Zitiervorschlag: Anonymus (Hrsg.): "II.", in: Leipziger Spectateur, Vol.2\002 (1723), S. 63-68, ediert in: Ertler, Klaus-Dieter / Doms, Misia Sophia / Hahne, Nina (Hrsg.): Die "Spectators" im internationalen Kontext. Digitale Edition, Graz 2011- . hdl.handle.net/11471/513.20.2559 [aufgerufen am: ].


Ebene 1►

II.

Zitat/Motto► Tel qui se grossit a sa vüe,
Se croit quelque chose, & n’est rien.
En vain le sot orgueil s’applaudit & s’admire
N’attendez rien de grand de qui croit se suffire. ◀Zitat/Motto

De la Motte Fab. XIII. liv. I. & Fab.
VII. Liv. III.

Zitat/Motto► Wer sich dem Schwindel-Geist des Hochmuths anvertraut,
Und durchs Vergrößrungs-Glaß nur auf sein Gutes schaut,
Sich prüfet, selbsten lobt, thut in Gedancken Wunder,
Jst doch ein thöricht nichts, und handelt nur mit Plunder.
◀Zitat/Motto

Ebene 2► Ebene 3► Exemplum► SO lange ein Mensch nicht an sich selbst gedenckt, die Kräffte seines Verstandes, die Neigungen seines Willens kennen lernt, dabey an seiner eigenen guten Be-[64]schaffenheit zweiffelt: So lange bleibet er noch in Stande der Bestialität, und wann er alle Wissenschafften begriffen, 30. Jahr meditirt, und 20. Jahr gelesen, Häuser wie die Königl. Schlösser gebauet, Millionen zusammen gescharret, und wie Alexander M. die Welt unter sich gebracht hätte. Alle Gaben und Vortrefflichkeiten eines Menschen, Schönheit, Gesundheit, ansehnliche Statur, Geburt, Stand, Bedienung, Reichthum, Gelehrsamkeit, Freunde, Erfahrung und dergleichen, sind einem Menschen, der sich selbst nicht kennet, was der Sau ein gülden Halsband ist, und die Fehler solcher Leute sind in den schönen Gaben, wie Dreck in güldenen oder Chrystallenen Gefässen, wohl aufgehoben. Also ist es dann nöthig an sich selbst gedencken, sich prüfen, und erforschen, damit man an sich selbst, die Perlen von dem Mist, das Gold von den Schlacken, und was man wahrhafftig ist, von dem, was man zu seyn sich einbildet, sorgfältig unterscheide, und also durch die Selbst-Erkänntniß in den Stand der Menschen aus dem viehischen Wesen versetzet werde. Es hindern uns aber an der Selbst-Erkänntniß unter andern zwey Extrema, eins, daß man ihm selbst zu viel: das andere, daß man ihm selbst zu wenig zutrauet. Jenes heist die Præsumption vor sich selbst, dieses diffidence auf sich selbst, beyde schaden dem, der damit behafftet, und der menschlichen Gesellschafft; Doch mit dem Unterschied, daß jene mehr der menschlichen Gesellschafft, diese mehr dem, der damit behafftet, Schaden bringet.

