Individuum, Gruppe und Umwelt, in: Die Zukunft (Berlin),
Jahrgang 1896, Bd. 14, S. 352-362.
Individuum, Gruppe und Umwelt.
Als
Quetelet eine neue
Wissenschaft, eine „Physik der Gesellschaft“, schaffen wollte, sah er sich nach
einem festen Boden um, auf dem er sie begründen könnte. Denn über zwei Dinge war er
sich im Klaren. Erstens, daß eine solche „Physik der Gesellschaft“ möglich sein
müsse. Dieser Ausgangspunkt seiner Untersuchungen ergiebt sich ihm scheinbar a
priori, thatsächlich aber aus der Betrachtung der ganzen Natur. Denn, meint er,
„wäre es nicht unsinnig, wenn man annehmen wollte, daß, während überall so
bewunderswerthe Gesetze herrschen, das menschliche Geschlicht allein blind sich
selbst überlassen worden sei?“ Zweitens, daß, wenn man die Grundlagen einer Physik
der Gesellschaft einigermaßen feststellen wolle, man den „mittleren Menschen“ als
feste Basis betrachten müsse. „Der Mensch, wie ich ihn hier betrachte“, schreibt er,
„ist in der Gesellschaft das Selbe, was der Schwerpunkt in den Körpern ist; er ist
das Mittel, um das die Elemente der Gesellschaft oszilliren.“ Wie nun der Physiker
bei seinen Berechnungen der Bewegungen der Körper ihren Schwerpunkt zur Basis nimmt,
so will
Quetelet auf
Grundlage des „mittleren Menschen“ die Gesetze der Bewegung der Gesellschaften
berechnen. Allerdings weiß er, daß dieser „mittlere Mensch“ ein „fingirtes Wesen“,
ein mathematischer Punkt, ein rechnerischer Begriff sei, der in der Wirklichkeit
nicht existire: doch sei die Annahme eines solchen „Der Weg, den man einzuschlagen
habe, um eine Physik der Gesellschaft zu schaffen.“
Hat
Quetelet sein Ziel,
das er mit so viel Geist und mit so großen Eifer anstrebte, erreicht? Er wurde der
Begründer der modernen Statistik, einer Forschungmethode, die auf den versciedensten
Wissensgebieten gute Dienste leistet, um Thatsachen des individuellen und sozialen
Lebens zu konstatiren. Daß es ihm dagegen nichtgelungen ist, eine „Physik der
Gesellschaft“ auch nur im Umrisse zu entwerfen, darüber läßt sein späteres Werk „Zur
Naturgeschichte der Gesellschaft“ keinen Zweifel. In diesem faßt er die Resultate
seiner statistischen Untersuchungen zusammen, um, aufsteigend vom physischen zum
intellektuellen Individuum, uns schließlich eine Darstellung der Gesetze des
physischen, moralischen und intellektuellen Lebens der Gesellschaft zu geben. Und
was finden wir in dieser Darstellung? Seine Statistischen Untersuchungen, seine
„Massenbeobachtungen“, sein „mittlerer Mensch“ geben ihm keinerlei Auskunft über die
großen Probleme der „Gesellschaft“ und der Menschheit; er ist schließlich gezwungen,
nothdürftige Anleihen zu machen bei der deutschen „organischen“ Schule der
Staatswissenschaft, bei
Riehl und
Planta, um uns seine „Gesellschaft“ als „organischen Körper“ darzustellen.
Das haben
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aber die deutschen „Organiker“ auch ohne Statistik und ohne
„mittleren Menschen“ getroffen.
Einerseits nun beweist das Mißlingen seines Unternehmens,
daß jene „feste Grundlage“, auf der er bauen wollte, jener „Schwerpunkt“ der
sozialen Körper ungenügend und unbrauchbar war. Andererseits lag allerdings die
Ursache des Mißlingens in
Quetelets
geistiger Beschaffenheit selbst.
Quetelet war
vorwiegend Mathematiker, ihm fehlte aber der historische Sinn üfr konkrete soziale
Erscheinungen.
