<quote>Für eine Philosophie der Fotografie</quote> <date>1983</date> Flusser, Vilém o:reko.flus.1983 Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen: European Photography 19999. (= Edition Flusser. Bd. 3.), S. 22-44. ISBN: 3-923283-38-5. Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen: European Photography 1983. (= Edition Flusser. Bd. 3.). ISBN: 3-923283-38-5. Genre Buch Media Fotografie

[…]Als die Werkzeuge im üblichen Sinne zu Maschinen wurden, hat sich ihr Verhältnis zum Menschen umgekehrt. Vor der Industrierevolution war der Mensch von Werkzeugen umgeben, nach ihr war die Maschine von Menschen umgeben. Vorher war das Werkzeug die Variable und der Mensch die Konstante, nachher wurde der Mensch die Variable und die Maschine die Konstante. Vorher funktionierte das Werkzeug in Funktion des Menschen, nachher der Mensch in Funktion der Maschine. Gilt das auch für den Fotoapparat als Maschine?

Die Größe und der hohe Preis der Maschinen hatten zur Folge, daß nur Kapitalisten sie besitzen konnten. Die meisten Menschen arbeiteten in Funktion der Maschinen: die Proletarier. Die Menschheit teilte sich in zwei Klassen, in die der Maschinenbesitzer, zu deren Nutzen die Maschinen arbeiteten, und in die Klasse der Proletarier, die in Funktion dieses Nutzens an den Maschinen arbeiteten. – Gilt das nun auch für den Fotoapparat, ist etwa der Fotograf ein Proletarier, und gibt es einen Fotokapitalisten?

All diese Fragen, obwohl es „gute Fragen“ sind, scheinen nicht das für Apparate Wesentliche zu treffen. Gewiß: Apparate informieren. Gewiß: Sie simulieren technisch Organe. Gewiß: Menschen funktionieren in Funktion von Apparaten. Gewiß: Es sind hinter den Apparaten Absichten und Interessen verborgen. Aber das ist nicht das Entscheidende an ihnen. All diese Fragen verlieren das Wesentliche aus dem Blick, weil sie aus dem Industriekomplex stammen. Die Apparate, obwohl Resultate der Industrie, weisen aber aus dem Industriekomplex hinaus in Richtung auf die nachindustrielle Gesellschaft. Daher ist eine industrielle Fragestellung (wie zum Beispiel die marxistische) für Apparate nicht mehr kompetent und geht an ihnen vorbei. Wir müssen nach neuen Kategorien greifen, um den Apparaten an den Leib rücken zu können und sie zu definieren.

Die Grundkategorie der Industriegesellschaft ist Arbeit: Werkzeuge und Maschinen leisten Arbeit, indem sie Gegenstände aus der Natur reißen und sie informieren, das heißt die Welt verändern. Aber die Apparate leisten keine Arbeit in diesem Sinn. Ihre Absicht ist nicht, die Welt zu verändern, sondern die Bedeutung der Welt zu verändern. Ihre Absicht ist symbolisch. Der Fotograf arbeitet nicht im industriellen Sinn, und es ist aussichtslos, ihn einen Arbeiter, einen Proletarier nennen zu wollen. Da die meisten Menschen gegenwärtig an und in Apparaten arbeiten, ist es müßig, vom Pro letariat zu sprechen. Die Kategorien unserer Kulturkritik müssen umgedacht werden.

Der Fotograf arbeitet zwar nicht, aber irgend etwas tut er: Er erzeugt, behandelt und speichert Symbole. Es hat immer Leute gegeben, die so etwas getan haben: Schriftsteller, Maler, Komponisten, Buchhalter, Verwalter. Dabei haben diese Leute Gegenstände hergestellt: Bücher, Gemälde, Partituren, Bilanzen, Pläne – Gegenstände, die nicht verbraucht wurden, sondern als Träger von Informationen dienten: Sie wurden gelesen, betrachtet gespielt, in Rechnung gezogen, als Entscheidungsgrundlage verwendet. Sie waren nicht Zweck, sondern Mittel. Gegenwärtig wird diese Art von Tätigkeit von den Apparaten übernommen. Dadurch werden die derart erzeugten Informationsgegenstände immer wirksamer und weitreichender, und sie können alle Arbeit im alten Sinn programmieren und kontrollieren. Und daher sind gegenwärtig die meisten Menschen an und in arbeitprogrammierenden und arbeitkontrollierenden Apparaten beschäftigt. Vor der Erfindung der Apparate wurde diese Art von Tätigkeit als „Dienstleistung“, als „tertiär“, als „geistige Arbeit“, kurz als Randerscheinung angesehen, gegenwärtig steht sie im Zentrum. Daher muß bei Kulturanalysen die Kategorie „Information“ anstelle der Kategorie „Arbeit“ angewandt werden.

Betrachtet man den Fotoapparat (und den Apparat allgemein) in diesem Sinn, dann erkennt man, daß er Symbole herstellt: symbolische Flächen, so wie sie ihm in einer bestimmten Weise vorgeschrieben wurden. Der Fotoapparat ist programmiert, Fotografien zu erzeugen, und jede Fotografie ist eine Verwirklichung einer der im Programm des Apparates enthaltenen Möglichkeiten. Die Zahl dieser Möglichkeiten ist groß, aber sie ist dennoch endlich: Es ist die Zahl all jener Fotografien, die von einem Apparat aufgenommen werden können. Zwar kann man, in der These, eine Fotografie auf gleiche oder sehr ähnliche Weise immer wieder aufnehmen,aber das ist für das Fotografieren uninteressant. Solche Bilder sind „redundant“: Sie tragen keine neue Information und sind überflüssig. Im folgenden wird von redundanten Fotografien abgesehen werden, womit der Begriff „Fotografieren“ auf das Herstellen von informativen Bildern eingeschränkt sein wird. Allerdings fällt dadurch der größte Teil aller Knipserei aus dem Rahmen dieser Untersuchung.

