Point of View und „Inettitudine“ in Svevos Senilità
Als ein konstitutives Phänomen moderner Romanentwicklung gilt seit
langem der Übergang von einem Erzählen, in dem der Erzähler allwissend über das
Innenleben der Figuren verfügt, zu stärker eingeschränkten und personal
perspektivierten Erzählsituationen. Wesentliche Stationen auf diesem Weg, der
etwa von Franz K. Stanzel idealtypisch beschrieben worden ist
[1]
, sind vor allem die Romane Flauberts und Henry James’. Besonders an Madame Bovary oder L’Education
sentimentale läßt sich beobachten, wie auktorial begründete
Introspektivanalysen zunehmend zurücktreten, wie die Wahrnehmung des Geschehens
stattdessen aus dem Blickwinkel einer einzigen privilegierten Figur – Emma
Bovarys oder Frédéric Moreaus – erfolgt und wie der style indirect libre, die
erlebte Rede, mehr und mehr die traditionelle Form des Gedankenberichts
verdrängt.
[2]
Was sich als Standard einer gleichsam realistischen Perspektivik bei
Flaubert durchsetzt, wird dann von Henry James zur Virtuosität des narrativen
Tour de force zugespitzt
[3]
: man denke z. B. an das immer wieder kommentierte perspektivische
Raffinement der Ambassadors oder mehr noch an das
Kunststück, die psychischen und sozialen Komplikationen der Fin-de-Siècle-Welt
wie in What Maisie knew einzig aus der limitierten
Innenperspektive eines heranwachsenden Kindes darzustellen
[4]
.
Für die von Flaubert und Henry James repräsentierte
Entwicklung zu einem gleichsam objektiven, d. h.: nicht mehr auktorialen,
Erzählen in strikt personalen Erzählsituationen wird im Bereich der Italianistik
nun häufig Italo Svevo herangezogen. So gehört es zu den Grundüberzeugungen der
Svevo-Kritik, daß schon Senilità – ein Roman, der 1898
nur wenig später als What Maisie knew erschien – auf dem
Parcours der Personalisierung des auktorialen Erzählens eine wichtige Rolle
spielt: nicht umsonst wird er in seiner Gesamtanlage ja auch gerne mit der Education sentimentale verglichen, wo Frédéric Moreaus
oft gerügte ‚Passivität‘ offenbar an Emilio Brentanis ‚inettitudine‘ erinnert
[5]
. Modern und wegweisend sei an diesem Roman, wie man meint, eben der
Verzicht auf erzählerische Allwissenheit und die Einführung eines Erzählers, der
,sich allein dem Bewußtsein seines Protagonisten widmet‘, dessen ‚Perspektive
(abgesehen vom sechsten Kapitel) nie verläßt‘ und von dem Innenleben der übrigen
Gestalten nur soviel preisgibt, wie Emilio – als ein intelligenter, aber nicht
außergewöhnlich scharfsichtiger Beobachter – erraten kann.
Diese Communis Opinio, die ich hier in der Form referiere, wie sie in
der ansonsten überaus suggestiven Interpretation von Eduardo Saccone
erscheint
[6]
, macht zunächst zwei Bemerkungen nötig. Zum einen belegt sie, daß die
Abwendung vom auktorial allwissenden Erzählen und die Ausbildung einer
personalen Erzählperspektivik tatsächlich weithin als das hauptsächliche
Konstituens der narrativen Moderne angesehen werden. Als Erkennungszeichen
modernen Erzählens par excellence ist der Point-of-View-Technik indes ein
außerordentliches Prestige zugefallen, das jeden Text, der an dieser Technik
teilhat, auszeichnen und erhöhen muß. Das Verfahren strenger perspektivischer
Konsistenz auch Svevo zuzuschreiben, dient demnach – wie ich in einer zweiten
Bemerkung hinzufügen möchte – durchaus der wohlgemeinten literaturkritischen
Erhöhung seines Werkes. Wie sich stets aufs neue herausstellt, ist
das allgemeine Kunstbewußtsein nämlich immer noch von einem geradezu
teleologischen Verständnis des ,Projekts der Moderne‘ geprägt, weshalb einem
Autor normalerweise nichts Besseres passieren kann, als wenn er gewissermaßen in
die Höhe, oder genauer gesagt: nach vorne, gelesen und in einen anerkannten
formalen Modernisierungsprozeß integriert wird
[7]
.
Doppelt verführerisch drängt die Interpretationsstrategie des
Nach-Vorne-Lesens sich natürlich dann auf, wenn der Autor im Rahmen einer
monographischen Studie betrachtet wird. Sobald er isoliert vor dem Hintergrund
dessen erscheint, was als hegemonialer Zug der jeweiligen Modernisierung gilt,
endet die Lektüre fast immer mit einer resoluten Promotion an die Spitze des
Fortschritts. Eben dieser Mechanismus, der tief in der (inzwischen selbst
traditional gewordenen) neuzeitlichen Mentalität des Progredierens verankert
ist, scheint nun auch bei der verbreiteten Anpassung Svevos an die Poetik eines
narrativen Perspektivismus à la Flaubert oder Henry James mitzuspielen.
Betrachtet man seine frühen Romane speziell unter dem Aspekt ihres
erzählerischen Point of View, ergibt sich nämlich, daß sie gerade von der
Flaubertschen Tendenz zur Personalisierung beträchtlich abweichen, und zwar in
einer Haltung, die etwas irritierend Widerspenstiges und Eigenwilliges besitzt.
