Welträtsel-Lösungsversuche, in: Österreichische Rundschau
3 (Mai-Juli 1905), 329-344.
Welträtsel-Lösungsversuche.
Es wird heute so schrecklich viel geschrieben, es erscheint
eine solche Unzahl von Werken, daß man bald wird anfangen müssen, nach Art der
Botaniker zu verfahren, d. i., die einzelnen Exemplare als Repräsentanten ihrer
Familien, Gruppen, Gattungen und Arten zu schreiben. Eigentlich kann man das schon
heute tun, indem man die Weltverbesserer, die Bodenreformer, die Staatsumstürzler,
die Freilandgründer, die Weltfriedenstifter u. s. w. u. s. w. per Bausch und Bogen
behandelt. Denn sobald wir einmal wissen, zu welcher Familie, Gruppe oder Gattung so
eine „Pflanz“ gehört: dann wissen wir ja schon alles. Die Zeit reicht ja nicht mehr
hin, sich noch mit den individuellen Merkmalen eines literarischen Werkes zu
befassen: so wie es dem Botaniker nicht einfällt, sich mit den individuellen
Merkmalen jedes einzelnen Baumes oder Strauches zu beschäftigen.
Diese für die Autoren wenig erhebenden Betrachtungen
überkommen mich, wenn ich auch nur die große Zahl derjenigen Werke betrachte, die
sich die Lösung des „Welträtsels“ zur Aufgabe setzen. Diese neueste Strömung ist ja
begreiflich. Unseren glücklicheren Vorfahren blieben solche Bemühungen erspart. Sie
lasen am Sonntag (oder auch Samstag) nachmittags ihre Bibel, und da fanden sie alle
Welträtsel gelöst: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ u. s. w. u. s. w. Da
brauchten sie sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, wie die „Arten“ entstanden
sind, und von welchem Affen der Mensch abstammt.
Diese schöne Zeit ist für immer vorbei. In atemloser
Beklemmung ringen wir heute nach „Weltanschauung“, und fieberhaft raten wir herum,
um das große „Welträtsel“, und können keine Ruhe finden. Der erste Frevler, der all
diese Unruhe verschuldete, war wohl
Kopernikus.
Hätte er nur unseren Erdball ruhig stehen lassen, wäre es zu all dem Unheil und
unserer heutigen Nervosität nicht gekommen! Aber seitdem dieser fromme Domherr, ganz
im Gegensatz zu dem in seiner Vaterstadt Krakau von jeher herrschenden
Konservatismus, die altehrwürdige Weltordnung umstürzte und unsern einst so soliden
Erdball einen ewigen Wirbeltanz um die Sonne aufführen ließ, sind die bösen Geister
der Neugier aufgescheucht, und wollen die vorlauten Fragen kein Ende nehmen. Und
jede Frage heischt seine Antwort, und jede Antwort gebiert tausend neue Fragen, auf
die Kopernikanische Erklärung der Mechanik des Himmels im XVI. Jahrhundert folgte im
XVII. Jahrhundert die Frage: warum dreht sich die Erde? Und als
Newton diese Frage mit seiner
330
Gravitationslehre beantwortete,
folgte im XVIII. Jahrhundert die weitere Frage: wie diese große Herumdreherei
angefangen habe? Darauf erteilte die
Kant-
Laplacesche Theorie eine, wie man meinen sollte, halbwegs befriedigende
Antwort, wenigstens für diejenigen, die sich mit dem ersten „Urnebel“ zufrieden
gaben. Aber auch diese Genügsamen war noch lange nicht befriedigt. Denn die nächsten
Fragen bezogen sich auf das Entstehen des
Lebens auf der
Erde, in seinen verschiedenen Formen. Darauf erteilte die ersten Antworten am Ende
des XVIII. Jahrhunderts
Lamarck und im XIX.
Jahrhundert in anscheinend erschöpfendster Weise
Darwin. Darüber
herrschte zunächst heller Jubel und Begeisterung. Das dauerte aber nur bis in die
Siebzigerjahre des verflossenen Jahrhunderts. Da kamen die ersten Nörgler, und
tauchten die ersten Zweifel auf an der Richtigkeit des „Evangeliums Darwini“. Und
heute – schwankt wieder der wissenschaftliche Boden unter unsern Füßen, und trotz
Häckel sind alle Darwinschen Hauptlehren von der „Entstehung der Arten“
durch den „Kampf ums Dasein“ und „Natürliche Zuchtwahl“ in Frage gestellt. Nun ist
die Bahn wieder frei, und von allen Seiten stürmen sie herbei, die modernen
Ödipusse, und jeder präsentiert uns seine „einfachste und natürlichste“ Lösung des
Welträtsels. Greifen wir aus ihrer Mitte zwei heraus, die nicht uninteressant und
jedenfalls lehrreich sind, um uns über den Charakter und die Beschaffenheit dieser
modernsten Welträtsel-Lösungsversuche eine beiläufige Vorstellung zu machen.
* * *
Siegfried
Tietze will in seinem
Buche „Das Gleichgewichtsgesetz in Natur und Stadt“ erst „zwei Riesen“
[1]
niederringen, um den von
ihnen gehüteten Nibelungenhort der Wahrheit, die die Lösung des Welträtsels entählt,
zu heben. Diese „Riesen des Aberglaubens“ nicht nicht etwa biblische Traditionen
oder theologische Dogmen, nein! darüber sind wir längst hinaus. Diese „Riesen des
Aberglaubens“ sind – für den Beginnn des XX. Jahrhunderts bezeichnend –: der
Darwinismus und das Energiegesetz! Diese zwei Welträtsel-Lösungsversuche befriedigen
den Verfasser nicht, und darin darf er vielfacher Zustimmung sicher sein. Was will
er an deren Stellen setzen? Einen sehr einfachen physikalischen Prozeß: das ewige
allgemeine Sich-ins-Gleichgewicht-setzen der Dinge! Die ewige allgemeine Gestörtheit
des Gleichgewichts und das ewige allgemeine Streben der Dinge, sich ins
Gleichgewicht zu setzen, bildet das Wesen des gesamten Weltprozesses und aller in
ihm enthaltenen Teilprozesse auf allen Gebieten der Natur und des Staates.