Mit jeder (informativen) Fotografie wird das Fotoprogramm um eine Möglichkeit ärmer, während das Fotouniversum um eine Verwirklichung reicher wird. Der Fotograf ist bemüht, das Fotoprogramm zu erschöpfen, indem er alle seine Möglichkeiten verwirklicht. Aber dieses Programm ist reich und unübersichtlich. So bemüht sich der Fotograf, die in ihm noch unentdeckten Möglichkeiten ausfindig zu machen: Er behandelt den Apparat, dreht ihn hin und her, sieht in ihn hinein und durch ihn hindurch. Wenn er durch den Apparat in die Welt hinausschaut, dann nicht, weil diese ihn interessiert, sondern weil er nach neuen Möglichkeiten sucht, Informationen herzustellen und das Fotoprogramm auszuwerten. Sein Interesse ist auf den Apparat konzentriert, die Welt ihm nur Vorwand für die Verwirklichung von Apparatmöglichkeiten. Kurz: Er arbeitet nicht, er will nicht die Welt verändern, sondern er sucht nach Informationen.

Eine solche Tätigkeit ist der des Schachspielens vergleichbar. Auch der Schachspieler sucht nach neuen Möglichkeiten im Schachprogramm, nach neuen Zügen. So wie er mit den Steinen spielt, spielt der Fotograf mit dem Apparat. Der Fotoapparat ist kein Werkzeug, sondern ein Spielzeug, und der Fotograf kein Arbeiter, sondern ein Spieler: nicht „Homo faber“, sondern „Homo ludens“. Nur spielt der Fotograf nicht mit, sondern gegen sein Spielzeug. Er kriecht in den Apparat hinein, um die darin verborgenen Schliche ans Licht zu bringen. Anders als der vom Werkzeug umgebene Handwerker und der an der Maschine stehende Arbeiter istder Fotograf im Apparat drinnen und mit dem Apparat verflochten. Dies ist eine neuartige Funktion, bei der der Mensch weder die Konstante noch die Variable ist, sondern in der Mensch und Apparat zur Einheit verschwimmen. Deshalb ist es angebracht, den Fotografen einen Funktionär zu nennen.

Das Apparatprogramm muß reich sein, sonst wäre das Spiel bald aus. Die in ihm enthaltenen Möglichkeiten müssen die Fähigkeit des Funktionärs, sie zu erschöpfen, übertreffen, das heißt, die Kompetenz des Apparates muß größer sein als die seiner Funktionäre. Kein richtig programmierter Fotoapparat kann zur Gänze von einem Fotografen, und auch nicht von der Gesamtheit aller Fotografen, durchschaut werden. Er ist eine Black Box.

Und gerade die Schwärze der Kiste ist für den Fotografen das Motiv zum Fotografieren. Er verliert sich zwar im Inneren des Apparates bei seiner Suche nach Möglichkeiten, aber er kann die Kiste doch beherrschen. Denn er weiß, wie er den Apparat zu füttern hat (er kennt den Input der Kiste), und er weiß ebenso, wie er ihn zum Speien von Fotografien bringen kann (er kennt den Output der Kiste). Daher tut der Apparat, was der Fotograf von ihm will, obwohl der Fotograf nicht weiß, was im Inneren des Apparates vor sich geht. Eben dies ist für alles apparatische Funktionieren charakteristisch: Der Funktionär beherrscht den Apparat dank der Kontrolle seiner Außenseiten (des Input und Output) und wird von ihm beherrscht dank der Undurchsichtigkeit seines Inneren. Anders gesagt: Funktionäre beherrschen ein Spiel, für das sie nicht kompetent sein können. Kafka.

Wie noch gezeigt werden wird, bestehen die Programme der Apparate aus Symbolen. Funktionieren heißt dann, mit Symbolen spielen und diese kombinieren. Ein anachronistisches Beispiel mag das illustrieren: Der Schriftsteller kann als ein Funktionär des Apparates „Sprache“ angesehen werden, der mit den im Sprachprogramm enthaltenen Symbolen – mit Worten – spielt, indem er siekombiniert. Seine Absicht besteht darin, das Sprachprogramm zu erschöpfen und das Sprachuniversum, die Literatur, zu bereichern. Das Beispiel ist anachronistisch, weil die Sprache kein Apparat ist; sie wurde nicht als Simulation eines Körperorgans erzeugt, und sie fußt auch nicht, in ihrer Erzeugung, auf Theorien irgendwelcher Wissenschaften. Trotzdem kann die Sprache gegenwärtig apparatisiert werden: „Word Processors“ können die Schriftsteller ersetzen. Bei seinem Wortspiel informiert der Schriftsteller Seiten – er drückt ihnen Buchstaben auf –, was auch der Word Processor tun kann, und obwohl dies „automatisch“, das heißt zufällig geschieht, kann er, auf lange Sicht, die gleichen Informationen wie der Schriftsteller erzeugen.

Aber es gibt Apparate, die zu ganz anderen Spielen fähig sind. Während Schriftsteller und Word Processors statisch informieren (die Symbole, die sie auf Seiten drücken, bedeuten konventionalisierte Laute), gibt es auch Apparate, die dynamisch informieren: Die Symbole, die sie auf Gegenstände drücken, bedeuten spezifische Bewegungen (zum Beispiel Arbeitsbewegungen), und die derart informierten Gegenstände entziffern diese Symbole und bewegen sich laut Programm. Diese „intelligenten Werkzeuge“ ersetzen die menschliche Arbeit und emanzipieren den Menschen vom Arbeitszwang: Von nun ab ist er frei, zu spielen.

Der Fotoapparat illustriert diese Robotisierung der Arbeit und diese Befreiung des Menschen fürs Spiel. Er ist ein intelligentes Werkzeug, denn er erzeugt Bilder automatisch. Der Fotograf muß sich nicht mehr, wie der Maler, auf einen Pinsel konzentrieren, sondern kann sich ganz dem Spiel mit der Kamera widmen. Die zu leistende Arbeit, das Drücken des Bildes auf die Fläche, geschieht automatisch: Die Werkzeugseite des Apparates ist „erledigt“, der Mensch ist nur noch mit der Spielzeugseite des Apparates beschäftigt.

