[…] Studien zur Strafrechtsreform. I. Theil. Graz 1896. Leuschner &
Lubensky. 609 Seiten. Preis M. 12.
An den österreichischen (und wohl auch an den
deutschen?) Universitäten besteht eine Rangordnung der Fakultäten, wonach die
theologische den ersten Platz einnimmt, die juristische den zweiten, die
medizinische den dritten und die philosophische den letzten. Ein philosophischer
Witzbold erklärte einmal den Sinn dieser Rangordnung so, dass dieselbe eine Art
photometrische Skala darstelle. Ganz oben nämlich, bei den Theologen herrsche
vollkommene Finsterniss, bei den Juristen sei es noch sehr dunkel in den Köpfen,
bei den Medizinern fange es an heller zu werden, vollkommen hell würde es aber
erst bei den Philosophen. Diese Erklärung entbehrt nicht der Wahrheit. Eines ist
sicher: die Juristen stehen den Theologen noch sehr nahe; ihre Lehren beruhen
vielfach noch auf Dogmen und halten einer wissenschaftlichen Kritik nicht Stand.
Unter den Juristen aber sollten nach demselben Prinzip die Kriminalisten den
ersten Rang einnehmen: denn ihre ganze „Wissenschaft“ beruht noch zum
allergrössten Theile auf Ueberlieferungen, an die heutzutage kaum ein
vernünftiger Mensch mehr glaubt. Ihr besseres Wissen und Gewissen beruhigen sie
meistens mit der Phrase, dass „wenn's nicht wahr, es doch nöthig ist“ - nämlich
üfr den Staat. Mit diesem Raisonnement stützen sie insbesondere ihre „Lehre von
der Strafe“. Wenn sie den alten
Köhler glauben
an die Freiheit des Willens, mit dem doch die moralische Berechtigung der Strafe
steht und fällt, nicht mehr aufrechthalten können, so flüchten sie hinter die
„Staatsnothwendigkeit“ der Peinigungsstrafe. Das ist ein bequemes Argument; denn
was ist nicht alles im Laufe der Jahrtausende als „staatsnothwendig“ erklärt,
was ist nicht alles im Namen dieser „Staatsnothwendigkeit“ verübt worden und was
lässt sich nicht alles mit dieser Flagge decken? Einen Rechtslehrer hörte ich
einmal folgendermassen argumentiren: „Ueber den freien Willen können wir
ebensowenig etwas wissen wie über Gott, dessen Dasein wir auch nicht beweisen
können; aber ebenso wie Gott nöthig ist für den Staat, ebenso ist die Annahme
eines freien Willens nöthig als Grundlage des Strafrechts“. Das ist der
Standpunkt der heutigen Kriminalisten im Grossen und Ganzen. Jedenfalls beweisen
sie damit, dass sie ihren Ehrenplatz unmittelbar
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nach den
Theologen mit vollem Rechte einnehmen. Aber „von unten“, von der
Naturwissenschaft „kommt der Fluch“, nämlich das Licht. Diese gottlosen
Naturforscher behaupten nämlich, dass zweimal zwei vier sei, ja noch mehr, sie
behaupten steif und fest, dass, wenn bei
ihnen zweimal
zwei vier sei, es auch bei den Juristen so sein müsse, „zum mindesten“, sagen
sie, „bei den Juristen“, bei den Theologen mag es einstweilen noch fünfe
ausmachen. Diese Ketzerei des Naturforscher ist ansteckend und in neuester Zeit
bekehren sich zu ihr schon einige Juristen; allerdings rarae aves? Diese meinen
nun, dass wenn die Naturwissenschaft den freien Willen, als gegen das allgemeine
Kausalitätsgesetz verstossend, verwirft, die Juristen unter keinen Umständen
diesen abgethanen alten Aberglauben aufrechterhalten können. Verwirft man aber
den freien Willen, so fällt damit für all und jeden Menschen die
Zurechnungsfähigkeit für seine Handlungen und damit die moralische Berechtigung
der Marter- und Peinigungsstrafe. Dieser Ansicht ist der Verfasser des
vorliegenden Buches, welches ob dieser unerhörten Ketzerei ohne Zweifel auf den
Index der orthodoxen Kriminalistik gesetzt werden wird. Er geht aber noch
weiter. Er beschuldigt das bestehende Strafrecht und Strafsystem der
Unmoralität, da es auf dem Prinzip der Vergeltung und der
Rache beruhe; und da hat er vollkommen Recht. Er könnte sogar noch weiter gehen,
er könnte dreist behaupten, dass, wenn unsere Justiz Uebles mit Ueblem vergelte,
sie grössere Verbrechen begehe als die Verbrecher; denn
diese begehen das Uebel im Affekt, aus Noth, in Zwangslagen, verführt
durch Umstände und dergl.: während die Justiz das Uebel zufügt mit kalter
Ueberlegung, ohne Zwang, und meist auch ohne Leidenschaft (letzteres nicht
immer!). Würde man die im Staate begangenen Verbrechen ziffermässig auf diese
Weise darstellen können, dass man z. B. zehn im Zorne verübte Verbrechen
gleichsetzen würde
einem mit kalter Ueberlegung
begangenen, was doch gewiss zulässig ist; zwanzig von hungernden Menschen