Man muß es dem Verfasser zugestehen, daß er diese These in
geistreicher Weise durchführt und einen solchen Gleichgewichts-Herstellungsprozeß in
allen Erschienungen des physischen, psychischen und sozialen Lebens nachweist. Sein
Ausgangspunkt ist die gegenseitige Abhängigkeit aller Dinge voneinander, worin er
sich übrigens in Übereinstimmung befindet mit Gustav
Ratzenhofer,
der es in
331
seiner „Soziologischen Erkenntnis“ (1898, Seite 85)
ausspricht, daß „Alle Dinge sind einer gegenseitigen Abhängigkeit unterworfen.“
Tietze formuliert diesen seinen Ausgangspunkt folgendermaßen: „Die in einem
jeden hermetisch geschlossenen Raume, und daher auch im Weltraume befindlichen
Dinge, stehen jedes einzelne zu einem oder mehreren anderen Raumgenossen in einem
solchen Verhältnis, daß die letzteren – die abhängigen – sich nicht verändern, wenn
das erstere – das herrschende – sich nicht ändert, daß sie sich aber automatisch
ändern, wenn das herrschende sich ändert, so daß zwischen den herrschenden und den
abhängigen Dingen permament eine Proportionalität herrscht, wie wir sie etwa
zwischen den Quecksilbersäulen unserer Thermometer und zwischen der dieselben
umgebenden Temperatur beobachten.“
Dieser harmlosen These sieht man es gar nicht an, wie
unheilschwanger sie ist, und ganz verblüfft lesen wir, daß „die so zwischen den
Dingen permanent herrschende Proportionalität (oder Gleichgewicht) erklärt nun alle Erscheinungen ohne Ausnahme“. Gelassen spricht der
Verfasser dies große Wort aus und geht mit großer Zuversicht an den Nachweis, daß
„jede Änderung jedes Dinges eine Gleichgewichtsherstellung ist, die stets nur durch die Änderung der Beziehungen der kleinsten Bestandteilchen
desselben untereinander herbeigeführt“ wird. Etwas ungläubig und zögernd
folgen wir dem Verfasser durch die 457 Seiten seines Buches, auf denen er uns diesen
Nachweis führt, durch den tatsächlich alle, aber alle Erscheinungen der Welt und des
Lebens erklärt werden sollen: doch müssen wir schließlich anerkennen, daß seine
Argumente keine geringere Überzeugungskraft haben als die Darwinschen Sätze von dem
Kampf ums Dasein und der natürlichen Zuchtwahl, durch welche die Entstehung der
ganzen Lebewelt erklärt wird.
Allerdings hat aber die Lehre
Tietzes, was er uns
gewiß nicht glauben wird, mit der Lehre
Darwins, den er
entschieden bekämpft, eine intime Verwandtschaft: denn beide beruhen auf den
Beziehungen der Dinge zueinander, nur daß in jeder derselben diese Beziehungen
anders aufgefßat oder vielleicht nur anders benannt werden. Wir wollen diese unsere
Behauptung sofort beweisen.
Wenn der Wüstenlöwe gelb gefärbt ist wie der ihn umgebende
Sand der Wüste, so erklärt dies bekanntlich
Darwin als Folge des
Kampfes um Dasein und natürlicher Zuchtwahl. Denn andersfarbige Löwen konnten von
ihren Feinden leichter bemerkt und ausgerottet werden, auch hatten sie ein schweres
Leben, weil die ihnen zur Nahrung dienenden Geschöpfe vor ihnen schon von weitem
Reißaus nahmen: nur die gelbgefärbten entzogen sich dem Blick ihrer Verfolger und
erhaschten leichter ihre Beute. Diese „bestangepaßten“ bleiben Sieger im Kampf ums
Dasein und überlebten mittels natürlicher Zuchtwahl. Also spricht
Darwin.
Und was sagt
Tietze? Trotzdem er
sich als entschiedener Gegner
Darwins gebärdet,
sagt er in etwas anderer Form dasselbe. Er spricht wohl nicht vom Kampf ums Dasein
und natürlicher Zuchtwahl, doch nennt er seine „Gleichgewichtsherstel-
332
lung“ gelegentlich auch „Anpassung“, womit er sich, im Grunde genommen, die
Darwinsche Idee aneignet. „Alle Veränderungen,“ schreibt er, „auch der
organischen Dinge, sind daher gleichfalls nur
Anpassungen an die
Umgebung und Produkte des Gleichgewichtsgesetzes. Lediglich vermöge dieses
Gesetzes, bekommt ein im heißen Klima haarlos vorkommender Hund, wenn er nach dem
kalten Orden gebracht wird, automatisch die ihn gegen die Kälte schützenden Haare:
dieselben bedeuten die Herstellung des Gleichgewichts zwischen dem Tiere,
beziehungsweise seinen Organen und der es jetzt umgebenden kalten Temperatur
(Umgebung).“ Also gehupft wie gesprungen.
Darwin erklärt
dieselbe Erscheinung mittels Kampfes ums Dasein, Anpassung und natürliche Zuchtwahl;
Tietze mittels der Gleichgewichtsherstellung und daher Anpassung.
Allerdings ist die
Tietzesche Erklärung
einfacher, aber deswegen noch nicht einleuchtender, ja sogar etwas mehr mystisch;
die
Darwinsche Erklärung ist etwas komplizierter, dagegen gründlicher und
etwas weniger mystisch.
Manchmal besteht der ganze Unterschied zwischen der
Darwinschen und
Tietzeschen
Erklärung einzig und allein in der verschiedenen Benennung ein und derselben
Vorgänge. Was z. B. bei
Darwin die
„abändernde Wirkung der Funktion“ ist, betrachtet
Tietze als
Gleichgewichtsherstellung zwischen Organ und Umgebung. Eine andere Bezeichnung
desselben Vorganges! Übrigens münden alle
Tietzeschen
„Gleichgewichtsherstellungen“, genau so wie die
Darwinschen Kämpfe
und Ausleseprozesse, in dem großen Strom der – Evolution, zu dem sich ja
Tietze ebenso bekennt wie sein großer Antagonist.
* * *
Der zweite „Riese des Aberglaubens“, den
Tietze niederringen muß, ehe er uns an den Quell der Wahrheit führt, ist das
Energiegesetz. Aber auch hier handelt es sich mehr um einen Wortstreit als um einen
wesentlichen Gegensatz. Wo die Energetiker in wechselnden Formen ein und dieselbe
unwandelbar sich erhaltende Energie sehen, da sieht
Tietze nur die
Wirkung des Gleichgewichtsgesetzes. „Es hat sich“, sagt er, „nicht die (nicht
existierende) Energie in eine andere Energie umgewandelt, sondern es hat sich
vermöge meines Gelichgewichtsgesetzes das abhänige Dinge, infolge der Veränderung
seines herrschenden, proportional geändert und nicht die Energie ist umwandelbar,
sondern die Dinge.“
Beiden diesen Theorien, dem Darwinismus und dem
Energiegesetz, wirft
Tietze vor, daß sie
„die unumstößliche, unwiderlegliche Wahrheit verschleiern, daß zwischen den
anorganischen und organischen Dingen kein qualitativer Unterschied, sondern totale
Gleichheit herrscht, in dem Sinne, daß sie nicht von einem Schöpfer erschaffen
wurden, sondern alle ohne Ausnahme nach demselben Gesetze aus anderen entstanden
sind, und daß sie sich in allem und jedem nach demselben Gesetze betätigen!“
Deswegen nun, weil der Darwinismus
nur auf Organismen und das Energiegesetz nur auf anorganische Dinge paßt,
verwirft
Tietze beide und setzt an ihre
333
Stelle sein
Gleichgewichtsgesetz, das auf beide Gebiete gleicherweise passen soll und „daher
befriedigend die Entstehung sowohl der anorganischen, als auch
ganz ebenso der organischen auseinander erklärt.“
Das wäre nun allerdings sehr schön, wenn nur diese
„Erklärung“ nicht in einer unbewiesenen Behauptung bestünde,
daß „alle unsere Betätigungen ausnahmslos nichts anderes sind, als durch
vorausgehende Störungen erzwungene Gleichgewichtsherstellungen oder Folgen von
Anpassungen unseres Gehirnes an äußere Einwirkungen.“
Leider sind aber diese „Erklärungen“ des Verfassers, wie
wir das bald sehen werden, in den meisten Fällen nur solche Behauptungen.
