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Quelle: Werk und Diskurs. Karlheinz Stierle zum 60. Geburtstag, hgg. D. Ingenschay/H. Pfeiffer, München, Fink, 1999, S. 377–395.
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Quelle: Werk und Diskurs. Karlheinz Stierle zum 60. Geburtstag, hgg. D. Ingenschay/H. Pfeiffer, München, Fink, 1999, S. 377–395.
Engagement als Kapitulation
Zu Italo Calvinos Kurzroman La Speculazione Edilizia
I.
Mit Il barone rampante und La
speculazione edilizia wurden von Italo Calvino 1957 zwei „brevi
romanzi“ veröffentlicht
[1]
, die in einem so dichten wie widersprüchlichen Zusammenhang stehen. Il barone rampante,der die
neorealistische Poetik zugunsten der Merkmale „Umorismo, fantasia, avventura“
aufkündigt
[2]
, entstand zwischen Dezember 1956 und Februar 1957 in einer ,,stesura
piuttosto rapida“: „quasi un felice, spumeggiante interludio [...] che
interrompe la faticosa gestazione della Speculazione
edilizia“
[3]
. La speculazione edilizia,die der neorealistischen Poetik im weiteren Sinn treu zu bleiben
versucht, hat Calvino dagegen enorme Mühe gekostet. Noch im Mai 1957 heißt es in
einem an Pietro Citati gerichteten Brief, der auch interessante Aufschlüsse über
den gerade fertiggestellten Barone rampante enthält: „Ora
sto scrivendo La speculazione edilizia,tutto introspettivo e psicologico. Molto difficile, accidenti !“
[4]
So verschiedenartig die poetologischen Programme sind, die Calvino in
den beiden Romanen verfolgt
[5]
, so gibt es zwischen den Texten doch auch unverkennbare thematische
Gemeinsamkeiten. Eine solcher Gemeinsamkeiten besteht etwa in dem Umstand, daß
La speculazione edilizia sich gleichsam als die
traurige realhistorische Fortsetzung des märchenhaft utopischen Barone
rampante lesen
läßt. Schon im Barone rampante wird ja aus einer
geschichtlichen Situation erzählt, in der die Baumwelt, welche Cosimos Existenz
in einer „minima ma invalicabile distanza [...] tra sé e i suoi simili“ möglich
machte
[6]
, verschwunden ist. Daß die Wälder Ombrosas inzwischen der „furia della
scure“ zum Opfer gefallen sind, bringt der melancholische Erzähler Biagio
mehrfach zum Ausdruck, beispielsweise am Beginn des vierten Kapitels, wenn er
bemerkt: „I dossi sono nudi che a guardarli, noi che li conoscevamo da prima, fa
impressione.“
[7]
Am eindringlichsten wird die Vernichtung jenes ‚paesaggio ligure‘, den
Il barone rampante nostalgisch beschwört, wohl am
Ende des 13. Kapitels angesprochen. Dort erinnert Biagio zum einen an Cosimos
gleichzeitig zivilisierten und ökologischen Umgang mit der Natur: „Così, questa
natura d’Ombrosa ch’egli aveva trovato già tanto benigna, con la sua arte
contribuiva a farla vieppiù a lui favorevole, amico a un tempo del prossimo,
della natura e di se medesimo.“ Zum anderen ist von späteren Generationen die
Rede, deren Naturverhältnis sich von dem Cosimos radikal unterscheidet: „Poi,
bastò l’avvento di generazioni più scriteriate; d’imprevidente avidità, gente
non amica di nulla, neppure di se stessa, e tutto ormai è cambiato, nessun
Cosimo potrà più incedere per gli alberi.“
[8]
Eben diese „gente non amica di nulla, neppure di se stessa“ bildet nun
Personal und Gegenstand des „breve romanzo“ La speculazione
edilizia,so wie Il barone
rampante seinen wahrhaft positiven Helden als „amico a un tempo del
prossimo, della natura e di se medesimo“ präsentiert. Demnach ergibt La speculazione edilizia gewissermaßen den Rahmen, in dem
Il barone rampante das verklärte Bild einer
Landschaft evoziert, deren endgültige Zerstörung sich in dem die Evokation
rahmenden Roman vollzieht. Im Vorwort zur Schulausgabe des Barone rampante hat Calvino selbst diesen Zusammenhang ausdrücklich
thematisiert:
Ma tutto questo paesaggio geografico e ideale appartiene al
passato: sappiamo che la Riviera in questo dopoguerra è diventata
irriconoscibile per il modo caotico in cui si è riempita di caseggiati urbani
fino a trasformarsi in una distesa di cemento; sappiamo che le speculazioni
economiche e un facile edonismo dominano i rapporti umani di una larga parte
della nostra società. Ed è solo da tutti questi elementi sommati insieme che
possiamo ricavare la radice lirica del libro, la prima
spinta dell’invenzione poetica.
