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Welträtsel-Lösungsversuche, in: Österreichische Rundschau 3 (Mai-Juli 1905), 329-344.
Welträtsel-Lösungsversuche.
Ludwig Gumplowicz
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Es wird heute so schrecklich viel geschrieben, es erscheint eine solche Unzahl von Werken, daß man bald wird anfangen müssen, nach Art der Botaniker zu verfahren, d. i., die einzelnen Exemplare als Repräsentanten ihrer Familien, Gruppen, Gattungen und Arten zu schreiben. Eigentlich kann man das schon heute tun, indem man die Weltverbesserer, die Bodenreformer, die Staatsumstürzler, die Freilandgründer, die Weltfriedenstifter u. s. w. u. s. w. per Bausch und Bogen behandelt. Denn sobald wir einmal wissen, zu welcher Familie, Gruppe oder Gattung so eine „Pflanz“ gehört: dann wissen wir ja schon alles. Die Zeit reicht ja nicht mehr hin, sich noch mit den individuellen Merkmalen eines literarischen Werkes zu befassen: so wie es dem Botaniker nicht einfällt, sich mit den individuellen Merkmalen jedes einzelnen Baumes oder Strauches zu beschäftigen.
Diese für die Autoren wenig erhebenden Betrachtungen überkommen mich, wenn ich auch nur die große Zahl derjenigen Werke betrachte, die sich die Lösung des „Welträtsels“ zur Aufgabe setzen. Diese neueste Strömung ist ja begreiflich. Unseren glücklicheren Vorfahren blieben solche Bemühungen erspart. Sie lasen am Sonntag (oder auch Samstag) nachmittags ihre Bibel, und da fanden sie alle Welträtsel gelöst: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ u. s. w. u. s. w. Da brauchten sie sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, wie die „Arten“ entstanden sind, und von welchem Affen der Mensch abstammt.
Diese schöne Zeit ist für immer vorbei. In atemloser Beklemmung ringen wir heute nach „Weltanschauung“, und fieberhaft raten wir herum, um das große „Welträtsel“, und können keine Ruhe finden. Der erste Frevler, der all diese Unruhe verschuldete, war wohl Kopernikus. Hätte er nur unseren Erdball ruhig stehen lassen, wäre es zu all dem Unheil und unserer heutigen Nervosität nicht gekommen! Aber seitdem dieser fromme Domherr, ganz im Gegensatz zu dem in seiner Vaterstadt Krakau von jeher herrschenden Konservatismus, die altehrwürdige Weltordnung umstürzte und unsern einst so soliden Erdball einen ewigen Wirbeltanz um die Sonne aufführen ließ, sind die bösen Geister der Neugier aufgescheucht, und wollen die vorlauten Fragen kein Ende nehmen. Und jede Frage heischt seine Antwort, und jede Antwort gebiert tausend neue Fragen, auf die Kopernikanische Erklärung der Mechanik des Himmels im XVI. Jahrhundert folgte im XVII. Jahrhundert die Frage: warum dreht sich die Erde? Und als Newton diese Frage mit seiner
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Gravitationslehre beantwortete, folgte im XVIII. Jahrhundert die weitere Frage: wie diese große Herumdreherei angefangen habe? Darauf erteilte die Kant-Laplacesche Theorie eine, wie man meinen sollte, halbwegs befriedigende Antwort, wenigstens für diejenigen, die sich mit dem ersten „Urnebel“ zufrieden gaben. Aber auch diese Genügsamen war noch lange nicht befriedigt. Denn die nächsten Fragen bezogen sich auf das Entstehen des Lebens auf der Erde, in seinen verschiedenen Formen. Darauf erteilte die ersten Antworten am Ende des XVIII. Jahrhunderts Lamarck und im XIX. Jahrhundert in anscheinend erschöpfendster Weise Darwin. Darüber herrschte zunächst heller Jubel und Begeisterung. Das dauerte aber nur bis in die Siebzigerjahre des verflossenen Jahrhunderts. Da kamen die ersten Nörgler, und tauchten die ersten Zweifel auf an der Richtigkeit des „Evangeliums Darwini“. Und heute – schwankt wieder der wissenschaftliche Boden unter unsern Füßen, und trotz Häckel sind alle Darwinschen Hauptlehren von der „Entstehung der Arten“ durch den „Kampf ums Dasein“ und „Natürliche Zuchtwahl“ in Frage gestellt. Nun ist die Bahn wieder frei, und von allen Seiten stürmen sie herbei, die modernen Ödipusse, und jeder präsentiert uns seine „einfachste und natürlichste“ Lösung des Welträtsels. Greifen wir aus ihrer Mitte zwei heraus, die nicht uninteressant und jedenfalls lehrreich sind, um uns über den Charakter und die Beschaffenheit dieser modernsten Welträtsel-Lösungsversuche eine beiläufige Vorstellung zu machen.
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Siegfried Tietze will in seinem Buche „Das Gleichgewichtsgesetz in Natur und Stadt“ erst „zwei Riesen“ [1] niederringen, um den von ihnen gehüteten Nibelungenhort der Wahrheit, die die Lösung des Welträtsels entählt, zu heben. Diese „Riesen des Aberglaubens“ nicht nicht etwa biblische Traditionen oder theologische Dogmen, nein! darüber sind wir längst hinaus. Diese „Riesen des Aberglaubens“ sind – für den Beginnn des XX. Jahrhunderts bezeichnend –: der Darwinismus und das Energiegesetz! Diese zwei Welträtsel-Lösungsversuche befriedigen den Verfasser nicht, und darin darf er vielfacher Zustimmung sicher sein. Was will er an deren Stellen setzen? Einen sehr einfachen physikalischen Prozeß: das ewige allgemeine Sich-ins-Gleichgewicht-setzen der Dinge! Die ewige allgemeine Gestörtheit des Gleichgewichts und das ewige allgemeine Streben der Dinge, sich ins Gleichgewicht zu setzen, bildet das Wesen des gesamten Weltprozesses und aller in ihm enthaltenen Teilprozesse auf allen Gebieten der Natur und des Staates.