[1]
Ihm sind Mensch und Gesellschaft
mathematische Größen; die Gesellschaft ist ihm ein Körper, der um den Menschen als
um seinen Schwerpunkt gravitirt. Und als ihn eine solche mathematische Betrachtung
nicht ans Ziel führt, greift er blindlings nach – durch falschen Schein bestechenden
– naturphilosophischen Analogien und Gleichnissen der „organischen Staatshteorie“,
statt die sozialen Erscheinungen in ihrer Konkretheit in der Geschichte zu
betrachten. So kommt es, daß er sich über soziale Institutionen und Erscheinungen
mit Erklärungen und Begriffsbestimmungen zufrieden giebt, die nicht die geringste
historische Kritik aushalten. So ist ihm die Familie – wobei er offenbar nur an
unsere monogame Vaterfamilie denkt - „unstreitig die einfachste und natürlichste
gesellschaftliche Verbindung, die man zu allen Zeiten und bei allen Völkern findet“
(!) Die „Nation“ ist ihm ein „aus gleichartigen (!) Elementen, die einheitlich ihre
Funktionen verrichten und von dem selben Lebensprinzip beseelt sind,
zusammengesetzter Körper“. Offenbar hat sich
Quetelet, als er
diese Worte niederschrieb, keine einzige historisch wirkliche Nation
vergegenwärtigt: er dachte offenbar nur an eine statistische „Masse“, die um einen
„mittleren Menschen“ oszillirt und deren ungleichartige Elemente in der
statistischen Tabelle sich einem arithmetischen Durchschnitte fügen müssen, um unter
den gemeinsamen Nenner eines mittleren Menschen gebracht werden zu können. Aber
alles Das ist höchstens soziale Mathematik, soziale Wahrscheinlichkeitsrechnung,
aber niemals soziale „Physik“. Zwischen den Physikern und
Quetelet ist leider
der Unterschied, daß jene, von fiktiven Größen ausgehend, zu konkreten Wahrheiten
gelangen, während
Quetelet von der
Fiktion des „mittleren Menschen“ ausgeht und zu einer fiktiven „Gesellschaft“ und
einer fiktiven „Menschheit“ gelangt.
Sein Ausgangspunkt war eben ein falscher. Daß er nicht den
Einzelnen, das konkrete Individuum, zum Ausgangspunkte wählte, darin hatte er
vollkommen Recht: denn von dem unberechenbaren Einzelnen, dessen Lauen und Willkür,
dessen Leidenschaften und Abnormitäten jeder wissenschaftlichen Berechnung Hohn
sprechen, Das hat
Quetelet richtig
beurtheilt, führt sein Weg zur „Physik der Gesellschaft“. Aber sein „mittlerer
Mensch“
354
ist das zweite Extrem. Leidet das Individuum an zu grober
Konkretheit, an einer Fülle unwesentlicher Zufälligkeiten, die sich keiner
Berechnung fügen, so leidet sein „mittlerer Mensch“ an zu großer Abstraktheit, an
einer aller konkreten historischen Wirklichkeit spottenden Allgemeinheit.
Will man zu einer „Physik der Gesellschaft“, wie es
Quetelet nennt, zu einer Soziologie, wie wir es heute nach
Comtes Vorgange nennen, gelangen, so muß man einen Mittelweg einschlagen und
seinen Ausgangspunkt weder von dem allzu konkreten Individuum noch von dem allzu
abstrakten „mittleren Menschen“ nehmen, sondern von der – wenn man sich so
ausdrücken darf – abstrakt-konkreten sozialen Gruppe. Die soziale Gruppe unterliegt
keinen individuellen Zufälligkeiten und Abweichungen; sie wird von einer festen
Regel beherrscht, sie folgt einem festen Gesetze. Dagegen ist sie insofern frei von
dem Hauptmangel jenes „mittleren Menschen“, als sie weder eine Fiktion noch ein
Abstraktion ist. Die Gruppe ist eine, wenn auch nicht so leicht greifbare und
faßbare, doch jedenfalls eine konkrete Erscheinung. Sie ist nicht eine statistische
„Masse“ von beliebig dehnbaren Grenzen, deren innere Heterogeneitäten und
wesentlichen Manichfaltigkeiten und Verschiedenheiten die „große Zahl“ verdeckt: sie
ist vielmehr eine ganz bestimmt abgegrenzte Gemeinschaft von ausgesprochen sozialen
Charakter, die sich von anderen Gemeinschaften deutlich und sichtbar abhebt. In ihr
braucht keine „große Zahl“ soziale Gegensätze zu verdecken, denn sie ist sozial
homogen, als solche von einem Geist belebt, von einem einheitlichen Streben beseelt.
In dieser Hinsicht kann von den sozialen Gruppen mit mehr Recht als von
Quetelets fiktivem mittleren Menschen gesagt werden, daß ohne sie eine
„Physik der Gesellschaft“ nicht möglich sei. Sie sind Ausgangspunkte und Grundlagen
jeder Soziologie, weil sie jene festen und nach gewissen Regeln und Gesetzen sich
bewegenden Faktoren des sozialen Entwickelungsprozesses sind, auf deren gesetzmäßige
Bewegungen und Zuverlässigkeit gerechnet werden kann.