[9]
Als Entwurf einer ökologischen Utopie und als Darstellung
der aktuellen ökologischen Realität gehören Il barone rampante
und La speculazione edilizia folglich zusammen. Wo
der Baron auf den Bäumen im Geiste einer idealisierten Aufklärung Natur und
Kultur gleichermaßen gepflegt hatte, löst die entfesselte Bauspekulation, welche
den Boom der fünfziger Jahre begleitet, jetzt ein Werk der Natur- und
Kulturvernichtung aus. Es zerstört, was im ohnehin schon reduzierten Garten der
Mutter des Protagonisten von der üppigen Vegetation des Barone
rampante übrig geblieben ist, und es raubt der Küstenstadt alias San
Remo zugleich, was einst deren unverwechselbare Urbanität oder – um mit
Karlheinz Stierle zu sprechen
[10]
– „Lesbarkeit“ ausgemacht hat. War sie früher nicht anders als Paris ein
Ensemble bestimmter Zeichen gewesen, welche die Differenzen von „città vecchia“
und „città nuova“, Villenviertel und Hafen markierten, so ist sie nun dabei, die
Indifferenz einer „distesa di cemento“ anzunehmen:
Quando Quinto saliva alla sua villa, un tempo dominante la
distesa dei tetti della città nuova e i bassi quartieri della marina e il porto,
più in qua il mucchio di case muffite e lichenose della città vecchia, tra il
versante della collina a ponente dove sopra gli orti s’infittiva l’oliveto, e, a
levante, un reame di ville e alberghi verdi come un bosco, sotto il dosso brullo
dei campi di garofani scintillanti di serre fino al Capo: ora più nulla, non
vedeva che un sovrapporsi geometrico di parallelepipedi e poliedri, spigoli e
lati di case, di qua e di là, tetti, finestre, muri ciechi per servitù contigue
con solo i finestrini smerigliati dei gabinetti uno sopra l’altro.
[11]
In dem Vergleich der zeichenhaft gegliederten Vedute von einst mit dem
gestaltlosen Stadtbild, das Horizont und Thema der Speculazione edilizia bildet
[12]
, eröffnet Calvino einen Motivkomplex, den er dann später durch Le città invisibili noch einmal vertiefen wird. Was hier
mit der Küstenstadt geschieht, wiederholt sich dort in der negativen Utopie der
„città continue“, welche – wie das Beispiel der universalen Stadt „Trude“ zeigt
– Differenzen und Identitäten verloren haben
[13]
. Mit ihnen ist ein Ende der Formen erreicht, das zugleich
ein Ende der „città“ im doppelten Sinn von Stadt und Gemeinwesen bedeutet.
Jedenfalls beobachtet der Gran Kan die Duplizität dieser Auflösung in den
Blättern des Atlas, der ihm neben den bekannten Städten seines Reichs die
‚unsichtbaren Städte‘ der Zukunft vorstellt:
Dove le forme esauriscono le loro variazioni e si disfano,
comincia la fine delle città. Nelle ultime carte dell’atlante si diluivano
reticoli senza principio né fine, città a forma di Los Angeles, a forma di
Kyoto-Osaka, senza forma.
[14]
II.