Es gibt somit zwei ineinander verschlungene Programme im Fotoapparat: Das eine bewegt den Apparat zum automatischen Bildermachen, das andere erlaubt dem Fotografen, zu spielen. Dahinter stehen noch weitere Programme – das der Fotoindustrie, das den Fotoapparat programmiert hat; das des Industrieparks, das die Fotoindustrie programmiert hat; das des sozio-ökonomischen Apparates, das den Industriepark programmiert hat; und so fort. Freilich, ein „letztes“ Programm eines „letzten“ Apparates kann es nicht geben, da jedes Programm ein Metaprogramm erfordert, von dem aus es programmiert wird. Die Programmhierarchie ist nach oben offen.

Jedes Programm funktioniert in Funktion eines Metaprogramms, und die Programmierer eines Programms sind Funktionäre dieses Metaprogramms. Folglich kann es keinen Besitzer von Apparaten geben in dem Sinne, daß Menschen Apparate für ihre eigenen, privaten Zwecke programmieren. Denn Apparate sind keine Maschinen. Der Fotoapparat funktioniert für die Fotoindustrie, diese für den Industriepark, dieser für den sozio-ökonomischen Apparat, und so fort. Die Frage nach einem Apparatbesitzer ist somit sinnlos. Nicht wer ihn besitzt, sondern wer sein Programm erschöpft, steht zur Frage. Und nicht zuletzt hat es aus folgendem Grund wenig Sinn, einen Apparat wie einen Gegenstand besitzen zu wollen.

Zwar sind viele Apparate harte Gegenstände: Der Fotoapparat ist aus Metall, Glas, Plastik u. a. gebaut. Aber nicht diese Härte ist es, die sie zum Spielen befähigt, nicht das Holz des Schachbretts und der Schachfiguren ermöglicht das Spielen, sondern die Regeln des Spiels, das Schachprogramm. Was man beim Kauf eines Fotoapparates bezahlt, sind nicht so sehr das Metall oder Plastik, sondern das Programm, das den Apparat erst befähigt, Bilder zu erzeugen – so wie allgemein das Harte der Apparate, die „Hardware“, ständig billiger, das Weiche an ihnen, die „Software“, ständig teurer wird. An den weichsten unter den Apparaten, zum Beispiel denpolitischen Apparaten, läßt sich ablesen, was für die gesamte nachindustrielle Gesellschaft charakteristisch ist: Nicht wer den harten Gegenstand besitzt, verfügt über einen Wert, sondern wer sein weiches Programm kontrolliert. Das weiche Symbol, nicht der harte Gegenstand, ist wertvoll: Umwertung aller Werte.

Die Macht ist vom Besitzer der Gegenstände auf den Programmierer und Operator übergegangen. Das Spiel mit Symbolen ist Machtspiel geworden – ein hierarchisches Machtspiel: Der Fotograf hat Macht über die Betrachter seiner Fotografien, er programmiert ihr Verhalten; und der Apparat hat Macht über den Fotografen, er programmiert seine Gesten. Diese Umlenkung von Macht vom Dinglichen auf das Symbolische ist das eigentlich Kennzeichnende dessen, was wir „Informationsgesellschaft“ und „nachindustriellen Imperialismus“ nennen. Siehe Japan: Es besitzt weder Rohstoffe noch Energie – seine Macht beruht auf Programmierung, „Data Processing“, Informationen, Symbolen.

Diese Überlegungen erlauben, nunmehr folgende Definition des Begriffs „Apparat“ zu versuchen: Er ist ein komplexes Spielzeug, so komplex, daß die damit Spielenden es nicht durchblicken können; sein Spiel besteht aus Kombinationen der in seinem Programm enthaltenen Symbole, wobei dieses Programm von einem Metaprogramm eingetragen wurde und das Spielresultat weitere Programme sind; während vollautomatisierte Apparate auf menschliche Interventionen verzichten können, erfordern viele Apparate den Menschen als Spieler und Funktionär.

Apparate wurden erfunden, um spezifische Denkprozesse zu simulieren. Es beginnt erst gegenwärtig (nach Erfindung der Computer) und sozusagen nachträglich deutlich zu werden, um welche Art von Denkprozessen es sich bei allen Apparaten handelt. Nämlich um das sich in Zahlen ausdrückende Denken. Alle Apparate (und nicht erst Computer) sind Rechenmaschinen und in diesem Sinne „künstliche Intelligenzen“, auch schon die Kamera, obwohlsich ihre Erfinder nicht Rechenschaft davon ablegen konnten. In allen Apparaten (auch schon in der Kamera) gewinnt das Zahlendenken Oberhand über das lineare, historische Denken. Diese Tendenz, das buchstäbliche Denken dem Zahlendenken unterzuordnen, ist seit Descartes im wissenschaftlichen Diskurs angelegt, da es sich ja darum handelt, das Denken an eine aus Punktelementen zusammengefügte „ausgedehnte Sache“ anzugleichen. Für eine derartige „Adäquation des denkenden ans ausgedehnte Ding“ sind nur Zahlen geeignet. Seit mindestens Descartes (und wahrscheinlich schon seit Cusaner) neigt der wissenschaftliche Diskurs zum Umcodieren des Denkens in Zahlen, aber erst in der Kamera wird diese Tendenz geradezu stofflich: Die Kamera (wie alle darauf folgenden Apparate) ist zu Hardware geronnenes kalkulatorisches Denken. Daher die quantische (kalkulatorische) Struktur aller Apparatbewegungen und -funktionen.

Kurz: Apparate sind Black Boxes, die das Denken im Sinne eines Kombinationsspiels mit zahlenähnlichen Symbolen simulieren und dabei dieses Denken so mechanisieren, daß künftig Menschen dafür immer weniger kompetent werden und es immer mehr den Apparaten überlassen müssen. Es sind wissenschaftliche Black Boxes, welche diese Art von Denken besser leisten als Menschen, weil sie mit den zahlenähnlichen Symbolen besser (schneller und fehlerfreier) spielen als sie. Selbst nicht vollautomatisierte Apparate (jene, welche Menschen als Spieler und Funktionäre benötigen) spielen und funktionieren besser als die von ihnen benötigten Menschen. Davon ist bei jeder Betrachtung der fotografischen Geste auszugehen.

