Référence bibliographique: Anonymus (Éd.): "V.", dans: Leipziger Spectateur, Vol.1\005 (1723), pp. 25-36, édité dans: Ertler, Klaus-Dieter / Doms, Misia Sophia / Hahne, Nina (Éd.): Les "Spectators" dans le contexte international. Édition numérique, Graz 2011- . hdl.handle.net/11471/513.20.2540 [consulté le: ].


Niveau 1►

V.

Citation/Devise► Prudens futuri temporis exitum
Caliginosa nocte premit Deus.
◀Citation/Devise

Sen.

Citation/Devise► GOtt legt der künfftgen Zeit nur Nacht und Schatten bey,
Da sich doch alles bloß für seinen Augen zeiget,
Ein Kluger sieht von fern, was noch zukünfftig sey,
Als wie ein Schattenspiel, er sieht, er denckt und schweiget.
◀Citation/Devise

Niveau 2► Niveau 3► Récit général► WAs geht auf dem Land-Tage für? Haben sie nicht die Propositiones vernommen? Was dencken sie wohl, wie der Schluß von diesem und jenem fallen möchte? Das sind ietzo die [26] Fragen, welche in Gesellschafften die meiste Gelegenheit geben, selbige zu unterhalten. Der so genannte Wetter-Discours, welcher sonst mehrentheils das erste und meiste war, so auch der halbstummen Leute Mund in Gesellschafft eröffnen konte, muß sich vorjetzo gedulden, biß er nach beschlossenem Land-Tage wiederum daran kommen wird. Die meisten Menschen sind begierig etwas neues zu wissen, und ihre Begierde fällt gemeiniglich auf das Zukünfftige. Jn der Laußnitz war ein Bauer, welcher Graubein hieß, dieser hatte sich dadurch den Nahmen eines Propheten fast erworben, daß er unterschiedene Feuers-Brünste und andere Dinge vorher angedeutet, er beschwerte sich aber unter andern über die Fräuleins, daß sie ihn ohn Unterlaß des Freyens wegen überlieffen, und wissen wolten, ob sie nicht bald heyrathen würden, oder was sie für einen Schatz dereinst zu Bette nehmen solten. Was Wunder denn, daß man auch in unserm Pleiß-Athen immer die Frage höret: Quid novi? Was giebts guts neues? Was Wunder, daß man auch hier begierig ist, zukünfftige Dinge zu wissen, was Wunder endlich, daß man auch hier für Ungedult fast ausser sich gesetzt wird, vorher den Ausgang einer Sache zu vernehmen, welche das gantze Land angehet. Jeder denckt dabey auf seinen Nutzen: Der [27] Theologus betet, damit seiner Orthodoxie nicht zum Nachtheil etwas vorfallen möge; Dem Advocaten ist angst und bange, es möchte eine neue Process-Ordnung, ein neues Corpus Juris, zum Vorschein kommen, da er denn hernach seine Praxin von neuem studiren, und doch, wegen abgekürtzter Processe, weniger Geld nehmen müsse: Der Soldat freuet sich im Geist auf ein Stück Arbeit, Wittwen und Waysen machen sich Hoffnung, hinfüro in einer wohleingerichteten Vormundschaffts-Ordnung eine grosse Erleichterung ihres erbarmens-würdigen Zustands zufinden, Ja die Leipziger Junge-Mädgens fürchten sich für einer neuen Gesinde-Ordnung, aus Beysorge, es möchten, ihren Frauen das Privilegium wieder in die Hände gespielet werden, den Junge-Mädgens oder Köchinnen handgreiflich ihre Nachläßigkeit zu verweisen, wann sie etwa wegen einern Visite von ihre Galants, die Katze den Haasen-Braten wegschleppen lassen. Alle miteinander urtheilen dabey über die Angelegenheiten des Landes, als wann sie Lebenslang geheimbde Cabinets-Staats-Steuer- und Kriegs-Räthe gewesen wären, und also Erfahrung, Uberlegung und Klugheit genung besässen von Rechtswegen ihr Decisiv-Urtheil dem gemeinen Wesen zu eröffnen. Wann ich nur die Helffte solcher vornehmen Eigenschafften an mir