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Gesetze der Geschichte, in: Österreichische Geschichte Rundschau 2 (Februar-April 1905), 267-274 (Abgedruckt im „Rassenkampf“, 2. Aufl., S. 491ff.).
Gesetze der Geschichte.
Ludwig Gumplowicz
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Unser „Transzendenzinteresse“ (um mit Ratzenhofer zu sprechen) drängt nach zwei Richtungen: nach einem Weltbild und nach einem Geschichtsbild.
Den ersten Drang befriedigt auf primitiver Stufe die religiöse, auf späteren Erkenntnisstufen die rationalistische, materialistische, endlich monistische Weltanschauung. Den Drang nach einem Geschichtsbilde befriedigt zuerst die Vorstellung eines genealogischen Stammbaumes von Adam bis zum „auserwählten“ Volk“. Einen solchen Stammbaum entwirft für die Juden die Bibel; die Germanen hatten einen solchen nach dem Zeugnis des Tacitus (Germania). Auf späterer Stufe, als man auch andere Reiche und Nationen kenne lernt, die man ins Geschichtsbild aufnehmen muß, entstehen diejenigen Geschichtsbilder, die eine Aufeinanderfolge mehrerer großen Reiche enthalten, meist als Vorstufen zu dem höchsten, in dem der Geschichtsphilosoph sich befindet; August Comte schließt sein Geschichtsbild mit Frankreich, Hegel mit Preußen, August Cieszkowski mit Polen u. s. w. Diese Gesamtbilder kommen bei wachsender Geschichtskenntnis in Mißkredit. Wenn man außerhalb der großen Staaten des Orients, des klassischen Altertums und des christlich-germanischen Europas alte Kulturstaaten in Asien (China, Indien) und Amerika ( Peru, Mexiko) entdeckt, dann wandern die Geschichtsbilder Comtes, Hegels, Cieszkowskis wie unbrauchbar gewordene Theaterkulissen in die Rumpelkammer. Wenn hinter den Juden und Assyriern die Babylonier auftauchen und hinter Moses Hammurabi erscheint, ist den Geschichtsbildern à la Boffuet buchstäblich der Boden entzogen. Dann müssen andere Geschichtsbilder angefertigt werden, nach ganz anderem Plan. Da kommen die einen auf die Idee, nicht nach Staaten und ihrer Aufeinanderfolge das Bild anzufertigen, sondern nach der Stufenfolge seelischer Entwicklung des Menschen. Ein solches Geschichtsbild schwebte schon Fichte vor. Er wollte Vergangenheit, Gegenwart
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und Zukunft der Menschheit sich abspielen lassen in fünf Zeitaltern: 1. der Unschuld; 2. der anhebenden Sünde; 3. der vollendeten Sündhaftigkeit; 4. der anhebenden Rechtfertigung; 5. der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung.
Seither hat man solche soziale und kulturgeschichtliche Geschichtsbilder in großer Zahl geschaffen. Alle diese haben das Gemeinsame, daß sie in der Gegenwart den feierlichen Schlußakkord der Weltgeschichte sehen, höchstens noch ein kommendes Zukunftsweltalter prophezeien, worin sich alle Träume der Menschheit verwirklichen sollen. Die tatsächlichen Vorgänge und Entwicklungen werden ja in solchen Systemen ziemlich gleichmäßig wiedergegeben: nur in der ursächlichen Begründung derselben unterscheiden sich diese geschichtsphilosophischen Systeme, indem die einzelnen Denker die Ursachen des Gesamtverlaufes der Geschichte auf den verschiedensten Gebieten der Natur und des Lebens suchen und zu finden glauben. So z. B. schildert uns Arnold Fischer („Die Entstehung des sozialen Problems“, 1897) den Gesamtverlauf der sozialen Geschichte der Menschheit als eine Folge der „stetigen Intensitätsabnahme des organischen Lebensprozesses“, der auf seinen ersten Stufen von Instinkten beherrscht wird, aber in dem Maße seiner „Intensitätsabnahme“ unter die Herrschaft von „Seelenkräften“, also Empfindungen, Bewußtsein, natürliche Vernunft und reine Vernunft, gelangt. In ein solches „naturgesetzliches“ Schema faßt Fischer den Verlauf der uns bekannten Geschichte, angefangen von der Mutterfamilie, durch alle die bekannten Phasen der Vaterfamilie, des Gentilverbandes u. s. w. bis zu den modernsten Gestaltungen der sozialdemokratischen Gewerkschaften, wobei die „Arbeiterklasse in Deutschland als Volksklasse der reinen Vernunft“ das letzte Wort der Weltgeschichte zu sein scheint. Es wird da viel Wissen und viel Geist aufgewendet zu einer geschichtsphilosophischen Konstruktion, die, durch eine vielleicht ephemere Erscheinung der Gegenwart eingegeben, auf dieses schwache Fundament den ganzen Bau der Weltgeschichte stützen will.