IV DIE GESTE DES FOTOGRAFIERENS

Betrachtet man die Bewegungen eines mit einem Fotoapparat versehenen Menschen (beziehungsweise eines mit einem Menschen versehenen Fotoapparates), dann gewinnt man den Eindruck eines Lauerns: Es ist die uralte pirschende Geste des paläolithischen Jägers in der Tundra. Nur verfolgt der Fotograf sein Wild nicht im offenen Grasland, sondern im Dickicht der Kulturobjekte, und seine Schleichwege sind von dieser künstlichen Taiga geformt. Die Widerstände der Kultur, die kulturelle Bedingtheit, ist der fotografischen Geste anzusehen, und sie müßte, in der These, aus den Fotografien herausgelesen werden können.

Das fotografische Dickicht besteht aus Kulturgegenständen, das heißt aus Gegenständen, welche „absichtlich hingestellt“ wurden. Jeder dieser Gegenstände verstellt dem Fotografen den Blick auf sein Wild. Er schleicht zwischen ihnen hindurch, um der in ihnen verborgenen Absicht auszuweichen. Er will sich von seiner Kulturbedingung emanzipieren, will sein Wild unbedingt schnappen. Darum verlaufen die fotografischen Wege im Dickicht der westlichen Kultur anders als im Dickicht Japans oder dem eines unterentwickelten Landes. In der These erscheinen demnach die Kulturbedingungen gewissermaßen „negativ“ in der Fotografie, als umgangene Widerstände. Die Fotokritik müßte diese Kulturbedingungen aus der Fotografie rekonstruieren können – und das nicht nur im Falle von Dokumentar- und Reportagefotografien, bei denen die Kulturbedingung selbst das zu schnappende Wild ist. Denn die Struktur der Kulturbedingung ist im Akt des Fotografierens, nicht im Objekt des Fotografierens, aufgehoben.

Eine derartige Entzifferung der Kulturbedingung des Fotografen ist aber beinahe unmöglich. Denn was in der Fotografie erscheint, sind die Kategorien des Fotoapparates, die wie ein Netz die Kultur bedingung umhüllen und die Sicht nur durch die Maschen des Netzes freigeben. Das ist für alles Funktionieren charakteristisch: Die Kategorien des Apparates setzen sich auf die Kulturbedingung auf und filtrieren sie. Die einzelnen Kulturbedingungen treten damit in den Hintergrund: Gleichgeschaltete Massenkultur der Apparate ist die Folge; im Westen, in Japan, in den unterentwickelten Ländern – überall wird alles durch die gleichen Kategorien hindurch aufgenommen. Kant wird unvermeidlich.

Die Kategorien des Fotoapparates sind auf dessen Außenseite eingetragen und können dort manipuliert werden, das heißt, solange der Apparat nicht voll automatisiert ist. Es sind dies die Kategorien der fotografischen Raumzeit. Sie sind weder newtonisch noch einsteinisch, sondern teilen die Raumzeit in ziemlich deutlich voneinander getrennte Regionen. Alle diese Raumzeit-Regionen sind Abstände vom zu schnappenden Wild, Sichten auf das „fotografische Objekt“, das im Zentrum der Raumzeit steht. Etwa: eine Raumregion für hautnahe, eine für nahe, eine für mittlere, eine für sehr weite Sicht; eine Raumregion für Vogel-, eine für Frosch-, eine für Kleinkindperspektive; eine für direktes Starren mit archaisch geöffneten Augen, eine für seitliches Schielen. Oder: eine Zeitregion (Verschlußzeit) für blitzschnelles Sehen, eine für rasches Hinblicken, eine für geruhsames Ansehen, eine für grübelndes Schauen. – In dieser Raumzeit bewegt sich die fotografische Geste.

Während seines Pirschens wechselt der Fotograf von einer Raumzeitform in eine andere, wobei er die Raum- und Zeitkategorien kombinatorisch aufeinander abstimmt. Sein Schleichen ist ein Kombinationsspiel mit den Kategorien des Apparates, und es ist die Struktur dieses Spiels – und nicht unmittelbar die Struktur der Kulturbedingung selbst –, die wir aus der Fotografie herauslesen können.

Der Fotograf wählt eine Kategorien-Kombination aus, das heißt, er stellt den Apparat beispielsweise so ein, daß er sein Wild mit ei nem seitlich von unten kommenden Blitz erlegen kann. Es sieht hier so aus, als könne der Fotograf frei wählen, als folge die Kamera seiner Absicht. Aber die Wahl bleibt auf die Kategorien des Apparates beschränkt, und die Freiheit des Fotografen bleibt eine programmierte Freiheit. Während der Apparat in Funktion der Absicht des Fotografen funktioniert, funktioniert diese Absicht selbst in Funktion des Programms des Apparats. Selbstredend kann der Fotograf neue Kategorien erfinden. Aber dann springt er aus der fotografischen Geste hinaus ins Metaprogramm der Fotoindustrie oder des Eigenbaus, von wo aus Fotoapparate programmiert werden. Anders gesagt: In der Fotogeste tut der Apparat, was der Fotograf will, und der Fotograf muß wollen, was der Apparat kann.

Die gleiche Verzahnung der Funktion des Fotografen und des Apparates kann aus der Wahl des zu fotografierenden „Objekts“ ersehen werden. Der Fotograf kann alles aufnehmen: ein Gesicht, eine Laus, die Spur eines Atompartikels in der Wilsonkammer, einen Spiralnebel, seine eigene Fotogeste im Spiegel. Doch in Wirklichkeit kann er eben nur Fotografierbares aufnehmen, das heißt: alles, was im Programm steht. Und fotografierbar sind nur Sachverhalte. Was immer der Fotograf aufnehmen will, er muß es in Sachverhalte übersetzen. Demnach ist zwar die Wahl des aufzunehmenden „Objekts“ frei, aber sie ist eine Funktion des Programms des Apparats.