wüste, als diese Leutgen ihnen würcklich zu haben einbilden, so [28] wolte ich mich ietzo eben bey diesen Lands-Geschäfften mit einmischen, so aber, da dieß nicht ist, muß ich an das gethane Versprechen gedencken, da ich mir auferlegt, mich nicht mit Staats- und Theologischen Sachen in meinen Speculationibus zu verwirren. Jnzwischen nehme ich daher Gelegenheit eine besondere Eigenschafft des Menschen in Erwegung zu ziehen, welche man die Curiosität nennet. Jch glaube, es sey dieselbe ein Trieb, welchen GOtt dem Menschen anerschaffen, nach der Wahrheit zu trachten, seine Unwissenheit zu verbessern, damit er hiedurch Gelegenheit bekommen möge, sich und andern zu nutzen. So lange ein Mensch bey der Curiosität, die ihn treibet, diese meine gegebene Beschreibung völlig und richtig appliciren kan, so lange halte ich selbige für vernünfftig und lobens-würdig, findet aber diese meine Beschreibung nicht statt, so wird ein solcher mit seiner Curiosität, entweder auf Eitelkeiten oder Boßheiten verfallen, und sodann durch jene zu einem Narren, durch diese zu einem gottlosen und boßhafftigen Menschen werden. Jch halte die Curiosität für einen Trieb, der den Menschen von GOtt anerschaffen, und also durch die Geburt fortgepflantzet wird, weil man ihn bey allen Menschen antrifft, und wohl schon in der Kindheit zuweilen artige und lächerliche Spu-[29]ren davon findet. Nach Beschaffenheit der Eltern und der Umstände bey der Empfängniß, Geburt, Auferziehung, Umgang, Unterricht und Lebens-Art des Menschen, hat auch ein Mensch für dem andern eine grössere Curiosität, dabey ich in den Gedancken stehe, daß die Lebhafftigkeit und Vortrefflichkeit des Verstandes sich am ersten und meisten durch Curiosität verrathe. Ein Mensch kan sich glücklich schätzen, wann ihn GOtt mit einer starcken Curiosität und dabey im Willen mit vieler vernünfftigen Menschen-Liebe oder Tendresse hat lassen gebohren werden. Jene treibt ihn sich von der Unwissenheit loßzureissen, und diese leidet es nicht, daß er die erlangte Wissenschafft und Erfahrung seinem Nächsten Unrecht zu thun anwenden möge, da sonst Curiosität ohne Tendresse und ein fähiger Verstand ohne Liebe des Nächsten, ein rechtes unglückseliges und der gantzen Menschlichen Gesellschafft so schädliches Ding ist, als die Fackel des Herostrati dem Tempel der Dianä zu Ephesus. Wem es an Curiosität fehlt, den wird man mit dem grösten Recht für einen Hans ohne Sorge halten können, und man darff bey einem solchen auch keinen sonderlichen Verstand suchen, hat er dabey dennoch im Willen viel Liebe des Nächsten, so wird er sich von ei-[30]nem jeden betrügen lassen, da zumahl heut zu Tage, und sonderlich bey uns hier zu Lande Aufrichtigkeit und Redlichkeit für die gröste Einfalt passiret, welche man ohne Scheu übertölpeln dürffe. Fehlt die Tendresse und Curiosität zugleich, so wird man ein Muster einer dummen und tölpischen Boßheit haben, ein verstocktes Gemüthe, das nach seinem dummen Begriff, und albernen Einsicht die Begierden einrichtet, und selbigen blindlings folget. Nun werden meine Leser schon allerhand Arten Leute in ihren Gedancken haben, und meine Lehrsätze von der Curiosität appliciren wollen auf ihren Nachbar, Mann, Frau, Collegen, Stuben-Purschen, Gespielin, Kinder und Gesinde, allein ich bitte, sie übereilen sich nicht, und suchen erst in ihren eigenen Gemüthern, wie es daselbst beschaffen. Solches kan am besten geschehen, wenn sie