Nicht besser, wohl aber geistreicher und interessanter, macht es der Franzose Adolphe Coste („Les Principes d'une Sociologie objective“, 1899 und „L'Expérience des peuples et les prévisioins qu'elle autorise“, 1900). Auch er schildert, allerdings in sehr gefälliger und fesselnder Weise, den Verlauf der uns bekannten Geschichte, um, nicht so wie Arnold Fischer mit den Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiter, wohl aber mit den anonymen Aktiengesellschaften und Syndikaten als höchster Blüte der Menschheitskultur zu schließen. Diese anonymen Gesellschaften, meint Coste, sind wohl unter dem absoluten Regime entstanden, konnten sich jedoch erst unter dem parlamentarischen Regime voll entfalten. Was die Sozialisten der verschiedensten Richtungen nicht zustande bringen konnten, die Abschaffung des Kapitalismus, das werde das „Anonymat“ zustande bringen. „Beruhigt euch,“ ruft Coste den sozialistischen Agitatoren zu, „bald wird es keine Kapitalisten mehr geben.... Alle großen Vermögen werden sich von selbst in eine Unzahl kleiner repartieren, welche den verschiedensten Anlagen anvertraut sein werden. Infolgedessen wird es keine Plusmacherei (accaparement) mehr geben und keinen Feudalismus.
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Die Herrschaft der Millionäre und Milliardäre wird verschwinden.“ So lautet der jubelnde Schlußakkord von Costes „Objektiver Soziologie“, die ebenfalls nichts anderes ist, als eine geistreiche, geschichtsphilosophische Konstruktion, die eine momentane sozial-ökonomische Erscheinung (die Aktiengesellschaft) überschätzt und in derselben die reife Frucht der Weltgeschichte und das Allheilmittel gegen soziale Not erblickt.
Übrigens hat man auch die neuesten Entdeckungen und Erforschungen auf geschichtlichem Gebiete für ein Gesamtgeschichtsbild zu verwerten versucht, wie das z. B. Albert Wirth tut („Volkstum und Weltmacht“, 1904), der vier „Zeitalter der Kulturausdehnung“ annimmt, nämlich: mesopotamisch-ägyptisches, klassisches, Doppelbildungszeitalter (Mittelalter) und ozeanisches (Neuzeit). Anderseits wieder hat ja Helmolt in seinem geschichtlichen Sammelwerke im Geiste Ratzels den Versuch gemacht, ein Gesamtgeschichtsbild auf geographischer Grundlage aufzubauen, so daß kein Teil der Ökumene aus der Weltgeschichte ausgeschlossen bleibt.
Alle solchen Versuche können im Zeitalter der Naturwissenschaft die denkenden Menschen nicht befriedigen; denn wir sind heute durch die Naturwissenschaft verwöhnt, nur jenem Wissenszweige den Charakter der Wissenschaftlichkeit zuzuerkennen, der uns die Tatsachen der Natur oder des Lebens unter allgemein gültige Gesetze bringt, d. h. uns nicht nur zeigt, daß es sich so und so zugetragen hat, sondern uns die Naturgesetze aufweist, denen gemäß es sich so und nicht anders zugetragen hat.
Kein Wunder denn, daß alle Geschichtsbilder, mögen sie auch noch so umfassend und erschöpfend sein, unser „Transzendenzinteresse“ nicht befriedigen, und daß wir nach „Gesetzen der Geschichte“ uns förmlich sehnen.