Bei der Wahl seiner Kategorien mag der Fotograf meinen, eigene ästhetische, erkenntnistheoretische oder politische Kriterien ins Spiel zu bringen. Er mag sich vornehmen, künstlerische, wissenschaftliche oder politische Bilder zu machen, bei denen ihm der Apparat nur Mittel ist. Aber seine scheinbar außer-apparatischen Kriterien bleiben dennoch dem Apparatprogramm unterworfen. Um die Apparat-Kategorien, so wie sie auf der Außenseite des Apparates programmiert sind, wählen zu können, muß der Fotograf den Apparat „einstellen“, und das ist eine technische Geste, genau er: eine begriffliche Geste („Begriff“, wie noch zu zeigen sein wird, ist ein klares und distinktes Element des linearen Denkens). Um den Apparat für künstlerische, wissenschaftliche und politische Bilder einstellen zu können, muß der Fotograf Begriffe von Kunst, Wissenschaft und Politik haben: Wie anders sollte er sie sonst ins Bild übersetzen können? Es gibt kein naives, unbegriffenes Fotografieren. Die Fotografie ist ein Bild von Begriffen. In diesem Sinne sind alle Kriterien des Fotografen im Programm des Apparates als Begriffe enthalten.

Die im Apparatprogramm enthaltenen Möglichkeiten sind praktisch unerschöpflich. Man kann nicht alles Fotografierbare tatsächlich fotografieren. Die Imagination des Apparates ist größer als die jedes einzelnen Fotografen und die aller Fotografen zusammen: Gerade darin liegt die Herausforderung an den Fotografen. Gleichwohl gibt es Teile des Fotoprogramms, die bereits gut erforscht sind. Man kann dort zwar immer neue Bilder machen, aber es wären redundante, nicht informative Bilder, solche, die man ähnlich schon gesehen hat. Wie an anderer Stelle gesagt wurde, interessieren redundante Fotografien in dieser Untersuchung nicht; der Fotograf im hier gemeinten Sinne sucht nach noch unerforschten Möglichkeiten im Apparatprogramm, nach informativen, nie zuvor gesehenen, unwahrscheinlichen Bildern.

Im Grunde will also der Fotograf noch nie vorher dagewesene Sachverhalte herstellen, und er sucht nach ihnen nicht dort draußen in der Welt, da ihm die Welt nur Vorwand für die herzustellenden Sachverhalte ist, er sucht nach ihnen unter den im Apparatprogramm enthaltenen Möglichkeiten. Insofern ist die traditionelle Unterscheidung zwischen Realismus und Idealismus mit der Fotografie überwunden: Nicht die Welt dort draußen ist wirklich und nicht der Begriff hier drinnen im Apparatprogramm, sondern wirklich ist erst die Fotografie. Welt und Apparatprogramm sind nur Voraussetzungen für das Bild, sind zu verwirklichende Möglichkei ten. Es geht hier um ein Umkehren des Bedeutungsvektors: Nicht die Bedeutung, sondern das Bedeutende, die Information, das Symbol sind wirklich, und diese Umkehrung des Bedeutungsvektors ist kennzeichnend für alles Apparatische und für die Nachindustrie überhaupt.

Die Fotogeste gliedert sich in eine Sequenz von Sprüngen, mit denen der Fotograf die unsichtbaren Hürden der einzelnen Raumzeit-Kategorien überwindet. Stößt er an eine solche Hürde (zum Beispiel an die Grenze zwischen Nahaufnahme und Totale), dann stutzt er und steht vor der Entscheidung, wie er den Apparat einzustellen hat. (Bei vollautomatischen Kameras ist dieses Springen, dieser quantische Charakter des Fotografierens vollends unsichtbar geworden – die Sprünge gehen hier im mikroelektronischen „Nervensystem“ des Apparats vor sich.) Diese Art von sprunghaftem Suchen heißt „Zweifel“. Der Fotograf zweifelt, aber nicht in der Art eines wissenschaftlichen, religiösen oder existentiellen Zweifels, sondern im Sinne einer neuen Art von Zweifel, bei welchem Stutzen und Entscheidung zu Körnern zerrieben werden – eines quantelnden, atomisierten Zweifels. Jedesmal, wenn der Fotograf auf eine Hürde stößt, entdeckt er, daß der von ihm eingenommene Standpunkt aufs „Objekt“ konzentriert ist und daß ihm der Apparat unzählige andere Standpunkte gestattet. Er entdeckt die Vielzahl und Ebenbürtigkeit der Standpunkte seinem „Objekt“ gegenüber. Er entdeckt, daß es nicht darum geht, einen vorzüglichen Standpunkt einzunehmen, sondern darum, so viele Standpunkte wie möglich zu realisieren. Seine Wahl ist also nicht qualitativer, sondern quantitativer Art. „Vivre le plus, non pas le mieux.“

Die Fotogeste ist die des „phänomenologischen Zweifels“, insofern sie versucht, sich den Phänomenen von zahlreichen Standpunkten aus zu nähern. Aber die „Mathesis“ dieses Zweifels (ihre tiefere Struktur) ist vom Apparatprogramm vorgezeichnet. Zwei Aspekte sind für diesen Zweifel entscheidend. Erstens: Die Praxisdes Fotografen ist ideologiefeindlich. Ideologie ist das Bestehen auf einem einzigen, für vorzüglich gehaltenen Standpunkt. Der Fotograf handelt nachideologisch selbst dann, wenn er glaubt, einer Ideologie zu dienen. Zweitens: Die Praxis des Fotografen ist an ein Programm gebunden. Der Fotograf kann nur innerhalb des Apparatprogramms handeln, selbst wenn er glaubt, gegen dieses Programm zu handeln. Dies gilt für alles nachindustrielle Handeln: Es ist „phänomenologisch“ im Sinn von ideologiefeindlich, und es ist ein programmiertes Handeln. Darum ist es ein Irrtum, von Ideologisierung seitens der Massenkultur (etwa seitens der Massenfotografie) zu sprechen. Programmierung ist nachideologisches Manipulieren.