Allerdings, in vielen besonderen Fällen ist diese
„Erklärung“
Tietzes befriedigend
oder vielmehr kann seine Behauptung über den Grund eines Vorganges angenommen
werden; aber in vielen anderen Fällen ist die „Erklärung“ sehr gezwungen und
ungenügend, und seine Behauptung weckt kein Vertrauen. Und zwar gehören zu den
ersteren Fällen Vorgänge auf dem Gebiete der anorganischen Natur, zu den letzteren
Fällen Vorgänge auf sozialem Gebiete.
Wenn in zwei durch eine Röhre verbundenen Wasserbehältern
das Niveau des Wassers in der gleichen Höhe sich erhält, so ist hier die Erklärung,
dßa die beiden Wassermassen infolge des Gleichgewichtsgesetzes dasselbe Niveau
anstreben und erreichen, offenbar zutreffend. Wenn aber
Tietze „alle
menschlichen Betätigungen ... lediglich durch
mechanische
Anpassung (Gleichgewichtsherstellung) herbeigeführt werden“ läßt, so ist das nur
eine Behauptung, für die er den Beweis zu erbringen, bestenfalls eine Hypothese, die
er zu begründen hätte. Statt dessen finden wir bei
Tietze nur eine große
Zuversicht, daß sein Gleichgewichtsgesetz alle Dinge, alle menschlichen Betätigungen
und historischen
Ereignisse (S. 424) beherrscht. Unser ganzes
Leben besteht nach
Tietze „in nichts
anderem als in einer einzig und allein durch das Proportionalitäts- und
Anpassungsgesetz herbeigeführten und gemäß demselben geschehenden überaus raschen
und fortwährend wirksamen Anpassung unseres Gehirns an Umgebungen, alle unsere
Betätigungen geschehen nach dem Gleichgewichts- und Anpassungsgesetz“ (S. 175).
Gewiß, als Hypothese kann man ja diese Auffassung gelten lassen, weil sie nicht
widerlegt werden kann, und zwar aus demselben Grunde, aus dem
Tietze ihre
Richtigkeit nicht erweisen kann. Er meint nämlich in letzterer Beziehung: „Die
Funktion der kleinsten Gehirnteilchen des Zentralorgans unserer Empfindungen, oder
richtiger, die Anpassung derselben an ein Ding kann man allerdings nicht bloß wegen
der Kleinheit jener, sondern auch aus dem Grunde nicht wahrnehmen, weil die
Schädeldecke die Beobachtung des Gehirns normal unmöglich macht.“ Letzterer Umstand
(oder Übelstand?) ist nun für die
Tietzesche Hypothese
sehr günstig, denn sie kann deswegen zunächst nicht widerlegt werden.
Unter dem Schutze dieser Unwiderlegbarkeit kann er auf
Rechnung der Gleichgewichtsänderung der „kleinsten Gehirnteilchen“ mutig
drauflosargumentieren
334
und alle möglichen sozialen Erscheinungen:
Sprache, Religion, Sitte, Recht u. s. w. als Produkte dieser Gleichgewichts-Störung
und -Wiederherstellung demonstrieren.
So begründet er unter anderem auf dieses
Gleichgewichtsgesetz z. B. das ganze Strafrecht. „Ich halte“, meint er, „die
Bestrafung der die Gesetze des Staates Verletzenden für eine mechanische und
unvermeidlich eintretende Wiederherstellung des durch den Gesetzesverletzer in den
Gehirnangepaßtheiten der Staatsangehörigen gestörten Gleichgewichts“ (S. 420). Nun,
widerlegen kann man diese Hypothese nicht – wegen der Nichtabhebbarkeit der
menschlichen Schädeldecke –; auch diesen Grund des Strafrechts als unmöglich zu
erklären, haben wir keinen Anhaltspunkt. Es bleibt also nichts übrig, als diesen
Versuch der Lösung des Welträtsels mit stiller Resignation über sich ergehen zu
lassen.
[2]
Die Anschauung des Verfassers enthält ja in sich keinen
Widerspruch. Nach ihm ist die Welt eine unendliche Zahl von Atomen und Molekeln, die
in ewigem Balancieren begriffen sind, infolgedessen dieselben sich ewig gegenseitig
aus dem Gleichgewicht bringen, worauf auf Grund des Gleichgewichtsgesetzes die
Gleichgewichtsherstellung erfolgen muß. Diese intimen Vorgänge in den Dingen und
Menschen haben zur Folge alle Ereignisse, die ganze Menschheitsgeschichte und alle
physischen und psychischen Erscheinungen. Liebe und Haß, Ehrgeiz und Ruhmsucht,
Tugend und Laster, Kunst und Wissenschaft, Patriotismus und Begeisterung, Verbrechen
und Strafe, Philosophie und Phantasie, unsere ganze Kultur, Staat und Politik, Kampf
und Krieg, alles das sind nur gegenseitige Gleichgewichtsstörungen mit nachfolgenden
Gleichgewichtsherstellungen. Widerlegen können wir den Herrn Verfasser nicht.
Aber die Nichtwiderlegbarkeit ist nur ein Erfordernis einer
wissenschaftlichen Hypothese. Das zweite und wichtigere Erfordernis ist, daß sie die
Erschienungen, die sie erklären will, besser erklärt als die bisherigen Erklärungen
es taten. Ob die
Tietzesche Hypothese
dieses Erfordernis erfüllt, das werden wir später prüfen. Zunächst aber wollen wir
ihm nur eines bestreiten: seine Meinung, daß diese Lösung die einzig richtige und
einzig mögliche ist. Das können wir ihm nicht zugestehen, und fragt er uns „warum?“,
so wollen wir ihm gleich ein Pendant zu seiner Welt-
335
rätsel-Lösung
vorführen, das ganz denselben Anspruch mit ganz demselben Rechte erheben kann.
Es ist das Buch von T. H. v.