Man muß es dem Verfasser zugestehen, daß er diese These in geistreicher Weise durchführt und einen solchen Gleichgewichts-Herstellungsprozeß in allen Erschienungen des physischen, psychischen und sozialen Lebens nachweist. Sein Ausgangspunkt ist die gegenseitige Abhängigkeit aller Dinge voneinander, worin er sich übrigens in Übereinstimmung befindet mit Gustav Ratzenhofer, der es in
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seiner „Soziologischen Erkenntnis“ (1898, Seite 85) ausspricht, daß „Alle Dinge sind einer gegenseitigen Abhängigkeit unterworfen.“ Tietze formuliert diesen seinen Ausgangspunkt folgendermaßen: „Die in einem jeden hermetisch geschlossenen Raume, und daher auch im Weltraume befindlichen Dinge, stehen jedes einzelne zu einem oder mehreren anderen Raumgenossen in einem solchen Verhältnis, daß die letzteren – die abhängigen – sich nicht verändern, wenn das erstere – das herrschende – sich nicht ändert, daß sie sich aber automatisch ändern, wenn das herrschende sich ändert, so daß zwischen den herrschenden und den abhängigen Dingen permament eine Proportionalität herrscht, wie wir sie etwa zwischen den Quecksilbersäulen unserer Thermometer und zwischen der dieselben umgebenden Temperatur beobachten.“
Dieser harmlosen These sieht man es gar nicht an, wie unheilschwanger sie ist, und ganz verblüfft lesen wir, daß „die so zwischen den Dingen permanent herrschende Proportionalität (oder Gleichgewicht) erklärt nun alle Erscheinungen ohne Ausnahme“. Gelassen spricht der Verfasser dies große Wort aus und geht mit großer Zuversicht an den Nachweis, daß „jede Änderung jedes Dinges eine Gleichgewichtsherstellung ist, die stets nur durch die Änderung der Beziehungen der kleinsten Bestandteilchen desselben untereinander herbeigeführt“ wird. Etwas ungläubig und zögernd folgen wir dem Verfasser durch die 457 Seiten seines Buches, auf denen er uns diesen Nachweis führt, durch den tatsächlich alle, aber alle Erscheinungen der Welt und des Lebens erklärt werden sollen: doch müssen wir schließlich anerkennen, daß seine Argumente keine geringere Überzeugungskraft haben als die Darwinschen Sätze von dem Kampf ums Dasein und der natürlichen Zuchtwahl, durch welche die Entstehung der ganzen Lebewelt erklärt wird.
Allerdings hat aber die Lehre Tietzes, was er uns gewiß nicht glauben wird, mit der Lehre Darwins, den er entschieden bekämpft, eine intime Verwandtschaft: denn beide beruhen auf den Beziehungen der Dinge zueinander, nur daß in jeder derselben diese Beziehungen anders aufgefßat oder vielleicht nur anders benannt werden. Wir wollen diese unsere Behauptung sofort beweisen.
Wenn der Wüstenlöwe gelb gefärbt ist wie der ihn umgebende Sand der Wüste, so erklärt dies bekanntlich Darwin als Folge des Kampfes um Dasein und natürlicher Zuchtwahl. Denn andersfarbige Löwen konnten von ihren Feinden leichter bemerkt und ausgerottet werden, auch hatten sie ein schweres Leben, weil die ihnen zur Nahrung dienenden Geschöpfe vor ihnen schon von weitem Reißaus nahmen: nur die gelbgefärbten entzogen sich dem Blick ihrer Verfolger und erhaschten leichter ihre Beute. Diese „bestangepaßten“ bleiben Sieger im Kampf ums Dasein und überlebten mittels natürlicher Zuchtwahl. Also spricht Darwin.
Und was sagt Tietze? Trotzdem er sich als entschiedener Gegner Darwins gebärdet, sagt er in etwas anderer Form dasselbe. Er spricht wohl nicht vom Kampf ums Dasein und natürlicher Zuchtwahl, doch nennt er seine „Gleichgewichtsherstel-
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lung“ gelegentlich auch „Anpassung“, womit er sich, im Grunde genommen, die Darwinsche Idee aneignet. „Alle Veränderungen,“ schreibt er, „auch der organischen Dinge, sind daher gleichfalls nur Anpassungen an die Umgebung und Produkte des Gleichgewichtsgesetzes. Lediglich vermöge dieses Gesetzes, bekommt ein im heißen Klima haarlos vorkommender Hund, wenn er nach dem kalten Orden gebracht wird, automatisch die ihn gegen die Kälte schützenden Haare: dieselben bedeuten die Herstellung des Gleichgewichts zwischen dem Tiere, beziehungsweise seinen Organen und der es jetzt umgebenden kalten Temperatur (Umgebung).“ Also gehupft wie gesprungen. Darwin erklärt dieselbe Erscheinung mittels Kampfes ums Dasein, Anpassung und natürliche Zuchtwahl; Tietze mittels der Gleichgewichtsherstellung und daher Anpassung. Allerdings ist die Tietzesche Erklärung einfacher, aber deswegen noch nicht einleuchtender, ja sogar etwas mehr mystisch; die Darwinsche Erklärung ist etwas komplizierter, dagegen gründlicher und etwas weniger mystisch.
Manchmal besteht der ganze Unterschied zwischen der Darwinschen und Tietzeschen Erklärung einzig und allein in der verschiedenen Benennung ein und derselben Vorgänge. Was z. B. bei Darwin die „abändernde Wirkung der Funktion“ ist, betrachtet Tietze als Gleichgewichtsherstellung zwischen Organ und Umgebung. Eine andere Bezeichnung desselben Vorganges! Übrigens münden alle Tietzeschen „Gleichgewichtsherstellungen“, genau so wie die Darwinschen Kämpfe und Ausleseprozesse, in dem großen Strom der – Evolution, zu dem sich ja Tietze ebenso bekennt wie sein großer Antagonist.
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Der zweite „Riese des Aberglaubens“, den Tietze niederringen muß, ehe er uns an den Quell der Wahrheit führt, ist das Energiegesetz. Aber auch hier handelt es sich mehr um einen Wortstreit als um einen wesentlichen Gegensatz. Wo die Energetiker in wechselnden Formen ein und dieselbe unwandelbar sich erhaltende Energie sehen, da sieht Tietze nur die Wirkung des Gleichgewichtsgesetzes. „Es hat sich“, sagt er, „nicht die (nicht existierende) Energie in eine andere Energie umgewandelt, sondern es hat sich vermöge meines Gelichgewichtsgesetzes das abhänige Dinge, infolge der Veränderung seines herrschenden, proportional geändert und nicht die Energie ist umwandelbar, sondern die Dinge.“
Beiden diesen Theorien, dem Darwinismus und dem Energiegesetz, wirft Tietze vor, daß sie „die unumstößliche, unwiderlegliche Wahrheit verschleiern, daß zwischen den anorganischen und organischen Dingen kein qualitativer Unterschied, sondern totale Gleichheit herrscht, in dem Sinne, daß sie nicht von einem Schöpfer erschaffen wurden, sondern alle ohne Ausnahme nach demselben Gesetze aus anderen entstanden sind, und daß sie sich in allem und jedem nach demselben Gesetze betätigen!“
Deswegen nun, weil der Darwinismus nur auf Organismen und das Energiegesetz nur auf anorganische Dinge paßt, verwirft Tietze beide und setzt an ihre
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Stelle sein Gleichgewichtsgesetz, das auf beide Gebiete gleicherweise passen soll und „daher befriedigend die Entstehung sowohl der anorganischen, als auch ganz ebenso der organischen auseinander erklärt.“
Das wäre nun allerdings sehr schön, wenn nur diese „Erklärung“ nicht in einer unbewiesenen Behauptung bestünde, daß „alle unsere Betätigungen ausnahmslos nichts anderes sind, als durch vorausgehende Störungen erzwungene Gleichgewichtsherstellungen oder Folgen von Anpassungen unseres Gehirnes an äußere Einwirkungen.“
Leider sind aber diese „Erklärungen“ des Verfassers, wie wir das bald sehen werden, in den meisten Fällen nur solche Behauptungen.
