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Das Sparkling-Science-Projekt 'Grazer Repositorium antiker Fabeln' setzt sich zum Ziel, in direkter Einbindung von Partnerschulen, ein wissenschaftlich fundiertes und fachdidaktisch aufbereitetes Textportal zu antiken Fabeln zur Verfügung zu stellen.
Liest man heute die Texte antiker Autoren z.B. in einer Schulausgabe, muss man sich
bewusst sein, dass der genaue Wortlaut nicht unbedingt dem entspricht, den der antike
Autor einst verfasste. Grund dafür ist die Jahrhunderte lange Überlieferung der Texte.
Das Originalmanuskript ist i.d.R. verloren. Die Texte wurden in Antike und Mittelalter
immer wieder per Hand abgeschrieben; hierdurch gerieten Fehler in den Text – von
kleineren Abschreibfehlern bis hin zu inhaltlichen Veränderungen –, die die Aussage des
Textes z.T. verändern können. Schon ein Buchstabe kann den Sinn verschieben, wenn etwa
in einem philosophischen Text bei der Frage, was den Menschen lenkt, voluptas statt voluntas gelesen wird: Es ist ein großer
Unterschied, ob es die Lust oder der Wille ist. Ist eine Stelle in einem Text in
verschiedenen Handschriften unterschiedlich überliefert, spricht man von Lesarten bzw.
Varianten.
Wissenschaftliche Ausgaben geben daher zu allen Stellen die unterschiedlich
überlieferten Lesarten bzw. Varianten an, damit man selbst entscheiden kann, wie der
Originaltext wohl gelautet haben könnte. Die Beschäftigung mit der Erstellung eines
möglichen Originalwortlauts nennt man Textkritik.
Beschreibstoff war in der Antike i.d.R. Papyrus. Dieser wurde aus den Stängeln der
Papyruspflanze gewonnen. Aus ihm wurden Buchrollen gefertigt (ca. 25–30 cm breit, bis
zu 8 m lang). In diesen Rollen schrieb man in einzelnen Spalten (Kolumnen) parallel
zum Längsrand. Meist wurden die Texte ohne Worttrennung geschrieben (scriptura continua). Solche Papyri sind heute fast nur in Fragmenten erhalten.
Bücher waren sehr teuer. Leisten konnten sie sich nur reiche Angehörige der
Oberschicht für ihre Privatbibliotheken. Gesammelt wurden sie in Rom ab dem 1. Jh.
v.Chr. auch in öffentlichen Bibliotheken. Spätestens seit dem 1. Jh. v.Chr. gab es in
Rom ein gut entwickeltes Verlags- und Buchwesen. Verleger ließen die Bücher von
professionellen Abschreibern kopieren. Buchhändler sorgten für den Verkauf. Der Preis
hing von Material und Ausstattung, aber auch von der Sorgfalt der Abschrift ab.
Etwa ab dem 4. Jh. n.Chr. setzte sich Pergament als Beschreibstoff durch, aus dem man
Bücher in der Form, wie wir sie heute kennen, erstellte (codex). Vorteil war, dass man die Blätter beidseitig beschriften und im Buch
hin- und herblättern konnte. Diese Umstellung brachte es mit sich, dass man eine
Auswahl der antiken Texte traf, welche auf den neuen Stoff umgeschrieben werden
sollten. Werke, die damals nicht kopiert wurden, sind daher heute, abgesehen von
möglichen Papyrus-Fragmenten, zumeist verloren. Zentrum für das Abschreiben von
antiken Texten wurden im Mittelalter die Klöster mit ihren Bibliotheken.
Mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jh. und dem neuen wissenschaftlichen Interesse an den antiken Texten seit dem Humanismus entstanden auch die ersten Ausgaben und Kommentare, die sich mit textkritischen Fragen beschäftigten.
Die Phaedrusfabeln sind ausgesprochen schlecht überliefert. Auf folgende Quellen kann
man zurückgreifen:
Codex Pithoeanus (=P): Der Codex stammt aus dem 9. Jh., war lange in Privatbesitz und ist nun wieder in der Pierpont Morgan Library zugänglich.
Codex Remensis (=R): Der Codex stammt ebenfalls aus dem 9. Jh. und ist mit P verwandt. Leider verbrannte er 1774, doch war er zuvor von Herausgebern eingesehen worden, die Lesarten bezeugten.
Ri: Zeugnis des Nicolaus Rigaltius (1577-1654)Ro: Zeugnis des Dionysius Roche (1665) zu 4,14; 4,17; 4,20;
5,3Gu: Zeugnis des Marquardus Gudius (um 1665)Vi: Zeugnis des Iacob Claudius Vincentius (18. Jh.)
Scheda Danielis (=D): Die Handschrift stammt auch aus dem 9. Jh., ist aber wohl von P und R unabhängig und beinhaltet nur die Fabeln 1,11–13 und 17–21.
Appendix Perrotina: Der Humanist Niccolò Perotti erstellte in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s eine Sammlung, die 158 Fabeln umfasste; hierin lassen sich 64 Phaedrusfabeln finden, von denen 32 aus den Büchern 2–5 bekannt, 32 jedoch unbekannt waren. Da sie sich den Büchern nicht mehr zuordnen lassen, werden sie in den modernen Ausgaben als Appendix angehängt.