Méran: „Die
Physiologie unserer Weltgeschichte und der kommende Tag.“
[3]
Was uns der Verfasser darin bieten will, darüber spricht er
sich im Vorwort ganz unzweideutig aus.
„Unsere Zivilisation ist die natürliche Fortsetzung einer
Reihe von Zivilisationen, die alle gewesen sind und die, eine wie die andere, in der
zeitweilig folgenden aufgingen.“
„Denn die Schöpfung rastet nie, sie hört nie auf, sie wirkt
ewiglich. Der göttliche Trieb, immer höher geartetes Leben zu erzeugen, setzt seine
schaffende und erschaffende Tätigkeit immerdar fort. In der vergehenden Zivilisation
keimt eine neue lebende Zivilisation. Mit der Gewalt einer unaufhaltbaren Naturkraft
wurden die neuen Tendenzen eines zukünftigen Lebens erschaffen. Die Urgewalt dieser
Schöpfung ruft eine neue Zivilisation in und aus der veraltenden ins Leben. Die neue
entfaltet ihre Lebenskräfte um eine Stufe höher entwickelt, erzeugt eine wiederum
neuere, und die alte ist – gewesen.“
„Im Lichte der ewigen Naturgesetze der Schöpfung erscheint
die Zukunft nicht mehr als ein unlösbares Rätsel. Denn Gesetze, die seit Entstehen
des Lebens walten, Gesetze des schaffenden Gottes selbst, enthüllen uns die
Zukunft.“
Diese Zukunft auf Grund der Erkenntnis des Wesens der Dinge
und der bisherigen Schöpfung zu sehen, will uns der Verfasser lehren. Wie stellt er
das an? Sehr einfach. Er sieht in der ganzen Welt einzig und allein biologische Prozesse. Aus Protoplasmen entstehen Zellen, aus
Zellen tierische Organismen, aus tierischen Organismen Menschen, aus Menschen –
Kulturorganismen. Auf allen diesen Stufen ist es ein und derselbe biologische und
physiologische Prozeß, der sich in immer „höherem Rhythmus“ abspielt. Nachdem der
Verfasser die Gesetze dieses biologischen Prozesses nachweist und die Physiologie
der Kultur“ als mit der Physiologie der Organismen wesensgleich annimt, so sit es
ihm nicht schwer, auf Grund „physiologischer Gesetze“ die zukünftige Entwicklung
„unseres Kulturorganismus“ vorauszusehen.
In dieser Gesamtentwicklung nun ist offenbar der wichtigste
und interessanteste Punkt derjenige, wo sich der Mensch vom Tiere scheidet, und wo
der erste „Kulturorganismus“ entsteht. Diesen Grenzpunkt zwischen Tier und Mensch
bildet „das erste Kulturgerät.“ Damit ist der Anfang gegeben eines „stofflichen
Wachstums“, aus dem das Kulturleben, die Zivilisation sich entwickelte. „Es kamen
aus den Tätigkeiten der Menschen Stoffe hervor, welche die Organismen niederer Stufe
noch nicht produzieren konnten; Stoffe, die neue Lebenserscheinungen in die
Schöpfungsgeschichte brachten.“
336
Und zwar kommen diese Lebenserscheinungen
zustande infolge der Beziehungen des Menschen zu den ihn umgebenden „Kulturmitteln“.
Denn diese letzteren sind ein „substantielles Etwas, das sich um den Menschen
bildete“, so wie das Protoplasma in der Zelle um den Zellkern. „Und unter den
menschlichen Individuen entstanden gewisse Gesamtfunktionen auf Grund der
Zusammenwirkenden Funktionen von Substanzen der Kulturmittel“.
Was da der Verfasser Sagt, klingt ja etwas paradox; doch
braucht man sich nur in die Betrachtungsweise des Verfassers zu versetzen, um
anzuerkennen, daß man die Dinge auch so betrachten könnte.
H. v.
Méran ist
wahrscheinlich Physiologe und Biologe oder hat sich doch mit diesen Wissenschaften
beschäftigt; dabei hat er offenbar sein Auge daran gewähnt, alles physiologisch und
biologisch zu sehen. Er sah die Bazillen umgeben von einem „ihnen angewachsenen
protoplasmatischen Apparat“; er sah, wie in den Zellen, ein Protoplasma „von einer
hochgradig substanzbildenden, absorbierenden Fähigkeit“ um den Zellkern sich bildet;
auch die Tiere entwickeln gewisse „substanzielle Bildungen, die in den umgebenden
Materien gewisse Umänderungen hervorrufen“; es sind das allerlei Organe der Tiere,
wie Krallen, Hörner, Füße u. s. w. Der Mensch nun besitzt die Fähigkeit, solche
„protoplasmatische“ Substanzen um sich herum zu erzeugen, in häherem Grade, da er
„Kulturmittel“ um sich herum schafft, d. i. Geräte, Werkzeuge, Wohnungen,
Verkehrsmittel. Inmitten dieser „Kulturmittel“ steckt er, wie der Zellkern im
Protoplasma. Nun gehen durch Wechselwirkung zwischen diesem Kern und dem ihn
umgebenden Protoplasma (Kulturmittel) allerhand physiologische und biologische
Prozesse vor sich. Die Historiker nennen das Geschichte der Menschheit;
Méran sieht darin physiologische und biologische Prozesse. Daß der Mensch „die
Kulturmittel in großem Maße sammeln, akkumulieren und andern zum Gebrauch überlassen
kann“, unterscheidet ihn zwar von Bazillus, Zelle und Tier, ändert aber nichts am
Wesen der Sache, stellt uns eine „höhere Entwicklungsstufe der Schöpfung“ dar.
Wer das nicht sieht, hat eben nicht das an physiologische
und biologische Vorgänge akkomodierte Auge des Verfasser, und wenn er ihm seine
Behauptung bestreiten wollte, dann könnte ihm der Verfasser am Ende sagen, daß er
„mit Blinden nicht über Farben streitet“.
Denkt man sich in die Betrachtungsweise des Verfassers
hinein, so ist es schwer, schlagende Günde dagegen zu finden, daß der Mensch
kein im „Kulturprotoplasma“ schwimmender Zellkern sei. Also
auch diese Hypothese ist, so wie die obige
Tietzes, direkt
nicht widerlegbar. Versetzt man sich aber vollends in diese Anschauungsweise des
Verfassers, dann muß man den aus derselben abgeleiteten Konsequenzen zustimmen und
anerkennen, daß der Verfasser sehr folgerichtig und geistreich die „Physiologie
unserer Weltgeschichte“ schildert.