So steht auch in La speculazione edilizia der
Form- und Zeichenverlust des Stadtbilds für den gleichzeitigen Verlust
politisch-gesellschaftlicher Hoffnungen. Schon der Barone
rampante hatte das Verschwinden der Bäume, das den Himmel über Ombrosa
leer macht, gleichsam mit dem ‚Schatten der Restauration‘ überein kommen lassen,
weshalb es im letzten Kapitel zur Herstellung symbolischer Äquivalenz einerseits
hieß: „Il cielo è vuoto, e a noi vecchi d’Ombrosa, abituati a vivere sotto
quelle verdi cupole, fa male agli occhi guardarlo“, andererseits: „[...] tutti i
novatori – giacobini o bonapartisti che fossero – sconfitti; l’assolutismo e i
gesuiti rianno il campo; gli ideali della giovinezza, i lumi, le speranze del
nostro secolo decimottavo, tutto è cenere.“
[15]
Aus dem Allegorischen und Historischen ins Neo-Realistische übertragen,
beschreibt La speculazione edilizia den gleichen Prozeß
eines zweifachen Verfalls. Er wird quasi thesenhaft resümiert, wenn der
Romanprotagonist Quinto Anfossi, ein Intellektueller von eklatant unglücklichem
Bewußtsein, in seinem Komplizen und Gegenspieler, dem Bauunternehmer Caisotti,
einen alten Genossen aus den Tagen der Resistenza wiedererkennt und danach zu
den folgenden Überlegungen ansetzt, die von den Interpreten allgemein als eine
Art zeitkritisches Fazit der Erzählung betrachtet werden:
Bella curva aveva fatto la società italiana! esclamava tra sé.
Due partigiani, un paesano e uno studente, due che s’erano ribellati insieme con
l’idea che l’Italia fosse tutta da rifare; e adesso eccoli lì, cosa sono
diventati, due che accettano il mondo com’è, che tirano ai quattrini, e senza
più nemmeno le virtù della borghesia d’una volta, due pasticcioni dell’edilizia,
e non per caso sono diventati soci d’affari, e naturalmente cercano di
sopraffarsi a vicenda […]
[16]
Tatsächlich verleiht diese Reflexion dem Geschehen eine
Figur und einen Sinn, welche dem Idealtyp von Flauberts Desillusionsroman L’Éducation sentimentale verwandt sind. Eine solche
Affinität, die ja auch durch die diegetisch schwache Schlußbildung der Speculazione edilizia zum Ausdruck kommt, wirkt um so
bemerkenswerter, als Calvino zeit seines Lebens nicht abgelassen hat, sich gegen
den – wie er wohl meinte – nihilistischen Sog der Flaubertschen Romane zur Wehr
zu setzen
[17]
. 1959, also zwei Jahre nach dem Erscheinen seiner beiden komplementären
„brevi romanzi“, nimmt er in einem Interview sogar explizit gegen eine
schriftstellerische Attitüde Stellung, welche er als ein „atteggiamento
neo-flaubertiano“ bezeichnet und weiten Teilen der italienischen
Gegenwartsliteratur zum Vorwurf macht
[18]
. Grund für die Kritik ist die (entfernt gewiß noch von Lukács geprägte)
Befürchtung, die ‚neo-flaubertianische‘ Haltung führe zu einer „descrittività
statica, passiva e stanca“. Daher empfiehlt Calvino im gleichen Interview als
alternative Vorbilder Stendhal oder Balzac, in deren Tradition er – einem Aperçu
von Elio Vittorini folgend – auch La speculazione edilizia
situiert. Zwar wolle er mit diesem Text die „coscienza completa di ogni
processo degenerativo“ vermitteln, doch in einer Haltung der „mimesi attiva
della negatività“, bei der die Aktivitätskomponente pointiert auf das
‚neo-flaubertianische‘ Phänomen der „descrittività statica, passiva e stanca“
antworten soll
[19]
.