Dieser Sehnsucht sind nun in neuester Zeit diejenigen entgegengekommen, welche nach dem Vorgange der Soziologie die Weltgeschichte als einen Entwicklungsprozeß der einzelnen Kulturwelten darstellten, in welchem Entwicklungsprozeß sich überall eine Aufeinanderfolge ähnlicher Phasen beobachten ließ. So begannen denn einzelne Historiker Griechenlands von einer Urzeit und von einem „Mittelalter“ Griechenlands zu sprechen, und Roscher verallgemeinert diese Beobachtung, indem er im Plural von „den Mittelaltern“ der Entwicklung der einzelnen Kulturwelten spricht. Eine weitere Ausbildung findet dieser Gedanke bei Albert Wirth (in dem oben erwähnten Werke), der seine vier Zeitalter der Weltgeschichte in Stufen abteilt, da er ganz richtig beobachtet, daß diese Entwicklungen sich „am Euphrat ganz in gleicher Weise wie später am Hoangho, am Tiber, am Rhein“ abspielen. [1] Eine nähere Ausführung dieser Idee versucht nun Kurt Breysig in dem soeben erschienen Buche: „Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte“. [2] Er fußt dabei auf den Nachweisungen der modernen Kulturgeschichte und Soziologie, welche uns die Entwicklung
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einzelner sozialer Institutionen, wie z. B. der menschlichen Ehe und Familie (Westermark, Lippert u. a.), als eine im allgemeinen wesensgleiche Stufenfolge in den verschiedensten Urzeiten dargetan haben. [3] Auf Grund solcher historischer und soziologischer Feststellungen schematisiert Breysig nun die geschichtlichen Entwicklungen, indem er das „einfachste Auskunftsmittel“ dazu verwendet, nämlich die „für die jüngere (d. i. die griechisch-römisch-germanisch-romanische) Entwicklung bräuchlichen Teilnamen, nämlich Urzeit, Altertum, frühes und spätes Mittelalter, Neuzeit und neueste Zeit, ohne Änderung auf die ältere (d. i. asiatische, amerikanische [etc.]) zu übertragen“ (S. 15). Das ist nun allerdings eine sehr einfache Operation, und auf Grund derselben schachtelt Breysig alle uns bekannte Geschichte in die einzelnen dieser Schubladen oder Fächer ein und bemüht sich, für diese einzelnen „Stufen“ gemeinsame Merkmale aufzustellen. Da nun nach seiner Ansicht die einzelnen Kulturwelten diese einzelnen Stufen passieren müssen (allerdings nicht in den gleichen Zeiträumen!), so nimmt Breysig keinen Anstand, diese Marschroute der Völker als eine gebundene anzusehen und sohin von „Gesetzen der Weltgeschichte“ zu sprechen, welche den Völkern quasi diese Marschroute vorschreiben.
Ist bei einzelnen Völkern die Passierung der ersten Etappen dieser Marschroute nicht nachweisbar, so nimmt er an, daß daran nur unsere Unkenntnis und Mangel geschichtlicher Zeugnisse die Schuld tragen: daß sie aber diese ersten Etappen passierten, daran zweifelt er nicht. Finden wir dagegen andere Völker noch heute auf Urzeitstufen, so zweifelt er nicht, daß sie einst zu den späteren Stufen gelangen werden – denn nicht alle marschieren in gleichem Schritt; bei manchen dauert es eben länger. Solche ungleiche Erscheinungen machen ihn nicht irre; er läßt sich die Kreise seiner „Gesetze“ dadurch nicht stören. Auf Grund dieser allerdings bequemen Methode stellt er am Schlusse seines Buches 24 (volle zwei Dutzend) „Gesetze der Weltgeschichte“ auf – womit also endlich nach langem, bisher vergeblichen Suchen diese „Gesetze der Geschichte“ gefunden wären. Sehen wir uns diese „Gesetze“ etwas näher an.