Schließlich wird in der Fotogeste eine letzte Entscheidung getroffen: der Druck auf den Auslöser – wie schließlich der amerikanische Präsident auf den roten Knopf drückt. In Wirklichkeit aber sind diese letzten Entscheidungen nur die letzten einer Serie von sandkornartigen Teilentscheidungen: im Fall des amerikanischen Präsidenten der letzte Strohhalm, der dem Kamel den Rücken bricht; eine Quantum-Entscheidung. Da folglich keine Entscheidung wirklich „entscheidend“ ist, sondern Teil einer Serie von klaren und distinkten Quanta-Entscheidungen, kann auch nur eine Serie von Fotografien die Absicht des Fotografen belegen. Denn keine einzelne Fotografie ist tatsächlich entscheidend, selbst die „letzte Entscheidung“ findet sich in der Fotografie zerkörnert.

Der Fotograf versucht, dieser Zerkörnerung zu entgehen, indem er aus seinen Bildern einige auswählt, etwa wie der Filmregisseur das Filmband schneidet. Aber auch dann ist seine Wahl quantisch, denn er kann nicht umhin, aus einer Serie von klaren und distinkten Flächen einige herauszuheben. Selbst in dieser scheinbar nachapparatischen Situation der Fotografiewahl ist die quantische, atomistische Struktur alles Fotografischen (und alles Apparatischen schlechthin) ersichtlich.

Zusammenfassend: Die Fotogeste ist eine Jagdbewegung, bei der Fotograf und Apparat zu einer unteilbaren Funktion verfließen. Sie jagt nach neuen Sachverhalten, nach noch nie vorher gesehenen Situationen, nach Unwahrscheinlichem, nach Informationen. Die Struktur der Fotogeste ist quantisch: ein aus punktartigem Zögern und punktartigem Sich-Entscheiden aufgebauter Zweifel. Es geht bei ihr um eine typisch nachindustrielle Geste: Sie ist nachideologisch und programmiert, und die Wirklichkeit ist für sie die Information, nicht die Bedeutung dieser Information. Und dies gilt nicht nur für Fotografen, sondern für alle Funktionäre, vom Bankbeamten bis zum Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Das Resultat der fotografischen Geste sind Fotografien, so wie sie uns gegenwärtig von allen Seiten her angehen. Daher kann die Betrachtung dieser Geste als Einführung zu diesen überall gegenwärtigen Flächen dienen.

V DIE FOTOGRAFIE

Fotografien sind allgegenwärtig: in Alben, Zeitschriften, Büchern, Vitrinen, auf Plakaten, Einkaufstüten, Konservenbüchsen. Was bedeutet das? Die vorangegangenen Überlegungen haben die noch zu untersuchende These vorgeschlagen, daß diese Bilder Begriffe in einem Programm bedeuten und daß sie die Gesellschaft für ein sekundär magisches Verhalten programmieren. Wer sich jedoch die Fotos naiv ansieht, für den bedeuten sie etwas anderes, nämlich Sachverhalte, die sich aus der Welt heraus kommend auf Flächen abgebildet haben. Für ihn stellen die Fotos die Welt selbst vor. Zwar wird der naive Betrachter zugeben, daß sich die Sachverhalte auf der Fläche von spezifischen Blickwinkeln aus darstellen, aber das wird ihm kaum Kopfzerbrechen bereiten. Jede Philosophie der Fotografie wird ihm daher als müßige Denkgymnastik erscheinen.

Ein solcher Betrachter nimmt stillschweigend an, daß er durch die Fotos hindurch die Welt dort draußen ersieht, und daß daher das Universum der Fotografie sich mit der Welt dort draußen deckt (was immerhin einer rudimentären Fotophilosophie gleichkommt). Aber stimmt das? Der naive Betrachter sieht, daß im Fotouniversum schwarz-weiße und bunte Sachverhalte anzutreffen sind. Aber gibt es etwa schwarz-weiße und bunte Sachverhalte in der Welt dort draußen? Und wenn nicht, wie verhält sich das Fotouniversum zu der Welt dort draußen? Schon mit dieser Frage befindet sich der naive Betrachter mitten in der Fotophilosophie, die er vermeiden wollte.

Schwarz-weiße Sachverhalte kann es in der Welt nicht geben, weil Schwarz und Weiß Grenzfälle, „Idealfälle“ sind: Schwarz ist totale Abwesenheit aller im Licht enthaltenen Schwingungen, Weiß totale Gegenwart aller Schwingungselemente. Schwarz und Weißsind Begriffe, zum Beispiel theoretische Begriffe der Optik. Da schwarz-weiße Sachverhalte theoretisch sind, kann es sie in der Welt tatsächlich nicht geben. Aber schwarz-weiße Fotos, die gibt es tatsächlich. Denn sie sind Bilder von Begriffen der Theorie der Optik, das heißt, sie sind aus dieser Theorie entstanden.

Schwarz und Weiß gibt es nicht, aber es sollte sie geben, denn könnten wir die Welt in Schwarz-weiß sehen, wäre sie logisch analysierbar. In so einer Welt wäre alles entweder schwarz oder weiß oder eine Mischung aus beidem. Der Nachteil einer solchen schwarz-weißen Weltanschauung wäre freilich, daß diese Mischung nicht farbig, sondern grau ausfiele. Grau ist die Farbe der Theorie: was zeigt, daß man aus einer theoretischen Analyse die Welt nicht mehr rücksynthetisieren kann. Die schwarz-weißen Fotos zeigen diesen Umstand: Sie sind grau, Bilder von Theorien.