Dabei muß vorausgeschickt werden, daß der Befund einer erzählerischen
Konzentration auf die Perspektive eines Protagonisten selbstverständlich nicht
allein durch das Wahrnehmungsschema der Svevo-Interpreten begründet ist. Der
Sachverhalt entspricht dem Wahrnehmungsschema ja insofern, als bei Svevo
tatsächlich eine bemerkenswerte Privilegierung der Bewußtseinsvorgänge einer
einzigen Romangestalt vorliegt, wobei dieser Sachverhalt vielleicht am
eklatantesten in Una vita sichtbar wird, da er hier im
spannungsreichen Widerspruch zu den partiell naturalistischen Intentionen des
Romans hervortritt
[8]
. Es handelt sich offenkundig um eine Affinität Svevos zur französischen Tradition des ,roman d’analyse‘
[9]
, in dessen zentralen Texten – etwa Constants Adolphe oder Fromentins Dominique – das Problem des
Point of View freilich durch die Wahl der Ich-Erzählung gelöst wurde, auf die
dann später auch Svevo in La coscienza di Zeno
rekurrieren wird. Abgesehen von dieser Affinität, die vor allem eine
Verwandtschaft im Handlungsgefüge und im psychologischen Interesse bedeutet, ist
die Personalisierung der Perspektive – was die Erzähltechnik sensu strictiori
betrifft – in Svevos frühen Romanen jedoch überraschend wenig und (zumindest auf
den ersten Blick) eher inkonsistent entwickelt.
Für den Roman Una vita braucht diese
Feststellung kaum erörtert zu werden; denn hier ist der vorherrschende Modus
erzählerischer Vermittlung eindeutig die traditionelle Introspektivanalyse sowie
der ihr entsprechende, im allgemeinen knapp resümierende Gedankenbericht. Damit
schließt Svevo nicht nur, wie häufig zu Recht betont wurde, thematisch, sondern
gleichfalls erzähltechnisch an das Vorbild von Stendhals Le
Rouge et le Noir an
[10]
. In dessen Sinn werden Handlungen und Verhaltensweisen, deren Zeugen wir
sind, jeweils prompt mit einem Motiv versehen, das im allgemeinen in der Form
eines scharf umrissenen und selten näher differenzierten Begriffs auftritt.
Dafür ein Beispiel aus dem 12. Kapitel, das Alfonso im Gespräch mit Annetta beim
Verfassen des gemeinsamen Romans zeigt
[11]
:
Improvvisamente Alfonso divenne ciarliero. Ciarlava per il
bisogno di parlare, e parlò del romanzo e della sua ammirazione per le idee di
Annetta perché d’altro non poteva. Quando si grida è indifferente quale parola
si vesta del grido, lo sfogo si trova nell’emissione di voce. Alfonso nel fiume
delle proprie parole si calmava e se tacque fu proprio per calcolo e con isforzo
al pensare che se non lasciava parlare Annetta nulla da lei avrebbe potuto
apprendere. Per ultimo e con una freddezza di calcolo che immediatamente lo
portò allo scopo, descrisse con parola animata la sua vita di ogni giorno
concludendo che di un anno intero le ore liete da lui vissute sommavano a pochi
giorni quantunque contasse fra quelle tutte le ore passate in casa Maller. (Op.om.II,255f.)
Wie intrikat die Beziehung zwischen Alfonso und Annetta im Moment
dieses Berichts auch immer sein mag, so läßt der Erzähler doch keinerlei Unsicherheit erkennen. Er weiß, daß sein Protagonist zunächst redet
„per il bisogno di parlare“ und daß sich mit dem folglich leidenschaftlichen
Reden ein „sfogo“ verbindet. Wenn Alfonso darauf schweigt, besteht erneut kein
Zweifel am Motiv: „fu proprio per calcolo“, das dann noch ein zweites Mal
herangezogen wird („Per ultimo e con una freddezza di calcolo“), um Alfonsos
neuerliche Rede zu begründen.
Derart wird Alfonsos Erleben nach Maßgabe der Begriffe, die dem
Erzähler zur Verfügung stehen, durchaus transparent, und verwunderlich wirkt
einzig die Unmittelbarkeit des Übergangs zwischen den Stimmungen des
Enthusiasmus und der kalkulierenden Kälte. Dabei wollen wir außer acht lassen,
daß – literarhistorisch gesehen – auch solche Unmittelbarkeit jäher
Stimmungsbrüche nur wenig Verwunderliches hat, da sie von Julien Sorel ja
bereits vorgelebt worden war
[12]
. Werkimmanent betrachtet, ist die Kontiguität des Gegensätzlichen indessen
erstaunlich, und offenbar benötigt das Erstaunliche die Verläßlichkeit eines
auktorialen Berichts, damit es auf knappstem Raum glaubwürdig mitgeteilt werden
kann.
So scheint in Una vita die Omnipräsenz der
Introspektivanalyse in erster Linie von der Absicht bestimmt zu sein, den
Komplikationen des Seelenlebens möglichst nah zu bleiben und sie zugleich
möglichst umstandslos zu registrieren und verständlich zu machen. Jedenfalls
tritt die prononciert traditionelle Allwissenheit des Erzählers dann am
auffälligsten hervor, wenn es darum geht, die Simultaneität gegensätzlicher
Regungen oder die Rationalisierungen eines in Illusionen befangenen Bewußtseins
aufzuzeigen. Gerade in solchen Situationen urteilt der Erzähler jeweils betont
kategorisch, beispielsweise in einem Moment, der Alfonso Nitti erneut neben
Julien Sorel rückt
[13]
:
Eppure se anche agí in quell’esaltazione morbosa che per giornate
intere lo faceva vivere in un sogno continuato, pure ebbe una freddezza di
calcolo da persona che vuole sapendolo. (Op.om.II, 293)
Oder in jener besonders schwierigen Lage, als Alfonso sich nicht
darüber klar wird, weshalb er trotz des Zorns der Familie Maller an seinem
Arbeitsplatz festzuhalten wünscht:
Era quell’odio e quel disprezzo che gli dispiacevano, non il
timore delle persecuzioni che gliene sarebbero derivate. Un’altra volta ancora
non fu sincero con se stesso e non giunse ad essere perfettamente
conscio della vera ragione per cui non abbandonava l’impiego. Non si disse che
l’unica sua speranza era di poter attenuare quell’odio e farsi stimare da chi lo
disprezzava, ma voleva convincersi che rimaneva da Maller perché ancora non
sapeva se quell’odio si sarebbe manifestato e di più se realmente sussistesse.