Das erste Gesetz lautet: „Aus den keimhaften Urgebilden des Geschlechtsverkehrs, der Gruppenehe mit ihrem Milchverkehr oder anderen ihr verwandten Vorformen, muß sich die Sonderfamilie entwickeln, bestehend aus einem Mann und einer oder mehreren Frauen und deren Nachkommenschaft“. Was enthält dieser Satz? Offenbar die Schilderung von Vorgängen und Zuständen, welche die Kulturgeschichte und Soziologie bei vielen Völkern festgestellt haben, und aus denen die soziale Entwicklung von kulturloser zu höherer kultureller Stufe sich zusammensetzt. Nun fügt Breysig zur Schilderung dieser Entwicklung das Wörtchen „muß“ hinzu und glaubt somit ein „Gesetz“ gefunden zu haben. Der Soziologe sagt: so und so war es bei vielen Völkern. Breysig sagt: es muß so sein immer und überall, daher ist es ein Gesetz. Ist das richtig? Ob es so sein muß, das wissen wir nicht; es war nicht überall so, und die Formen dieser sozialen Vorgänge und Zustände
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waren und sind mannigfach verschieden. Gibt es doch noch heute im zivilisierten Europa untrennbare Ehen und trennbare; bei den trennbaren wieder in den einen Ländern oder Konfessionen die Möglichkeit der Wiederverheiratung oder Unmöglichkeit einer solchen usw. Aus dieser Verschiedenheit im heutigen zivilisierten Europa mögen wir schließen auf all die Mannigfaltigkeit, die sich in diesen gegenseitigen Verhältnissen der Geschlechter in den verschiedenen Zeiten und Zonen geltend machen konnten. Was lehrt uns also das Breysigsche „Gesetz“? höchstens, daß sich Männchen und Weibchen immer und überall in der einen oder anderen Weise zusammengetan haben. Das ist aber kein „Gesetz der Geschichte“, sondern höchstens der „Naturgeschichte“. Wenn die sozialen Formen der Betätigung dieses naturgeschichtlichen Gesetzes unendlich variierend sind, so läßt sich eben über diese Formen kein „Gesetz“ aufstellen. Ja! wenn die geschichtliche Erfahrung lehren würde, daß alle Völker ausnahmslos von Promiscuität zur Monogamie gelangen, so könnte man darin ein „Gesetz“ sehen. Aber das ist nicht der Fall. Wissenschaftlich kann man darüber gar nichts aussagen, weil alle diese Formen von allerhand unberechenbaren Umständen und Verhältnissen abhängen, und das Breysigsche „muß“ allein konstituiert noch kein Gesetz. Was er uns also als „erstes Gesetz“ präsentiert, ist ein Resümee der Darstellung der Urzeitzustände, wie sie uns Kulturgeschichten und Soziologien bieten.
Gehen wir weiter. Das „zweite Gesetz“ lautet: „Aus der staatähnlichen Blutsgemeinschaft muß nach Ablauf gewisser Zeit- und Entwicklungsperioden ein wirklicher, wenngleich zunächst nur lockerer Staatsverband dadurch entstehen, daß zwei oder mehrere Blutsverbände sich zu einer rein staatlichen, das ist nicht mehr blutgekitteten Einigung verbinden und eine bestimmte Verfassung eingehen“.
Auch aus den hier geschilderten, häufig vorkommenden Vorgängen und Entwicklungen kann das Breysigsche „muß“ kein „Gesetz“ machen. Denn „der Bien' muß nicht“! Die moderne Staatswissenschaft und Soziologie hat es allerdings nachgewiesen, daß Staaten durch Unterwerfung, sagen wir eines oder mehrerer Blutsverbände durch einen oder mehrere fremde Blutsverbände entstehen, doch „muß“ das alles nicht, und am wenigsten wie Breysig es will, „aus der staatsähnlichen Blutsgemeinschaft“ entstehen; es gibt noch heutzutage „Blutsgemeinschaften“, z. B. die Feuerländer, die es zu keinem „wirklichen Staat“ gebracht haben, und die vielleicht eher aussterben werden oder der Ausrottung verfallen werden, ohne daß
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„aus ihnen“ ein Staat hervorgehen wird. Auch dieses dritte Breysigsche Gesetz resümiert Vorgänge, wie sie uns Kulturgeschichte und Soziologie als unter gewissen Umständen und Verhältnissen häufig vorkommend nachweisen; aber das ist kein Gesetz. Breysig unterscheidet eben nicht zwischen sozialen Entwicklungen und Gesetzen. Erstere spielen sich auf Grund von Gesetzen ab, letztere hat allerdings schon teilweise die Soziologie formuliert. Die lauten aber ganz anders und sind, wie alle Naturgesetze, allgemein gültig. Ein solches Gesetz z. B. lautet: „Wenn zwei heterogene soziale Gruppen zusammentreffen, so trachtet die mächtigere, die schwächere nach Maßgabe der Verhältnisse auszubeuten“. Auf Grund dieses soziologischen Gesetzes spielten sich Vorgänge ab (z. B. Unterjochungen), die zu Staatsgründungen führen.