Allerdings, in vielen besonderen Fällen ist diese „Erklärung“ Tietzes befriedigend oder vielmehr kann seine Behauptung über den Grund eines Vorganges angenommen werden; aber in vielen anderen Fällen ist die „Erklärung“ sehr gezwungen und ungenügend, und seine Behauptung weckt kein Vertrauen. Und zwar gehören zu den ersteren Fällen Vorgänge auf dem Gebiete der anorganischen Natur, zu den letzteren Fällen Vorgänge auf sozialem Gebiete.
Wenn in zwei durch eine Röhre verbundenen Wasserbehältern das Niveau des Wassers in der gleichen Höhe sich erhält, so ist hier die Erklärung, dßa die beiden Wassermassen infolge des Gleichgewichtsgesetzes dasselbe Niveau anstreben und erreichen, offenbar zutreffend. Wenn aber Tietze „alle menschlichen Betätigungen ... lediglich durch mechanische Anpassung (Gleichgewichtsherstellung) herbeigeführt werden“ läßt, so ist das nur eine Behauptung, für die er den Beweis zu erbringen, bestenfalls eine Hypothese, die er zu begründen hätte. Statt dessen finden wir bei Tietze nur eine große Zuversicht, daß sein Gleichgewichtsgesetz alle Dinge, alle menschlichen Betätigungen und historischen Ereignisse (S. 424) beherrscht. Unser ganzes Leben besteht nach Tietze „in nichts anderem als in einer einzig und allein durch das Proportionalitäts- und Anpassungsgesetz herbeigeführten und gemäß demselben geschehenden überaus raschen und fortwährend wirksamen Anpassung unseres Gehirns an Umgebungen, alle unsere Betätigungen geschehen nach dem Gleichgewichts- und Anpassungsgesetz“ (S. 175). Gewiß, als Hypothese kann man ja diese Auffassung gelten lassen, weil sie nicht widerlegt werden kann, und zwar aus demselben Grunde, aus dem Tietze ihre Richtigkeit nicht erweisen kann. Er meint nämlich in letzterer Beziehung: „Die Funktion der kleinsten Gehirnteilchen des Zentralorgans unserer Empfindungen, oder richtiger, die Anpassung derselben an ein Ding kann man allerdings nicht bloß wegen der Kleinheit jener, sondern auch aus dem Grunde nicht wahrnehmen, weil die Schädeldecke die Beobachtung des Gehirns normal unmöglich macht.“ Letzterer Umstand (oder Übelstand?) ist nun für die Tietzesche Hypothese sehr günstig, denn sie kann deswegen zunächst nicht widerlegt werden.
Unter dem Schutze dieser Unwiderlegbarkeit kann er auf Rechnung der Gleichgewichtsänderung der „kleinsten Gehirnteilchen“ mutig drauflosargumentieren
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und alle möglichen sozialen Erscheinungen: Sprache, Religion, Sitte, Recht u. s. w. als Produkte dieser Gleichgewichts-Störung und -Wiederherstellung demonstrieren.
So begründet er unter anderem auf dieses Gleichgewichtsgesetz z. B. das ganze Strafrecht. „Ich halte“, meint er, „die Bestrafung der die Gesetze des Staates Verletzenden für eine mechanische und unvermeidlich eintretende Wiederherstellung des durch den Gesetzesverletzer in den Gehirnangepaßtheiten der Staatsangehörigen gestörten Gleichgewichts“ (S. 420). Nun, widerlegen kann man diese Hypothese nicht – wegen der Nichtabhebbarkeit der menschlichen Schädeldecke –; auch diesen Grund des Strafrechts als unmöglich zu erklären, haben wir keinen Anhaltspunkt. Es bleibt also nichts übrig, als diesen Versuch der Lösung des Welträtsels mit stiller Resignation über sich ergehen zu lassen. [2]
Die Anschauung des Verfassers enthält ja in sich keinen Widerspruch. Nach ihm ist die Welt eine unendliche Zahl von Atomen und Molekeln, die in ewigem Balancieren begriffen sind, infolgedessen dieselben sich ewig gegenseitig aus dem Gleichgewicht bringen, worauf auf Grund des Gleichgewichtsgesetzes die Gleichgewichtsherstellung erfolgen muß. Diese intimen Vorgänge in den Dingen und Menschen haben zur Folge alle Ereignisse, die ganze Menschheitsgeschichte und alle physischen und psychischen Erscheinungen. Liebe und Haß, Ehrgeiz und Ruhmsucht, Tugend und Laster, Kunst und Wissenschaft, Patriotismus und Begeisterung, Verbrechen und Strafe, Philosophie und Phantasie, unsere ganze Kultur, Staat und Politik, Kampf und Krieg, alles das sind nur gegenseitige Gleichgewichtsstörungen mit nachfolgenden Gleichgewichtsherstellungen. Widerlegen können wir den Herrn Verfasser nicht.
Aber die Nichtwiderlegbarkeit ist nur ein Erfordernis einer wissenschaftlichen Hypothese. Das zweite und wichtigere Erfordernis ist, daß sie die Erschienungen, die sie erklären will, besser erklärt als die bisherigen Erklärungen es taten. Ob die Tietzesche Hypothese dieses Erfordernis erfüllt, das werden wir später prüfen. Zunächst aber wollen wir ihm nur eines bestreiten: seine Meinung, daß diese Lösung die einzig richtige und einzig mögliche ist. Das können wir ihm nicht zugestehen, und fragt er uns „warum?“, so wollen wir ihm gleich ein Pendant zu seiner Welt-
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rätsel-Lösung vorführen, das ganz denselben Anspruch mit ganz demselben Rechte erheben kann.
Es ist das Buch von T. H. v. Méran: „Die Physiologie unserer Weltgeschichte und der kommende Tag.“ [3]
Was uns der Verfasser darin bieten will, darüber spricht er sich im Vorwort ganz unzweideutig aus.
