der organischen Funktions-Möglichkeiten entsteht.

Die Notwendigkeit der Metaphysik beruht auf der Unvollständigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens, bedingt durch die beschränkte Aufnahmefähigkeit der Sinnes-Apparate. So, dass bestimmte reale Zusammenhänge der Welt, empirisch nicht erfassbar, irrational erklärt – verfälscht – werden müssen. Durch die Möglichkeit, die empirische Aufnahmefähigkeit des Menschen zu erweitern, nimmt proportional die Notwendigkeit der Metaphysik ab und nähert sich der Zustand, wo das menschliche Leben durch die Erweiterung der organischen Funktionalität seine höchste Steigerung erhält.

Jetzt sollen diejenigen neuen aktiven Gesetzmässigkeiten der konstruktiven Gestaltung auf dem Gebiete der bildenden Kunst untersucht werden, die auf gegebene funktionelle Verhältnisse des menschlichen Organismus bereichernd wirken. In welchem Sinne ist diese Bereicherung zu erwarten?

Konstruktivität ist, wie wir sahen, eine der Hauptgesetzmässigkeiten des kosmischen wie des menschlichen Aufbaues: Konstruktivität, die auf dynamischen Gegensätzen kontrastierender Bewegungen beruht. Die Komposition, das Reproduzieren der Konstruktion der Natur und des Menschen, Konstruktion selbst wurde in der klassischen Kunst nur sekundär verwendet. Im Zerstörungsprozess der klassischen Kunst – der klassischen reproduktiven Konstruktion – wurde das strenge, aus der Funktionalität des Kunstwerkes entstandene organisatorische Prinzip der Konstruktivität vernachlässigt. Erst der Kubismus wies darauf in der letzten Phase seiner Entwicklung wieder hin – Flächengestaltung des Bildes mittels kontrastierender Aufteilung der Fläche –, aber er behielt noch immer zu viel naturalistische Elemente. Die Kunstrichtungen nach dem Kubismus: der Suprematismus und der Konstruktivismus betonten zum erstenmal in der bildenden Kunst die strenge Organisation der menschlichen Gestaltung: die Konstruktion als primär-produktives und nicht sekundär-reproduktives Mittel der schöpferischen Arbeit und zwar immer in Bezug auf die Funktionalität des Kunstwerkes und auf die innere Natur der verwendeten Materialien. In den bedeutendsten konstruktiven Kunstwerken entstand die exakte bis zum Knochengerüst vereinfachte, harte Struktur der Gestaltung aus den elementarsten Gegensätzen seiner Mittel: Farbe, Form, Material, Licht, Raum, Bewegung. Im Zusammenhange mit der Funktionalität: der konstruktiven Bewegtheit des menschlichen Organismus ist die Vitalität-Konstruktion die funktionelle Bedeutung der konstruktiven Kunst-Gestaltung. Nämlich durch die strenge Zusammenfügung der stärksten Spannungen entsteht die potentionelle Energie des statischen Kunstwerkes, die sich in der Psychophysis des Betrachters trotz der physischen Unbewegtheit des Kunstwerkes in eine intensive innere Bewegung umsetzt. Die Umsetzung der potentionellen Energie des Kunstwerks in psychische intensive Bewegtheit gibt im Gegensatze zu der bloss auf feine Nuancierungen und Differenzierungen bedachten Decadence der bürgerlichen Kultur das ursprüngliche Bewusstsein der dynamischen Konstruktivität, das Gefühl der festen Zusammengefügtheit dynamischer gegensätzlicher Gesetzmässigkeit, als höchste Kraft-Empfindung des Menschen, wo die Welt nicht mehr in unzähligen feinen Abstufungen, sondern in den stärksten und ursprünglichsten Gegensätzen seiner dynamischen Dialektik erlebt wird. Stärkste Spannungen des physischen Raumes mittels im realen Raume physisch sich bewegender kinetischer Kraftsysteme wäre die weitere Entwicklung der bildenden Kunst. Bewegung als die Ur-Funktion des Kosmos und des Menschen, übertragen auch auf die menschliche Gestaltung. Der in der Betrachtung der Kunstwerke bisher vor allem rezeptive Mensch soll in allen seinen Potenzen gesteigert selbst zum aktiven Faktor der Gestaltung werden. Die statische Konstruktion der Kunst, steckengeblieben in einer konstruktiven Ästhetik ohne Vitalität, schwächt das konstruktive Bestreben des Menschen nach einer neuen vitalen Lebenskonstruktion. Weitergeführt als dynamisch-konstruktives Kraftsystem, fügt die Konstruktivität der gegenseitigen physischen Bewegung die Elemente der sich bewegenden künstlerischen Gestaltung zusammen. Die in kinetische Energie , in reale Bewegung umgewandelte potentionelle Energie des früheren physisch bewegungslosen Kunstwerkes wird hier in der unmittelbarsten Übertragung der Bewegung den Menschen zu der stärksten Entfaltung seiner schöpferischen Kraft zwingen.