Solten aber diese sozialen Gruppen als Ausgangspunkt und
Grundlage der Soziologie erwiesen werden, so bleibt uns noch Eines darzuthun übrig:
daß diese Gruppen thatsächlich die in ihnen enthaltenen Individuen in ihrem Thun und
Lassen bestimmen und auf diese Weise in den Strom ihrer Bewegungen mitreißen; daß
diese Gruppen thatsächlich ideele und soziale Einheiten bilden, indem sie ihre
Angehörigen mit überwältigender Macht ihre Bahnen zu ziehen zwingen. Denn wäre Das
nicht der Fall, wäre es den Individuen in großer Zahl möglich, ihre eigenen Bahnen
einzuschlagen, so wäre eben auf die Gesetzmäßigkeit und Regelmäßigkeit der
Bewegungen der Gruppen kein Verlaß und sie wären dann als Grundlagen soziologischer
Berechnungen eben so wenig brauchbar wie das konkrete einzelne Individuum
Wer also die soziale Gruppe als Ausgangspunkt und Grundlage
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einer Wissenschaft von der Gesellschaft, d. h. der Soziologie,
nimmt, Dem liegt vor Allem der Beweis ob, daß das „Individuum“ auch in dem Sinne ein
solches ist, daß es von seiner Gruppe untrennbar ist; daß es geistig und sozial nur
als ein Atom seiner Gruppe in Betracht kommt und daß es daher als selbständiger
Faktor in der Soziologie von gar keiner aber nur verschwindend minimaler Bedeutung
ist.
* * *
Die Gebundenheit des Individuums durch seine Umgebung und
die Befangenheit in den Anschauungen seiner Gruppe ist keine reflektirte, gewollte
und bewußte, vielmehr eine unwillkürliche, nothwendige und meist unbewußte, aus dem
einfachen Grunde, weil sein ganzes geistiges Ich aus der Gedankenatmosphäre, die ihn
umgiebt, herauswchst. Auf der allgemeinen Anerkennung dieser Thatsache beruhte ja
von je her bei allen Völkern und zu allen Zeiten die Annahme, daß die Kinder den
Eltern gleichen, beruht von je her die Einrichtung der Kasten, beruhen insbesondere
die bekannten „Vorurtheile“ der Klassen und Stände. Nun gab es und giebt es gewiß
sehr viele Annahmen, die sich beim Fortschritt geistiger Erkenntniß als grund- und
haltlos erweisen; aber auch eben so viele, deren Richtigkeit im Laufe der Zeit und
mit dem Fortschritt des Wissens nur desto mehr bekräftigt wird. Zu diesen letzten
gehört die Annahme einer gewissen Gleichartigkeit der Individuen einer sozialen
Gruppe.
Worin besteht diese Gleichartigkeit und woher stammt sie?
Sie ist offenbar keine physische. Es giebt in jeder Gruppe kräftige und schwächliche
Individuen, große und kleine, hell und dunkel gefärbte; es giebt, trotz gewissen
unüberschreitbaren Grenzen, welche die großen „Völkerfamilien“ oder, besser gesagt,
Rassenwelten scheiden, in jeder sozialen Gruppe ein große Mannichfaltigkeit von
Typen. Sie ist auch keine moralische. Wir können in jeder sozialen Gruppe die ganze
Stufenleiter der moralischen Charaktere finden, von angeborener Güte bis zu Bosheit
und Schlechtigkeit, vom Mitleid bis zur Grausamkeit, vom Wohlwollen bis zu
schadenfrohem Sinn u. s. w. Sie ist auch keine intellektuelle. Jede soziale Gruppe
zeigt uns die ganze unendliche Skala intellektueller Befähigung, vom Blödsinn bis
zur raffinirtesten Klugheit; vom Stumpfsinn, der nur den rein thierischen
Leidenschaften zu fröhnen im Stande ist, bis zur höchsten Ausbildung künstlerischen
und aesthetischen Sinnes; von dem Mangel jedes höheren Strebens bis zu den
phantastischen Ausartungen einer Begeisterung für nebelhafte allgemein
„menschheitliche“ Ideale. Durch all diese Mannichfaltigkeit aber der physischen,
moralischen und intellektuellen Typen hindurch läßt sich auf dem tiefsten seelischen
Grunde der Angehörigen jeder sozialen Gruppe ein gewisser Fond gleichartiger Züge
356
entdecken. Dieser Fond rührt daher, daß jede soziale Gruppe theils
durch ihre wirthschaftliche Lage, theils durch ihre Stellung im Staate, durch ihre
Vergangenheit und durch ihr Verhältniß zu anderen Gruppen eine bestimmte