„Unsere Zivilisation ist die natürliche Fortsetzung einer Reihe von Zivilisationen, die alle gewesen sind und die, eine wie die andere, in der zeitweilig folgenden aufgingen.“
„Denn die Schöpfung rastet nie, sie hört nie auf, sie wirkt ewiglich. Der göttliche Trieb, immer höher geartetes Leben zu erzeugen, setzt seine schaffende und erschaffende Tätigkeit immerdar fort. In der vergehenden Zivilisation keimt eine neue lebende Zivilisation. Mit der Gewalt einer unaufhaltbaren Naturkraft wurden die neuen Tendenzen eines zukünftigen Lebens erschaffen. Die Urgewalt dieser Schöpfung ruft eine neue Zivilisation in und aus der veraltenden ins Leben. Die neue entfaltet ihre Lebenskräfte um eine Stufe höher entwickelt, erzeugt eine wiederum neuere, und die alte ist – gewesen.“
„Im Lichte der ewigen Naturgesetze der Schöpfung erscheint die Zukunft nicht mehr als ein unlösbares Rätsel. Denn Gesetze, die seit Entstehen des Lebens walten, Gesetze des schaffenden Gottes selbst, enthüllen uns die Zukunft.“
Diese Zukunft auf Grund der Erkenntnis des Wesens der Dinge und der bisherigen Schöpfung zu sehen, will uns der Verfasser lehren. Wie stellt er das an? Sehr einfach. Er sieht in der ganzen Welt einzig und allein biologische Prozesse. Aus Protoplasmen entstehen Zellen, aus Zellen tierische Organismen, aus tierischen Organismen Menschen, aus Menschen – Kulturorganismen. Auf allen diesen Stufen ist es ein und derselbe biologische und physiologische Prozeß, der sich in immer „höherem Rhythmus“ abspielt. Nachdem der Verfasser die Gesetze dieses biologischen Prozesses nachweist und die Physiologie der Kultur“ als mit der Physiologie der Organismen wesensgleich annimt, so sit es ihm nicht schwer, auf Grund „physiologischer Gesetze“ die zukünftige Entwicklung „unseres Kulturorganismus“ vorauszusehen.
In dieser Gesamtentwicklung nun ist offenbar der wichtigste und interessanteste Punkt derjenige, wo sich der Mensch vom Tiere scheidet, und wo der erste „Kulturorganismus“ entsteht. Diesen Grenzpunkt zwischen Tier und Mensch bildet „das erste Kulturgerät.“ Damit ist der Anfang gegeben eines „stofflichen Wachstums“, aus dem das Kulturleben, die Zivilisation sich entwickelte. „Es kamen aus den Tätigkeiten der Menschen Stoffe hervor, welche die Organismen niederer Stufe noch nicht produzieren konnten; Stoffe, die neue Lebenserscheinungen in die Schöpfungsgeschichte brachten.“
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Und zwar kommen diese Lebenserscheinungen zustande infolge der Beziehungen des Menschen zu den ihn umgebenden „Kulturmitteln“. Denn diese letzteren sind ein „substantielles Etwas, das sich um den Menschen bildete“, so wie das Protoplasma in der Zelle um den Zellkern. „Und unter den menschlichen Individuen entstanden gewisse Gesamtfunktionen auf Grund der Zusammenwirkenden Funktionen von Substanzen der Kulturmittel“.
Was da der Verfasser Sagt, klingt ja etwas paradox; doch braucht man sich nur in die Betrachtungsweise des Verfassers zu versetzen, um anzuerkennen, daß man die Dinge auch so betrachten könnte.
H. v. Méran ist wahrscheinlich Physiologe und Biologe oder hat sich doch mit diesen Wissenschaften beschäftigt; dabei hat er offenbar sein Auge daran gewähnt, alles physiologisch und biologisch zu sehen. Er sah die Bazillen umgeben von einem „ihnen angewachsenen protoplasmatischen Apparat“; er sah, wie in den Zellen, ein Protoplasma „von einer hochgradig substanzbildenden, absorbierenden Fähigkeit“ um den Zellkern sich bildet; auch die Tiere entwickeln gewisse „substanzielle Bildungen, die in den umgebenden Materien gewisse Umänderungen hervorrufen“; es sind das allerlei Organe der Tiere, wie Krallen, Hörner, Füße u. s. w. Der Mensch nun besitzt die Fähigkeit, solche „protoplasmatische“ Substanzen um sich herum zu erzeugen, in häherem Grade, da er „Kulturmittel“ um sich herum schafft, d. i. Geräte, Werkzeuge, Wohnungen, Verkehrsmittel. Inmitten dieser „Kulturmittel“ steckt er, wie der Zellkern im Protoplasma. Nun gehen durch Wechselwirkung zwischen diesem Kern und dem ihn umgebenden Protoplasma (Kulturmittel) allerhand physiologische und biologische Prozesse vor sich. Die Historiker nennen das Geschichte der Menschheit; Méran sieht darin physiologische und biologische Prozesse. Daß der Mensch „die Kulturmittel in großem Maße sammeln, akkumulieren und andern zum Gebrauch überlassen kann“, unterscheidet ihn zwar von Bazillus, Zelle und Tier, ändert aber nichts am Wesen der Sache, stellt uns eine „höhere Entwicklungsstufe der Schöpfung“ dar.
Wer das nicht sieht, hat eben nicht das an physiologische und biologische Vorgänge akkomodierte Auge des Verfasser, und wenn er ihm seine Behauptung bestreiten wollte, dann könnte ihm der Verfasser am Ende sagen, daß er „mit Blinden nicht über Farben streitet“.
Denkt man sich in die Betrachtungsweise des Verfassers hinein, so ist es schwer, schlagende Günde dagegen zu finden, daß der Mensch kein im „Kulturprotoplasma“ schwimmender Zellkern sei. Also auch diese Hypothese ist, so wie die obige Tietzes, direkt nicht widerlegbar. Versetzt man sich aber vollends in diese Anschauungsweise des Verfassers, dann muß man den aus derselben abgeleiteten Konsequenzen zustimmen und anerkennen, daß der Verfasser sehr folgerichtig und geistreich die „Physiologie unserer Weltgeschichte“ schildert.
„Sobald wir nun,“ schreibt er, „in dieser Weise zwischen dem menschlichen Individuum und seinen Kulturstoffen (Kulturmitteln) vermögen, ein zellularphysio-
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logisches Verhältnis zu erkennen, so erscheint das zusammenhängende Leben der Menschheit inmitten ihres Kulturprotoplasmas und der kulturprotoplasmatischen Verbindungen als ein Gewebe physiologischer Art. Organisches Leben entsteht in immer höherer Zusammensetzung und mit immer höheren Funktionen; so entsteht auch dieses Gewebe als die jüngste Offenbarung der Schöfpung.“
Ich gestehe, daß ich vor der Phantasie des Verfassers allen Respekt habe; die ganze Geschichte der Menschheit als einen physiologischen Prozeß aufzufassen, dessen innerstes Wesen ein Stoffwechsel zwischen den Individuen als Zellkernen und dem sie umgebenden Kulturprotoplasma, sodann physiologische Wechselbeziehungen zwischen den „Kulturorganismen“ bilden – das ist eine großartige Phantasieleistung. Betrachten wir dieselbe noch eine Weile, bevor wir sie vom wissenschaftlichen Standpunkt beurteilen wollen.
