Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848
vergangene gewesen. Wollten jene
Herren, die so grausam über alles Neue den Stab brechen, nach der eigensten
Wurzel ihres absprechenden Urteils forschen, sie würden sie in selbstsüchtiger
Bequemlichkeit und in nichts Besserm finden. Gerechtigkeit gegen Zeitgenossen
ist immer eine schwere Tugend gewesen, aber sie ist doppelt schwer auf einem
Gebiete, wo das wuchernde Unkraut dem flüchtigen Beschauer die echte Blüte
verbirgt. Solche Blüten sind mühsam zu finden, aber sie sind da. Was uns angeht,
die wir seit einem Dezennium nicht müde werden, auf dem dunklen Hintergrunde der
Tagesliteratur den Lichtstreifen des Genius zu verfolgen, so bekennen wir unsere
feste Überzeugung dahin, daß wir nicht rückwärts, sondern vorwärts schreiten und
daß wir drauf und dran sind, einem Dichter die Wege zu bahnen, der um der
Richtung willen, die unsere Zeit ihm vorzeichnet, berufen sein wird, eine neue
Blüte unserer Literatur, vielleicht ihre höchste, herbeizuführen.
Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr
Dieser Realismus unserer Zeit findet in der Kunst nicht nur sein entschiedenstes Echo, sondern äußert sich
vielleicht auf keinem Gebiet unsers Lebens so augenscheinlich wie gerade in ihr.
Die bildende Kunst, vor allem die Skulptur, ging hier mit gutem Beispiel voran.
Als Gottfried Schadow die Kühnheit hatte, den Zopf in die
Kunst einzuführen, nahm er ihr zugleich den Zopf. So wurde der „Alte Dessauer“, an dessen Dreimaster und Gamaschen wir
jetzt gleichgültig vorübergehen, zu einer Tat von unberechenbarer Wirkung. Jener
Statue zur Seite stehen Schwerin und Winterfeldt in antikem Kostüme, und wahrlich, wenn es Absicht gewesen
wäre, das Ridiküle der einen Richtung und das Frische, Lebensfähige der andern
zur Erscheinung zu bringen, die Zusammenstellung hätte nicht sprechender
getroffen werden können. Seit fünfzig Jahren sind wir auf dem betretenen Wege
fortgeschritten in Malerei, Skulptur und Dichtkunst, und es war ein Triumphtag
für jene neue Richtung, von der wir uns eine höchste Blüte moderner Kunst
versprechen, als die Hülle vom Standbild Friedrichs des Großen fiel und der
„König mit dem Krückstocke“ auf ein jubelndes Volk herniederblickte. Dieser „Alte Fritz“ des genialen Rauch ist
übrigens nicht das Höchste der neuen Kunst; er gehört jenem Entwicklungsstadium
an, durch das wir notwendig hindurch müssen; es ist der nackte, prosaische
Wir haben bei der Skulptur (in der Malerei würden wir als besonders
charakteristisch Adolf
Menzel und den Amerikaner Emanuel
Leutze zu nennen haben) mit vollem Vorbedacht so lange verweilt, einmal
um an bekannten Beispielen darzutun, wie bedeutsam und in die Augen springend
das Grundstreben unserer Zeit sich bereits auf einzelnen Kunstgebieten geltend
gemacht hat, andererseits um verstanden zu werden, wenn wir in bezug auf die
Dichtkunst ausrufen: Was uns zunächst nottut, ist ein Meister Rauch unter den
Poeten. Er, als der entJeremias Gotthelf, im Drama einen Hebbel, in der Lyrik einen Freiligrath. Bevor
wir indes dazu übergehen, diesen Realismus teils an den einzelnen Erscheinungen
unserer modernen Literatur nachzuweisen, teils darzutun, was wir auf diesem
Gebiete unter Realismus verstehen, sei uns noch gestattet, ein Art Genesis
desselben zu geben.
Der er ist die Kunst. Unsere moderne
Richtung ist nichts als eine Rückkehr auf den einzig richtigen Weg, die
Wiedergenesung eines Kranken, die nicht ausbleiben konnte, solange sein
Organismus noch überhaupt ein lebensfähiger war. Der unnatürlichen
Geschraubtheit Gottscheds mußte, nach einem ewigen
Gesetz, der schöne, noch unerreicht gebliebene Realismus Lessings folgen, und der blühende Unsinn, der während der dreißiger
Jahre dieses Jahrhunderts sich aus verlogener Sentimentalität und gedankenlosem
Bilderwust entwickelt hatte, mußte als notwendige Reaktion eine Periode
ehrlichen Gefühls und gesunden Menschenverstandes nach sich ziehen, von der wir
kühn behaupten: sie ist da. Aus dem Gesagten ergibt sich von selbst eine nahe
Verwandtschaft zwischen der Kunstrichtung unserer Zeit und jener vor beinahe
hundert Jahren, und, in der Tat, die Ähnlichkeiten sind überraschend. Das
Frontmachen gegen die Unnatur, sie sei nun Lüge oder Steifheit, die
Shakespeare-Bewunderung, das Aufhorchen auf die Klänge des Volksliedes – unsere
Zeit teilt diese charakteristischen Züge mit den sechziger und siebziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts, und es sollte uns nicht schwerfallen, die
Persönlichkeiten zu bezeichnen, welche die Herder und Bürger unserer Tage sind oder zu werden versprechen. Das
klingt wie Blasphemie und ist es doch keineswegs. Man warte ab, was sich aus
unsern jungen Kräften entwickelt, und überlasse es dem Jahre 1900, zwischen uns
und jenen zu entschei
Es dürfte vielleicht eben hier an der Stelle sein, mit wenigen
Worten auf das Verhältnis hinzuweisen, das die beiden Träger unserer sogenannten
klassischen Periode jener Richtung gegenüber einnehmen, die wir in Vorstehendem
nicht Anstand genommen haben entschieden als die unserige zu bezeichnen. Beide,
nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am
wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten.Misere mit Realismus verwechselte und bei
Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder
gar bei Produktionen jener sogenannten Tendenzbilder (schlesische Weber, das
Jagdrecht u. dgl. m.) sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung
vorgezeichnet zu haben.
Greif nur hinein ins volle Menschenleben,
Wo du es packst, da ist's interessant,
aber freilich, die Hand, die diesen Griff tut, muß eine
künstlerische sein. Das
Wenn wir in Vorstehendem – mit Ausnahme eines einzigen Kernspruchs
– uns lediglich negativ verhalten und überwiegend hervorgehoben haben, was der
Interessenvertretung“ auf seine Art. Er
umfängt das ganze reiche Leben, das Größte wie das Kleinste: den Kolumbus, der
der Welt eine neue zum Geschenk machte, und das Wassertierchen, dessen Weltall
der Tropfen ist; den höchsten Gedanken, die tiefste Empfindung zieht er in sein
[sic] Bereich, und die Grübeleien eines Goethe wie Lust und Leid eines Gretchen
sind sein Stoff. Denn alles das ist wirklich.