Forse una sua tacita rinunzia, come voleva farla, poteva bastare per
accontentare tutti. (Op.om.II,373f.)
Vor allem in dem letztzitierten Passus demonstriert der Erzähler ein
Tiefenwissen, wie es sonst nur Gott oder dem Autor des klassischen realistischen
Romans zukommt. Er hat erkannt, was die „vera ragione“ für das Verhalten des
Protagonisten ist, und auf dieser Erkenntnis des ,wahren Grundes‘ beharrt er um
so nachdrücklicher, als sie von der Romanfigur selbst nicht geteilt wird. Das
heißt: Die Allwissenheit des Autors tritt dort noch einmal kompakt hervor, wo
das Bewußtsein der Romanfigur sich in Widersprüchen und Illusionen zu verlieren
droht, die als solche nur durch die Implikation einer „vera ragione“ manifest zu
machen sind. Auktorial introspektives Erzählen und dessen spezifisches Thema,
die Negativität eines ‚falschen‘ Bewußtseins („Un’altra volta ancora non fu
sincero con se stesso e non giunse ad essere perfettamente conscio [...] Ma
voleva convincersi“), stehen demnach in einem wenn nicht zwingend notwendigen,
so doch engen Zusammenhang.
Um die Widersprüche und Illusionen eines äußerst beweglichen, aber
zugleich labilen und uneindeutigen Bewußtseins geht es bekanntlich auch in Senilità. Dabei ist wichtig zu bemerken, daß die
Einschätzung von Emilio Brentanis Perzeptionen während der gesamten Erzählung
zwischen den Polen Luzidität und Selbsttäuschung schwankt, wie ja auch noch die
moderne Svevo-Kritik abwechselnd von Emilios „chiaroveggenza“ und „autoinganno“
zu sprechen pflegt
[14]
. Zum einen prägt den Protagonisten sein extrem reflexiver Habitus, seine
„antica abitudine di ripiegarsi su se stesso e analizzarsi“, wie es einmal heißt
(Op.om.II,578); zum anderen
wird dieses „ripiegarsi su se stesso e analizzarsi“, so scharfsichtig es im
einzelnen ausfallen mag, vom Erzähler doch auch häufig korrigiert oder zumindest
relativiert, meistens indem es als Symptom eines „abito letterario“ (Op.om.II,578) oder einer „mente
di letterato ozioso“ (Op.om.II,594) verstanden und explizit abgewertet wird.
Der reflexive Habitus, die Neigung zur Literarisierung der
Wirklichkeit, das Defizit im Handeln, welches aus einem Übermaß an Analyse
erwächst, sind nun Züge, die Emilio Brentani mit Alfonso Nitti verbinden und
demnach ebenfalls dem Svevoschen Prototyp des „inetto“ zuordnen
[15]
. Es ist das eine Gestalt, die im übrigen bei aller
Eigentümlichkeit Svevo und der Triestiner Jahrhundertwende natürlich nicht
allein gehört, sondern typologisch dem Helden oder Anti-Helden des französischen
„roman d’analyse“ nahesteht, in vielem an Flauberts Frédéric Moreau erinnert und
weithin dem Bild des bindungslosen, selbstbezogenen und handlungsunfähigen
Intellektuellen entspricht, das Paul Bourgets seinerzeit vielgelesene Essais de psychologie contemporaine gezeichnet und
denunziert hatten
[16]
. In den charakteristischen Zügen der ,inettitudine‘ wird Emilio Brentani
sogar noch schärfer profiliert als Alfonso Nitti; denn ihm steht mit seinem
Freund, dem Bildhauer Stefano Balli, eine Gestalt zur Seite, die unter manchen
Gesichtspunkten überdeutlich das typologische Gegenprinzip verkörpert. Wo Emilio
gehemmt, unsicher und bedenklich vor Aktionen zurückschreckt, repräsentiert
Balli die zielstrebige Tatkraft, der es auch nicht an Intelligenz und einer
gewissen Güte mangelt
[17]
: für Emilios Schwester Amalia, die ihn verzweifelt liebt, bedeutet Balli
„la virtù e la forza“ (Op.om.II,476), und Emilio selbst fühlt sich durch Ballis ,Superiorität‘, die ihm
die eigene „inerzia“ bewußt macht, oft wie zerquetscht (Op.om.II,470).