Wirklich aufschlußreich erweist sich die Kategorie der „mimesi attiva
della negatività“ indessen lediglich als Intention und als ein weiterer Beleg
für den antithetischen Bezug zur Komplementärgeschichte des Barone rampante. Wenn man La speculazione edilizia
aus der Verbindung mit dem entlastenden Intermezzo des ‚Barons auf den
Bäumen‘ löst und für sich allein betrachtet, bleibt von der Stendhalschen oder
Balzacschen Energie einer „mimesi attiva“, wie sie Calvinos Selbstkonzept
reklamiert, wenig übrig, und statt dessen wird eine demoralisierende Bewegung
der italienischen Gesellschaft sichtbar, die eben nur antiphrastisch auf den
Begriff einer „bella curva“ zu bringen ist. Bei ihr scheint die pure ‚Mimesis
der Negativität‘ schon deshalb zu dominieren, weil die Beschreibung
der „speculazione“, die zugleich die Beschreibung eines desillusionierenden
geschichtlichen Prozesses ist, kaum rettende Perspektiven erkennen läßt. Auch
das Angebot einer gewissermaßen sozialistisch moderierten ‚Spekulation‘, das
Quinto am Ende von seinem ehemaligen Parteigenossen Masera erhält, wird ja als
etwas durchaus Ambivalentes präsentiert
[20]
. Jedenfalls gibt es keinen auktorialen Fingerzeig, der dem Leser
bedeuten könnte, was er von den Argumenten des alten Schreiners, der „bonaria
parlantina di Masera“, zu halten hat: ob er in ihnen eher den Beweis praktischer
Solidarität oder eher den Ausdruck resignativer Anpassung an die „bella curva“
einer kapitalistisch expandierenden Wirtschaft sehen soll
[21]
.
Zumindest wird durch Maseras Vorschläge klar, daß die Partei von allen
Revolutionshoffnungen, welche das fünfte Kapitel noch einmal als Gegenstand
nostalgischer Erinnerungen beschwört, endgültig Abstand genommen hat. Deshalb
widmet die Erzählung dem Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Arbeiterschaft,
wie er in der neorealistischen Poetik bis hin zu Pratolinis Metello zentrale Bedeutung beanspruchte, auch bloß marginale
Aufmerksamkeit. Entschieden wichtiger ist ihr nach Art von Tschechows Kirschgarten der Gegensatz zwischen alter und neuer
Bourgeoisie, den „virtù della borghesia d’una volta“, wie sie in dem bereits
zitierten inneren Monolog des Protagonisten angesprochen werden, und einer
„equivoca e antiestetica borghesia di nuovo conio“, wie sie der ‚paysan parvenu‘
Caisotti repräsentiert. Bei dieser Opposition erscheint die auktoriale
Sympathieverteilung, die Calvino vornimmt, nun wesentlich deutlicher artikuliert
als im Fall Tschechows. Daß sie sich für die Alten und für das Alte erklärt,
geht aus vielen Aspekten des Textes auch und gerade dann hervor, wenn die
personale Erzählsituation, die vorwiegend der Perspektive des desorientierten
Intellektuellen Quinto Anfossi folgt, einer solchen Deutlichkeit an sich nicht
entgegenkommt.
Großes Gewicht besitzt hier zunächst die Gestalt Caisottis. Sie ist
zwar von Anfang an durch eine leitmotivartig unterstrichene Ambivalenz
gekennzeichnet, welche an dem Unternehmer bald die Züge eines „squalo“ und bald
die eines „bambino“ hervorhebt
[22]
; doch rückt Caisotti die von ihm vertretene „gente nuova e difforme“
insgesamt zweifellos in ein trüberes Licht, als das einst Tschechows Lopachin
tat. Was Caisotti moralisch diskreditiert, ist neben Rohheit und Brutalität vor
allem die Undurchschaubarkeit seiner geschäftlichen Manöver, deren Stil höchst
verdächtig zwischen Rücksichtslosigkeit und Betrug zu schwanken scheint. Dazu
kommt das ebenfalls suspekte Verhältnis zu (mit) seiner Sekretärin Lina, das im
opportunen Moment – nach der Integration in die Gesellschaft der
örtlichen Honoratioren – durch das Auftauchen einer Ehefrau vom Lande bereinigt
wird, sowie schließlich überhaupt der Tatbestand des finalen Erfolgs, der im
Kontext dieses Romans ebenso kompromittierend wirkt wie am Ende von Flauberts
Madame Bovary oder L’Éducation
sentimentale. Demgegenüber verfügt die Partei des Alten über weitaus
freundlicher gezeichnete Gestalten. Sie treten sowohl – wie im fünften und im
letzten Kapitel – unter den einstigen Genossen auf als auch im Kreis der
„vecchia borghesia“, welche durch die stille Gefaßtheit von Quintos Mutter, die
bei der Zerstörung ihres Gartens am meisten zu leiden hat, geradezu verklärt
wird. Im übrigen nobilitiert sich das alte Bürgertum nach dem gleichen
semiotischen Gesetz, welches das neue Unternehmertum durch Erfolg
kompromittiert, mit seiner Niederlage, und es ist von symbolischer Bedeutung,
wenn in den letzten Sätzen des Romans die Vollendung des Dachs auf Caisottis
Neubau mit dem Verschwinden des Sonnenlichts über dem Familienbesitz
koinzidiert:
Il sole spariva presto dietro l’edificio di Caisotti e di tra le
stecche delle persiane la luce che batteva sull’argenteria del buffet era sempre
meno, era adesso solo quella che passava tra le stecche più alte e si spegneva a
poco a poco, sulle curve lustre dei vassoi, delle teiere [...]
