Die „Spectators“ im internationalen Kontext

Das Phänomen der „Spectators“ oder Moralischen Wochenschriften bildet einen Teil des europäischen Kulturbestandes der Aufklärung. Die journalistische Gattung, die in England zu Beginn des 18. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm, erlebte nicht nur auf den Britischen Inseln, sondern auch in den übrigen europäischen Ländern eine Hochkonjunktur. Mehrere hundert Journale sind im Laufe des Jahrhunderts in Europa erschienen. Der Grund für die erfolgreiche Entwicklung lag sicherlich in der innovativen Anlage der Schriften, die als Periodika in mehr oder minder regelmäßigen Abständen erschienen und zu einem repräsentativen Gradmesser für die sozialen und kulturellen Veränderungen der Gesellschaften wurden. Wie die Bezeichnung „Moralische Wochenschriften“ bereits erkennen lässt, handelte es sich in der Regel um journalistisch-essayistische Texte mit moralischen Fragestellungen, deren zentrales Konzept die Tugend war: Wie sollte man sich in den sich rasch verändernden Gesellschaften verhalten? Nach welchen Parametern wurde man in seinem Tun beurteilt? Welche Funktionen übernahmen die Zeitgenossen im neuen öffentlichen Raum, in Kaffeehäusern, Pubs und Salons? Warum wurden die Zeitschriften zum idealtypischen Trägermedium der sich rasch verändernden Konversationskultur?

Die Besonderheit der Schriften liegt nun darin, dass sie sich auf einen fiktionalisierten Autor oder Herausgeber stützten, der sich in seinen Texten auf ein mehr oder minder erfundenes Netz von Leserbriefen bezog und so die Botschaften der Tugend in einen komplexen, spielerischen Zusammenhang stellte. Diese vielschichtige Unterhaltungsatmosphäre, zu deren Entstehung zahlreiche Stimmen beitrugen, brachte ihrerseits eine Öffentlichkeit mit veränderten moralischen Ansprüchen hervor. Die häufig literarisch gefärbten Texte beziehen sich auf soziale Systeme wie Religion, Wirtschaft, Politik, Kunst und Literatur und geben Aufschluss über die Veränderungen des sozialen Diskurses wie auch des Verhaltens der Menschen in der Öffentlichkeit. Die literarische Komponente lässt sich gerade in diesem Potential der Fiktionalisierung am besten festmachen.

Die vorliegende Datenbank bietet daher eine erste systematisch aufbereitete Darstellung und Analyse der bislang erschlossenen Texte. In einem ersten Schritt wird der Zugang zu einem Teil der Wochenschriften aus dem romanischen Kontext ermöglicht, insbesondere zu den bedeutendsten spanischen, italienischen und französischen Texten. Weitere Schriften sind in Bearbeitung. Ziel ist es, in den nächsten Jahren die Gesamtheit der Texte zu erfassen und einer strukturellen Analyse zu unterziehen. Der Leser wird daher nicht nur die Schriften in elektronischer Version finden, sondern wird sich vor allem auch ein Bild von deren thematischer und formaler Dimensionierung machen können. So erfährt er durch die übersichtliche Aufbereitung der Texte, welche Inhalte und Themen darin enthalten sind und nach welchen formalen oder narrativen Prinzipien die Autoren bzw. Herausgeber verfahren. Es gilt zu zeigen, ob es sich um die Darstellung von Geschlechterrollen, um Mode, Ehe, um Erziehung und Bildung, um Verhaltensregeln im politischen oder im wirtschaftlichen Leben u. ä. handelt. In formaler Hinsicht werden die Texte auf Darstellungsformen wie Brief, Fabel, Exemplum, Traum oder etwa nach ihrem metapoetischen Rahmen untersucht. Dabei soll verdeutlicht werden, dass die Texte nach dem Muster ineinander verschachtelter Diskursformen organisiert sind, das an die Konstruktion der idealtypisch italienischen Rahmennovelle oder – bildhafter ausgedrückt – an das Prinzip russischer Puppen erinnert.

Klaus-Dieter Ertler, Alexandra Fuchs, Michaela Fischer, Elisabeth Hobisch, Martina Scholger, Yvonne Völkl

Februar 2011