Derart kommt es in Senilità zu einer sonst bei
Svevo nicht häufigen Figur direkter charakterologischer Opposition: was es
heißt, ein „inetto“ zu sein, wird hier expliziert durch den Kontrast mit dem
Gegentypus, der weithin als jener ,uomo superiore‘ agiert, den Emilio nur
gelegentlich (und kaum erfolgreich) zu imitieren wagt. Soweit es bei diesem
Kontrast um die Profilierung des „inetto“ und seiner speziellen Defekte geht,
würde nun erzähltechnisch naheliegen, das Oppositionsverhältnis im wesentlichen
aus der Perspektive des primär thematisierten Typus zu verfolgen, das heißt:
Emilios Wahrnehmung von Stefano Balli zu beleuchten und dagegen Ballis
Bewußtsein opak zu lassen. Je undurchdringlicher Balli für den Leser bliebe, um
so besser könnte er das Bild des ,uomo superiore‘ abgeben, an welchem der
Protagonist das ganze Ausmaß seiner „inerzia“ erfährt. Eine solche
Technik der Gegenüberstellung würde sich übrigens auch deshalb anbieten, weil
sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon zum Repertoire der literarischen
Tradition zählte: man denke etwa an die konsistent vom Protagonisten her
perspektivierte Darstellung der Flaubertschen Gegensatzpaare Emma Bovary-Homais
oder Frédéric-Deslauriers.
Eben die naheliegende Technik einer solchen Perspektivierung aus dem
Blickwinkel Emilios wird jedoch von Svevo ganz und gar nicht befolgt. Dabei ist
es nicht allein das sechste Kapitel, das aus dem Rahmen fällt, indem es Balli
für eine Weile die Protagonistenrolle überläßt. In ihr spürt der ,uomo
superiore‘ als eine Art Privatdetektiv Angiolina nach, wobei der Vielbeneidete
nun seinerseits vom Neid – ausgerechnet auf den „ombrellaio di via Barriera“ –
ergriffen wird (Op.om.II,485).
Beinahe noch krasser verstößt das fünfte Kapitel gegen die Dominanz von Emilios
Perspektive. Es handelt sich um jenes Kapitel, das die nach der „cena dei
vitelli“ eintretende Spannung im Verhältnis zwischen Emilio und Stefano sowie
die Entwicklung von Amalias Liebe schildert: was die Geschichte Amalias angeht,
markiert es gewissermaßen den Höhepunkt ihrer Lebenskurve, der nur noch im
Hochzeitstraum des nachfolgenden Kapitels („In viaggio di nozze tutto è
permesso“, Op.om.II,493) einen
kurzen Moment weiterer Steigerung erfährt.
Im Mittelpunkt des fünften Kapitels steht also die Entfaltung einer
komplexen und vielfach gebrochenen Beziehung zwischen drei Menschen, aus deren
Verstrickung die wesentlichen dramatischen Momente des Romans (Emilios Schuld
und Amalias Untergang) hervorgehen sollen. Der Zentralität des Kapitels im
Handlungsverlauf und der Komplexität der hier aufkommenden Gefühlsverwirrung
entspricht es wohl, wenn die Verhältnisse sowohl erzählt als auch sehr
prononciert erklärend besprochen werden. Dabei erfaßt die Analyse, die sich bald
der einen, bald der anderen Gestalt zuwendet, neben Emilio und Amalia
bemerkenswert eingehend auch die Empfindungen Stefano Ballis. Sobald Ballis
Reaktionen zum direkten Thema des Erzählers werden, ereignet sich indes ein
eigentümlicher Wandel in ihrem Status. Sie negieren zwar nicht das Bild
freundlicher Lebenstüchtigkeit, das Ballis typologische Funktion gegenüber
Emilios „inettitudine“ ausmacht; doch nehmen sie diesem Bild allen Glanz von
Authentizität, der ihm ursprünglich anhaftete, als es noch durch den
sentimentalischen Blick des „inetto“ und nicht vom wissenden Autor wahrgenommen
wurde.
Manifest wird der Authentizitätsverlust vor allem in der Enthüllung,
daß Ballis gütige Überlegenheit eben von den Blicken der anderen abhängig ist
und sich erst durch deren Bewunderung stimuliert in Szene setzt. So zeigt der
auktoriale Bericht, was an Selbstgefälligkeit in die Rolle des
hilfreichen Trösters eingeht („egli era venuto [...] compiacendosi di quella
parte di confortatore“, Op.om.II,473) und welchen Genuß das Gefühl der eigenen Güte nach sich zieht, aus
der die soziale Geltung eines „uomo superiore“ entspringt: „Gustava il ricordo
della propria bontà, e pensò di aver avuto torto d’evitare per tanto tempo quel
luogo ove si sentiva più che mai uomo superiore“ (S. 473; ähnlich S. 481f.:
„Intanto il Balli centellinava il caffè, sdraiato nel vecchio seggiolone, in un
grande benessere, ricordando che in quell’ora egli aveva avuta la mala abitudine
di discutere con gli artisti al caffè. Come si stava meglio là, fra quelle
persone miti che lo ammiravano e amavano!“)
Vielleicht noch frappanter wirkt die moralistisch psychologisierende
Einschränkung, welche die Entschlossenheit des Handelns an sich betrifft. Als
Emilio seinem tatkräftigen Freund den Vorwurf macht, sich bei der „cena dei
vitelli“ auf seine Kosten amüsiert und ihn damit in eine peinliche Lage gebracht
zu haben, wird die Reaktion Ballis in einer Weise vermittelt, die für Svevos
Erzählverfahren insgesamt sehr charakteristisch ist. Zunächst erfolgt ein
Bericht, bei dem die (wohl mehr) personale oder (wohl weniger) auktoriale
Perspektive nicht ganz eindeutig erscheint: „L’altro fu stupito del risentimento
manifestatosi evidentemente a lui più che per altro perché quelle parole erano
fuori di proposito, in presenza di Amalia. Se ne sorprese“ (Op.om.II, 474). Daß der Leser hier mehr zur Annahme einer personalen