„Sobald wir nun,“ schreibt er, „in dieser Weise zwischen
dem menschlichen Individuum und seinen Kulturstoffen (Kulturmitteln) vermögen, ein
zellularphysio-
337
logisches Verhältnis zu erkennen, so erscheint das
zusammenhängende Leben der Menschheit inmitten ihres Kulturprotoplasmas und der
kulturprotoplasmatischen Verbindungen als ein
Gewebe
physiologischer Art. Organisches Leben entsteht in immer höherer
Zusammensetzung und mit immer höheren Funktionen; so entsteht auch
dieses Gewebe als die jüngste Offenbarung der Schöfpung.“
Ich gestehe, daß ich vor der Phantasie des Verfassers allen
Respekt habe; die ganze Geschichte der Menschheit als einen physiologischen Prozeß
aufzufassen, dessen innerstes Wesen ein Stoffwechsel zwischen den Individuen als
Zellkernen und dem sie umgebenden Kulturprotoplasma, sodann physiologische
Wechselbeziehungen zwischen den „Kulturorganismen“ bilden – das ist eine großartige
Phantasieleistung. Betrachten wir dieselbe noch eine Weile, bevor wir sie vom
wissenschaftlichen Standpunkt beurteilen wollen.
„Die Kulturorganismen entwickelten sich; immer riesigere
physiologische Körper lagen auf der Rinde der Erde, mit allen Merkmalen des
physiologischen Lebens. Die Zellenindividuen dieses Lebens sind die Menschen.
Riesenorganismen, die heranwuchsen, neue gebaren und zerfielen – sie waren die
Vorfahren neuerer, höherer Lebensfunktionen. Mit ihnen entstand eine neue
gigantische Form des Lebens, sie sind die riesigen physiologischen Organismen der
Erde, in denen wir Menschen im vollen physiologischen Sinne des
Wortes, mikroskopische Zelleneinheiten sind.“
Da diese „Riesenorganismen“, d. h. Kulturen, sich „genau
nach den Gesetzen der Anpassung“ (an die Umwelt) entwickelten, so folgt daraus, daß
„jede Kultur sich von der anderen unterscheidet; diese Unterschiede hängen mit den
umgebenden Verhältnissen aufs strengste zusammen“ und „weisen auf einen
unterschiedlichen Moment ihrer Entstehung“ hin.
Diese untereinander verschiedenen Kulturorganismen „werden
derart einheitlich, daß man sie selbst in der äußern Formbildung als Stil, als
Kunststil, als Baustil kennt.“ Desto eigenartiger sind in jedem dieser
Kulturorganismen „die Institutionen“, z. B. das Familienleben. „Denn unterhalb der
Shciht der Kultur gibt es keine Institutionen, nur sexuelle Verhältnisse.“ Diese
„Institutionen sind im Kulturorgansimus dasselbe, was die chemischen Formeln im
stofflichen Leben des physiologischen Körpers.“ So wie „der Zellenstaat des
physiologischen Organismus diese Formeln durch eine gewisse Reihenfolge der Zellen,
die sich aneinanderreihen, entwickelt, um gegenseitig nur gewisse chemische Vorgänge
schalten und walten zu lassen“; ebenso entwickeln sich die Institutionen „aus jener
Reihenfolge, die durch das Aneinanderreihen der Individuen entstand, um mittels
gegenseitiger Wirkungen einen einheitlichen, gemeinsamen Kulturkörper zu bilden.“
In jedem solchen Kulturkörper (Kulturorganismus) sieht nun
Méran „ein auf der Erdrinde liegendes riesiges, lebendes Wesen, ein
tierisch-physiologisches Geschöpf, aus Zelleneinheiten von menschlichen Individuen
gebildet, das wie ein tierischer Organismus daliegt und lebt, physiologischen
Gesetzen gemäß, sein Kulturepochen
338
überspannendes Leben führt, aus
einem physiologischen Entstehungsprozeß entstanden, körperlich sich entwickelt, dann
einem Absterben entgegengehend, ein neues, selbständiges Leben aus sich erzeugt.“
Die „Lebensprozesse“ dieser Organismen „nennen wir: Kultur, Zivilisation.“
Diese Lebensprozesse haben die Tendenz, immer höhere
„Synthesen“ zu erzeugen, indem „das Leben aller Einzelindividuen, der Geist, die
Seele aller, sich zu einem höheren ,gemeinsamen Ziele vereint.“ Es entsteht nämlich
„über die individuellen Bestrebungen, und wenn sie sich noch so differieren, im
Kulturkörper eine einheitliche Moral, ein einheitlicher Glaube, ein einheitliches,
gemeinsames, seelisches Bestreben.“ Dieses führt „zu einem seelischen Zusammenhang,
zu einer immateriellen höchsten Synthese, die das geistige Leben aller regiert; sie
ist die Religion und ihr Ausdruck ist: Gott.“ (S. 79)
Nachdem so
Méran die
Kulturorganismen im allgemeinen nach allen Richtungen ihrer Funktionen
charakterisiert, übergeht er zur individuellen Schilderung „unseres Kulturkörpers“,
d. i. desjenigen, der sich in Europa aus der kleinasiatisch-griechischen Kultur
entwickelte. In dieser letzteren hatte sich nämlich „ein Kulturstoff ganz eigener,
von den andern, früheren Kulturen abweichender Art“ gebildet. „Um diesen Stoff näher
zu bestimmen“, erinnert der Verfasser an „die in den Zellenprotoplasmen sonderbar
zusammengesetzten und geformten Körnchen, Stäbchen, Kriställchen, von denen wir
voraussetzen müssen, daß sie ihre ganz bestimmten Funktionen im Stoffleben des
Protoplasmas haben.“ Nun, im Kulturprotoplasma des Menschen können wir diese
Stäbchen, Körnchen, Kriställchen, da sie größer sind, schon unterscheiden: es sind
seine „Kulturmittel“ als: Pfeile, Pfähle, Äxte, Hauen, Häuser, Schiffe u. s. w. Ihre
beiderseitigen physiologischen Funktionen mögen dieselben sein. Sie schaffen
„Stoffwechselverhältnisse mit der äußeren Welt“ und fördern Lebensprozesse, die nach
Maßgabe der Verschiedenheit der topographischen, klimatischen, geographischen und
alimentarischen Verähltnisse, verschiedenen Charakter haben.
Bei den Griechen war „die Tendenz einer höheren
Beweglichkeit schon durch ihre Kulturtätigkeiten und Mittel vorhanden ,die weniger
an den Ackerbau gebunden waren, wie es z. B. bei den Ägyptern der Fall war“. So
brachte z. B. „das griechische Schiff mit seinem hohen tektonischen Bau eine bisher
unerreichte Beweglichkeit der Kulturstoffe zustande“.