begangene Diebstähle
einem von satten Richtern begangenen
Unrechte; hundert verbrecherische Verzweiflungsthaten ungebildeter Menschen
einem von einem gelehrten Richterkollegium begangenen
Rechtsirrthume; tausend von jungen Schwärmern in ehrlicher Begeisterung für
soziale Ideale begangene Gesetzesübertretungen
einer von
leidenschaftlich erregten Richtern im Solde der Tagespolitik gefällten
übermässigen Strafe; hundert im Eifersuchts- oder Liebesaffekte begangene
Mordversuche
einem staatsanwaltschaftlichen Versuche,
einen jungen Menschen für ein Dutzend inkriminirte sozial-reformatorische Worte
auf acht Jahre ins Gefängniss zu bringen
[3]
: würde man nach einer solchen Methode die im Staate
begangenen Verbrechen und Missethaten ziffermässig darstellen und die Summe der
„Ver-
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brecher“ = Verbrechen der Summe der Justizverbrechen
gegenüberstellen können: fürwahr die Bilanz könnte ein schlimmes Saldo zu lasten
der Justiz ergeben; er könnte sich leicht zeigen, dass schon hete, auch wenn wir
den freien Willen gelten lassen, die Summe der von der Justiz begangenen
Verbrechen vielleicht grösser ist als die Summe aller übrigen Verbrechen und
Delikte. Stellen wir uns aber gar auf den Standpunkt des Verfasser, der alle und
jede Marter- und Peinigungsstrafe als unberechtigt und unmoralisch, und das mit
guten, unwiderlegbaren Gründen, verdammt: dann sträubt sich die Feder es
niederzuschreiben, was heute im „erleuchteten 19. Jahrhundert“, in den sog.
„Kulturstaaten“ und „Rechtsstaaten“ geschieht! Dann haben wir kein Recht über
„finstere Zeitalter mittelalterlicher Barbarei“ uns erhaben zu fühlen, weil wir
tief in einem solchen noch stecken; dann sollte unsere Themis nicht nur ihre
Augen verbinden, sondern ihr Antlitz vor Scham verhüllen und in Sack und Asche
Busse thun, denn eine grössere Sünderin als sie giebt es nicht auf Gottes
Erdboden! - Dieses und kein anderes Urtheil muss auf Grund der vom Verfasser
beigebrachten wissenschaftlich erhärteten Thatsachen und streng logischen
Argumentationen über unsere Justiz gefällt werden: Nur für
einen Milderungsgrund plaidirt der Verfasser; er lautet: mangelhafte
„corticale Entwickelung“ unserer Kriminalisten! Traurig genug, aber leider wahr.
Sie wissen nicht, was sie thun; sie tappen im Finsteren; das Licht der
Naturwissenschaft drang noch nicht in die Hallen der Justiz; dort lagern noch
die Schatten der Theologie, die von jeher dem Ueberwuchern fanatischer
Leidenschaften so günstig waren. Daher verspricht sich denn der Verfasser von
der „naturwissenschaftlichen Methode“ im Strafrecht eine bessere Zukunft; er
hofft, dass mit der Erkenntniss, dass die Handlungen der Menschen „natürliche
Phänomene“ sind, an denen die Subjekte dieser Handlungen keine „Schuld“ tragen,
dass mit dieser Erkenntniss unser Strafrecht sich von Grund aus umgestalten
werde; dass es das barbarische und unvernünftige Vergeltungs- und Racheprinzip
verlassen und zu dem einzig richtigen und vernünftigen Grundsatz der
„Bevormundung“ und „Besserung“ (die aber durch Peinigung mit nichten erreicht
wird) übergehen werde, also zu einer Behandlung, womöglich ausserhalb der
Gefängnisse, wie sie gegenüber jugendlichen Verbrechern bereits von allen
kriminalistischen Kongressen und Autoritäten anerkannt ist. - Das alles erwartet
der Verfasser von fortschreitender intellektueller Entwickelung, von er er
hofft, dass sie die Menschen dazu bringen wird, in jedem Verbrecher den
„Menschen“ zu achten – da es keinen Menschen giebt, der unter gewissen Umständen
und in verhängnissvollen Lagen nicht zum „Verbrecher“ werden könnte. Giebt sich
der Verfasser nicht einem zu weitgehenden Optimismus hin? Wir wollen unsere
diesbezüglichen Bedenken an anderer Stelle, wo uns mehr Raum zur Verfügung
steht, auüsfhren: hier wollen wir nur zum Schlusse hervorheben, dass das Werk
Vargha's viel mehr bedeutet als eine Litteraturnovität: Das Buch ist
eine That und eine kühne That. Es macht dem Muth der Ueberzeugung seines
Verfassers alle Ehre; in der öden Wüste scholastischer Kriminalistik, in der uns
in letzter Zeit eitle Fata Morgana's eines pseudo-naturwissenschaftlichen
Lombrosianismus narrten: ist
Vargha's Buch
eine blühende Oase, wo wir eine Weile ausruhen und uns laben und Kräfte sammeln
können für den weiteren Weg. Denn das Ziel ist noch weit und Stärkung thut noth.
Die finden wir in diesem Buche in doppelter Form: als
helle Gedanken und warme Gefühle.