„Die Kulturorganismen entwickelten sich; immer riesigere physiologische Körper lagen auf der Rinde der Erde, mit allen Merkmalen des physiologischen Lebens. Die Zellenindividuen dieses Lebens sind die Menschen. Riesenorganismen, die heranwuchsen, neue gebaren und zerfielen – sie waren die Vorfahren neuerer, höherer Lebensfunktionen. Mit ihnen entstand eine neue gigantische Form des Lebens, sie sind die riesigen physiologischen Organismen der Erde, in denen wir Menschen im vollen physiologischen Sinne des Wortes, mikroskopische Zelleneinheiten sind.“
Da diese „Riesenorganismen“, d. h. Kulturen, sich „genau nach den Gesetzen der Anpassung“ (an die Umwelt) entwickelten, so folgt daraus, daß „jede Kultur sich von der anderen unterscheidet; diese Unterschiede hängen mit den umgebenden Verhältnissen aufs strengste zusammen“ und „weisen auf einen unterschiedlichen Moment ihrer Entstehung“ hin.
Diese untereinander verschiedenen Kulturorganismen „werden derart einheitlich, daß man sie selbst in der äußern Formbildung als Stil, als Kunststil, als Baustil kennt.“ Desto eigenartiger sind in jedem dieser Kulturorganismen „die Institutionen“, z. B. das Familienleben. „Denn unterhalb der Shciht der Kultur gibt es keine Institutionen, nur sexuelle Verhältnisse.“ Diese „Institutionen sind im Kulturorgansimus dasselbe, was die chemischen Formeln im stofflichen Leben des physiologischen Körpers.“ So wie „der Zellenstaat des physiologischen Organismus diese Formeln durch eine gewisse Reihenfolge der Zellen, die sich aneinanderreihen, entwickelt, um gegenseitig nur gewisse chemische Vorgänge schalten und walten zu lassen“; ebenso entwickeln sich die Institutionen „aus jener Reihenfolge, die durch das Aneinanderreihen der Individuen entstand, um mittels gegenseitiger Wirkungen einen einheitlichen, gemeinsamen Kulturkörper zu bilden.“
In jedem solchen Kulturkörper (Kulturorganismus) sieht nun Méran „ein auf der Erdrinde liegendes riesiges, lebendes Wesen, ein tierisch-physiologisches Geschöpf, aus Zelleneinheiten von menschlichen Individuen gebildet, das wie ein tierischer Organismus daliegt und lebt, physiologischen Gesetzen gemäß, sein Kulturepochen
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überspannendes Leben führt, aus einem physiologischen Entstehungsprozeß entstanden, körperlich sich entwickelt, dann einem Absterben entgegengehend, ein neues, selbständiges Leben aus sich erzeugt.“ Die „Lebensprozesse“ dieser Organismen „nennen wir: Kultur, Zivilisation.“
Diese Lebensprozesse haben die Tendenz, immer höhere „Synthesen“ zu erzeugen, indem „das Leben aller Einzelindividuen, der Geist, die Seele aller, sich zu einem höheren ,gemeinsamen Ziele vereint.“ Es entsteht nämlich „über die individuellen Bestrebungen, und wenn sie sich noch so differieren, im Kulturkörper eine einheitliche Moral, ein einheitlicher Glaube, ein einheitliches, gemeinsames, seelisches Bestreben.“ Dieses führt „zu einem seelischen Zusammenhang, zu einer immateriellen höchsten Synthese, die das geistige Leben aller regiert; sie ist die Religion und ihr Ausdruck ist: Gott.“ (S. 79)
Nachdem so Méran die Kulturorganismen im allgemeinen nach allen Richtungen ihrer Funktionen charakterisiert, übergeht er zur individuellen Schilderung „unseres Kulturkörpers“, d. i. desjenigen, der sich in Europa aus der kleinasiatisch-griechischen Kultur entwickelte. In dieser letzteren hatte sich nämlich „ein Kulturstoff ganz eigener, von den andern, früheren Kulturen abweichender Art“ gebildet. „Um diesen Stoff näher zu bestimmen“, erinnert der Verfasser an „die in den Zellenprotoplasmen sonderbar zusammengesetzten und geformten Körnchen, Stäbchen, Kriställchen, von denen wir voraussetzen müssen, daß sie ihre ganz bestimmten Funktionen im Stoffleben des Protoplasmas haben.“ Nun, im Kulturprotoplasma des Menschen können wir diese Stäbchen, Körnchen, Kriställchen, da sie größer sind, schon unterscheiden: es sind seine „Kulturmittel“ als: Pfeile, Pfähle, Äxte, Hauen, Häuser, Schiffe u. s. w. Ihre beiderseitigen physiologischen Funktionen mögen dieselben sein. Sie schaffen „Stoffwechselverhältnisse mit der äußeren Welt“ und fördern Lebensprozesse, die nach Maßgabe der Verschiedenheit der topographischen, klimatischen, geographischen und alimentarischen Verähltnisse, verschiedenen Charakter haben.
Bei den Griechen war „die Tendenz einer höheren Beweglichkeit schon durch ihre Kulturtätigkeiten und Mittel vorhanden ,die weniger an den Ackerbau gebunden waren, wie es z. B. bei den Ägyptern der Fall war“. So brachte z. B. „das griechische Schiff mit seinem hohen tektonischen Bau eine bisher unerreichte Beweglichkeit der Kulturstoffe zustande“.
Dank dieser „potenzierten Beweglichkeit“ der griechischen Kulturstoffe, finden dieselben Wege „um auf je weiteren Gebieten Prozesse, Wirkungen, Protoplasmaakkumulationen herzustellen“, auch „fand das griechische Kulturgewebe vielfach Stoffe, welche direkt in das eigene Protoplasma aufgenommen werden konnten, welche in seine Stoffwechselprozesse miteinbezogen werden konnten, welche in seine Stoffwechselprozesse miteinbezogen werden konnten, was tatsächlich durch den Handel geschah“. „So gedieh das griechische Gewebe. Es zersetzte die niederen Synthesen, deren Stoffe es wohl assimilieren konnte – die niederen aber gingen infolgedessen zugrunde.“
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Doch genug! Der Leser dürfte eine genügende Vorstellung erlangt haben von der Methode Mérans; sie ist im wesentlichen ganz dieselbe wie die Tietzes. Der Unterschied dieser beiden Darstellungen ist unwesentlich. Tietze sieht in Welt und Menschheit ein Agglomerat von Atomen und Molekeln, die nach Gesetzen der Mechanik aufeinander einwirken und aus den dadurch hervorgerufenen physikalischen Prozessen entsteht unsere ganze Kultur mitsamt allen ihren psychischen Erscheinungen; Méran dagegen sieht in alledem physiologisch-biologische Prozesse. Jeder von ihnen ist überzeugt, das Welträtsel mittels des einfachsten, einzig möglichen Schlüssels gelöst zu haben. In vielen Punkten stimmen sie miteinander und mit dem neuesten Stand der Wissenschaft überein.