Schon lange vor Erfindung der Fotografie hat man versucht, sich die Welt schwarz-weiß vorzustellen. Hier zwei Beispiele für diesen vor-fotografischen Manichäismus: Man abstrahierte aus der Welt der Urteile die „wahren“ und die „falschen“ und baute aus diesen Abstraktionen die Aristotelische Logik mit ihrer Identität, Differenz und ausgeschlossenem Dritten. Die auf diese Logik gegründeten modernen Wissenschaften funktionieren tatsächlich, obwohl kein Urteil je vollkommen wahr oder falsch ist und obwohl jedes wahre Urteil unter logischer Analyse auf Null reduziert wird. Das zweite Beispiel: Man abstrahierte aus der Welt der Handlungen die „guten“ und die „bösen“ und baute aus diesen Abstraktionen religiöse und politische Ideologien. Die auf ihnen gegründeten Gesellschaftssysteme funktionieren tatsächlich, obwohl keine Handlung je vollkommen gut oder böse ist und obwohl jede Handlung unter ideologischer Analyse auf eine Marionettenbewegung reduziert wird. Schwarz-weiße Fotos sind von der gleichen Art Manichäismus, nur daß sie über Fotoapparate verfügen. Und auch sie funktionieren tatsächlich:

Sie übersetzen eine Theorie der Optik in ein Bild und laden dadurch diese Theorie magisch auf und codieren theoretische Begriffe wie „schwarz“ und „weiß“ in Sachverhalte um. Schwarz-weiße Fotos sind die Magie des theoretischen Denkens, denn sie verwandeln den theoretischen linearen Diskurs zu Flächen. Darin liegt ihre eigentümliche Schönheit, die die Schönheit des begrifflichen Universums ist. Viele Fotografen ziehen denn auch schwarz-weiße Fotos den farbigen vor, weil sich in ihnen die eigentliche Bedeutung der Fotografie, nämlich die Welt der Begriffe, klarer offenbart.

Die ersten Fotos waren schwarz-weiß und bezeugten ihren Ursprung aus der Theorie der Optik noch deutlich. Doch mit dem Fortschreiten einer anderen Theorie, der der Chemie, wurden schließlich auch bunte Fotos möglich. Scheinbar also abstrahierten die Fotos zuerst die Farben aus der Welt, um sie dann wieder hineinzuschmuggeln. In Wirklichkeit sind jedoch die Fotofarben mindestens ebenso theoretisch wie das Foto-Schwarzweiß. Das Grün der fotografierten Wiese etwa ist ein Bild des Begriffs „grün“, so wie er in der Theorie der Chemie vorkommt, und die Kamera (beziehungsweise der in sie eingelegte Film) ist programmiert, diesen Begriff ins Bild zu übersetzen. Zwar gibt es eine sehr indirekte, weitläufige Verbindung zwischen dem Foto-Grün und dem Grün der Wiese, weil der chemische Begriff „grün“ auf Vorstellungen beruht, die aus der Welt gewonnen wurden; aber zwischen dem Foto-Grün und dem Wiesen-Grün ist eine ganze Reihe komplexer Codierungen eingeschoben, eine Reihe, die komplexer ist als jene, die das Grau der schwarz-weiß fotografierten Wiese mit dem Wiesengrün verbindet. In diesem Sinne ist die grün fotografierte Wiese abstrakter als die graue. Farbfotografien stehen auf einer höheren Ebene der Abstraktion als die schwarz-weißen. Schwarzweiß-Fotos sind konkreter und in diesem Sinne wahrer: Sie offenbaren ihre theoretische Herkunft deutlicher; und umgekehrt: Je „echter“ dieFotofarben werden, desto lügnerischer sind sie, desto mehr vertuschen sie ihre theoretische Herkunft.

Was für die Fotofarben gilt, gilt auch für alle übrigen Elemente des Fotos. Sie alle stellen transcodierte Begriffe dar, die vorgeben, sich automatisch aus der Welt her auf der Fläche abgebildet zu haben. Eben diese Täuschung muß entziffert werden – um die wahre Bedeutung der Fotografie, nämlich programmierte Begriffe, aufzuzeigen; um offenzulegen, daß es sich bei der Fotografie um einen Symbolkomplex von abstrakten Begriffen, um zu symbolischen Sachverhalten umcodierte Diskurse handelt.

Hier muß man sich darüber einigen, wie „entziffern“ zu verstehen sein soll. Was tue ich, wenn ich einen in lateinischen Buchstaben verschlüsselten Text entziffere? Entziffere ich die Bedeutung der Buchstaben, also konventionalisierte Laute einer gesprochenen Sprache? Entziffere ich die Bedeutung der aus diesen Buchstaben zusammengesetzten Worte? Die Bedeutung der aus diesen Worten zusammengesetzten Sätze? Oder muß ich weitersuchen – nach der Absicht des Schriftstellers, dem dahinterliegenden Kulturkontext? Was tue ich, wenn ich ein Foto entziffere? Entziffere ich die Bedeutung des „Grün“, also einen Begriff des chemisch-theoretischen Diskurses? Oder muß ich weitersuchen, bis in die Absicht des Fotografen und in seinen Kulturkontext? Wann kann ich mich mit dem Entziffern zufriedengeben?

Stellt man die Frage so, dann gibt es für das Entziffern keine befriedigende Lösung. Man geriete in ein bodenloses Unterfangen, denn jede eben entzifferte Ebene würde sogleich eine noch zu entziffernde bloßlegen. Jedes Symbol ist nur die Spitze eines Eisbergs im Ozean des kulturellen Konsensus, und hätte man eine einzige Botschaft bis auf den Grund entziffert – die gesamte Kultur mit all ihrer Geschichte und Gegenwart läge zutage. So „radikal“ getrieben, würde sich die Kritik an jeder einzelnen Botschaft als Kulturkritik schlechthin erweisen.

Im Fall der Fotografie läßt sich dieser Sturz in den unendlichen Rekurs jedoch vermeiden, denn man kann sich damit zufriedengeben, die im Komplex „Fotograf/Apparat“ vor sich gehenden codierenden Intentionen aufzudecken. Hat man diese Codierung aus dem Foto herausgelesen, dann kann es als entziffert gelten. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß man zwischen der Absicht des Fotografen und dem Programm des Apparats unterscheidet. Faktisch sind diese beiden Faktoren verzahnt und können nicht getrennt werden; aber theoretisch, zum Zweck des Entzifferns, kann man sie getrennt betrachten, in jedem einzelnen Foto.

