Oppenheimers Marx, in: Die Zukunft (Berlin), Jahrgang
1904, Bd. 46, S. 148-150.
Oppenheimers Marx.
Fünf Jahre ists her, seit ich hier den Verfasser des Werkes
„Großgrundeigenthum und soziale Frage“, Herrn Dr. Franz
Oppenheimer,
als den „Latifundien-Marx“ bezeichnete. Seitdem hat
Oppenheimer eine
Reihe neuer Schriften veröffentlicht, die sich alle in einer Richtung bewegen und
die schon in seinem „Grundeigenthum“ vorgetragene Idee immer tiefer begründen. Und
nun ist wieder eine Schrift von ihm erschienen: „Das Grundgesetz der marxischen
Gesellschaftlehre“, worin er seine Idee, daß nicht der „Kapitalismus“, sondern das
„Großgrundeigenthum“ an dem Arbeiterelend die Schuld trage, in einer überaus
glücklichen Polemik gegen
Marxens Lehre von der
„kapitalistischen Akkumulation“ siegreich durchführt. Nach mehr als fünf Jahren
bestätigt sich, daß
Oppenheimer wirklich Der ist, als den ich ihn bezeichnete – ein
Marx II, der sein scharfes Geschoß nicht gegen den Kapitalismus, sondern gegen
das Großgrundeigenthum schleudert und es mit der selben Wucht trifft, mit der einst
Marx I den Kapitalismus angriff. In seiner neusten Schrift ist es allerdings
zunächst
Marx I, der die Zeche bezahlen muß; denn
Oppenheimer weist ihm nach, daß er dem „Kapitalismus“ ankreidete, was das
Großgrundeigenthum verschuldet hat und noch verschuldet.
Marx stellte
bekanntlich ein „Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ auf, wonach mit dem
Wachsthum des Kapitals die „Lazarusschicht der Arbeiterklasse“, die „industrielle
Reservearmee“ und mit ihr das Arbeiterelend wächst. Dieses trostlose Gesetz gewährt
nur einen blutigen Hoffnungstrahl. Denn da das Kapital zugleich die Tendenz hat,
sich in immer wenigeren Händen zu konzentriren, so muß einmal der Tag kommen, wo die
Gesammtheit der Expropriirten die wenigen Expropriateure gewaltsam expropriirt, der
Tag der blutigen Abrechnung, der große Kladderadatsch. (Zusammenbruchstheorie.) Es
ist möglich, daß in dieser Prognose eine der Ursachen des riesigen literarischen
Erfolges des Marxismus lag: denn die Menschen, die solcher Prognose zujubeln, sind
ja stets in der Mehrheit. Ohne Zweifel verdankte aber auch der Marxismus seinen
großartigen Erfolg der glänzenden Dialektik und der scharfsinnigen deduktiven
Methode seines Schöpfers, gegen die nicht bald Einer aufkommen konnte.
Oppenheimer bemerkt ganz richtig, daß „
Marx nur durch
Marxens Methode überwunden werden kann.“ Das versucht er nun selbst.
Oppenheimer wirft
Marx mit Recht vor, daß
er zwei gleichzeitige Erscheinungen, nur weil sie gleichzeitig sind, in ein
Kausalverhältniß bringt, obwohl sie von einander ganz unabhängig sind und nur aus
zufälligen äußeren Ursachen zusammentreffen und auf einander wirken.
Oppenheimer bestreitet, daß die „kapitalistische Akkumulation“ eine immer
wachsende „industrielle Reservearmee“ erzeuge. Das sei ein grober Irrthum. Die
Reservearmee
149
wird ganz unabhängig vom Kapitalismus und von der
kapitalistischen Akkumulation erzeugt: vom Großgrundeigenthum. Diese Thatsache hat
ja
Oppenheimer schon vor fünf Jahren bewiesen; der Reiz seiner neusten
Schrift liegt darin, daß er seine Behauptung diesmal gegen
Marx geltend macht, dem
er nachweist, daß er diese Thatsache übersah und das Entstehen der wachsenden
„industriellen Reservearmee“ in einen ganz mystischen Kausalzusammenhang mit der
kapitalistischen Akkumulation brachte. Dieser Nachweis ist
Oppenheimer gelungen. Mag der Kapitalismus sich akkumuliren, so viel er will
und kann; da er Menschen nicht erzeugen kann, müßte mit wachsender Industrie der
Arbeitlohn steigen, – und das marxische Gesetz fiele ins Wasser. Nur der zufällige
Umstand, daß gleichzeitig das Großgrundeigenthum „vogelfreie Landproletarier“
erzeugt, liefert der kapitalistischen Industrie ihre Reservearmee und gestattet ihr,
den Arbeitlohn zu drücken und Elend zu schaffen.