Geistesrichtung, eine ihr eigenthümliche Weltanschauung, eine eigengeartete
Bewerthung materieller und moralischer Güter, fast eine besondere Gesittung erlangt,
die sie ihren Angehörigen durch häusliche und soziale Erziehung unausrottbar
einpflanzt, - so unausrottbar, daß das Individuum, auch wenn es sich eigenwillig von
diesem geistigen Nährboden losreißt und gegen seine Gruppe sich wendet, in seiner
willkürlich eingenommenen oppositionellen Stellung seinen ursprünglichen geistigen
Habitus durch gewaltsame Hervorkehrung des Gegensatzes verräth. Ein bekanntes
Beispiel dafür ist die übertriebene Frömmelei Neubekehrter. Dieser Fond von
Gleichartigkeit der Angehörigen einer Gruppe besteht nicht aus Zügen des Charakters,
der überall die selbe Mannichfaltigkeit zeigt; auch nicht aus Aehnlichkeiten
intellektueller Dualität und Beschaffenheit, sondern er enthält Züge, die aus dem
Verhalten und der Reaaktion der Gruppe zu dem Verahlten und den Aktionen der anderen
Gruppen ihr gegenüber, mit einem Worte der Umwelt, entstehen. Daher äußert sich
diese Gleichartigkeit speziell in der gleichen Abneigung gegen gewisse Ideen und
Anschauungen, in einem gleichen Verhalten gegen gewisse Ideale und in einem gleichen
Streben nach gewissen gemeinsamen Zielen.
Gewiß, der Gedanke an eine solche Gleichartigkeit der
Angehörigen jeder sozialen Gruppe wird nie populär, vielmehr allseits abgelehnt
werden, weil es eben dem Individuum als solchem widerstrebt, sich nicht als ganze
Individualität zu fühlen. Es leigt einfachetwas Unheimliches in einem solchen
Gedanken, weil er der „freien“ Individualität nicht nur eine Abhängigkeit von außen
– Das würde sie noch ertragen -, sondern für eine gewisse Sphäre ihres seelischen
Lebens eine Gleichartigkeit und Aehnlichkeit mit „allerhand Gesindel“ der selben
Gruppe imputirt, wogegen jedes individuelle „Bewußtsein“ sich gewaltsam sträubt. Das
hilft aber nicht; es mag ja unangenehm sein, nicht „selbst“ zu sein; leider ist aes
aber eine sozialpsychische Thatsache, daß Niemand ganz „er selbst“ ist.
Ein Umstand, der uns ferner über jenes intimste Verhältniß
des Individuums zu siener Gruppe hinwegtäuscht, ist, daß aus den verschiedensten
Gruppen bei der durch alle hin verstreuten Mannichfaltigkeit individueller
Veranlagungen, sowohl des Intellektes wie des Charakters, des Gefühles und Gemüthes,
von Zeit zu Zeit ganz ähnliche Gestalten auftauchen. Weil aus den mannichfachsten
Gruppen, bald hoch, bald niedrig gelegen, ein glänzendes Dichtertalent auftauscht,
ein genialer Künstler, der mit einem ähnlichen Genie aus einer ganz anderen Gruppe
auffallende Aehnlichkeit hat; weil uns bald aus den einen, bald aus den anderen,
ihrem Wesen und ihrer Stellung nach grundverschiedenen Gruppen Individuen von
gleichem Übel der Gesinnung oder gleicher Schlechtigkeit entgegentreten, - deshalb
sind wir nur zu geneigt, die gesammte geistige und moralische Bethätigung eines
Menschen ausschließlich dem Zufalle der Individualität zuzuschreiben und dem
bekannten Grundsatze zu huldigen: es gäbe in allen Schichten der Gesellschaft Kluge
und Dumme, gute Menschen und Schurken. Dieser Grundsatz ist nun allerdings ganz
richtig. Nur Eines wird dabei übersehen: daß auf dem tiefsten Untergrunde jeder
Individualität, tief unter aller Bethätigung des Intellektes und des Gefühles, es
eine Schicht seelischen Lebens giebt, wo, tief verborgen, all die sozialen
Wurzelfasern liegen, die das Individuum mit seiner Gruppe verbinden, und daß, wenn
auch dieser tiefste seelische Untergrund die Aeußerungen des Intellektes und auch
des Gefühles in ihren zahlreichen allgemein menschlichen Bethätigungen nicht
berühren mag, in ihm doch die eigentlichen Quellen all unseres sozialen Handelns
liegen. Daher kommt es auch, daß, so lange nicht dieses soziale Handeln in Frage
kommt, jene tiefunterste Seelenschicht, da ihre Quellen eben nicht sprudeln und