Aber die Vorgänge und Entwicklungen sind nicht Gesetze und dürfen mit letzteren nicht verwechselt werden; auch das bloße Wörtchen „muß“ kann diese Transsubstantiation nicht vollbringen.
Und so steht es leider mit allen den 24 Breysigschen „Gesetzen“. Wenn wir aus dem langen Verzeichnis derselben bei jedem einzelnen das Wörtchen „muß“ eliminieren und das Wort „Gesetz“ durch „Kapitel“ ersetzen würden, so läse sich das Ganze wie ein Inhaltsverzeichnis irgend einer modernen Kulturgeschichte oder Soziologie. Allerdings wäre an dem so angezeigten Inhalt einer solchen Kulturgeschichte oder Soziologie vieles zu korrigieren. Denn so wie dieses Inhaltsverzeichnis es angibt, wäre vieles in dem Buche unrichtig. Nehmen wir ein Beispiel. Das elfte „Gesetz“ Breysigs lautet: „Die Herstellung einer starken Königsherrschaft muß aus dem bestehenden Zustande fast völliger Klassenlosigkeit einen Adel entstehen lassen...“
Nach unserer Umformung wäre ein solcher Vorgang also der Inhalt des betreffenden Kapitels der Kulturgeschichte oder Soziologie. Dieser Inhalt entspräche aber keineswegs den Tatsachen. Denn das ist nie und nirgends geschehen. Ein Adel ist nie und nirgends aus „völliger Klassenlosigkeit“ einzig und allein als Folge „einer starken Königsherrschaft“ aufgeschossen. Im Gegenteil war Königsherrschaft immer und überall die Folge des Vorhandenseins einer Adelsklasse, meist auf die Weise, daß der Führer der Konquistadoren im Kriege, ihr König im Frieden wurde. Aus „völliger Klassenlosigkeit“ entsteht nie und nirgends eine Adelsklasse. All und jeder Adel wurzelt in einer Eroberung, bildet also im vorhinein eine besondere Klasse und entsteht mit nichten mittels einer generatio aequivoca aus „völliger Klassenlosigkeit“. Wir sehen also, es ist nichts mit den Breysigschen „Gesetzen der Geschichte“. Auch die Vorgänge und Entwicklungen, die er in seinen „Gesetzen“ resümiert, sind als solche häufig unrichtig; wo sie aber auch richtig sind, sind es eben Vorgänge und Entwicklungen, welche von der Kulturgeschichte und Soziologie aus häufig eintreffend festgestellt wurden, aber nicht als solche, die immer und überall eintreffen müssen. Solche Vorgänge und Entwicklungen durch ein vorgesetztes Wörtchen „muß“ zu „Gesetzen der Geschichte“ zu stempeln, ist ein gewagtes Unternehmen.
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Wir haben es also wieder mit einem Fehlversuch der Formulierung von „Gesetzen der Geschichte“ zu tun; es ist nicht der erste, wie wir gesehen haben, und nicht der letzte.