Dank dieser „potenzierten Beweglichkeit“ der griechischen
Kulturstoffe, finden dieselben Wege „um auf je weiteren Gebieten Prozesse,
Wirkungen, Protoplasmaakkumulationen herzustellen“, auch „fand das griechische
Kulturgewebe vielfach Stoffe, welche direkt in das eigene Protoplasma aufgenommen
werden konnten, welche in seine Stoffwechselprozesse miteinbezogen werden konnten,
welche in seine Stoffwechselprozesse miteinbezogen werden konnten, was tatsächlich
durch den Handel geschah“. „So gedieh das griechische Gewebe. Es zersetzte die
niederen Synthesen, deren Stoffe es wohl assimilieren konnte – die niederen aber
gingen infolgedessen zugrunde.“
339
Doch genug! Der Leser dürfte eine genügende
Vorstellung erlangt haben von der Methode
Mérans; sie ist im
wesentlichen ganz dieselbe wie die
Tietzes. Der
Unterschied dieser beiden Darstellungen ist unwesentlich. Tietze sieht in Welt und
Menschheit ein Agglomerat von Atomen und Molekeln, die nach Gesetzen der Mechanik
aufeinander einwirken und aus den dadurch hervorgerufenen physikalischen Prozessen
entsteht unsere ganze Kultur mitsamt allen ihren
psychischen
Erscheinungen;
Méran dagegen sieht in
alledem
physiologisch-biologische Prozesse. Jeder von ihnen
ist überzeugt, das Welträtsel mittels des einfachsten, einzig möglichen Schlüssels
gelöst zu haben. In vielen Punkten stimmen sie miteinander und mit dem neuesten
Stand der Wissenschaft überein.
Der Ausgangspunkt beider ist der Monismus. Sie bekennen
sich beide zur Ansicht, daß es ein und dasselbe einheitliche Gesetz ist, welches
Weltall und Menschheit, Materie und Geist beherrscht – daß Materie und Geist
untrennbar, ja identisch sind.
Auch der politische und soziale Standpunkt beider ist
derselbe, nennen wir ihn kurz: Demokratie. Der Absolutismus richtet den Staat
zugrunde, sagt
Tietze (S. 425),
indem er auf Rußland, die Türkei und China hinweist. Dagegen „verdanken England und
Amerika und in der jüngsten Zeit Japan ihre Macht augenscheinlich
nur (?) der Mitwirkung des Volkes an der Gesetzgebung, beziehungsweise der
Freiheit der Bürger“. Ähnlich urteilt
Méran über den
Unterschied zwischen amerikanischer Demokratie und europäischem Cäsarismus. „Da (in
Amerika) waren keine an sich organische Cäsarenzentren, die eine bis in die
Vorzeiten riechende Entwicklung haben und die ihr eigenes struktives Leben
konservieren wollen und darum eine konservierende Energie entfalten, der in Europa
ähnlich.... Diese Umstände erklären es, warum in den Vereinigten Staaten die
zentrale cäsarisch-militärische Macht die Produktivität niemals derart absorbieren
konnte, wie es in Europa geschah; weshalb die zentrale staatliche Macht mehr eine
Tätigkeit des organisierten Zusammenhanges der Produktivität entfaltete und kaum
eine cäsarische Funktion im europäischen Sinne. Hieraus ist es auch erklärlich,
warum in Amerika das produktive Leben, der Reichtum einen so riesigen Aufschwung
erhielt...“
Kurz und gut, beide, der Physiker und der Physiologe der
Menscheitsgeschichte, kommen zum Resultate: „Amerika du hast es besser.“ Ist diese
Übereinstimmung nicht merkwürdig? Sollte wirklich das gleiche Resultat sowohl aus
der physikalisch-mechanischen wie aus der physiologisch-biologischen Auffassung der
Menschheitsgeschichte sich ergeben? Ich glaube nicht. Wir haben es hier vielmehr mit
einem psychologischen Gesetz zu tun, auf das ich schon an anderer Stelle
[4]
aufmerksam machte, vermöge dessen Staatstheoretiker den von
ihnen tatsächlich eingenommenen Parteistandpunkt mittels ihrer Theorien zu begründen
suchen. Diese Operation spielt sich meist unbewußt ab und ist ein glänzender Beleg
für die Richtigkeit des von
340
Ratzenhofer zuerst ausgesprochenen tiefen Gedankens, daß auch „die
Spontaneität des Denkens auf dem Umherschweifen der (Ideen-)Assoziationen im
Interessengebiete des Individuums beruht.
[5]
Ähnlich wie
Staatstheoretiker die aprioristischen Ausgangspunkte ihrer Theorien meist unbewußt
so wählen, daß sie, von denselben logisch vorschreitend, immer zur Rechtfertigung
ihres subjektiven Parteistandpunktes gelangen: so sehen wir hier den Physiker sowohl
wie den Physiologen, den einen mittels seines „Gleichgewichtsgesetzes“, den anderen
mittels seiner „physiologischen Evolution“ zur Begründung und Verherrlichung des
demokratischen Programmes gelangen. Das ist kein Zufall, sondern ein psychologisches
Gesetz, dem politische Theoretiker unterliegen, mögen sie sich noch so objektiv
gebärden, und wie im vorliegenden Falle fest überzeugt sein, nur objektive Physik
oder Biologie zu treiben.
Damit haben wir schon teilweise die Beantwortung einer
Frage vorweggenommen, die wir uns auf den Schluß dieser Besprechung reserviert
haben, nämlich: ob wir es in solchen Welträtsel-Lösungen wie die obigen, mit
objektiver Wissenschaft zu tun haben? Nun, mit der Objektivität dieser Darstellungen
scheint es nicht weit her zu sein; man mag ja die freiheitliche Tendenz auch löblich
finden, aber Tendenz ist Tendenz und nicht Objektivität. Bleibt aber noch der
wichtigere Teil der Frage: ist das, was uns
Tietze und v.
Méran bieten, überhaupt
Wissenschaft? Darüber müssen wir uns zum Schlusse klar werden. Wissenschaft
ist doch zunächst ein
Wissen von den Dingen. Jedes Wissen
beruht auf einem
Erkennen der Dinge. Ein Erkennen eines
Dinges ist die Auffassung der wahren Natur desselben, nach Maßgabe des gesunden
menschlichen Verstandes. Wenn ich einen Baum für einen Vogel
ansehe, so habe ich nach Maßgabe des gesunden menschlichen Verstandes, seine wahre
Natur nicht
erkannt, sondern
verkannt,
und ein solches Verkennen kann nicht Grundlage eines Wissens sein.
Der gesunde menschliche Verstand unterscheidet die Dinge
der Außenwelt und gründet auf solchen Unterscheidungen die besondere Natur jedes
Dinges. Ein richtiges Erkennen kann sich nur auf solche Unterscheidungen gründen und
ein Wissen nur auf solches Erkennen. Wenn man einem Dinge die Natur eines von ihm
verschiedenen Dinges zuschreibt, so ist der Weg zum Wissen von diesem Dinge, und
daher auch zur Wissenschaft von diesem Dinge, ein für allemal verrammelt. Wenn ich
den Baum für einen Vogel ansehe, so sit mir der Weg zum Erkennen des Baumes und zu
einem Wissen von ihm gründlich verlegt.