nicht ans Tageslicht kommen, ganz unbeachtet bleibt. Kommt aber einmal soziales
Handeln in Frage, dann brechen jene Quellen plötzlich hervor, dann sprudeln sie in
die Öhhe, überfluthen den „Willen“ des Individuums und reißen seine Handlungen mit
sich fort. Selbstverständlich sind jene Quellen ruhend oder thätig, je nachdem das
Individuum am sozialen Leben gar nicht, weniger oder mehr theilnimmt. Beim
Komponisten, dessen ganzes Leben in behaglicher Ruhe der Komposition von
Musikstücken gewidmet ist, können diese Quellen sein ganzes Leben lang ruhen; beim
Berufsmenschen, der seinem Berufe nachgezwungen ist, am sozialen Leben regen Antheil
zu nehmen, sprudeln sie häufiger; beim Mann des öffentlichen Lebens, beim Politiker,
beim Staatsmann sind sie unaufhörlich thätig.
Die aus diesen Quellen herrührenden Strömungen sind es,
die, bewußt oder unbewußt, alle soziale Thätigkeit – das Wort in weitesten Sinne
genommen – beeinflussen, d. h. jene Thätigkeit, die die Selbsterhaltung der Gruppe,
die Mehrung ihrer Macht, Begründung und Kräftigung ihrer Herrschaft aber doch ihrer
sozialen Stellung in Staat und Gesellschaft zum Zwecke hat. Diese stete, wenn auch
minder sichtbare Abhängigkeit des Individuums von den Macht- und Lebensinteressen
seiner Gruppe ist ein von der Wissenschaft im Allgemeinen und von der
Geschichtschreibung insbesondere arg vernachlässigtes Moment. Die Geschichtschreiber
gehen meistens sogar sorgsam und aus guten Gründen jeder Betrachtung dieser
Abhängigkeit ihrer Helden von ihren betreffenden Gruppen aus dem Wege, weil eine
solche Betrachtung dem Heroenkultus nicht zuträglich ist, der es vielmehr erfordert,
daß alle Thaten und Handlungen der historischen Größen nicht
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nur ihrem
ureigenen Ich entströmen, sondern auch ihre Zeit, ihr Volk, ihren Staat und
womöglich alle seine Gruppen beeinflussen, mit sich reißen, umgestalten, reformiren
und vorwärts bringen. Dieser Hauptzweck aller Historiker: die Größe ihrer Helden zu
beweisen, verträgt nun durchaus keine Betrachtung, aus welchen nothwendigen,
unvermeidlichen materiellen Gruppeninteressen ihre Handlungen flossen. Dagegen ist
die Hoffnung berechtigt, daß die Soziologie und die soziologische Methode der
Geschichte und Politik im zwanzigsten Jahrhundert die Versäumnisse einholen und die
Sünden gut machen werden, die sich ein zügelloser Individualismus seit der
französischen Revolution in der Gesetzgebung und im öffentlichen Leben wie auch in
der Darstellung der Staatengeschichte und der Staatswissenschaft zu Schulden kommen
ließ
[2]
.
Allerdings wird es in erster Linie Sache einer
systematischen Soziologie sein, alle die vielfach sich kreuzenden Gruppen, aus denen
der heutige Staat besteht, nach der Wirkungstärke, die sie auf ihre Angehörigen
üben, zu untersuchen und zu klassifiziren; sie wird uns den Einzelnen als Mitglied
der verschiedensten Gruppen darstellen und uns zeigen, welches Handeln auf welchem
Gebiete von bald schwächeren, bald stärkeren Einflüssen der einen oder der anderen
Gruppe beherrscht wird. Ihre Aufgabe wird es zunächst sein, den Bestand an
vorhandenen sozialen Gruppen zu inventarisiren, nach Art der Systeme der
deskriptiven Botanik oder Zoologie zunächst diese Gruppen zu beschreiben und die
verschiedenen materiellen, geistigen, politischen oder humanitären Interessen um die
sie sich krystallisiren, nachzuweisen, die Verschiedenheit des Stärkegrade zu
untersuchen, mit denen jede dieser Gruppen ihre Angehörigen bestimmen und
beeinflussen u. s. w. Daß eine solche Darstellung der Faktoren und Triebfedern des
öffentlichen Lebens, der sozialen Gruppen und des Staates möglich ist und daß sie
uns tiefe Blicke thun läßt in das Getriebe der Politik, Das hat Gustav
Ratzenhofer in seinem klassichen Werke über „Politik“ bewiesen.