Das „Transzendentalinteresse“ wird immer dazu drängen, sich aus der jeweils bekannten Weltgeschichte ein befriedigendes Gesamtbild zu konstruieren. Das ist begreiflich und verzeihlich. An dem Fehlversuche Breysigs aber, „Gesetze der Weltgeschichte“ zu formulieren, trägt die mangelnde begriffliche Unterscheidung zwischen Vorgängen und Gesetzen schuld. Die Formulierung dessen, was häufig in ähnlicher Weise sich abspielt, ist noch lange kein „Gesetz“. Ein „Gesetz“ aber der Geschichte ist eben ein Naturgesetz, das wir als auf dem Gebiete des sozialen Lebens sich äußernd, als soziales Gesetz bezeichnen. Solche soziale Gesetze formuliert die Soziologie, welche der Historiker Breysig vornehm ignoriert. Hätte er sie aber zu Rate gezogen, so würde ihm zum mindesten der gewaltige begriffliche Unterschied zwischen „Gesetzen“ und Vorgängen der Entwicklung klar geworden sein.
Um diesen Unterschied hier klar zu machen, wollen wir ein solches soziales Gesetz aus Ratzenhofers „Wesen und Zweck der Politik“ (1893) hier anführen. Man wird schon aus dem Tenor desselben, den prinzipiellen Unterschied zwischen einem Breysigschen Resümee von Vorgängen und einem wirklichen sozialen Gesetz, welches für soziale Vorgänge maßgebend ist, erkennen. Ratzenhofer sagt: „Die Berührung gesellschaftlich fremdartiger Gesellschaftsgebilde ist die Ursache des sozialen Kampfes.“ So lautet ein Gesetz, und das ist ein Gesetz. Aus diesem Gesetze ergeben sich und können abgeleitet werden, ungezählte Vorgänge in allen Zeit und Zonen, und alle diese Vorgänge sind die Äußerungen sind die Äußerungen dieses Gesetzes. Einem solchen Gesetz gegenüber läßt sich keine solche Einwendung erheben wie gegen die Breysigschen: „Das trifft nicht überall zu!“ Dieses Ratzenhofersche Gesetz trifft ausnahmslos zu, immer und überall, eben wie alle Naturgesetze. Oder nehmen wir ein zweites, von Ratzenhofer formuliertes soziologisches Gesetz. Es lautet: „Der Inhalt des Lebens jeder Persönlichkeit (hier in der Bedeutung sozialer Gruppe), ist deren Streben nach Erhaltung.“ Dieses Gesetz, das allgemein und ausnahmslos gültig ist, hat zur Folge bestimmte Handlungen, Vorgänge und sohin Entwicklungen, die der Kulturhistoriker oder Soziologe schildert; aber diese Vorgänge und Entwicklungen, die Breysig in seinen 24, sagen wir Kapitelüberschriften andeutet, sind nicht „Gesetze“. Sie sind höchstens, wo sie richtig geschildert sind, Ausdruck eines Gesetzes. Es tut mir leid, daß ich eine so elementare Unterscheidung der Begriffe aus Anlaß von Breysigs Buch hier auseinandersetzen muß, doch will ich zur Entschuldigung Breysigs sagen, daß die Verwechslung dieser Begriffe, Gesetze und Vorgänge, bei einem Historiker begreiflich ist. Denn Historiker sind meist den Naturwissenschaften so ferne, daß ihnen der Begriff „Naturgesetz“ in Anwendung auf die Geschichte nicht geläufig ist, und daß sie auf der Suche nach „Gesetzen der Geschichte“ leicht in den Irrtum verfallen, häufig vorkommende Vorgänge und Entwicklungen als „Gesetze“ anzusprechen, oder dieselben mittels eines ihnen zudiktierten kate-
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gorischen Imperativs „muß“, zu Gesetzen umstempeln zu wollen. Es liegt also hier weniger ein Irrtum Breysigs, als vielmehr ein allgemeiner Irrtum des genus historicorum vor. Breysigs Buch hat jedenfalls das Verdienst, daß es wieder einmal gründlich das alte geschichtsphilosophische Problem aufrüttelt und den ganzen Schwarm der an dieses sich knüpfenden Detailfragen wird auffliegen lassen. Das kann der Wissenschaft nur dienlich sein.
1Ich führte diesen Gedanken der überall „wesensgleichen“ sozialen Entwicklung in meinem „Rassenkampf“ (1883) durch.
2Berlin, 1905, Bondi.
3Vergl. meinen „Grundriß der Soziologie“, 2. Aufl., 1905, S. 177ff.