Von soziologischer Warte, in: Das Blaubuch: Wochenschrift
für öffentliches Leben, Literatur und Kunst 1 (1906), S. 353-356.
Von soziologischer Warte.
Die bekannte Erfahrung, daß uns derselbe Berg, der von der
Ebene und aus der Nähe gesehen, uns von beträchtlicher Höhe erscheint, aus der
Ferne, von einem weit höheren Gipfel aus uns als kleiner Hügel sich darstellt –
diese Erfahrung können wir auch am Staate machen, wenn wir ihn von zwei
verschiedenen Standpunkten betrachten. Wie groß und mächtig erscheint uns unser
Staat von nationalem oder gar patriotischem Standpunkt; wie imponierend seine
Herrscherreihe, die mehrere Jahrhunderte, vielleicht gar ein halbes Jahrtausend
zurückreicht und mit welchem Stolz schildert der nationale Historiker die glorreiche
Geschichte seines Vaterlandes. Das ist ein Standpunkt. Es
gibt aber noch einen andern. Auch für die Betrachtung des Staates gibt es „eine
höhere Warte als die Zinne“ des Patriotismus und das ist die soziologische Warte.
Von dieser aus umfaßt der Blick eine Unzahl und eine
unabsehbare Reihe von Staaten in allen Weltteilen seit undenklichen Zeiten. Wie
klein und kurzlebig erscheint von dieser Warte aus jeder einzelne Staat – eine
kleine Welle im Weltmeer der Menschheit. Sie steigt auf und versinkt und macht der
folgenden Platz.
Es ist begreiflich, daß von diesem höheren Standpunkt aus
der Staat nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ als etwas ganz anderes
erscheinen muß als vom Standpunkt des nationalen Patriotismus. Das ist keine
Ahnengalerie mehr großer Herrscher; unsern Blick fesseln keine Kriege und
Schlachten; wir merken nichts von schlauen diplomatischen Haupt- und Staatsaktionen.
Von alle dem sehen wir gar nichts.
Dagegen sehen wir eine Unzahl Menschenströme sich über die
Erde ergießen und sie umkreisen und wo zwei oder mehrere solcher Ströme
zusammentreffen, da sehen wir automatisch einen rasch sich schürzenden Knoten, immer
ein und denselben Mechanismus, der den feindlich aufeinander treffenden
Menschenströmen ein ruhiges Zusammenfließen ermöglicht. Dieser Mechanismus ist der
Staat. Er faßt die heterogenen Menschenströme zusammen, nähert sie einander, leitet
sie in ein gemeinsames Bett, bis sie vereint dann weiterfließend auf fremde
Menschenströme treffen und in einer neuen Staatswelle verschwinden – in einem neuen
Mechanismus von derselben Natur und Tendenz wie
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alle vorhergehenden.
Wenn wir also von soziologischer Warte, so weit unser Blick reichen kann, die ganze
Menschheit seit den ältesten für uns wahrnehmbaren Zeiten betrachten, so sind die
Staaten immer wieder solche automatisch entstehende Mechanismen, die auf dem
unendlichen Menschheitsmeer immer ein und dieselbe Funktion besorgen. – Diese
besteht in dem Zusammenfassen heterogener sozialer Elemente zu geordneter und
friedlicher, gemeinsamer Tätigkeit, deren Ergebnis eine Verähnlichung und
Ausgleichung der verschiedenen sozialen Elemente ist, deren Verschmelzung zu einer
mehr weniger einheitlichen Mischung von gleichem Aussehen und Charakter, und als
gleiches Volkstum, Nationalität oder Kultur erscheint. Man könnte meinen, daß eine
solche universelle Betrachtung der Staatenwelt innerhalb der Menschheit ein müßiges
Unternehmen sei: da wir doch zunächst im Staate leben und die Aufgaben und Ziele des
Staates für uns mehr Bedeutung haben als die Rolle des Staates in der Menschheit.
Aber man vergesse nicht, daß wir nur aus der Betrachtung des Staates als Organs der
Menschheit und seiner Funktion innerhalb derselben zur richtigen Erkenntnis der
natürlichen Tendenz seiner Entwicklung als sozialen Sonderwesens gelangen können.
Denn erstens erkennen wir ihn aus solcher universellen
Betrachtung als ein Erzeugnis des universellen sozialen Naturprozesses und nicht als
Menschenwerk und zweitens können wir nur aus solcher universellen Betrachtung
erkennen, welche Aktionen im innern des Staates seiner natürlichen Funktion als
Organ der Menschheit konform sind und welche ihr zuwiderlaufen. Kurz, nur aus dem
sozialen Makrokosmos können wir die Natur und das Wesen des sozialen Mikrokosmos,
des Staates, erforschen. Und da ergibt sich nun uns als erstes soziales Naturgesetz
des Staates, das seine Funktion in einer sozialen, kulturellen und nationalen
Vereinheitlichung seiner Volkselemente besteht. Ist aber das sein Naturgesetz, so
ist ein Nichtbefolgen desselben üfr ihn verderblich, ein Befolgen desselben seine
einzig richtige Politik. Denn auch der Staat gedeiht nur, so wie das Individuum bei
einem „naturgemäßen Leben“. Beim Staate aber besteht dieses „naturgemäße Leben“ in
der Ausübung seiner ihm als Organ der Menschheit zukommenden Funktion. Übt er diese
nicht aus oder übt er sie mangelhaft, dann sündigt er gegen das Naturgesetz und büßt
es, denn als Folgen solcher Sünden stellen sich schwere Krisen und Katastrophen ein.