[3]
359
In jedem absoluten Staat – und deren giebt es
in Europa jedenfalls mehr, als es die
Labands und
Hänels anzunehmen scheinen – in jedem absoluten Staat ist wohl die wichtigste
und hervorragendste soziale Gruppe die sogenannte Kamarilla, d. h. jene Leute, die
„das Ohr des Monarchen besitzen“, deren Meinungen er vernimmt, deren Ansichten,
Wünsche, Strebungen, Sympathien und Antipathien die geistige Atmosphäre bilden, die
der Monarch athmet. Ich nenne sie die wichtigste und hervorragendste Gruppe,
allerdings
sub speciea aeternitatis, sondern weil sie die
Tagespolitik der Staaten unmittelbar beeinflußt. In absoluten Staaten nun wurzelt in
dieser Gruppe die Individualität des Monarchen; sein Thun und Lassen, seine
Entschlüsse und Handlungen werden, ihm unbewußt, von den Strömungen beherrscht, die
innerhalb dieser Gruppe sich geltend machen. Wie verschieden die intellektuellen
Kräfte, die Charakteranlagen, die moralischen Eigenschaften des Monarchen sein
mögen: sein soziales Handeln, d. h. jenes, das auf die Aktionen seiner Umwelt,
zunächst also des Volkes und dessen verschiedener Bestandtheile, reagirt, wird von
den Strebungen seiner Gruppe bestimmt. Dafür liefert uns die Geschichte unzählige
Beispiele. Allerdings: aus Zeiten, aus denen uns nur die nackten „Thaten der
Herrscher“ überliefert wurden, können wir den Nachweis, wie diese Thaten nur der
Ausfluß und der Wiederhall der Stimmungen und Strebungen ihrer Gruppen waren, nicht
erbringen. Desto leichter aber aus späteren Zeiten, aus denen uns reichliches
Material von Nachrichten und Aufzeichnungen der Diplomaten in Memoiren und
Biographien zur Verfügung stehen, und gar aus neuesten Zeiten, wo uns
Zeitungsberichte jede, auch die kleinste Coulissengeschichte nicht vorenthalten. Ist
es z. B. aus solchen Nachrichten nicht deutlich erwiesen, daß Louis
Napoleon, trotzdem er sich immer auf den Mann der selbständigen
Initiative hinausspielte (Idées Napoléoniennes, Neujahrsreden u. s. w.), gerade in
dem wichtigsten und verhängnißvollsten Schritte seines Lebens, in der
Kriegserklärung an Deutschland, nur der Spielball seiner Kamarilla war? Und mehr
oder weniger ist Das das Schicksal aller absoluten Herrscher. Sie gebieten über
Staaten, aber ihre Gruppe gebietet über sie; sie glauben nach eigenem Entshclusse zu
handeln und ahnen nicht, daß diese Entschlüsse ihnen von ihrer Gruppe suggerirt
werden. Es ist daher ein ganz rihtiger soziologischer Grundsatz, wenn in
parlamentarisch regirten Staaten alle staatlichen Akte des Herrschers von der
Zustimmung eines verantwortlichen Ministeriums, das aus der Majorität des
Parlamentes hervorgeht, abhängig gemacht werden. denn bei dieser Einrichtung weiß
man wenigstens, wer die Entschlüsse des Herrschers beeinflußt; es ist ein Kreis von
Männern, die, aus dem Parlament hervorgehend, wenigstens die Gewähr leisten, daß sie
die Interessen der Parlamentsmajorität und ihrer
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Wähler nicht
gefährden werden. Beim absoluten Herrscher ist auch diese Gewähr nicht vorhanden und
es können unter Umständen seine staatlichen Handlungen von einer Rotte von
Schmeichlern bestimmt werden, die nicht würdig sind, den Namen Menschen zu tragen, -
wie Dies bekanntlich bei den römischen Caesaren, unter den Bourbonen in Frankreich
und auch noch anderswo zu allen Zeiten so häufig der Fall war.