sich bekümmern, auf was für Dinge ihre Curiosität fällt. Es treibt uns nehmlich selbige nach ihrer eigenen Beschaffenheit zu Wahrheiten, oder zur Erkäntniß der Wahrheit, welche uns bißher unbekannt gewesen. Diese ist entweder nützlich oder schädlich, oder keines von beyden. Eine nützliche Wahrheit ist diejenige überhaupt, welche die Mühe, so man an ihre Erkänntniß wendet, durch den erhaltenen Endzweck und Nutzen [31] überwieget. Dahin gehören alle diejenigen Wahrheiten, wodurch wir unsern Verstand von Vorurtheilen reinigen; unsern Willen von Lastern, und unsere Gesundheit erhalten, wodurch wir uns tüchtig machen unsern Nächsten und der menschlichen Gesellschafft nützliche Dienste zu leisten. Die schädlichen Wahrheiten bringen in unserm Verstande falsche Grundsätze herfür, welche auch wohl in unserm Willen solche Begierden rege machen, so uns Lebenslang zu beunruhigen vermögend sind, damit wir hernach uns und andern schaden. Wahrheiten, die weder nützlich noch schädlich sind, bestehen im blossen wissen, und ohngeachtet man zuweilen grosse Mühe und Unkosten daran wendet, so helffen sie doch einem weiter nichts, als daß man selbige weiß. Man kan sich bemühen alle drey Arten von Wahrheiten kennen zu lernen, aber der Endzweck giebt dabey den völligen Ausschlag, und der ist es, welcher zuerst bey jedweder Curiosität muß aufgesucht werden, denn nach Erkänntniß desselben richtet sich die völlige Beurtheilung der Curiosität eines jeden Menschen. Ein vernünfftiger Mensch muß bey denen guten Wahrheiten den Endzweck haben, selbige anzuwenden, bey denen schädlichen, selbige zu vermeiden, und ihnen Einhalt zu thun, bey denen Wahrheiten aber, die weder [32] nützlich noch schädlich sind, solche zu vergessen, oder für die Narren aufzuheben und selbige damit zu blenden. Da wir nun nicht alle gute und nützliche Wahrheiten auf einmahl erkennen werden, so bemühen wir uns billich nach und nach, diejenigen Wahrheiten zu begreiffen, welche am nächsten um uns sind und uns am meisten angehen. Der schädlichen sind auch leider so viel, daß es fast über menschliche Kräffte ist, selbige alle einzusehen, demnach giebt sich ein kluger Mensch Mühe, diejenigen, mit welchen er am meisten zu streiten hat, zu entdecken, damit er ihnen begegnen könne, und diese Entdeckung darff er eben nicht aus der eigenen Erfahrung haben, sondern auch wohl aus der Uberlegung und Erfahrung anderer Leute, dazu ihm die Historie des Menschen am meisten helffen kan. Bey denen Wahrheiten, die weder schaden noch nutzen, hält sich ein vernünfftiger Mensch billig nicht auf, sondern überläst sie denen Kindern, müßigen und läppischen Leuten, weil ihm die nöthigen und nützlichen Wahrheiten Zeit, Arbeit und Kosten genug hinweg nehmen. Nun soll ich Exempel geben von allerhand Wahrheiten und Curiositäten, damit man sehen möge, wie man seine eigene Curiosität beurtheilen müsse, denn des raîsonnirens werden [33] meine Leser bald überdrüßig, weil ein ieder meynt, er könne es selbst. Allein wenn ich nur den Endzweck an den Exempeln, die ich geben könte, recht innen hätte, so solte es mir ein leichtes seyn, eine Menge derselben anzuführen, z. E. wenn ich nur wüste, was das Frauenzimmer für einen Endzweck hätte, wenn sie in der Kirche auf die Studenten-Chöre herum sehen, oder den gantzen Tag im Fenster liegen? Wann ich nur erfahren könte, was ein Studente für eine Absicht hätte, der sich des Sonntags in der Kirche durch