Der Ausgangspunkt beider ist der Monismus. Sie bekennen sich beide zur Ansicht, daß es ein und dasselbe einheitliche Gesetz ist, welches Weltall und Menschheit, Materie und Geist beherrscht – daß Materie und Geist untrennbar, ja identisch sind.
Auch der politische und soziale Standpunkt beider ist derselbe, nennen wir ihn kurz: Demokratie. Der Absolutismus richtet den Staat zugrunde, sagt Tietze (S. 425), indem er auf Rußland, die Türkei und China hinweist. Dagegen „verdanken England und Amerika und in der jüngsten Zeit Japan ihre Macht augenscheinlich nur (?) der Mitwirkung des Volkes an der Gesetzgebung, beziehungsweise der Freiheit der Bürger“. Ähnlich urteilt Méran über den Unterschied zwischen amerikanischer Demokratie und europäischem Cäsarismus. „Da (in Amerika) waren keine an sich organische Cäsarenzentren, die eine bis in die Vorzeiten riechende Entwicklung haben und die ihr eigenes struktives Leben konservieren wollen und darum eine konservierende Energie entfalten, der in Europa ähnlich.... Diese Umstände erklären es, warum in den Vereinigten Staaten die zentrale cäsarisch-militärische Macht die Produktivität niemals derart absorbieren konnte, wie es in Europa geschah; weshalb die zentrale staatliche Macht mehr eine Tätigkeit des organisierten Zusammenhanges der Produktivität entfaltete und kaum eine cäsarische Funktion im europäischen Sinne. Hieraus ist es auch erklärlich, warum in Amerika das produktive Leben, der Reichtum einen so riesigen Aufschwung erhielt...“
Kurz und gut, beide, der Physiker und der Physiologe der Menscheitsgeschichte, kommen zum Resultate: „Amerika du hast es besser.“ Ist diese Übereinstimmung nicht merkwürdig? Sollte wirklich das gleiche Resultat sowohl aus der physikalisch-mechanischen wie aus der physiologisch-biologischen Auffassung der Menschheitsgeschichte sich ergeben? Ich glaube nicht. Wir haben es hier vielmehr mit einem psychologischen Gesetz zu tun, auf das ich schon an anderer Stelle [4] aufmerksam machte, vermöge dessen Staatstheoretiker den von ihnen tatsächlich eingenommenen Parteistandpunkt mittels ihrer Theorien zu begründen suchen. Diese Operation spielt sich meist unbewußt ab und ist ein glänzender Beleg für die Richtigkeit des von
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Ratzenhofer zuerst ausgesprochenen tiefen Gedankens, daß auch „die Spontaneität des Denkens auf dem Umherschweifen der (Ideen-)Assoziationen im Interessengebiete des Individuums beruht. [5] Ähnlich wie Staatstheoretiker die aprioristischen Ausgangspunkte ihrer Theorien meist unbewußt so wählen, daß sie, von denselben logisch vorschreitend, immer zur Rechtfertigung ihres subjektiven Parteistandpunktes gelangen: so sehen wir hier den Physiker sowohl wie den Physiologen, den einen mittels seines „Gleichgewichtsgesetzes“, den anderen mittels seiner „physiologischen Evolution“ zur Begründung und Verherrlichung des demokratischen Programmes gelangen. Das ist kein Zufall, sondern ein psychologisches Gesetz, dem politische Theoretiker unterliegen, mögen sie sich noch so objektiv gebärden, und wie im vorliegenden Falle fest überzeugt sein, nur objektive Physik oder Biologie zu treiben.
Damit haben wir schon teilweise die Beantwortung einer Frage vorweggenommen, die wir uns auf den Schluß dieser Besprechung reserviert haben, nämlich: ob wir es in solchen Welträtsel-Lösungen wie die obigen, mit objektiver Wissenschaft zu tun haben? Nun, mit der Objektivität dieser Darstellungen scheint es nicht weit her zu sein; man mag ja die freiheitliche Tendenz auch löblich finden, aber Tendenz ist Tendenz und nicht Objektivität. Bleibt aber noch der wichtigere Teil der Frage: ist das, was uns Tietze und v. Méran bieten, überhaupt Wissenschaft? Darüber müssen wir uns zum Schlusse klar werden. Wissenschaft ist doch zunächst ein Wissen von den Dingen. Jedes Wissen beruht auf einem Erkennen der Dinge. Ein Erkennen eines Dinges ist die Auffassung der wahren Natur desselben, nach Maßgabe des gesunden menschlichen Verstandes. Wenn ich einen Baum für einen Vogel ansehe, so habe ich nach Maßgabe des gesunden menschlichen Verstandes, seine wahre Natur nicht erkannt, sondern verkannt, und ein solches Verkennen kann nicht Grundlage eines Wissens sein.
Der gesunde menschliche Verstand unterscheidet die Dinge der Außenwelt und gründet auf solchen Unterscheidungen die besondere Natur jedes Dinges. Ein richtiges Erkennen kann sich nur auf solche Unterscheidungen gründen und ein Wissen nur auf solches Erkennen. Wenn man einem Dinge die Natur eines von ihm verschiedenen Dinges zuschreibt, so ist der Weg zum Wissen von diesem Dinge, und daher auch zur Wissenschaft von diesem Dinge, ein für allemal verrammelt. Wenn ich den Baum für einen Vogel ansehe, so sit mir der Weg zum Erkennen des Baumes und zu einem Wissen von ihm gründlich verlegt.
Nun unterscheidet der gesunde Menschenverstand die Erscheinungen der Außenwelt nach gewissen charakteristischen Merkmalen und faßt die gleichen Erscheinungen zu besonderen Gruppen gleicher Natur zusammen [6] : das Festhalten an diesen Unterscheidungen und an diesen Zusammenfassungen der gleichartigen Erscheinungen in besondere Gruppen ist die Grundlage und Bedingung jedes Erkennens und Wissens.
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Daher sind alle Analogien für die Wissenschaft gefährlich, weil sie den zu erkennenden Dingen eine andere als ihre wahre Natur aufoktroyieren wollen. Wenn man, wie das wohl geschehen ist, den Staat für ein Tier ansieht, so kommt man zu keinem richtigen Wissen vom Staat.