[65] Die Præsumtion von sich selbst, (bey welcher ich mich ietzo allein aufhalten werde) ist, wenn man sich, einer eingebildeten Vollkommenheit wegen, andern vorziehen will. Man setzet also dabey eine Vollkommenheit zum Grunde, aber nur eine solche, die im Gehirne dessen, der mit dieser Gemüths-Kranckheit behafftet, dafür gehalten wird. Ein solcher bildet sich ein, es sey an ihm nunmehro nichts auszusetzen, er sey vollkommen, wenn er z. E. einmahl in der Haupt-Kirche geprediget, oder wider einen vornehmen Mann einen Captur-Befehl exsequiren helffen, oder dem Hochadelichen Herrn das Wasser besehen, oder von Jhro Durchl. einmahl vor einen Narren gehalten worden, die ihm die Paruque vom Kopffe gerissen; oder wenn ihm ein artiges Frauenzimmer auf der Treppe begegnet, oder wann er gut L’ombre, Billiard, Schach etc. spielen kan, oder starcke Wechsel von Hause kriegt, daß er an dem vornehmsten Tisch speiset, fleißig aufs Caffee-Hauß gehet, propre Kleider mit Gold und Silber überblecht träget, eine kostbare Peruque auffsetzet, seidene Strümpfe führet, Schuh mit rothen Absätzen und Laschen an hat, oder wann er ein Jahr eher, als der andere, den Gradum Academicum angenommen, oder wenn er einen Schul-Auctoren mit Schul-füchsischen Noten heraus gegeben, oder seine Schreib-Art mit Ciceronischen Latein, Lohensteinischen Teutsch, und Boileauischen Frantzösisch spicket, oder wacker Reise-Beschreibungen und Historien-Bücher gelesen, oder die Quadraturam Circuli durch eine unendliche Reihe Brüche an [66] den Fingern herzehlen kan, oder einen reichen Vater hat, oder einen Doctor zum Bruder, einen Professor zum Schwager, oder Addresse hat bey dem Frauenzimmer, wichtig sauffen, fluchen, brutalisiren kan, und was dergleichen herrliche Dinge mehr sind, welche von Unverständigen für Vollkommenheiten gehalten werden. Denn es könte leichtlich ein gantzer Foliant zusammen getragen werden, von solchen Dingen, die denen Albernen zur Præsumtion von sich selbst Anlaß geben. Wer nun solche eingebildete Vollkommenheit besitzet, ja ich sage noch mehr, ein Mensch der eine wahrhaffte Vollkommenheit, als Gesundheit, Wahrheit, Gelehrsamkeit, Verstand, einen guten Willen und dergleichen bey sich befindet, aber sie ihm grösser und wichtiger vorstellet, als sie ist, auch daher Gelegenheit nimmt sich über andere zu erheben, wird leicht durch eine läppische Aufführung zeigen, was die Præsumtion vor sich selbst für ein abgeschmackter Fehler sey. Man giebt sich ein Ansehen, macht eine gravitätische Mine, redet bey Leuten, die man nicht für seine Anbeter hält, nichts, bey den andern hingegen allezeit, man will nichts lernen, weil man alles schon sich einbildet zu wissen, man nimmt keine Lehre an, wenn man Fehler begehet, so ist man dreiste und unverschämt dabey, wann man falsch schliesset, so ist man am lustigsten dabey, moquirt sich über die Logic, weil man seine Kunst bündig zu schliessen mit sich auf die Welt gebracht zu haben meynet. Es ist kein Buch, kein Lehrer, kein Mensch, daran man nicht etwas auszusetzen hat, man redet gerne von sich, [67] seinem Herrn Vater und lieben Frau Mutter, man bemühet sich im Gange auf der Gassen seine Geschicklichkeit in Tantzen zugleich sehen zu lassen, man setzt die Hände in die Seite, stellet sich, als wann man Reichs-Abschiede zu verfertigen in Gedancken hätte, man spielt auf gar besonders angenehme Art mit dem Stabe, oder Handschuh drehet Hüfften und Achseln, wirfft mit Peruquen-Zöpffen um sich, geht als geschnürt in Kettgen, als eine Drechsler-Puppe, macht mit den Fächer oder Schnupff-Tobacks-Dose allerhand Bewegungen, man redet verächtlich von seines gleichen, misset an seinem Maaß-Stabe im Gehirn, aller andern Leute Aufführung, Schrifften, Gedancken, und Thaten ab, ob man schon den Endzweck davon nicht weiß, moquirt sich über alles, kan keine Contradictiones leiden, und widerspricht doch andern ohne Aufhören, mengt sich in alles, will in allen Wissenschafften excelliren, affectirt auch wohl eine Nachläßigkeit in seiner Aufführung, nimmt Dinge vor, denen man nicht gewachsen, sucht sich in Ämter und Bedienungen zu dringen, dazu man entweder keine Fähigkeit, oder keine Gelehrsamkeit, oder kein Geld, oder Geburt bey sich findet; Demnach da mehr Thoren in der Welt sind, als kluge Leute, und gleich und gleich einander nachdrücklich beysteht, so wird man dadurch glücklich, aber der menschlichen Gesellschafft zur Last und Verdrießlichkeit. Wie mancher Prediger hätte besser gethan, wann er ein ehrbarer Schuster oder Bürsten-Binder worden wäre, als daß er mit Angst und Noth alle acht Tage eine [68] Rede auffsetzt und mit rechten Geburts-Schmertzen hervor bringet, daß man sagen möchte: Ecce iterum loquitur verbum Domini per Asinum Bileami. Wie mancher Juriste hätte sich weit leichter forthelffen können, wann er sich der Schreiberey gewidmet, als daß er Processe führen will. Lucius hätte sich besser zum Materialisten oder Balbier, als zum Doctor Medicinæ geschickt. Longolius hätte mehr Ehre eingelegt und mehr Nutzen gestifftet, wann er ein Schul-Major oder Dorff-Pfarrer worden, als daß ihn das Unglück zum Professor verdammt. Corinna wäre noch ein ehrlich Mädgen, wann sie nicht gemeynet, sie sey so schön und artig, daß sie wohl mit der Zeit eine gnädige Frau werden müsse. Publius hat feine Gaben zu einem Kauffmann, und Stratiotes ziemliche Knochen zu einem Fleischhauer, aber GOtt hat jenen im Zorn zum Rath, und diesen zum Officierer gemacht, nun schätzet jener des Fürsten Land und dieser schindet seine Unterthanen. Solchen Leuten, die durch ihre Præsumtion, der Thoren Hülffe, des Glückes Looß und GOttes Zorn in die Höhe kommen, ist alle Boßheit leicht und angenehm, sich feste zu setzen, und ihre Boßheit, Unwissenheit und eigennütziges Wesen ist die Ursach alles Unglücks in der Republique und hingegen eine Fall-Brücke aller Tugend und Erbarkeit, ja der menschlichen Gesellschafft. ◀Exemplum ◀Ebene 3 ◀Ebene 2 ◀Ebene 1