Perspektive neigt, hängt damit zusammen, daß die Darstellung nach dem
zweideutigen „Se ne sorprese“ (Sachverhalt oder Attitüde?) zum strikt personalen
style indirect libre nach Art Flauberts übergeht: „Egli non aveva fatto nulla
che avesse potuto offendere Emilio; le sue intenzioni, anzi erano state tali che
avrebbbe [sic] creduto di meritare un inno di ringraziamento“ (ebda.). Das ist
offenkundig die erlebte Rede Ballis, deren Wahrheitsgehalt in der Schwebe
bleiben muß und jedenfalls vom Erzähler nicht garantiert werden kann. Um so
überraschender wirkt dann aber der unmittelbar anschließende Wechsel zu einer
auktorialen Aussage, die uns die gerade noch undeutlichen Vorgänge im Inneren
des Redenden erschließt: „Per reagire meglio all’attacco perdette subito la
coscienza del proprio torto e si sentí puro di ogni macchia“ (ebda.). Dabei ist
nicht nur der jähe und – wenn man so will – kunstwidrige Wechsel der
Vermittlungsform bezeichnend. Gleichfalls beachten sollte man den Moment, an dem
er eintritt: es ist eben jener Augenblick, in dem der Erzähler eine Art
Demystifikation vornimmt. Angesprochen wird hier nämlich, was die Voraussetzung
von Ballis kraftvollem Agieren bzw. Reagieren bildet. Um – wie es heißt –
‚besser auf den Angriff zu reagieren‘, büßt Balli plötzlich das Bewußtsein ein,
Unrecht getan zu haben: es entsteht das Paradoxon eines gewissermaßen
zielgerichteten Verlustes („per reagire [...] perdette“),das –
psychoanalytisch gesprochen – den exemplarischen Fall einer Verdrängung ergibt.
Demnach meint dieser Einschub auktorialer Enthüllung: Je entschlossener (und
erfolgreicher) jemand wie Balli zu handeln versteht, um so robuster muß er auch
mit seiner „coscienza“ umspringen und sie im geeigneten Moment beseitigen
können. Wo sich einerseits die (von Emilio ersehnte) Fülle energischer Aktion
breitmacht, hat sie offenbar andererseits eine Reduktion des Bewußtseins und
Verdrängung von Erfahrungen zur Prämisse.
"/>So sind für den häufigen Wechsel personaler Perspektiven und die
nicht weniger häufigen Eingriffe auktorialer Feststellungen bei Svevo
verschiedene Funktionen anzuführen. Evident ist zunächst die Absicht, eine
Darstellungsform zu finden, welche der Kontiguität oder gar Simultaneität
gegensätzlicher Emotionen begrifflich gerecht wird und zumal die Verwirrung
wiedergibt, die sie in der Interaktion auslösen. Schließlich wird in Svevos
Romanen ja eine seelische Welt vorausgesetzt, in der Montaignes Geständnis (oder
auch Anspruch) ,Je n’ay rien à dire de moy, entierement, simplement, et
solidement, sans confusion et sans meslange, ny en un mot“
[18]
gleichsam universelle Geltung gewonnen hat. So geht der Blick des
Erzählers – ohne Rücksicht auf die Folgerichtigkeit narrativer Techniken –
ruhelos vom einen zum anderen Bewußtsein und erinnert dabei an die ähnlich
inkonsistente Eindringlichkeit, mit der Stendhal einst den Bewußtseinskampf der
Liebe zwischen Julien Sorel und Mathilde de la Mole registriert hatte. Was
damals das Privileg unzeitgemäßer Ausnahmeexistenzen blieb, wird bei Svevo jetzt
sozusagen demokratisiert und von den Ausnahmeexistenzen auf die alltäglichsten
und unscheinbarsten bürgerlichen Lebensformen übertragen.
Dazu kommt bei Svevo – wie wir gesehen haben – indes noch ein
spezifischer Enthüllungsimpetus, der vom Phänomen der Illusion schlechthin
fasziniert ist. Der Enthüllungsimpetus bringt es mit sich, daß das
erzählerisch-analytische Interesse nicht durch die seelische Labilität des
„inetto“ völlig ausgelastet wird, sondern gelegentlich auf die Eitelkeit und
Unselbständigkeit des Lebenstüchtigen übergreift. Sobald der lebenstüchtige
,uomo superiore‘ jedoch in das unbeschränkte Gesichtsfeld des Erzählers gerät,
ist es um den Anschein seiner Authentizität geschehen. Als letzte
Kontrollinstanz verrät die auktoriale Introspektivanalyse, daß Authentizität
immer nur in der Vorstellung der Anderen und niemals substantiell wirklich
existiert
[19]
. Was Balli angeht, ist sie etwa unverkennbar das Produkt von
Amalias Begehren. Aus Amalias Perspektive gesehen, heißt es: „Il Balli era la
virtù e la forza“ (Op.om.II,476),
oder direkt über Amalia: „Ellaammirò la felicità del
Balli e amò in lui la forza e la serenità“ (S. 478), während der Erzählerbericht
umgekehrt festhält, wie sehr Ballis Kraft seinerseits auf die ergebene
Bewunderung Amalias angewiesen bleibt. Wenn der auktoriale Kommentar die
Stimmigkeit personaler Perspektiven fortlaufend durchbricht, geschieht das bei
Svevo also, um kontinuierlich zu demontieren, was als eine „costruzione
artificiale“ (S. 481) essentiell den Illusionen der Romanfiguren entstammt. Weil
der Erzähler sich mit einer Welt konfrontiert sieht, in der – symbolisch – noch
die Erscheinungen der Atmosphäre auf „erronea illusione“ (S. 479) beruhen, wird
er nicht müde, den täuschenden und getäuschten Wahrnehmungen seiner Gestalten –
unbekümmert um alle „pregiudizi dell’arte“ (S. 477) – beständig ins Wort zu
fallen, und schließlich ist es eben die Fülle solcher auktorialen Korrekturen
und Differenzierungen, welche die Überdeutlichkeit ihrer einzelnen Einsichten –
aufs Ganze gesehen – paradoxerweise wie in einem Nebel von Indifferenz
verschwimmen läßt.