Wohl ist jeder Staat als soziales Sonderwesen, als „Staats-
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wesen“, wie es der richtige Sprachinstinkt nennt, von
Selbsterhaltungstrieb belebt wie alle Naturwesen, und aus diesem natürlichen Triebe
erfolgen allerhand Schutz- und Vorsichtsmaßregeln, wie Strafgesetz,
Hochverratsparagraphen u. dgl.; aber das hilft ihm alles nicht, wenn er dem obersten
Gesetz seines Daseins, seiner natürlichen Funktion nicht treu bleibt und sie nicht
übt. Trotz Strafgesetz und Hochverratsparagraphen geht er dann elend zugrunde oder
nimmt schweren Schaden. Möge aus der unmittelbaren Gegenwart ein aktuelles Beispiel
das soeben Gesagte beleuchten. In Livland fließen Ströme Blutes und werden
Greueltaten verübt; Mord und Verwüstung stehen auf der Tagesordnung. Woher kommt
das? Die Staatsmaschine in Livland hat ihre naturgesetzliche Funktion schlecht
geübt. Dort saßen seit Jahrhunderten deutsche Herren, die Eroberer des Landes als
herrschende Klasse über einer breiten Schicht lettischer eingeborener Bevölkerung.
Hätte der „Staat“, gleichviel wer an der Spitze desselben stand, naturgesetzlich
funktioniert, so müßte schon längst eine Vereinheitlichung, zum mindesten eine
nationale, die sich in gemeinsamer Sprache ausdrückt, erfolgt sein. Zum mindesten
durfte zwischen Herrn und Bauer keine nationale Kluft gähnen, wenn wir schon von
weiterer Vereinheitlichung, von kultureller und sozialer Annäherung absehen wollten.
Nichts in dieser Richtung ist geschehen. Die ursprünglich heterogenen sozialen
Elemente blieben heterogen bis heute. Deutsche und Letten stehen sich wie am Tage
der Landnahme und der Staatsgründung fremd gegenüber, fremd und – feind. Da können
nun schmerzliche Krisen nicht ausbleiben; da kommt es naturnotwendig zu solchen
Ausbrüchen, deren Zeugen wir sind, zu Greueltaten, die wir schaudernd miterleben.
Und zu solchen Ausbrüchen muß es immer und überall kommen,
wo der Staat seine naturgesetzlichen Funktionen der Vereinheitlichung, Annäherung
und Ausgleichung der ursprünglich heterogenen Elemente vernachlässigt. Denn in der
Übung dieser Funktionen liegt seine Daseinsberechtigung: übt er sie nicht, spricht
er über sich das Todesurteil, möge es nun von einem Nachbarstaate vollzogen werden
oder durch langsames hinsiechen sich selbst vollziehen. – Wenn nun aber ein
naturgesetzliches Funktionieren eine Lebensfrage des Staates ist, so darf die Frage,
worin dasselbe besteht, nicht mit einigen Worten wie Vereinheitlichung, Annäherung,
Ausgleichung abgetan werden, sondern es ist wohl angezeigt, Bedeutung und Inhalt
dieser Worte etwas näher ins Auge zu fassen.
Daß der Staat aus dem Zusammentreffen heterogener, sozialer
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Elemente entsteht, dürfte heute wohl allgemein anerkannt sein. Nun
kann es zwischen sozialen, den Staat konstituierenden Elementen manche
Verschiedenheiten geben, nämlich: anthropologische, nationale, kulturelle und
soziale. Von den anthroplogischen brauchen wir innerhalb der weißen Menschenrasse
nicht zu sprechen, denn die Erfahrung lehrt, daß diese Verschiedenheiten ein
gedeihliches Zusammenleben der Menschen nicht hindert. Von den andern
Verschiedenheiten sind die einen (z. B. nationale) mehr, die anderen (kulturelle und
soziale) weniger einer normalen Entwicklung des Staates hinderlich und normal sich
entwickelnde Staaten gelangen bald früher bald später zu einer größeren oder
geringeren Ausgleichung dieser Gegensätze und Verschiedenheiten. Eine völlige
Ausgleichung all dieser Verschiedenheiten ist allerdings nicht leicht denkbar, nur
die dauernde Tendenz zu einer solchen, die kontinuierliche Arbeit zu einer solchen
Ausgleichung, das ist's, was dem Staate fromm, was ihn so zu sagen stets bei guter
Gesundheit erhält.
Wo aber diese Verschiedenheiten in ihrer ursprünglichen
Schroffheit aufrecht erhalten bleiben, wo die einzelnen sozialen Elemente in ihrer
sozialen, kulturellen und nationalen Gegensätzlichkeit verharren, da „gibt es keinen
guten Klang“ und da muß man auf solche Erschütterungen, wie sie gegenwärtig das
beklagenswerte Livland durchzittern, auf solche sozialen Erdbeben mit allen ihren
Schrecken und Greueln immer gefaßt sein.
Allerdings ist es nicht leicht und gar im Rahmen eines
kurzen Aufsatzes nicht möglich, die Mittel und Wege anzugeben, wie der Staat dazu
gelangt, in Ausübung seiner naturgesetzlichen Funktion an der Überweindung all
dieser sozialen Gegensätze zu arbeiten, doch werden wir ja dazu in dieser
Wochenschrift noch reichlich Gelegenheit haben. Nur eines wollen wir hier noch
hervorheben: diese Mittel und Wege sind nach der individuellen Beschaffenheit der
Staaten äußerst mannigfaltig und es gibt auch solche Staaten, für die, nach ihrer
Beschaffenheit und Zusammensetzung, eine solche Überwindung gefahrdrohender sozialer
Gegensätze unerreichbar ist. Was geschieht mit solchen Staaten? Sie gehen an einem
„organischen Fehler“ zugrunde und „neues Leben blüht aus den Ruinen“. Von
soziologischer Warte aber sieht man auf dem Meere der Menschheit eine Welle sich
überschlagen und eine neue aufsteigen.