[23]
III.
Freilich bildet auch die Kirschgarten-Thematikvon alter und neuer
Lebenswelt nicht das eigentliche Zentrum des Romans. Wie schon die Konzentration
auf eine durchgängig personale Erzählsituation anzeigt
[24]
, hat der Roman seinen Mittelpunkt in der Gestalt Quinto Anfossis, das
heißt: in der problematischen Lage des Intellektuellen. Für sie stellen die
Gestalten Caisottis, der ehemaligen Schulkameraden, der ehemaligen Genossen, der
Kollegen Bensi und Cerveteri, des Bruders Ampelio oder der Mutter gleichsam den
Rahmen des Gegebenen dar, in dem der Intellektuelle – zwischen Geistesarbeit,
Kulturindustrie, Parteipolitik und eben alter und neuer Bourgeoisie schwankend –
einen Weg zu finden sucht. Dabei hat der ‚psychologische und introspektive‘
Charakter, den die perspektivische Bevorzugung Quinto Anfossis mit sich bringt,
Calvino offenbar besondere schriftstellerische Schwierigkeiten bereitet, die er
in dem oben zitierten Schreiben an Pietro Citati beklagt. Wenn Calvino auf ein
narratives Arrangement, das ihm wenig zusagte, trotzdem nicht verzichten wollte,
muß dies Schema in Anbetracht des zentralen Themas, das der Erzähler sich hier vornahm, in gewisser Weise wohl unumgänglich erschienen sein, und
tatsächlich gibt es auch gute Gründe, welche in La
speculazione edilizia für die Zentralität von Quintos reflektierendem
Bewußtsein plädieren.
Daß der Intellektuelle in diesem Roman – um mit Henry James zu sprechen
– zum alleinigen „centre of consciousness“ wird, hängt zunächst mit der
Unanschaulichkeit der finanziellen und ‚spekulativen‘ Ereignisse zusammen,
welche – wenn man so will – das objektive Substrat der Romanhandlung ausmachen.
Die Unanschaulichkeit der Vorgänge, die in professionell wirtschaftlichen
Funktionsbereichen höchste Relevanz besitzen, konfrontiert den bürgerlichen
Roman ja seit eh und je mit beträchtlichen narrativen Problemen. Sie lassen sich
beispielsweise schon an der Spekulationsthematik von Balzacs César Birotteau beobachten, wo die berufsmäßige Spezifizität der
ökonomischen Angelegenheiten den Erzähler immer wieder zu längeren traktathaften
Kommentaren und Erläuterungen zwingt, welche die innere Dramatik des Geschehens
wohl besprechen, nicht aber erzählerisch sichtbar machen können
[25]
. Solche traktathaften Passagen, die im Hinblick auf die
systemspezifischen Handlungsketten keinesfalls als Exkurse zu werten sind, galt
es in Calvinos Kurzroman zu vermeiden, und so ist die Fokalisierung des
Bauunternehmens durch Quinto Anfossi – statt etwa durch Caisotti – in erster
Linie und ganz elementar sicherlich mit einem narratologischen Kalkül zu
begründen: Allein die Delegation des Point of View an Quinto Anfossi hat Calvino
erlaubt, einen politisch-moralistisch akzentuierten Kurzroman zu schreiben;
während die Verlagerung des „centre of consciousness“ auf Caisotti das Maß eines
umfassend dokumentierenden und explizierenden Balzac-Romans à la César Birotteau verlangt hätte
[26]
.