Auf ein Minimum reduziert, ist die Absicht des Fotografen diese: Erstens, seine Begriffe von der Welt in Bilder zu verschlüsseln. Zweitens, sich dabei eines Fotoapparats zu bedienen. Drittens, die so entstandenen Bilder anderen zu zeigen, damit sie ihnen als Modelle für ihr Erleben, Erkennen, Werten und Handeln dienen mögen. Viertens, diese Modelle so dauerhaft wie nur möglich zu erstellen. Kurz: Die Absicht des Fotografen ist, andere zu informieren und durch seine Fotos im Gedächtnis der anderen sich unsterblich zu machen. Für den Fotografen sind seine Begriffe (und die Vorstellungen, welche von diesen Begriffen bedeutet werden) die Hauptsache beim Fotografieren, und das Apparatprogramm soll dieser Hauptsache dienen.

Ebenso auf ein Minimum reduziert, ist das Apparatprogramm dieses: Erstens, die in ihm enthaltenen Möglichkeiten ins Bild zu setzen. Zweitens, sich dabei eines Fotografen zu bedienen, außer in Grenzfällen der völligen Automation (etwa bei Satellitenfotografien). Drittens, die so entstandenen Bilder so zu verteilen, daß die Gesellschaft sich in einem Feedback zum Apparat verhält, das diesen befähigt, sich fortschreitend zu verbessern. Viertens, immer bessere Bilder herzustellen. Kurz: Das Apparatprogramm sieht vor, seine Möglichkeiten zu verwirklichen und dabei die Gesellschaft als Feedback für seine fortschreitende Verbesserung zu verwen den. Hinter diesem Programm stehen, wie schon erwähnt, weitere Programme (das der Fotoindustrie, des Industrieparks, des sozio-ökonomischen Apparats), durch deren gesamte Hierarchie die gigantische Absicht strömt, die Gesellschaft für ein Verhalten zugunsten der fortschreitenden Verbesserung der Apparate zu programmieren. Diese Absicht ist aus jedem einzelnen Foto zu ersehen und aus ihm zu entziffern.

Ein Vergleich der Absicht des Fotografen mit dem Apparatprogramm zeigt, daß es Punkte gibt, an denen beide konvergieren, und andere, an denen sie divergieren. An den konvergierenden Punkten wirken beide zusammen, an den divergierenden kämpfen sie gegeneinander. Jede einzelne Fotografie ist das Resultat zugleich der Zusammenarbeit wie des Kampfes zwischen Apparat und Fotograf. Folglich kann eine Fotografie als entziffert gelten, wenn es gelungen ist, festzustellen, wie sich in ihr Zusammenarbeit und Kampf zueinander verhalten.

Die von der Fotokritik an die Fotografie zu stellende Frage lautet demnach: Inwieweit ist es dem Fotografen gelungen, das Apparatprogramm seiner Absicht zu unterwerfen, und dank welcher Methode? Und umgekehrt: Inwieweit ist es dem Apparat gelungen, die Absicht des Fotografen zugunsten des Apparatprogramms umzuleiten, und dank welcher Methode? Auf der Grundlage dieses Kriteriums ist jene Fotografie die „beste“, bei welcher der Fotograf das Apparatprogramm im Sinn seiner menschlichen Absicht besiegt, das heißt, den Apparat der menschlichen Absicht unterworfen hat. Selbstredend gibt es solche „guten“ Fotografien, in denen der menschliche Geist über das Programm siegt. Aber im Fotouniversum als Ganzem kann man erkennen, wie es den Programmen bereits jetzt immer besser gelingt, menschliche Absichten auf Apparatfunktionen umzuleiten. Daher müßte die Aufgabe einer jeden Fotokritik sein, aufzuzeigen, wie sich der Mensch bemüht, den Apparat in den Griff zu bekommen, und wie andererseits die Appara te darauf zielen, die Absichten der Menschen in sich aufzusaugen. Eine derartige Fotokritik haben wir allerdings aus noch zu besprechenden Gründen bisher nicht geleistet.

(Dieses Kapitel ist zwar mit „Die Fotografie“ überschrieben, aber es handelt nicht von den für Fotografien spezifischen Aspekten, in denen sie sich von den übrigen technischen Bildern unterscheiden. Zur Erklärung sei gesagt, daß es die Absicht dieses Kapitels war, den Weg für ein sinnvolles Entziffern der Fotografien aufzuzeigen. Das folgende Kapitel wird versuchen, die Lücke zu füllen.)

Zusammenfassend: Fotografien sind – wie alle technischen Bilder – zu Sachverhalten verschlüsselte Begriffe, und zwar Begriffe des Fotografen, wie solche, die in den Apparat programmiert wurden. Daraus ergibt sich für die Fotokritik die Aufgabe, diese beiden ineinandergreifenden Verschlüsselungen aus jeder Fotografie zu entziffern. Der Fotograf verschlüsselt seine Begriffe zu fotografischen Bildern, um anderen Informationen zu bieten, um Modelle für sie herzustellen und damit im Gedächtnis der anderen unsterblich zu werden. Der Apparat verschlüsselt die in ihn programmierten Begriffe zu Bildern, um die Gesellschaft für ein Feedback-Verhalten zugunsten fortschreitender Apparatverbesserung zu programmieren. Gelänge es der Fotokritik, diese beiden Absichten aus den Fotografien zu entwirren, dann wären die fotografischen Botschaften entziffert. Solange dies nicht gelingt, bleiben die Fotografien unentziffert und erscheinen als Abbilder von Sachverhalten in der Welt dort draußen, so als hätten sie sich „von selbst“ auf einer Fläche abgebildet. Derart unkritisch gesehen, erfüllen sie ihre Aufgabe vorzüglich: das Verhalten der Gesellschaft magisch im Interesse der Apparate zu programmieren.