Nun gibt es in der Welt nicht nur Dinge von verschiedener Natur, sondern auch ebenso verschiedene Prozesse. So wie es anorganische, organische, psychische und soziale Erscheinungen gibt, ebenso gibt es physikalische, vegetative, animalische, psychische und soziale Prozesse. Wer den einen Prozeß für einen andern ansieht, der versperrt sich ganz ebenso den Weg zur Erkenntnis und zur Wahrheit wie derjenige, der den Baum für einen Vogel hält und den Staat für ein Tier. Auf solchen Verwechslungen beruhen oft schöne poetische Bilder, man kann dabei oft eine großartige und das Gemüt ergreifende Phantasie entfalten: aber ein Wissen und eine Wissenschaft kann man darauf nicht gründen. Und das ist es, was ich schließlich den beien sehr geehrten Herren Verfassern obiger Welträtsel-Lösungen, als Vertretern dieses modernen Genres der Literatur, sagen wollte: als Phantasien können wir ihre Werke gelten lassen; als Wissenschaft, aus den angeführten Gründen, nicht,wie viel Richtiges, Interessantes und Anregendes in ihren beiden Werken auch enthalten ist. Aber schließlich und endlich beruhen die Grundgedanken dieser beiden Werke auf Verwechslungen der Natur des sozialen Prozesses, bei Tietze mit dem physikalischen, bei Méran mit dem physiologsichen. Auf dem Grunde solcher prinzipiellen Verwechslungen kann weder eine Erkenntnis, noch ein wirkliches Wissen erwachsen.
Woher kommt es nun aber, daß die Verfasser, die beide recht belesene, ja gelehrte und geistreiche Menschen sind, auf solche Irrwege geraten?
Teilweise sagten wir ja das schon im Eingange. Es drängt auf solche Irrwege das begreifliche Streben, das oder die „Welträtsel“ zu lösen. Auch tüchtige Spezialforscher werden ja durch dieses Streben auf solche Irrwege gedrängt. Denn Spezialforscher und Wissende sind sie ja doch nur auf ihrem eigenen Forschungsgebiete. Wenn sie nun die Gesamtheit der Erscheinungen, das All, das „Welträtsel“ erklären wollen, so geraten sie auf Gebiete, die sie mit ihrem Wissen nicht beherrschen und werden durch ihr Streben, das Welträtsel zu lösen, auf solche Irrwege gedrängt. Meist geschieht das eben in der Weise, daß sie die Wahrnehmungen auf ihrem eigenen Gebiete, auf jene ihnen fremden Gebiete übertragen, wo sie diese Wahrnehmungen nicht gemacht haben, wo sie aber das Vorhandensein derselben doer ähnlicher Erscheinungen und Vorgänge fälschlich vermuten. Auf diese Weise entstehen Werke, die zum Teil wissenschaftlich, zum Teil phantastisch sind. Noch gefährlicher aber ist's, wenn „Laien“ (Tietze nennt sich selbst einen solchen), die auf keinem Gebiete Spezialforscher sind, gleich das gesamte Welträtsel lösen wollen und die ganze Welt der Erscheinungen mit einer Formel erklären, unter einen Nenner bringen wollen. Dann kommen Werke zustande, die durch und durch phantastisch sind. Die nüchterne Wissenschaft geht dabei leer aus; sie heimst dabei
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keinerlei Gewinn ein. Der Schatz unseres Wissens wird durch solche Werke nicht vergrößert.
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Hier könnte mir die Einwendung gemacht werden, daß wir, wenn jeder Forscher nur „bei seinem Leisten“ bleibt, nie eine „Weltanschauung“ gewinnen können. Nun, gewiß, aus dem begreiflichen Streben nach einer geschlossenen Weltanschauung ergeben sich ja die vielen Fehlgriffe, und deswegen sind sie verzeihlich. Nichtsdestoweniger muß der Fehlgriff als solcher bezeichnet und vor falschen Methoden, zu einer Weltanschauung zu gelangen, gewarnt werden.
Denn zunächst kann es gar nicht Aufgabe der Wissenschaft sein, uns eine geschlossene Weltanschauung zu bieten, das oder die Welträtsel zu lösen; wenigstens heute kan nsie das noch nicht leisten. Vorderhand kann sie nur die einzelnen Gebiete der Erscheinungen durchforschen und die verschiedene Natur jedes derselben zu erkennen trachten. Der „Monismus“ ist ja zunächst nur eine Annahme, die plausibler scheint als der überwundene und unhaltbare Dualismus (von Materie und Geist). Wie sich aber dieses eine und einheitliche Gesetz, das wir als Hypothese annehmen, auf den verschiedenen Erscheinungsgebieten äußert, das wissen wir noch nicht. Alle diesbezüglichen Behauptungen und Aufstellungen sind teils unklar, teils übereilt.
Schuld an solchen Übereilungen ist die falsche Auffassung und Anwednung des Monismus. Denn der Monismus oder, besser gesagt, die Hypothese des Monismus schließt nicht aus, daß auf jedem speziellen Erscheinungsgebiete andere Gesetze herrschen; da doch auch das supponierte eine und einheitliche Gesetz auf jedem speziellen Erscheinungsgebiete sich anders äußert, indem es sich der besonderen Natur jees dieser Gebiete anpaßt. Für den gesunden Menschenverstand und die nüchterne Wissenschaft sind die Gesetze, welche auf dem Gebiete der anorganischen Natur herrschen, verschieden von denen, die auf psychischem oder auf sozialem Gebiete herrschen; ob diese auf verschiedenen Gebieten herrschenden Gesetze sich einst unter einen gemeinsamen Nenner werden bringen lassen, das wissen wir noch nicht. Wir hegen erst diese Hoffnung; aber erst, wenn diese einst erfüllt sein wird, wird der Monismus wissenschaftlich erwiesen sein. Vorderhand, das muß einmal gesagt werden, ist der Monismus nur ein Glaube, der bei naturwissenschaftlich Denkenden Monotheismus abgelöst hat und der sich als Leitstern für wissenschaftliche Forschung gut eignet.
Es wäre aber ein vollkommenes Mißverstehen desselben, wenn man ihn so auffassen würde, als ob alle Erscheinungen der Welt auf eine und dieselbe Weise erklärt werden müßten, also ob zwischen den anorganischen, organischen, psychischen und sozialen Erscheinungen gar kein Unterschied wäre. Das wäre kein wissenschaftlicher Monismus, sondern ein wissenschaftliches Chaos. Der richtige weg wissenschaftlicher Forschung ist nicht der, mit einem kühnen Sprunge das Hindernis des
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Welträtsels zu nehmen; solche Sprünge ins Dunkle sind nicht Sache der Wissenschaft. Diese hat vielmehr sachte und bedachtsam schrittweise vorzugehen, nach den Erkenntnisregeln des gesunden Menschenverstandes die dem Menschen erkennbaren Dinge zu erkennen und den Schatz des Wissens zu vergrößern. Ob sie auf diese Weise von Erkanntem zu Erkennbarem vorschreitend und, Wissen zu Wissen fügend, einst zur Lösung des Welträtsels gelangen wird, das muß vorderhand dahingestellt bleiben.
