Textkritik Ursula Gärtner Ursula Gärtner Herausgeberin Sarah Lang Encoding Grazer Repositorium antiker Fabeln (GRaF) Zentrum für Informationsmodellierung, Karl-Franzens-Universität Graz Graz Austria 2020

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Grazer Repositorium antiker Fabeln (GRaF) Projektleitung Ursula Gärtner Born Digital-Online-Publikation, zur wissenschaftlichen Anreicherung des Fabel-Webportals.

Das Sparkling-Science-Projekt 'Grazer Repositorium antiker Fabeln' setzt sich zum Ziel, in direkter Einbindung von Partnerschulen, ein wissenschaftlich fundiertes und fachdidaktisch aufbereitetes Textportal zu antiken Fabeln zur Verfügung zu stellen.

Graz, Austria German
1. Einleitung

Liest man heute die Texte antiker Autoren z.B. in einer Schulausgabe, muss man sich bewusst sein, dass der genaue Wortlaut nicht unbedingt dem entspricht, den der antike Autor einst verfasste. Grund dafür ist die Jahrhunderte lange Überlieferung der Texte. Das Originalmanuskript ist i.d.R. verloren. Die Texte wurden in Antike und Mittelalter immer wieder per Hand abgeschrieben; hierdurch gerieten Fehler in den Text – von kleineren Abschreibfehlern bis hin zu inhaltlichen Veränderungen –, die die Aussage des Textes z.T. verändern können. Schon ein Buchstabe kann den Sinn verschieben, wenn etwa in einem philosophischen Text bei der Frage, was den Menschen lenkt, voluptas statt voluntas gelesen wird: Es ist ein großer Unterschied, ob es die Lust oder der Wille ist. Ist eine Stelle in einem Text in verschiedenen Handschriften unterschiedlich überliefert, spricht man von Lesarten bzw. Varianten.

Wissenschaftliche Ausgaben geben daher zu allen Stellen die unterschiedlich überlieferten Lesarten bzw. Varianten an, damit man selbst entscheiden kann, wie der Originaltext wohl gelautet haben könnte. Die Beschäftigung mit der Erstellung eines möglichen Originalwortlauts nennt man Textkritik. Vgl. Mass 1960; Weißenberger 1998.

2. Überlieferung
2.1. Allgemein

Beschreibstoff war in der Antike i.d.R. Papyrus. Dieser wurde aus den Stängeln der Papyruspflanze gewonnen. Aus ihm wurden Buchrollen gefertigt (ca. 25–30 cm breit, bis zu 8 m lang). In diesen Rollen schrieb man in einzelnen Spalten (Kolumnen) parallel zum Längsrand. Meist wurden die Texte ohne Worttrennung geschrieben (scriptura continua). Solche Papyri sind heute fast nur in Fragmenten erhalten. Bücher waren sehr teuer. Leisten konnten sie sich nur reiche Angehörige der Oberschicht für ihre Privatbibliotheken. Gesammelt wurden sie in Rom ab dem 1. Jh. v.Chr. auch in öffentlichen Bibliotheken. Spätestens seit dem 1. Jh. v.Chr. gab es in Rom ein gut entwickeltes Verlags- und Buchwesen. Verleger ließen die Bücher von professionellen Abschreibern kopieren. Buchhändler sorgten für den Verkauf. Der Preis hing von Material und Ausstattung, aber auch von der Sorgfalt der Abschrift ab.

Etwa ab dem 4. Jh. n.Chr. setzte sich Pergament als Beschreibstoff durch, aus dem man Bücher in der Form, wie wir sie heute kennen, erstellte (codex). Vorteil war, dass man die Blätter beidseitig beschriften und im Buch hin- und herblättern konnte. Diese Umstellung brachte es mit sich, dass man eine Auswahl der antiken Texte traf, welche auf den neuen Stoff umgeschrieben werden sollten. Werke, die damals nicht kopiert wurden, sind daher heute, abgesehen von möglichen Papyrus-Fragmenten, zumeist verloren. Zentrum für das Abschreiben von antiken Texten wurden im Mittelalter die Klöster mit ihren Bibliotheken.

Mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jh. und dem neuen wissenschaftlichen Interesse an den antiken Texten seit dem Humanismus entstanden auch die ersten Ausgaben und Kommentare, die sich mit textkritischen Fragen beschäftigten.