Indes kommt es auch noch unter anderen Aspekten auf den
Blickwinkel des Außenseiters an. Als Intellektueller, der in seine Heimatstadt
zurückgekehrt ist „per intraprendervi una speculazione edilizia“
[27]
, macht Quinto in der einst vertrauten Umgebung mit etwas
beunruhigend Neuem Bekanntschaft, das ihn nicht zuletzt deshalb fasziniert, weil
er es nicht oder allenfalls partiell versteht. Aus der Perspektive des
Intellektuellen wird die Bauspekulation nämlich als ein Faszinosum und zugleich
als ein Rätsel wahrgenommen, dessen Lösung die eigenen Kompetenzen übersteigen
muß. So ist ein Teil des forcierten Interesses, das Quinto an Caisotti bekundet,
zweifellos von jener Doppelgesichtigkeit des Unternehmers motiviert, die im
Wechsel seiner Gesichtszüge zwischen Kindlichkeit und Haifischähnlichkeit zum
Ausdruck kommt. Letztlich steht das Leitmotiv der physiognomischen Ambivalenz
aber überhaupt für einen Eindruck von Undurchdringlichkeit. Wo immer Quinto auf
Caisotti trifft, begegnet er dem „sguardo indecifrabile dell’impresario“
[28]
, der für den Intellektuellen obskur bleibt, und zwar nicht nur,
was das Charakterliche betrifft, sondern mehr noch in geschäftlichen Belangen.
Ob und wie der Unternehmer sich an Verträge hält oder welchen Wert von ihm
ausgestellte Wechsel besitzen, sind Fragen, die Quinto gleichzeitig quälend und
fesselnd beschäftigen. Fast könnte man sagen, daß der Geschäftsmann Caisotti für
ihn zu einem ebenso schwer deutbaren Mysterium wird, wie es in einem anderen
Realitätsbereich bei Proust einst Odette oder Albertine für ihre eifersüchtigen
Liebhaber darstellten
[29]
.
Indem alles, was wir über Caisotti erfahren, durch Quinto Anfossi und
dessen „turbe di sentimenti“ vermittelt wird, geraten die Angelegenheiten der
Bauspekulation demnach in eine Atmosphäre der Fremdheit, die sich auch dem Leser
gegenüber als essentiell ambivalent, zugleich abstoßend und anziehend,
präsentiert. Dabei reagiert Quinto dergestalt, daß er eben das Abstoßende als
das speziell Anziehende empfindet und im Zuge solcher Gefühlsdialektik den
Entschluß faßt, sich in einer „speculazione edilizia“ zu engagieren. Den Begriff
„engagieren“ verwende ich hier bewußt, denn für den intellektuellen
Protagonisten handelt es sich beim Eintritt in die Bauspekulation durchaus um
ein Engagement im prägnanten Sartreschen Sinn. Von den Interpreten des Romans,
die Quintos Unternehmen gerne als bloßen „disimpegno“ und als
„Flucht in private wirtschaftliche Interessen“ begreifen
[30]
, wird das zumeist übersehen oder verdrängt, mit der Folge, daß dann auch
die tiefere Paradoxie der Erzählung unbemerkt bleiben muß. Um die Pointe – und
mit ihr die Problematik – des Romans verstehen zu können, ist es jedoch nötig,
sich klar zu machen, daß Quintos Entschluß zur Bauspekulation von Anfang an sehr
nachdrücklich als Wendepunkt einer existentiellen Entscheidung formuliert
wird.
IV.