Eine verwirrende Wirkung hat das Nebeneinander personaler und
auktorialer Erzählperspektiven aber vor allem für die Art und Weise, in der sich
dem Leser der Gegensatz zwischen Emilio Brentani und Stefano Balli mitteilt.
Einerseits sind die Ereignisse ja derart arrangiert, daß an der grundsätzlichen
Absicht einer Opposition von ,inetto‘ und ,uomo superiore‘ kein Zweifel bestehen
kann: der Typus, den die Gewohnheit der Selbstbeobachtung und eine ,,abbondanza
d’immagini“ (S. 503) im zielgerichteten Handeln paralysieren, trifft hier auf
seinen Gegentypus, der zugunsten des Handelns das Bewußtsein reduziert.
Andererseits wird der charakterologische Kontrast jedoch in einem gewissen Sinn
unterminiert, indem die beiden Kontrastfiguren der prinzipiell gleichen
erzähltechnischen Verfahrensweise anheimfallen, für die das Innenleben des
Tatmenschen ebensowenig ein Arkanum bleibt wie jenes des tatenarmen Literaten.
Einer prinzipiell identischen Perspektivik unterworfen, kommen sich die Freunde
bei aller typologischen Gegensätzlichkeit im romanesken Status nahe
und werden solcherart im Grad der narrativen Aufmerksamkeit, die sie erregen,
prononciert vergleichbar.
Vor diesem Hintergrund der Vergleichbarkeit, den die Erzähltechnik garantiert, erweist sich indessen nur um so
eklatanter die Privilegierung, welche Emilio Brentani in den Erzählanteilen erfährt. Gerade weil uns Ballis Bewußtsein
grundsätzlich nicht anders erschlossen wird als das des Protagonisten, tritt bei
den entsprechenden Episoden zumal des fünften und sechsten Kapitels im
Verhältnis zu Emilio Brentani die relative Armut seiner Motive zutage. Was immer
man von der Tatkraft und den Eitelkeiten des ,uomo superiore‘ ansonsten halten
mag: eine erzählungsgenerierende Potenz scheint ihnen für Svevo bloß in geringem
Maß innegewohnt zu haben. Dagegen ist es eben die Lebensschwäche und mit ihr die
Bewußtseinsfülle des ,inetto‘, die jenen neuen Typus der Erzählung stiftet, bei
dem die Labilität der seelischen Lagen eine Abundanz innerer Ereignisse
hervorruft, welche die Unscheinbarkeit des äußeren Lebens geradezu als
Voraussetzung hat
[20]
.
So verrät die Erzählstruktur, daß schon in Svevos frühen Romanen das
Phänomen der ,inettitudine‘ nicht einfach nur den Gegenstand von Kritik bildet.
Gewiß fehlt es ihm gegenüber nicht an kritischer Distanzierung auf dem Niveau
gelegentlich explizit formulierter Urteile, und es ist sicher durchaus
berechtigt, wenn eine Studie über den „Primo Svevo“ einmal befindet: „Per
Emilio, ,letterato ozioso‘ [...], non c’è alcuna pietà“, oder noch drastischer:
„non c’è pietà per il suo onanismo intellettuale“
[21]
. Solche ,Mitleidlosigkeit‘, die sich insbesondere in manchen auktorialen
Kommentaren zu Emilio Brentanis Selbsttäuschungen manifestiert, wird jedoch
implizit immer wieder aufgehoben durch die Insistenz der narrativen Zuwendung.
Für sie ist charakteristisch, daß sie eben in Emilios „inerzia“ eine
unerschöpfliche und in moralischen Begriffen kaum faßbare Vielfalt des
Geschehens entdeckt, während sie in der ,superiorità‘ des Gegentypus, der ihr
ebenso offen steht, wenig mehr auszumachen weiß als die monotone
Selbstgefälligkeit des „consolatore“, der im Blick seiner
Schutzbefohlenen unablässig nach den Beweisen der eigenen Güte sucht.
Deshalb verfehlt das Acharnement, mit dem ein Teil der Kritik über
Emilio Brentani herzufallen pflegt, die tiefere Realität des Textes auf eine
ähnliche Weise wie der – ebenso problematische – Zorn, den die Kritik immer
schon an Flauberts ,inetto‘ Frédéric Moreau ausgelassen hat
[22]
. So mag man beispielsweise Franco Petroni wohl zustimmen, wenn er zu Recht
betont, daß die Perspektive Emilios nicht mit dem überlegenen Gesichtspunkt des
Autors koinzidiert; doch bedeutet es meines Erachtens eine robuste
Vereinfachung, aus dem Sachverhalt dieser evidenten Distanz für Emilio zu
folgern: „[...] I rapporti affettivi che egli stabilisce con le persone – la
sorella, l’amico, l’amante – seguono i binari del più squallido conformismo”
[23]
. Ginge es bei Emilios Beziehungen und deren Komplikationen, den sich
überstürzenden Folgen von Illusionierung und Selbstanalyse, allein um ,elendsten
Konformismus‘, bliebe unverständlich, was den Erzähler im Vergleich zu Stefano
Balli gerade an die ruhelosen Seelenbewegungen seines Protagonisten fesselt.