Fragt man nun, in welcher Richtung sich die Handlungen
solcher Monarchen bewegen, so ergiebt sich die Antwort von selbst aus der
Betrachtung des Interesses der ihnen nächsten Gruppen. Denn dieses besteht offenbar
nicht in dem „Wohl des Volkes“, in der „Uebung des Rechtes“, in der „Pflege
moralischer Güter“ und wie diese Phrasen oft lauteten, sondern einfach in dem
Wohlergehen der Gruppe. Aus diesem einzigen Punkte lassen sich daher die Handlungen
und Staatsaktionen absoluter Monarchen begreifen und auch vorausberechnen.
Wenn ich zur Begründung der These von der Abhängigkeit der
Individuen von ihren Gruppen gerade dieses Beispiel, die Abhängigkeit des Thuns und
Lassens absoluter Monarchen von ihrer Kamarilla, wähle, so that ich es, weil ich
dabei auf offenkundige Thatsachen hinweisen kann, die Jedem bekannt sind Was aber
von Monarchen gilt, Das gilt selbstverständlich von allen anderen Menschen auch; es
giebt Keinen, der außerhalb irgend einer Gruppe Stände, und Keinen, der von den
Interessen einer solchen bewußt oder unbewußt sich nicht bestimmen ließe. Da sich
aber die Handlungen der Einzelnen zu Aktionen dieser Gruppe summiren: so kommt es,
daß man es im öffentlichen Leben und in der Geschichte eigentlich immer nur mit
solchen Gruppenaktionen zu thun hat und eine wissenschaftliche Betrachtung der
staatlichen Entwickelung blos auf diese Aktionen zu reflektiren braucht, - was dann
zu einer wissenschaftlichen Erforschung der Gesetze sozialer Entwickelung vollkommen
hinreicht. Denn eben so wie wir aus den Interessen der Kamarilla die Handlungen
absoluter Monarchen begreifen können, können wir aus der Erkenntniß der Interessen
der mannichfaltigen sozialen Gruppen im Staate die Handlungen ihrer Angehörigen
verstehen. Auf diese Grundlage nun, auf das Studium der Gruppen und ihrer
natürlichen Interessen gestellt, erlangt die Soziologie den höchstmöglichen
Charakter wissenschaftlicher Kraftheit und kann zur Aufstellung der Gesetze sozialer
Entwickelung gelangen.
* * *
Steht es aber einmal fest, daß wir es in allen
Geschehnissen der sozialen Welt nur scheinbar mit individuellen Handlungen, in der
That aber mit Ereignissen zu thun haben, die durch die ewigen, gesetzmäßigen
Strebungen
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und Bewegungen der Gruppen und Gruppenverbindungen, durch
ihr gegenseitiges Stoßen und Drängen, durch ihre ewigen Kämpfe und Rivalitäten
hervorgerufen werden: dann sind wir ja dem Ziele, dem
Quetelet erfolglos
zustrebte, bedeutend näher gekommen. Denn wenn wir in dem scheinbaren Chaos der
sozialen Bewegungen diese Einheiten ins Auge fassen: die Gruppen, so haben wir die
festen Punkte gewonnen, von denen aus eine „Physik der Gesellschaft“ oder, wie wir
es heute nennen, eine Soziologie als Wissenschaft sich aufbauen läßt. Denn die
Bewegungen der Gruppe, die immer und ewig, unbeirrt und unentwegt, die Bahn ihres
Selbsterhaltungsinteresses verflgt, die lassen sich genau berechnen; auch ihr
Verhalten, wenn ihre Bahn diejenige einer anderen kreuzt und es zu einem
Zusammenstoße kommt, läßt sich leicht voraussehen. Denn man braucht nur Volumen und
Schwere, Kohäsion und Struktur der beiderseitigen Gruppen in Rechnung zu stellen,
und das Resultat des Zusammenstoßes kann nicht zweifelhaft sein. Es kann nämlich je
nach Beschaffenheit dieser Qualitäten der Gruppen die eine in ihrem Anprall die
andere ganz zerschmettern, so daß diese spurlos im unendlichen Raume der sozialen
Welt auseinanderstiebt; oder die beiden sich begegnenden Gruppen können, wenn sie
eine gewisse Wahlverwandtschaft besitzen und an Volumen nicht zu ungleich sind, an
einander haften bleiben und vereint eine gemeinsame Bahn fortsetzen; oder können
Bruchstücke und Theile der einen an der anderen haften bleiben, in diese aufgehen,
während ihre Hauptmasse, in Atome aufgelöst, sich verliert u. s. w. Aber alle diese
Ereignisse gehen gesetzmäßig vor sich nach Maßgabe der gegebenen bestimmbaren
Faktoren: nach Volumen, Schwere, Beschafenheit, Kohäsion, Struktur und ähnlichen
Eigenschaften der einzelnen Gruppen. Sieht man daher von dem Verhalten der
Individuen-Atome, aus denen die Gruppen bestehen, ganz ab – einem Verhalten, das,
als von den Bewegungen der Gruppen abhängig, nur untergeordnete Bedeutung sekundärer
Erscheinungen hat –, so lassen sich die Bewegungen der Gruppen selbst als primäre
Erscheinungen zum Gegenstande einer selbständigen Wissenschaft, der Soziologie,
machen, die wir daher als die Lehre von den sozialen Gruppen, ihrem gegenseitigen
Verhalten und ihren dadurch bedingten Schicksalen aufzufassen haben.