Im Sinne eines Entscheidungspathos, wie wir es aus Sartres
philosophischen und mehr noch literarischen Schriften kennen, ist vor allem der
Schlußsatz des ersten Kapitels stilisiert (wobei man freilich in Rechnung
stellen muß, daß die Formulierungen praktisch aller Kapitelenden zur Pointierung
oder wenigstens zu besonderer Konzision neigen). Durch ihn wird ein Entschluß
resümiert, an dem – wie wir wenig später erfahren – auch ein vages Schuldgefühl
mitgewirkt hat, das von der Besteuerung des Grundbesitzes ausgelöst wurde: das
Gefühl, ein ‚schlechter Besitzer‘ und solcherart den Herausforderungen der
Epoche nicht gewachsen zu sein. Jedenfalls trägt zu Quintos
Spekulationsentscheidung neben anderen Motiven auch ein Bewußtsein von
gesellschaftlichem Versagen angesichts der ,temps modernes‘ bei: „[...] la
coscienza d’essere un cattivo proprietario, che non sa far fruttare i propri
averi e che in un’epoca di continui avventurosi movimenti di capitali,
millantati crediti e giri di cambiali se ne sta mani in mano lasciando svalutare
i suoi terreni.“
[31]
In diesem Bewußtsein redet der Abkömmling der ‚alten Bourgeoisie‘ sich
ein, daß die ‚Unproduktivität‘ seines ‚Kapitals‘ vom Staat wohl nicht völlig zu
Unrecht geahndet wird, und überhaupt ist es ein Verlangen nach zeitgemäßer
Aktivität und Partizipation, die ihn an der Seite Caisottis zum Spekulanten
macht. So weckt gerade die „serena tristezza“ seiner Mutter in Quinto den
heftigen Willen, ‚aus der Passivität herauszukommen und zur Offensive
überzugehen‘, und eben weil diese Aktivität auf etwas ‚Anti-Ästhetisches‘
hinausläuft, erscheint sie ihm doppelt lebensvoll und zukunftsträchtig:
Ecco, ora, lì, quel suo paese, [...] aveva una nuova vita, sia
pure abnorme, antiestetica, e proprio per ciò – per i contrasti che dominano le
menti educate alla letteratura – più vita che mai. E lui non ne partecipava;
legato ai luoghi ormai appena da un filo d’eccitazione nostalgica, [...] ne
aveva solo un danno.
[32]
Ein wesentliches Motiv, das Quintos Engagement bestimmt,
ist also der Wille (der Zwang) des Intellektuellen zum Selbstwiderspruch oder –
mit Calvinos Worten – jene „contrasti che dominano le menti educate alla
letteratura“. Auch sie bilden in dem Roman ein Leitmotiv, das hervortritt, wenn
Quinto sich bei den Verhandlungen mit dem ungebildeten Caisotti als
„suscettibile [...] a tutto ciò che gli ricordava la sua condizione
d’intellettuale“ erweist
[33]
oder wenn er sich bei der Diskussion über den Titel einer neuen
Zeitschrift („Il Nuovo Hegel“, „La Nuova Gazzetta Renana“ oder „Enciclopedia“)
neiderfüllt durch die unintellektuellen Gespräche am Nachbartisch der Gaststätte
ablenken läßt:
Quinto fu preso da un’acuta invidia per tutto ciò che sentiva
muovere tra le persone di quel tavolo: senso degli interessi, attaccamento alle
cose, passioni concrete e non volgari, desiderio d’un meglio non solo materiale,
e insieme un peso placido e un po’ greve di natura.
[34]
Als Neid des abstrakten Geistes auf das konkrete Leben gibt die gerade
zitierte Version des intellektuellen Selbstwiderspruchs deutlich ihre Herkunft
von Thomas Mann zu erkennen, was im übrigen auch intertextuell signalisiert
wird; denn im 23. Kapitel, der Episode des flüchtigen Abenteuers mit der signora
Hofer, begegnet uns Quinto tatsächlich als Thomas-Mann-Leser: „[...] sprofondato
in una sedia a sdraio a leggere il Felix Krull
[...].“
[35]
Schließlich wird die Neigung zum Selbstwiderspruch derart konstant zum
Habitus, daß sich kaum noch entscheiden läßt, worin Quintos ‚authentisches‘
Empfinden bestehen mag. Zwar erscheint ihm die durch Bau- und Tourismusboom
modernisierte Heimatstadt einerseits immer unwirtlicher; doch führt gerade dies
Gefühl des Widerwillens andererseits zu einer voluntaristischen Gegenreaktion,
welche ihn nur um so entschiedener auf die Seite der häßlichen ‚neuen
Bourgeoisie‘ bringt:
Ma al solito volendo contrastare se stesso (in una scherma dove
ormai non si sapeva più che cosa di lui fosse autentico e cosa coartato) si
persuadeva che proprio la nuova borghesia degli alloggetti a *** fosse la
migliore che l’Italia potesse esprimere.