2.2. Phaedrus

Die Phaedrusfabeln sind ausgesprochen schlecht überliefert. Auf folgende Quellen kann man zurückgreifen: Vgl. Gärtner 2017.

Codex Pithoeanus (=P): Der Codex stammt aus dem 9. Jh., war lange in Privatbesitz und ist nun wieder in der Pierpont Morgan Library zugänglich.

Codex Remensis (=R): Der Codex stammt ebenfalls aus dem 9. Jh. und ist mit P verwandt. Leider verbrannte er 1774, doch war er zuvor von Herausgebern eingesehen worden, die Lesarten bezeugten.

Ri: Zeugnis des Nicolaus Rigaltius (1577-1654) Ro: Zeugnis des Dionysius Roche (1665) zu 4,14; 4,17; 4,20; 5,3 Gu: Zeugnis des Marquardus Gudius (um 1665) Vi: Zeugnis des Iacob Claudius Vincentius (18. Jh.)

Scheda Danielis (=D): Die Handschrift stammt auch aus dem 9. Jh., ist aber wohl von P und R unabhängig und beinhaltet nur die Fabeln 1,11–13 und 17–21.

Appendix Perrotina: Der Humanist Niccolò Perotti erstellte in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s eine Sammlung, die 158 Fabeln umfasste; hierin lassen sich 64 Phaedrusfabeln finden, von denen 32 aus den Büchern 2–5 bekannt, 32 jedoch unbekannt waren. Da sie sich den Büchern nicht mehr zuordnen lassen, werden sie in den modernen Ausgaben als Appendix angehängt.

Originalhandschrift (=N): Die Handschrift ist heute kaum mehr zu entziffern.

Codex Vaticanus (=V): Die Handschrift aus dem 15. Jh. enthält nur die Seiten 100–147 der Perotti-Sammlung.

J. Ph. D’Orville (=Dorv.): J. Ph. D’Orville erstellte im Jahr 1727 eine Abschrift von N.

Der jüngste Fund einer Humanistenhandschrift (=Vat. lat. 5190) mit 23 Phaedrusfabeln brachte leider keine neuen Fabeln an Licht, bietet aber abweichende Lesarten. Vgl. Mordeglia 2014; Zago 2015.

Die Erstausgabe der Phaedrusfabeln erfolgte durch Petri Pithou im Jahr 1596.

Umstritten ist bisweilen das Verhältnis der Handschriften untereinander und besonders die Frage, welche Bedeutung den Prosafassungen wie Romulus >und dem sogenannten Ademar zukommt, einer Fabelsammlung, die nach dem Presbyter Ademar von Chabannais, der die Sammlung um 1025 schrieb (=Cod. Vossianus lat. 8° 15 Leiden), benannt ist und in der sich 30 Fabeln als Prosaauflösungen der Phaedrustexte zu erkennen geben.

3. Vorgehensweise

Idealfall der Textkritik ist es, aus den unterschiedlichen Überlieferungen den ursprünglichen Wortlaut des Textes wieder herzustellen (constitutio textus). Folgende Schritte sind hierbei nötig:

3.1. Sammlung der vorhandenen Textzeugen (recensio)

Hierzu müssen sämtliche Handschriften gesichtet werden (Hauptüberlieferung); aber auch Zitate bei anderen antiken Autoren u.Ä. können wichtig sein (Nebenüberlieferung). Häufig lässt sich durch Fehler (errores significativi), die verschiedene Handschriften gemeinsam haben (errores coniunctivi) oder nicht (errores separativi), ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Handschriften erstellen, das man wie eine Art Stammbaum (stemma) abbilden kann. Haben z.B. zwei Handschriften den gleichen Fehler, so hat die jüngere diesen von der älteren abgeschrieben oder beide gehen auf die gleiche Quelle zurück, die diesen Fehler schon hatte. Hierdurch fällt es leichter, den Wert einer Handschrift zu bestimmen; ferner kann man feststellen, ob zwei Handschriften ‚verwandt‘ oder voneinander unabhängig sind. Ältere Handschriften müssen dabei nicht immer einen besseren Text haben, da jüngere Handschriften u.U. von einer anderen, besseren und älteren Handschrift abgeschrieben sind (recentiores non deteriores). Die Aufgabe der Sichtung übernehmen die Herausgeber textkritischer Editionen, die in einem Vorwort die Überlieferung des jeweiligen Textes beschreiben sowie eine Übersicht über die Handschriften und ihr Verhältnis zueinander geben. Zu dem Text selbst wird jeweils am unteren Seitenrand in einem ‚textkritischen Apparat‘ zu jeder Stelle, zu der es unterschiedliche Lesarten gibt, diese mitsamt den Handschriften, in denen diese zu lesen sind, angegeben. Hierbei unterscheidet man Variante und Konjektur: Variante ist eine in einer Handschrift bezeugte Lesart, Konjektur ist ein Verbesserungsvorschlag eines modernen Herausgebers, der meint, keine der überlieferten Lesarten könne die originale Fassung sein, und daher einen eigenen Vorschlag macht. Der Benutzer kann nun selbst entscheiden, welche Variante oder Konjektur er für den originalen Text hält. Dazu muss er die beiden nächsten Schritte vollziehen.

3.2. Untersuchung der Lesarten (examinatio)

Zu jeder einzelnen Stelle sollte man auf Grund der Angaben im textkritischen Apparat die folgenden drei Schritte durchführen:

3.2.1. Feststellung, welche Handschrift was bezeugt, wie viele Handschriften eine Lesart bezeugen und wie alt die Handschrift jeweils ist.

Diese Feststellung der äußeren Kriterien ist noch nicht aussagekräftig, da auch eine einzige Handschrift gegen alle anderen die richtige Lesart bieten kann und die jüngere Handschrift nicht schlechter sein muss als eine ältere (s.o.).

3.2.2. Beurteilung des Wertes der Lesart

Jede Lesart muss danach beurteilt werden, ob sie sprachlich (z.B. nach Grammatik, Lexik, Metrik) möglich ist, ob der Stil zum Autor passt und ob der Inhalt überzeugen kann. Während sprachliche Kriterien hier relativ eindeutige Ergebnisse liefern, ist bei Stil und Inhalt eine Begründung leicht subjektiv.

3.2.3. Gegenprüfung/Erstellung des denkbar besten Textes (emendatio)

Den besten Beweis für die Richtigkeit einer Lesart erhält man, wenn man die Lesarten, die man nicht für original hält, als Fehler von der originalen Lesart ableiten kann. Häufig ist die schwierigere Lesart die richtige, da man beim Abschreiben Dinge eher vereinfacht (lectio difficilior). Typische Fehler sind z.B.:

1. Verwechslung wegen (Laut-, Schriftbild-)Ähnlichkeit 2. Auslassungen (Buchstaben, Wörter, Zeilen) 3. Hinzufügungen (Buchstaben, Wörter, Zeilen, Randbemerkungen) 4. Umstellungen (Buchstaben, Wörter, Zeilen) 5. Falsche Auflösungen von Abkürzungen 6. Gedankliche Irrtümer 7. Bewusste ‚Verbesserungen‘

Einigkeit lässt sich nur schwer erzielen. Deutlich wird dadurch, wie wichtig Überlegungen zur Textgestalt auch heute noch für das Verständnis der antiken Texte sind.

Literatur: Gärtner, U.: Phaedrus 1975-2014, Lustrum 57, 2015 [=2017], 7–97; hier: 26–32 Maas, P.: Textkritik, Leipzig 41960 Mordeglia, C.: Aldo Manuzio il Giovane e un nuovo manoscritto umanistico di Fedro. Indagini preliminari, in: Lupus in fabula. Fedro e la favola latina tra antichità e medioevo. Studi offerti a Bertini, F., a cura di C. Mordeglia, Bologna 2014, 131–161 Weißenberger, M.: Vom Autograph zur modernen Edition, in: Einführung in das Studium der Latinistik, hrsg. v. P. Riemer, M. Weißenberger, B. Zimmermann, München 1998, 53–82 Zago, G.: Per la storia e la costituzione del testo delle Favole di Fedro. Un nuovo manoscritto, il Vat. lat. 5190, e un nuovo testimone indiretto, gli Hecatomythia di Lorenzo Astemio, MD 74, 2015, 53–118