Bleibt allerdings noch eine wichtige praktische Frage übrig: wie soll der wissenschaftlich Denkende das unleugbar vorhandene Bedürfnis nach einer geschlossenen Weltanschauung befriedigen? Darauf kann es zunächst keine andere Antwort geben, als daß das die eigenste und intimste Sache jedes einzelnen bleiben muß. Wir wissen es aus Geschichte, Erfahrung und täglichem Leben, daß strenge Wissenschaftlichkeit mit Religiosität vereinbar ist. Es hat also von jeher wissenschaftliche Forscher gegeben, es gibt solche heute, und es wird wahrscheinlich solche immer geben, die sich mit der ihnen von der Religion gebotenen Weltanschauung begnügen und bei derselben beruhigen; für die brauchen wir also nicht zu sorgen.
Für diejenigen, welchen naturwissenschaftliches Denken das Festhalten an überlieferten religiösen Weltanschauungen unmöglich macht, gibt es doch glücklicherweise auch philosophische Weltanschauungen, welche von Zeit zu Zeit von begnadeten philosophischen Genies entworfen wurden, die sich mit dem jeweiligen Zustand unseres Wissens nicht im Widerspruch befinden, ja sogar in Harmonie setzen.
Eine solche Weltanschauung gab der denkenden Menschheit Spinoza in seinem Pantheismus, der den überlieferten theologischen Dualismus aufhebt, indem er Gott und die Welt identifiziert; auch Leibnitzens Monadologie war insofern ein Versuch, den theologischen Dualismus zu überwinden, indem er wenigstens die fortwährende Einmischung Gottes in die Weltgeschehnisse eliminierte. Epochemachend war sodann Kants Weltanschauung, der den Dualismus aus der Natur in den menschlischen Intellekt verlegte und als Forderung der „praktischen Vernunft“ das gelten läßt, was die „reine Vernunft“ nicht zugeben kann.
Als aber ein Jahrhundert fortschreitender Naturwissenschaft auch diesen intellektuellen Dualismus Kants zerstörte, da entwarf, auf den neuesten Ergebnissen der Naturwissenschaft fußend, Gustav Ratzenhofer, den wir mit Stolz den Unsrigen nennen, in seinem „Positiven Monismus“ [7] für die denkende Menschheit des XX. Jahrhunderts eine Weltanschauung, in der jeder störende Zwiespalt zwischen „reiner“ und „praktischer Vernunft“ aufgehoben ist. Wir müssen uns heute auf diesen Hinweis auf Ratzenhofers Weltanschauung beschränken, welche jeden Dualismus aus Natur und menschlischen Intellekte eliminiert und den ungelösten Rest des Welträtsels auf ein solches Minimum (die „Urkraft“) reduziert, daß an demselben auch die radikalste Naturwissenschaft nicht Anstoß nehmen kann. Dabei operiert Ratzenhofer nicht mit Analogien, tut den Erscheinungen keine Gewalt an,
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läßt jedem Erscheinungsgebiete seine wahre Natur, vermischt nicht die soziale Welt mit der organischen, wie noch neuestens in seinen „Lebenswundern“ Haeckel und versteht es trotzdem meisterhaft auf dem Grunde der Verschiedenheiten der einzelnen Erscheinungsgebiete das eine einheitliche Welt- und Lebensgesetz, „das Walten der Urkraft“, nachzuweisen.
Wenn wir die Besprechung zweier für die Gegenwart typischen, in ihrer naturphilosophischen Ausschweifung fehlgreifenden Werke mit diesem Hinweis auf Ratzenhofer schließen, so tun wir das nicht ohne Absicht. Wir wollen damit der modernsten Naturphilosophie, die heute so stolz tut, und mittels Physik, Chemie und Biologie die „Welträtsel“ lösen will, einen genialen Denker entgegenstellen, der alle die Errungenschaften dieser Disziplinen sich angeeignet, ohne denselben den Menschen mit all seinen menschlichen Eigenschaften und die von den Naturforschern und Naturphilosophen so arg vernachlässigte und verkannte soziale Welt zu opfern.
Mögen sie die von dem Bazillus und der Zelle aufsteigend, auch in der sozialen Welt nur „Gewebe und Zellvereine“ sehen (Haeckel), den Philosophen studieren, der den umgekehrten Weg einschlug und von dem Menschen und der sozialen Welt ausging, was ihn dann vor der Einseitigkeit behütete, in den Zellen Menschen zu sehen und in Zellklumpen Staaten. Es ist ja möglich, daß Ratzenhofer durch den von ihm eingeschlagenen umgekehrten Weg, von der sozialen Welt zu den Zellen und Atomen, vor der Einseitigkeit der modernen Naturphilosophie bewahrt wurde; nichtsdestoweniger könnten Naturphilosophen und Naturforscher, die sich mit Welträtsellösungen befassen, sehr viel aus ihm lernen. Von der üblichen Schulphilosophie, die in Philosophiegeschichte macht, will ich lieber schweigen; denn diese sehr gelehrten, aber ideenleeren „Fachphilosophen“ glauben, es ihrem Stande und Berufe schuldig zu sein, an dem „Autodidakten“ herumzunörgeln. Die Herren vergessen, daß auch Spinoza kein Doctor philosophiae und kein Philosophieprofessor war.
1Wien, bei Braumüller, 1905.
2Bevor ich von Tietze scheide, muß ich ein komisches Mißverständnis, das sich in sein Buch eingeschlichen hat, hier um so eher aufklären, als ein Druckfehler in der ersten Auflage meines „Grundrisses der Soziologie“ von 1885 daran Schuld ist. Ich hatte dort bei der Besprechung des „Mutterrechts“ auf einige Autoren, die dasselbe behandelten, hingewiesen, und bei Mac Lennan im Manuskript in der Parenthese den Titel des bezüglichen Werkes: Kinship in old Greece abkürzungsweise mit „Kinship“ bezeichnet. Der Setzer übersah die Parenthese und ich bei der Korrektur die Weglassung derselben; infolgedessen figurierte in der ersten Auflage zwischen Mac Lennan und Lippert „Kinship“ als ob es ein Autorname wäre. So hat es nun Tietze aufgefaßt und diesen Kinship als einen der Verfasser „ausgezeichneter Arbeiten“ in seinem Buche, Seite 344 aufgeführt. Obendrein machte der Kobold im Setzhasten aus dem Kinship einen Kinschrip, auf dessen „ausgezeichnete Arbeiten“ mancher Leser Tietzes neugierig sein könnte. Er sei hiermit von Nachforschungen nach diesem nicht existierenden Autor gewarnt.
3Budapest, 1902, Politzer.
4Vergl. mein „Allgemeines Staatsrecht“ (2. Auflage, 1897), Seite 239.
5Vergl. Ratzenhofer: „Soziologische Erkenntnis“ (1898), Seite 34.
6Ausführlicher handle ich darüber in meinem „Grundriß der Soziologie“ 2. Aufl., 1905, Seite 88 ff.
7Leipzig, 1899, Brockhaus.