Nun unterscheidet der gesunde Menschenverstand die
Erscheinungen der Außenwelt nach gewissen charakteristischen Merkmalen und faßt die
gleichen Erscheinungen zu besonderen Gruppen gleicher Natur zusammen
[6]
: das Festhalten an diesen
Unterscheidungen und an diesen Zusammenfassungen der gleichartigen Erscheinungen in
besondere Gruppen ist die Grundlage und Bedingung jedes Erkennens und Wissens.
341
Daher sind alle Analogien für die Wissenschaft gefährlich, weil sie
den zu erkennenden Dingen eine andere als ihre wahre Natur aufoktroyieren wollen.
Wenn man, wie das wohl geschehen ist, den Staat für ein Tier ansieht, so kommt man
zu keinem richtigen Wissen vom Staat.
Nun gibt es in der Welt nicht nur Dinge von verschiedener
Natur, sondern auch ebenso verschiedene Prozesse. So wie es anorganische,
organische, psychische und soziale Erscheinungen gibt, ebenso gibt es physikalische,
vegetative, animalische, psychische und soziale Prozesse. Wer den einen Prozeß für
einen andern ansieht, der versperrt sich ganz ebenso den Weg zur Erkenntnis und zur
Wahrheit wie derjenige, der den Baum für einen Vogel hält und den Staat für ein
Tier. Auf solchen Verwechslungen beruhen oft schöne poetische Bilder, man kann dabei
oft eine großartige und das Gemüt ergreifende Phantasie entfalten: aber ein Wissen
und eine Wissenschaft kann man darauf nicht gründen. Und das ist es, was ich
schließlich den beien sehr geehrten Herren Verfassern obiger Welträtsel-Lösungen,
als Vertretern dieses modernen Genres der Literatur, sagen wollte: als Phantasien
können wir ihre Werke gelten lassen; als Wissenschaft, aus den angeführten Gründen,
nicht,wie viel Richtiges, Interessantes und Anregendes in ihren beiden Werken auch
enthalten ist. Aber schließlich und endlich beruhen die Grundgedanken dieser beiden
Werke auf Verwechslungen der Natur des sozialen Prozesses, bei
Tietze mit dem
physikalischen, bei
Méran mit dem
physiologsichen. Auf dem Grunde solcher prinzipiellen Verwechslungen kann weder eine
Erkenntnis, noch ein wirkliches Wissen erwachsen.
Woher kommt es nun aber, daß die Verfasser, die beide recht
belesene, ja gelehrte und geistreiche Menschen sind, auf solche Irrwege geraten?
Teilweise sagten wir ja das schon im Eingange. Es drängt
auf solche Irrwege das begreifliche Streben, das oder die „Welträtsel“ zu lösen.
Auch tüchtige Spezialforscher werden ja durch dieses Streben auf solche Irrwege
gedrängt. Denn Spezialforscher und Wissende sind sie ja doch nur auf ihrem eigenen
Forschungsgebiete. Wenn sie nun die Gesamtheit der Erscheinungen, das All, das
„Welträtsel“ erklären wollen, so geraten sie auf Gebiete, die sie mit ihrem
Wissen nicht beherrschen und werden durch ihr Streben, das
Welträtsel zu lösen, auf solche Irrwege gedrängt. Meist geschieht das eben in der
Weise, daß sie die Wahrnehmungen auf ihrem eigenen Gebiete, auf jene ihnen fremden
Gebiete übertragen, wo sie diese Wahrnehmungen
nicht gemacht
haben, wo sie aber das Vorhandensein derselben doer ähnlicher Erscheinungen und
Vorgänge fälschlich
vermuten. Auf diese Weise entstehen
Werke, die zum Teil wissenschaftlich, zum Teil phantastisch sind. Noch gefährlicher
aber ist's, wenn „Laien“ (
Tietze nennt sich
selbst einen solchen), die auf keinem Gebiete Spezialforscher sind, gleich das
gesamte Welträtsel lösen wollen und die ganze Welt der Erscheinungen mit einer
Formel erklären, unter einen Nenner bringen wollen. Dann kommen Werke zustande, die
durch und durch phantastisch sind. Die nüchterne Wissenschaft geht dabei leer aus;
sie heimst dabei
342
keinerlei Gewinn ein. Der Schatz unseres
Wissens wird durch solche Werke nicht vergrößert.
* * *
Hier könnte mir die Einwendung gemacht werden, daß wir,
wenn jeder Forscher nur „bei seinem Leisten“ bleibt, nie eine „Weltanschauung“
gewinnen können. Nun, gewiß, aus dem begreiflichen Streben nach einer geschlossenen
Weltanschauung ergeben sich ja die vielen Fehlgriffe, und deswegen sind sie
verzeihlich. Nichtsdestoweniger muß der Fehlgriff als solcher bezeichnet und vor
falschen Methoden, zu einer Weltanschauung zu gelangen, gewarnt werden.
Denn zunächst kann es gar nicht Aufgabe der Wissenschaft
sein, uns eine geschlossene Weltanschauung zu bieten, das oder die Welträtsel zu
lösen; wenigstens heute kan nsie das noch nicht leisten. Vorderhand kann sie nur die
einzelnen Gebiete der Erscheinungen durchforschen und die verschiedene Natur jedes
derselben zu erkennen trachten. Der „Monismus“ ist ja zunächst nur eine Annahme, die
plausibler scheint als der überwundene und unhaltbare Dualismus (von Materie und
Geist). Wie sich aber dieses eine und einheitliche Gesetz, das wir als Hypothese annehmen, auf den verschiedenen
Erscheinungsgebieten äußert, das wissen wir noch nicht. Alle
diesbezüglichen Behauptungen und Aufstellungen sind teils unklar, teils übereilt.
Schuld an solchen Übereilungen ist die falsche Auffassung
und Anwednung des Monismus. Denn der Monismus oder, besser gesagt, die Hypothese des
Monismus schließt nicht aus, daß auf jedem speziellen Erscheinungsgebiete andere Gesetze herrschen; da doch auch das supponierte eine
und einheitliche Gesetz auf jedem speziellen Erscheinungsgebiete sich anders äußert, indem es sich der besonderen Natur jees dieser
Gebiete anpaßt. Für den gesunden Menschenverstand und die nüchterne Wissenschaft
sind die Gesetze, welche auf dem Gebiete der anorganischen Natur herrschen,
verschieden von denen, die auf psychischem oder auf sozialem Gebiete herrschen; ob
diese auf verschiedenen Gebieten herrschenden Gesetze sich einst unter einen
gemeinsamen Nenner werden bringen lassen, das wissen wir noch
nicht. Wir hegen erst diese Hoffnung; aber erst, wenn diese einst erfüllt
sein wird, wird der Monismus wissenschaftlich erwiesen sein. Vorderhand, das muß
einmal gesagt werden, ist der Monismus nur ein Glaube, der bei naturwissenschaftlich
Denkenden Monotheismus abgelöst hat und der sich als Leitstern für wissenschaftliche
Forschung gut eignet.