alle alte Weiber und Jungemädgens dränget, und wider die Befehle seiner Obrigkeit, wieder die Reguln des Wohlstandes, wider seine eigene Renomme, denen Predigern zum Trotze, die Kirche zu einem Caffé-Hause zu machen suchet? Wann ich nur ergründen könte, was für ein Absehen die Leute zu der Curiosität getrieben hätte, einen magern Bären in einem Platz von 4. Ellen mit unabgerichteten Hunden herum zerren zu sehen? Wann ich nur wissen solte, warum ein Juriste sich um des Leonis Alatii seine 40. Jährige Schreib-Feder, und des Grotii seinen Bart, um des Boshornii Tabacks-Rauchen, um des Rohaultii pileum multiplicem, oder Hut mit vielem Krempen, mit einem Wort, um die Historie aller Gelehrten bekümmerte? Warum sich ein Studiosus Theo-[34]giæ auf die Alcide, Guastalia, oder armable vainqueur legte? Warum sich der Mathematicus bey den Kegelschnitten kranck studirete? Warum der Prediger sich ängstigte, zu erweisen, wovon doch die Königin aus dem Reich Arabien mit Salomon gesprochen, ob es vielleicht von der Kunst, Kinder zu zeugen gewesen, oder von der geistlichen Mutter und Nabel-Schnur? Warum doch einige Leute alle, die ihnen begegnen, von unten bis oben mit der grösten Aufmercksamkeit und Begierde in Augenschein nehmen, und sich hernach von andern lieber für grob und einfältig halten, als ihrer Curiosität Einhalt thun lassen? Warum mancher den gantzen Tag auf der Gassen spatzieren gehet? Warum die Hunde mancher Herren so curieux sind, daß sie mit in die Kirche, und in die Collegia kommen? Warum das Frauenzimmer so gern Romainen lieset, und an ihren künfftigen Liebsten gedencket? Warum hingegen der Studente sich bey Ost-Jndianischen und Mexicanischen Reise-Beschreibungen aufhält, und, wenn er reiset, mit grossen Eyfer nach des Papsts Pantoffel sieht, oder sich läst die Nativität stellen? etc. Wenn ich nur dieser Leute ihren Endzweck wüste, errathen könte ich ihn wohl, aber das gilt nicht, ich müste ihn wissen, so wolte ich viel Exempel einer albern und läppischen Curio-[35]sität anführen. Wenn ich mich bekümmere, dem Schneider, Kramer und Kauffmann, hinter ihre Neben-Griffgen zu kommen, der Spitzbuben ihre Saudiebischen Streiche zu erfahren, so thäte ichs deswegen, daß ich mich dafür hüten, und andere warnen könte, so wäre meine Curiosität sehr gut. Wann ich aber keine Frau hätte, und doch versuchen wolte, wie es im Ehstande hergienge, oder ich wolte der Leute Petschaffte nachmachen, damit ich ihnen Briefe aufbrechen könte, das wären boshafftige und gottlose Curiositäten. Weil nun niemand mit seinen Umständen zufrieden, so bekümmert man sich auch trefflich um das zukünfftige; und nachdem man seine Absichten dabey hat, und seine Bemühung einrichtet, nachdem wird auch diese Curiosität gut oder böse, oder albern. Doch meine Speculation ist schon zu lang gerathen, also will ich die Curiosität des zukünfftigen wegen, mir auf eine andere Zeit vorbehalten. Da ich denn zugleich ein Kunststück dem unverheyratheten Leipziger Frauenzimmer mittheilen werde, wie sie erfahren können, ob sie bald und glücklich heyrathen werden? Jngleichen ein anders denen Manns-Personen, zuvorherzusehen, ob sie dermahleins unter der Zahl derer gekränckten Actæons auf Befehl ihrer Frauen, Platz nehmen müssen? Jnzwischen mache sich [36] niemand des zukünfftigen wegen Sorge, sondern gebrauche sich des gegenwärtigen, und vergesse des vergangenen. ◀Récit général ◀Niveau 3 ◀Niveau 2 ◀Niveau 1