Originalhandschrift (=N): Die Handschrift ist heute kaum mehr zu entziffern.
Codex Vaticanus (=V): Die Handschrift aus dem 15. Jh. enthält nur die Seiten 100–147 der Perotti-Sammlung.
J. Ph. D’Orville (=Dorv.): J. Ph. D’Orville erstellte im Jahr 1727 eine Abschrift von N.
Der jüngste Fund einer Humanistenhandschrift (=Vat. lat. 5190) mit 23 Phaedrusfabeln
brachte leider keine neuen Fabeln an Licht, bietet aber abweichende Lesarten.
Die Erstausgabe der Phaedrusfabeln erfolgte durch Petri Pithou im Jahr 1596.
Umstritten ist bisweilen das Verhältnis der Handschriften untereinander und besonders die Frage, welche Bedeutung den Prosafassungen wie Romulus >und dem sogenannten Ademar zukommt, einer Fabelsammlung, die nach dem Presbyter Ademar von Chabannais, der die Sammlung um 1025 schrieb (=Cod. Vossianus lat. 8° 15 Leiden), benannt ist und in der sich 30 Fabeln als Prosaauflösungen der Phaedrustexte zu erkennen geben.
Idealfall der Textkritik ist es, aus den unterschiedlichen Überlieferungen den
ursprünglichen Wortlaut des Textes wieder herzustellen (constitutio
textus). Folgende Schritte sind hierbei nötig:
Hierzu müssen sämtliche Handschriften gesichtet werden (Hauptüberlieferung); aber
auch Zitate bei anderen antiken Autoren u.Ä. können wichtig sein (Nebenüberlieferung).
Häufig lässt sich durch Fehler (errores significativi), die
verschiedene Handschriften gemeinsam haben (errores
coniunctivi) oder nicht (errores separativi), ein
Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Handschriften erstellen, das man wie eine Art
Stammbaum (stemma) abbilden kann. Haben z.B. zwei Handschriften
den gleichen Fehler, so hat die jüngere diesen von der älteren abgeschrieben oder
beide gehen auf die gleiche Quelle zurück, die diesen Fehler schon hatte. Hierdurch
fällt es leichter, den Wert einer Handschrift zu bestimmen; ferner kann man
feststellen, ob zwei Handschriften ‚verwandt‘ oder voneinander unabhängig sind. Ältere
Handschriften müssen dabei nicht immer einen besseren Text haben, da jüngere
Handschriften u.U. von einer anderen, besseren und älteren Handschrift abgeschrieben sind
(recentiores non deteriores). Die Aufgabe der Sichtung
übernehmen die Herausgeber textkritischer Editionen, die in einem Vorwort die
Überlieferung des jeweiligen Textes beschreiben sowie eine Übersicht über die
Handschriften und ihr Verhältnis zueinander geben. Zu dem Text selbst wird jeweils am
unteren Seitenrand in einem ‚textkritischen Apparat‘ zu jeder Stelle, zu der es
unterschiedliche Lesarten gibt, diese mitsamt den Handschriften, in denen diese zu lesen sind,
angegeben. Hierbei unterscheidet man Variante und Konjektur: Variante ist eine in
einer Handschrift bezeugte Lesart, Konjektur ist ein Verbesserungsvorschlag eines
modernen Herausgebers, der meint, keine der überlieferten Lesarten könne die originale
Fassung sein, und daher einen eigenen Vorschlag macht. Der Benutzer kann nun selbst
entscheiden, welche Variante oder Konjektur er für den originalen Text hält. Dazu muss
er die beiden nächsten Schritte vollziehen.
Zu jeder einzelnen Stelle sollte man auf Grund der Angaben im textkritischen Apparat die folgenden drei Schritte durchführen:
Diese Feststellung der äußeren Kriterien ist noch nicht aussagekräftig, da auch eine einzige Handschrift gegen alle anderen die richtige Lesart bieten kann und die jüngere Handschrift nicht schlechter sein muss als eine ältere (s.o.).
Jede Lesart muss danach beurteilt werden, ob sie sprachlich (z.B. nach Grammatik, Lexik, Metrik) möglich ist, ob der Stil zum Autor passt und ob der Inhalt überzeugen kann. Während sprachliche Kriterien hier relativ eindeutige Ergebnisse liefern, ist bei Stil und Inhalt eine Begründung leicht subjektiv.
Den besten Beweis für die Richtigkeit einer Lesart erhält man, wenn man die Lesarten,
die man nicht für original hält, als Fehler von der originalen Lesart ableiten kann.
Häufig ist die schwierigere Lesart die richtige, da man beim Abschreiben Dinge eher
vereinfacht (lectio difficilior). Typische Fehler sind
z.B.:
Einigkeit lässt sich nur schwer erzielen. Deutlich wird dadurch, wie wichtig Überlegungen zur Textgestalt auch heute noch für das Verständnis der antiken Texte sind.