Im gleichen Sinn verfehlt scheint mir Petronis nicht weniger resolutes
Urteil: „[...] La malattia sociale, e di riflesso psicologica, di cui soffrono
Emilio, Amalia, Stefano, è la mancanza di certezza“
[24]
. Bei ihm überrascht zunächst, daß der moderne Kritiker, in dessen
Stellungnahmen manches vage marxistisch klingt, die Gestalten des Romans mit
demselben strafenden Begriff („mancanza di certezza“) schlägt, mit dem einst der
ultrakonservative Paul Bourget den uneindeutigen „esprit d’analyse“ und
„dilettantisme“ seiner Zeitgenossen beklagte, um für die Rückkehr zu den alten
Ordnungen dann zuvörderst einen „sens de la certitude rétabli“ zu postulieren
[25]
. Vor allem aber übersieht das Urteil, daß der Sachverhalt „mancanza di
certezza“ (ob das auch eine „malattia“ ist, bleibe dahingestellt) für Emilio
Brentani und Stefano Balli ja in sehr unterschiedlichem Grade gilt. Auf jeden
Fall ist er in der psychischen Monotonie des ,uomo superiore‘ lediglich in
Ansätzen auszumachen, während er bei dem ,inetto‘ jene seelische Beweglichkeit
hervorruft, die ihrerseits wieder die Erzählung generiert.
Offensichtlich bildet der Typus des bilder- und gedankenreich reflektierenden
‚inetto‘ schon in Senilità
nicht etwas schlechthin Kritikwürdiges, sondern ein Phänomen, von dem
zumindest feststeht, daß es anders als die relative Gesundheit der ‚superiorità‘
verdient, mit einer Mischung aus Distanz und Empathie minutiös erzählt zu
werden.
1 |
Vgl. dazu Die typischen Erzählsituationen
im Roman,Wien-Stuttgart 1955, sowie
das Resümee in Theorie des Erzählens,Göttingen3 1985, 242. |
2 |
Eine detaillierte Darstellung dieses Prozesses liefert
U. Dethloff: Das Romanwerk Gustave Flauberts,
München 1976, bes. 104–183. |
3 |
Problematischer wirkt in diesem Zusammenhang die Position
Marcel Prousts, in dessen Recherche ein
‚auktoriales‘ Balzacsches Erzählmodell die „règle ‚flaubertienne‘“
bekanntlich immer wieder durchbricht; vgl. dazu G. Genette: Figures III,Paris
1972, 188, 263ff. und passim. |
4 |
Zu den kompositorischen Folgelasten, welche die Bestimmung
Maisies zur „central intelligence“ des Romans nach sich zieht, vgl.
Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction,Chicago-London9 1970, 47ff. |
5 |
Vgl. E. Saccone: IlPoeta travestito
– Otto scritti su Svevo, Pisa 1977,
133–200 („Un’Educazione Sentimentale?“). |
6 |
Vgl. ebda. 184ff. Prononcierter noch
äußert sich diesbezüglich Mario Lavagetto (L’Impiegato Schmitz e altri saggi su Svevo, Torino2 1986,
68): „Al protagonista viene firmata una delega in bianco […]; non
c’è informazione, accadimento, notizia, fatto, episodio, filo d’erba
o sollevarsi di brezza che non passi attraverso la coscienza di
Emilio o di Alfonso. Tutti gli altri personaggi – ed è la prova più
sicura della ‚prospettiva ristretta‘ – sono visti da fuori […]; solo
il protagonista è visto da dentro“. Von Lavagetto wird die
Erzählperspektive der frühen Romane Svevos als „focalisation interne
fixe“(G. Genette) im übrigen auch explizit mit den konsequenten
Techniken gleichgesetzt, welche Henry James in The
Ambassadors und What Maisie knew
entwickelt hat (vgl. ebda. 68f.). |
7 |
In diesem Sinne läßt Lavagetto den Autor der Coscienza di Zeno sogar an dem notorischen
Kampf teilnehmen, den die rezentere Moderne – nach der Poetik
Barthes’ oder Ricardous – gegen die ,illusion référentielle‘ führt
(vgl. ebda. 106). Andererseits vertritt gerade Lavagetto die These,
daß Zenos ‚Beichte‘ zu einem nicht geringen Teil aus ,Lügen‘
besteht: „La parola di Zeno deve essere per sua natura sospetta,
deve avere un doppio fondo, costituito di volta in volta dalla
verità o dalla menzogna che tenderanno a sovrapporsi e a integrarsi,
ma senza confondersi“ (ebda. 89). Wie aber soll sich Zeno als ein
„vecchio bugiardo“ (ebda. 213) erweisen, wenn er gleichzeitig auf
keine – wie auch immer fiktive – Realitätsnorm referiert und
folglich weder falsifiziert noch verifiziert werden kann? |
8 |
Zu Elementen eines Panoramas verschiedener sozialer
Klassen, das der Roman nach naturalistischen und veristischen
Vorbildern zu entwerfen versucht, vgl. G. Borghello: La coscienza borghese – Saggio sulla narrativa di
Svevo,Roma 1977, 40–57. |
9 |
Diese Nähe, die eine genauere Untersuchung verdienen würde,
hat die Kritik bisher sonderbarerweise noch kaum in Betracht gezogen