Es wäre aber ein vollkommenes Mißverstehen desselben, wenn
man ihn so auffassen würde, als ob alle Erscheinungen der Welt auf eine und dieselbe
Weise erklärt werden müßten, also ob zwischen den anorganischen, organischen,
psychischen und sozialen Erscheinungen gar kein Unterschied wäre. Das wäre kein
wissenschaftlicher Monismus, sondern ein wissenschaftliches Chaos. Der richtige weg
wissenschaftlicher Forschung ist nicht der, mit einem kühnen Sprunge das Hindernis
des
343
Welträtsels zu nehmen; solche Sprünge ins Dunkle sind nicht Sache
der Wissenschaft. Diese hat vielmehr sachte und bedachtsam schrittweise vorzugehen,
nach den Erkenntnisregeln des gesunden Menschenverstandes die dem Menschen
erkennbaren Dinge zu erkennen und den Schatz des Wissens zu vergrößern. Ob sie auf
diese Weise von Erkanntem zu Erkennbarem vorschreitend und, Wissen zu Wissen fügend,
einst zur Lösung des Welträtsels gelangen wird, das muß vorderhand dahingestellt
bleiben.
Bleibt allerdings noch eine wichtige praktische Frage übrig: wie soll der wissenschaftlich Denkende das
unleugbar vorhandene Bedürfnis nach einer geschlossenen Weltanschauung befriedigen?
Darauf kann es zunächst keine andere Antwort geben, als daß das die eigenste und
intimste Sache jedes einzelnen bleiben muß. Wir wissen es aus
Geschichte, Erfahrung und täglichem Leben, daß strenge Wissenschaftlichkeit mit
Religiosität vereinbar ist. Es hat also von jeher wissenschaftliche Forscher
gegeben, es gibt solche heute, und es wird wahrscheinlich solche immer geben, die
sich mit der ihnen von der Religion gebotenen Weltanschauung begnügen und bei
derselben beruhigen; für die brauchen wir also nicht zu
sorgen.
Für diejenigen, welchen naturwissenschaftliches Denken das
Festhalten an überlieferten religiösen Weltanschauungen unmöglich macht, gibt es
doch glücklicherweise auch philosophische Weltanschauungen, welche von Zeit zu Zeit
von begnadeten philosophischen Genies entworfen wurden, die sich mit dem jeweiligen
Zustand unseres Wissens nicht im Widerspruch befinden, ja sogar in Harmonie setzen.
Eine solche Weltanschauung gab der denkenden Menschheit
Spinoza in seinem Pantheismus, der den überlieferten theologischen
Dualismus aufhebt, indem er Gott und die Welt identifiziert; auch
Leibnitzens Monadologie war insofern ein Versuch, den theologischen
Dualismus zu überwinden, indem er wenigstens die fortwährende Einmischung Gottes in
die Weltgeschehnisse eliminierte. Epochemachend war sodann
Kants Weltanschauung,
der den Dualismus aus der Natur in den menschlischen Intellekt verlegte und als
Forderung der „praktischen Vernunft“ das gelten läßt, was die „reine Vernunft“ nicht
zugeben kann.
Als aber ein Jahrhundert fortschreitender Naturwissenschaft
auch diesen intellektuellen Dualismus
Kants zerstörte, da
entwarf, auf den neuesten Ergebnissen der Naturwissenschaft fußend, Gustav
Ratzenhofer, den wir mit Stolz den Unsrigen nennen, in seinem „Positiven
Monismus“
[7]
für die
denkende Menschheit des XX. Jahrhunderts eine Weltanschauung, in der jeder störende
Zwiespalt zwischen „reiner“ und „praktischer Vernunft“ aufgehoben ist. Wir müssen
uns heute auf diesen Hinweis auf
Ratzenhofers
Weltanschauung beschränken, welche jeden Dualismus aus Natur und menschlischen
Intellekte eliminiert und den ungelösten Rest des Welträtsels auf ein solches
Minimum (die „Urkraft“) reduziert, daß an demselben auch die radikalste
Naturwissenschaft nicht Anstoß nehmen kann. Dabei operiert
Ratzenhofer nicht mit Analogien, tut den Erscheinungen keine Gewalt an,
344
läßt jedem Erscheinungsgebiete seine wahre Natur, vermischt nicht die
soziale Welt mit der organischen, wie noch neuestens in seinen „Lebenswundern“
Haeckel und versteht es trotzdem meisterhaft auf dem Grunde der
Verschiedenheiten der einzelnen Erscheinungsgebiete das eine einheitliche Welt- und
Lebensgesetz, „das Walten der Urkraft“, nachzuweisen.
Wenn wir die Besprechung zweier für die Gegenwart
typischen, in ihrer naturphilosophischen Ausschweifung fehlgreifenden Werke mit
diesem Hinweis auf
Ratzenhofer schließen, so tun wir das nicht ohne Absicht. Wir wollen damit der
modernsten Naturphilosophie, die heute so stolz tut, und mittels Physik, Chemie und
Biologie die „Welträtsel“ lösen will, einen genialen Denker entgegenstellen, der
alle die Errungenschaften dieser Disziplinen sich angeeignet, ohne denselben den
Menschen mit all seinen
menschlichen Eigenschaften und die
von den Naturforschern und Naturphilosophen so arg vernachlässigte und verkannte
soziale Welt zu opfern.
Mögen sie die von dem Bazillus und der Zelle aufsteigend,
auch in der sozialen Welt nur „Gewebe und Zellvereine“ sehen (
Haeckel),
den Philosophen studieren, der den umgekehrten Weg einschlug
und von dem Menschen und der sozialen Welt ausging, was ihn dann vor der
Einseitigkeit behütete, in den Zellen Menschen zu sehen und in Zellklumpen Staaten.
Es ist ja möglich, daß
Ratzenhofer durch den von ihm eingeschlagenen umgekehrten Weg, von der
sozialen Welt zu den Zellen und Atomen, vor der Einseitigkeit der modernen
Naturphilosophie bewahrt wurde; nichtsdestoweniger könnten Naturphilosophen und
Naturforscher, die sich mit Welträtsellösungen befassen, sehr viel aus ihm lernen.
Von der üblichen Schulphilosophie, die in Philosophiegeschichte macht, will ich
lieber schweigen; denn diese sehr gelehrten, aber ideenleeren „Fachphilosophen“
glauben, es ihrem Stande und Berufe schuldig zu sein, an dem „Autodidakten“
herumzunörgeln. Die Herren vergessen, daß auch
Spinoza kein
Doctor philosophiae und kein Philosophieprofessor war.