Rezension von: Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und
Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer
Culturformen. Leipzig 1887, und: Herbert Spencer: Die Principien der
Sociologie. Nach der 3. Aufl. Deutsch von B. Vetter. 2. Bd. Stuttgart 1887,
in: Deutsche Litteraturzeitung, Jahrgang 1887, Nr. 4, S. 139-140.
[Rezension:] Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. [und:] Herbert Spencer, Die Principien der
Sociologie.
[... F. T.:] Abhandlung des
Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. Leipzig, Fues,
1887. XXX u. 294 S. gr. 80. M. 6, [und: H. S.] Autor. deutsche Ausgabe. Nach der 3. verm. u. verb. englischen Aufl.
übersetzt von B. Vetter, II Bd. Stuttgart, Schweizerbart, 1887. X u. 516 S. gr.
80. M. 12.
[... F. T.:] Abhandlung des
Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. Leipzig, Fues,
1887. XXX u. 294 S. gr. 80. M. 6, [und: H. S.] Autor. deutsche Ausgabe. Nach der 3. verm. u. verb. englischen Aufl.
übersetzt von B. Vetter, II Bd. Stuttgart, Schweizerbart, 1887. X u. 516 S. gr.
80. M. 12.
Tönnies bietet uns
einen „Versuch einer neuen Analyse der Grundprobleme des socialen Lebens“ (S. XVII),
also eine
sociologische Untersuchung. Doch unternimmt er
diesen Versuch in der Form abstracter Speculation, was er „begriffliches Denken“
nennt, und verwart sich dagegen, dass „Leute, die an begriffliches Denken nicht
gewöhnt sind“, ein Urteil „in solchen Dingen“ abgeben. Ref. ist kein Freund dieses
sogenannten „begrifflichen Denkens“, weil dasselbe leider zu oft in leeres
Ausspinnen der abstractesten Begriffe ausartet. Letzteres soll hier allerdings dem
Verf. nicht zum Vorwurf gemacht werden, und überdies ist für eine erst keimende
Wissenschaft wie die Sociologie solches „begriffliche Denken“ oder, besser gesagt,
abstracte Speculation oft der einzig mögliche Weg der Behandlung, oft als anregend
von Nutzen. Verf. ist bestrebt das Dasein und die Entwicklung der Menschheit in
oberste Begriffe zu fassen und die sich darbietenden socialen Erscheinungen zur
Erkenntnis zu bringen. „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ stellt er als die zwei
wichtigsten Phasen dieser Entwicklung der Menschheit hin – erstere ist das
urwüchsige, naturgemäße Zusammenleben der Menschen; letztere ist das auf
mechanischem Wege gewordene, mehr künstliche Erzeugnis der Civilisation. Verf.
analysiert die einzelnen Formen der Gemeinschaft: Haus, Dorf, Stamm, Volk, Stadt,
Gilde u. s. w. Als Ausdruck der Gesellschaft stellt er die
Großstadt hin – als charakteristische Erscheinungen der Gesellschaft den
Contract, den Handel, das Geld, den Credit u. s. w. Dabei findet der verf. das
Princip und den Urgrund all dieser socialen Erscheinungen nach der Art der
abstracten Speculation in einem abstracten Momente und zwar im
Willen, der sich ihm in doppelter Gestalt oder eigentlich in zwei
Entwicklungsphasen darstellt: als „Wesenswille“ und „Willkür“. Ersterer liegt der
Gemeinschaft zu Grunde, letztere der Gesellschaft; alle socialen Erscheinungen sind
nur Emanationen dieses Willens, teils des Wesenwillens, teils der Willkür. Verf.
zieht alle Fragen der Nationalökonomie, der Rechtswissenschaft, der Moral in die
Besprechung und will „durch die vorgetragenen Begriffe und Erkenntnisse die
Strömungen und Kämpfe verstehen, welche von den letzten Jahrhunderten aus bis in das
gegenwärtige Zeitalter und über dessen Grenzen hinaus sich erstrecken“ (S. 294). Ob
ihm nun Letzteres gelungen ist, wagt Ref. nicht zu behaupten, trotzdem das Buch viel
richtige Gedanken, treffliche Ansichten und manche Anregung für weitere
sociologische Untersuchungen enthält.
Einen entschiedenen Vorzug vor dieser abstract-speculativen
Methode des Verfs. verdient jedenfalls die concrete und inductive Methode
Spencers in der Behandlung der Sociologie, und Prof.
Vetter hat sich
140
mit der Uebersetzung der Spschen Schriften ein
großes Verdienst erworben. Der vorliegende neueste Band dieser
vortrefflichen Uebersetzung enthält den Schluss der theoretischen
Sociologie, deren erster Band 1877 erschienen war. Die Verzögerung im Erscheinen
dieses II Bandes kam der Uebersetzung sehr zu Statten, da dieselbe die bedeutenden
Verbesserungen und Zugaben (Register!) der mittlerweile erschienenen 3. Auflage des
Originals sich zu Nutze machen konnte. Die Spsche Sociologie wird nicht verfehlen,
auf die Behandlung dieses Gegenstandes in Deutschland einen Einfluss zu üben,
welcher woltätig sein wird, wenn er die abstract-speculative Richtung, die
Tönnies befolgt, verdrängt. Denn während diese nur darauf ausgeht, den
Erscheinungen ihre allgemeinsten Begriffe abzugewinnen, dieselben mit den
abstractesten a priori hingestellten Principien zu combinieren und uns so in einer
Schattenwelt von Begriffen herumführt, wo wir jeden festen Boden der Wirklichkeit
unter den Füßen verlieren: bewegt sich Sps. Sociologie durchweg in der Welt des
wirklichen
Lebens. Sp. beobachtet die
concreten socialen Erscheinungen in Vergangenheit und Gegenwart und
liefert uns schon eine
Naturwissenschaft der Gesellschaft,
während uns
Tönnies noch immer
„Naturphilosophie“ der Gesellschaft bietet. Letzterer beht also einen kleinen
Anachronismus.