(vgl. etwa den knappen Hinweis von N. Jonard: Italo Svevo et la crise de la bourgeoisie européenne,Paris 1969, 77). |
10 |
Vgl. dazu D. Schlumbohm: „Svevo und Stendhal – Zur
Interpretation von Una vita“, R]b 20 (1969), 91–112. Im Gegensatz zu vielen
Vorläufern sieht Schlumbohm bei diesem „zu einem Gemeinplatz
geworden(en)“ Vergleich (ebda. 93) auch deutlich die
erzähltechnische Verwandtschaft der beiden Autoren
(vgl. ebda. lll). |
11 |
Alle Zitate aus Una vita und Senilità sind der folgenden Ausgabe
entnommen: I. Svevo: Opera omnia II,Mailand 1969. |
12 |
Vgl. dazu meine Interpretation von Stendhals Le Rouge et le Noir („Der Bürger als
unzeitgemäßer Held“) in P. Brockmeier – H. H. Wetzel (Hrsg.), Französische Literatur in
Einzeldarstellungen,Bd. 2: Von Stendhal bis Zola,Stuttgart 1982, 8–19, bes. 18f. |
13 |
Zur Verbindung von „folie“ und „calcul“ im Verhalten
Juliens vgl. etwa das Kapitel II 31 Lui faire peur
(Stendhal: Le Rouge et le Noir,ed. H. Martineau, Paris 1960, 424f.). |
14 |
Vgl. z. B. S. Maxia: „II primo Svevo“, in Il
caso Svevo, a cura di G. Petronio, Palermo
1976, 83–99, hier 97 („autoinganno“) und 99 („chiaroveggenza“). |
15 |
Daß der Begriff „senilità“ bei Svevo mit dem Begriff
„inettitudine“ überhaupt weitgehend synonym sei, behauptet – mit
guten Gründen – H. G. Funke, ,,Das Thema der ‚Senilità‘ im Romanwerk
Italo Svevos“, Italienische Studien 2 (1979),
91–107, bes. 105. |
16 |
Vgl. zu diesem Bild meinen Aufsatz „Bourget oder die
Gefahren der Psychologie, des Historismus und der Literatur“, Lendemains 30 (1983), 36–45. Bezeichnend ist
hier auch die Rolle, welche Renans Histoire des
origines du Christianisme noch in La
Coscienza di Zeno – einem an literarhistorischen Referenzen
sonst ja nicht sehr reichen Roman – spielt (vgl. I. Svevo: La Coscienza di Zeno, pref. E. Montale,
Milano 1976 [= I Corvi dall’Oglio 191], 57, 59 und 196); denn Renan
bildete für Bourget bekanntlich den Prototyp eines jede religiöse
und moralische Bindung ‚zersetzenden‘ „dilettantisme“. |
17 |
Vgl. dazu die begründete Apologie dieser Gestalt in der
Studie von G. Borghello: La coscienza
borghese,a.a.O. 130–136, bes.
136. |
18 |
Vgl. Montaigne: Essais,hrsg. v. A. Thibaudet, Paris 1961, 371
(II1). |
19 |
Angesichts dieser Erkenntnis verwundert der geradezu
inflationäre Gebrauch, den fast die gesamte Svevo-Kritik vom Begriff
der ‚Authentizität‘ als idealer Norm des Verhaltens und Empfindens
macht, ohne das damit postulierte ‚Reich der Eigentlichkeit‘ jemals
genauer zu definieren. Vgl. dagegen Roland Galles treffende
Bemerkungen über den – genaugenommen – metaphysischen „Optimismus“,
der allen solchen Distinktionen von Authentizität und „mauvaise foi“
immanent ist („Wissenschaft und Kunsterfahrung – Zum Verhältnis von
Romanform und Psychoanalyse in Svevos ‚La Coscienza di Zeno‘“, in:
U. Schulz-Buschhaus – H. Meter [Hrsg.], Aspekte
des Erzählens in der modernen italienischen Literatur,
Tübingen 1983, 125–141, hier 133). |
20 |
Demnach partizipiert auch Svevos Senilità
an der eigentümlichen „Faszination durch das Syndrom der
Nervosität“ als einer literarischen Produktivkraft, in der
U. Link-Heer wiederholt eine wesentliche Komponente der Ästhetik des
Fin-de-Siècle identifiziert hat. Vgl. z. B. ,,‚Le mal a marché trop
vite‘ – Fortschritts- und Dekadenzbewußtsein im Spiegel des
Nervositäts-Syndroms“, in Fortschrittsglaube und
Dekadenzbewußtsein im Europa des 19. Jahrhunderts,hrsg. W. Drost, Heidelberg 1986, 45–67, bes.
56ff., und ,,‚Malgré ce formidable obstacle de santé contraire...‘ –
Schreiben und Kranksein bei Proust“, in Aspekte
der Literatur des fin-de-siècle in der Romania,hrsg. A. Corbineau-Hoffmann – A. Gier,
Tübingen 1983, 179–200. |
21 |
S. Maxia: a.a.O. 96. |
22 |
Vgl. dazu als ein Beispiel von besonderer Unerbittlichkeit
D. Oehler: „Der Tourist – Zu Struktur und Bedeutung der Idylle von
Fontainebleau in der Education
sentimentale“,in Erzählforschung – Ein Symposion,hrsg. E. Lämmert, Stuttgart 1982, 490–505, wo Frédéric als
„klassischer Mitläufer aus dem schwankenden Kleinbürgertum“
erscheint, dessen „Inauthentizität“, „meskinen Egoismus“ und
„verhunztes Leben“ der Aufsatz mit emphatischer Verachtung
straft. |
23 |
F. Petroni: L’inconscio e le strutture
formali – Saggi su Italo Svevo, Padova 1979, 46. |
24 |
Ebda.
|
25 |
Vgl. P. Bourget: Essais de psychologie
contemporaine,Bd. 2, Paris 1919,
50. |