„Die niederste Lohnklasse“, sagt
Oppenheimer,
„die zahlreichste und schlechtestgestellte, die, deren Konkurrenz das Emporstreben
aller anderen Klassen zurückhält, wird nicht durch die Ungelernten der Industrie
gebildet, sondern in jeder Volkswirthschaft mit Freizügigkeit durch die
Landarbeiter.“ Als es noch keine Freizügigkeit gab, als „der freie Zug vom Lande
durch die Schollenpflichtigkeit oder der freie Zug in die Städte durch Kirchspiel-
und Armengesetze oder zünftlerische Privilegien gehemmt ist, bildeten die
Landproletarier eine abgesonderte Lohnklasse für sich, ohne Verbindung mit den
städtischen Lohnarbeitern.“ Wenn aber „die städtische Entwickelung, der
Kapitalismus, die Fesseln des freien Zuges sprengt, dann vollzieht sich die
Ausgleichung zwischen den beiden bisher geschiedenen Lohnklassen mit einem Schlage,
explosiv; der gestaute Strom des Landproletariats überschwemmt die Industrie mit
seinem Hungerangebot, bietet seine Arbeitkraft zu einem Preis an, der seinen
unendlich niederen Lebensansprüchen genügt, und reißt dadurch fürs Erste die
städtischen Löhne plötzlich in die Tiefe. Dann scheint es den industriecentrisch
befangenen Volkswirthen, als habe der Kapitalismus das himmelschreiende Elend, die
schmutzige Noth, die Brutalität und Verkommenheit in den Städten entstehen lassen:
in der That aber ließ er nur das längst auf dem Lande vorhandene, verborgene Elend
in den Städten zum Vorschein kommen.“ Die Schlußfolgerung, die
Oppenheimer aus
diesen Feststellungen zieht und die er seit Jahren wiederholt, lautet: Schaffen wir
das Großgrundeigenthum ab, dann verstopfen wir die so reichlich sprudelnde
Proletarierquelle und dann mögen die Unternehmer zuschauen, woher sie ihre Arbeiter
rekrutiren; dann giebts keine „Reservearmee“ und der Kapitalismus muß sich zu
anständigen Löhnen herbeilassen, das Tempo der Akkumulation wird sich verlangsamen
und Elend und Noth brauchen dann nicht den Gegenpol des Kapitalismus zu bilden.
150
Wäre nun der Staat ausschließlich eine
wirthschaftliche Einrichtung zu wirthschaftlichen Zwecken, die die Aufgabe hätte,
die materielle Wohlfahrt aller Mitglieder in gleicher Weise sicherzustellen, so wäre
Oppenheimer als Erlöser aus Noth und Elend zu begrüßen. Denn er hat
schlagend nachgewiesen, wo die Ursache der sozialen Noth steckt, und man brauchte
nur seinem Rath zu folgen: und keine Akkumulation des Kapitals könnte eine
industrielle Reservearmee aus dem Boden stampfen. Leider verhält sich aber die
Ssache nicht ganz so. Wohl ist der Staat auch eine wirthschaftliche Organisation;
aber sein Zweck ist jedenfalls nicht die gleiche Vertheilung der wirthschaftlichen
Güter. Die ungleiche Vertheilung ist ja kein Zufall und keine Folge politischer
Unerfahrenheit. Sie beruht auf schlauer Berechnung; sie ist ein Werk der Politik.
Sie wird nämlich von der herrschenden Klasse herbeigeführt, die ihre
wirthschaftliche Organisation so einrichtet, daß aus dieser Einrichtung die
ungleiche Theilung der wirthschaftlichen Güter folgt. Das bewirkt sie durch die
Herrschaft. Das beste Mittel aber, eine Herrschaft zu begründen, war von je her das
Großgrundeigenthum.
Das weiß
Oppenheimer sehr
gut; er sagt: „Der einzelne Mensch kann seine Bedürfnisse auch dadurch befriedigen,
daß er sich die Arbeitprodukte anderer Menschen ohne äquivalente Gegenleistung
aneignet. Diese Art nenne ich das politische Mittel der Bedürfnißbefriedigung. Das
primitive politische Mittel ist der Raub und der Raubkrieg, in der alten Welt in
allen Erdtheilen gerichtet von Hirten (Nomaden) gegen Ackerbauer. Aus dem
ungeregelten Raube stammfremder Hirten entfaltet sich die geregelte Besteuerung der
Bauern durch einen im Lande festgesetzten Hirtenadel. Das Ziel bleibt das selbe: die
Grundrente; nur das Mittel hat sich geändert; es heißt jetzt: der Staat!“ Wenn
Oppenheimer den Staat so auffaßt, wird er auch wohl in dem
Großgrundeigenthum nichts Anderes sehen als ein wirthschaftliches „Mittel der
Herrschaft[“].
[1]
Was bedeutet dann aber sein Vorschlag: Beseitigen wir
das Großgrundeigenthum, auf daß es den Armen und Elenden besser ergehe? Man könnte
glauben, einen utopistischen Wunsch zu hören.
Doch
Oppenheimers
Darstellung ist zugleich das Zeichen einer Zeit, wo das Großgrundeigenthum als
„feudale Machtposition“ in seinen Grundfesten erschüttert ist. In einem solchen
Augenblick ist allerdings der wissenschaftliche Nachweis der Gemeinschädlichkeit des
Großgrundeigenthumes sehr wichtig. Dadurch, daß er das einseitig-politische
Interesse aufdeckt, das sich an die Erhaltung des Großgrundeigenthumes knüpft,
entzieht
Oppenheimer den
Argumenten aller Junkerparteien, die Schutzmaßregeln erstreben, den Boden. Darin
sehe ich die Hauptbedeutung des neuen Werkes.