Damit soll keineswegs die Berechtigung derjenigen
Wissenschaften bestritten werden, die sich das Individuum-Atom nach all seinen
Aeußerungen, also auch nach seinen physischen, intellektuellen und moralischen, zum
Gegenstand nehmen. Aber diese Individual-Psychologien, Moralwissenschaften und wie
sie sich sonst nennen mögen, schweben stets in der Luft, tappen im Leeren herum und
erzeugen Mahngebilde, so lange sie die eigentliche Quelle der Individualität nicht
anerkennen: die Gruppe. Der Irrthum, im Individuum das Primäre zu sehen, hat bisher
alle moralphilosophische Forschung
362
mit dem Fluche der Unfruchtbarkeit
beladen; dieses Irrthums Folge ist es, daß es aller Philosophie bisher nicht
gelungen ist, das Räthsel des sozialen Lebens zu lösen. Ins „Ich“ vertieften sie
sich, um aus ihm heraus die geistige Welt, die soziale Welt zu begreifen; Das war
der verkehrte Weg. Gewiß, hätten sie einen schärferen Blick, sie hätten in dem „Ich“
die zarten Fäden erspäht, die zu seinem Mutterboden leiten; sie übersahen sie, weil
sie all ihre Sehkraft in der entgegengesetzten Richtung anstrengten und vom „Ich“
zur Gesellschaft gelangen wollten, - was ihnen nicht gelingen konnte.
Wie sehr unser ganzes philosophisches Denken in dieser
falschen individualistischen Richtung, in dem Bestreben, aus dem Individuum, aus dem
subjektiven Geiste heraus die Welt zu erklären, befangen war, dafür ist ja
charakteristisch die „epochemachende“ philosophische „That“
Kants, der es
glücklich zu Stande brachte, sogar Raum und Zeit als pure Eigenthümlichkeiten
unseres Denkens zu erklären. Ein ganzes Jahrhundert, Generationen von Denkern
zollten ihre Bewunderung dieser genialen Entdeckung. „Es giebt weder Raum noch
Zeit“, hieß es, „nur dieser Nervenknäuel unter unserer Schädeldecke hat das Alles
geschaffen“. Wenn dieses Ich so allmächtig war, daß es Raum und Zeit schuf, - was
Wunder, wenn eine einfache Multiplizirung dieses Ich die soziale Welt hervorbringen
mußte, die man Gesellschaft oder Menschheit nannte; und warum sollte aus diesem
individuellen Keime der Gesellschaft und Menschheit diese selbst nicht am Besten
erklärt und begriffen werden können? So trieb mans lustig: die Früchte waren aber
auch danach.
Trotz aller „epochemachenden“ philosophischen Thaten stehen
wir dem Räthsel des sozialen Lebens rathlos gegenüber, weil wir es vom Individuum
aus nimmer begreifen werden. Also weg mit ihm: seine Quelle, seinen Mutterboden, die
soziale Gruppe müssen wir ins Auge fassen. Von da aus führt der Weg zur Erkenntniß
der sozialen Welt. Uebrigens -: gesetzt, es gelte nur einen Versuch. Schlimmer als
der weiland spekulativen Philosophie kann es uns nicht ergehen. Allerdings, ein
Unterschied kann sich leicht herausstellen. Die spekulative Philosophie ist stets
hübsch brav und loyal geblieben, sie pries Das, was da „ist“, als „vernünftig“, und
was die hohe Obrigkeit als „übersinnlich“ den Menschen zu „glauben“ befahl, Das
erklärte die Philosophie als mit ihren Mitteln „nicht widerlegbar“, um sich so Ruhe
zu verschaffen. Wird die Soziologie auch immer so fromm und brav bleiben können?
Nun, Das wird sich ja zeigen.