[36]
Ein weiterer und psychologisch verwandter Impuls, der an Quintos
Engagement Anteil hat, erwächst aus dem Gefühl des Intellektuellen, sozial und
ideologisch heimatlos zu sein. So kommen Quinto in der schon erwähnten Szene der
Diskussion mit Bensi und Cerveteri
[37]
die folgenden Gedanken, die offenkundig durch Motive von Sartre und
Gramsci geprägt sind:
Un tempo solo chi godeva d’una rendita agricola poteva fare
l’intellettuale, – pensò Quinto. – La cultura paga ben caro l’essersi liberata
da una base economica. Prima viveva sul privilegio, però aveva radici solide.
Ora gli intellettuali non sono borghesi e non sono proletari. [...]
[38]
Charakteristisch ist in diesem Gedankenmonolog die sehnsuchtsvolle
Erinnerung eines Literaten, der sich von der ‚ökonomischen Basis‘ getrennt
fühlt, an eine Kultur, welche einst – wie es heißt – ‚feste Wurzeln‘ („radici
solide“) besaß. Auch aus Quinto spricht folglich jene Sorge um die
‚Entwurzelung‘ bindungsloser Intellektualität, die etwa bei Barrès oder Bourget
zunächst ein prononciert konservatives Argument dargestellt hatte
[39]
, bei Sartre unter veränderten politischen Vorzeichen dann jedoch zu
einem nicht weniger wichtigen ‚linken‘ Ideologem avanciert war
[40]
. Wie Quinto sich später zeitweilig von seinem ligurischen
Bauvorhaben absentiert und bei einer Filmproduktion tätig wird, empfindet er das
Leben in Rom bald schuldbewußt als Evasion, das heißt: „[...] una vita senza
radici. E sempre più il pensiero della costruzione continuava a stargli dentro
come una spina.
[41]
Dagegen scheint die Solidarität mit Caisotti ihm einen festen
gesellschaftlichen Standpunkt geben zu können, dessen Vorteile er gegenüber dem
altbürgerlichen Milieu, dem sich der bis dahin ‚wurzellose‘ Intellektuelle
entfremdet hat, als neue, selbst gewählte Identität ausspielen möchte. Sobald
die Brüder Anfossi sich von den Relevanzzentren der Moderne nicht mehr
‚schuldhaft‘ entfernt glauben, sondern meinen, ‚in das ökonomische Leben der
Stadt integriert‘ zu sein („inseriti nella vita economica della città“)
[42]
, entwickelt Quinto auch im Hinblick auf die ortsansässigen Honoratioren
ein Selbstbewußtsein, das er aus dem Gefühl des Gleichklangs mit den
progressiven Bewegungen der Geschichte zieht:
Per la prima volta Quinto si sentì non più colpevolmente estraneo
a questo mondo avito ma parte d’un altro, da cui poteva guardare quello con
superiorità e ironia: il mondo della gente nuova, spregiudicata, abituata a
maneggiare il denaro.
[43]
Eben die Übereinstimmung mit dem, was er als den aktuellen historischen
Prozeß zu erkennen glaubt, ist nämlich letzten Endes das mächtigste Argument für
Quintos ökonomisches Engagement. Wenn er zum einen den Kontrast zu seinen
ästhetischen Neigungen und zum anderen eine ‚Verwurzelung‘ sucht, die ihm
Authentizität verschaffen soll, so findet er die entscheidende Legitimation doch
in jenem für eine ganze Generation verpflichtenden Sartreschen Pathos der
‚Situation‘, das verlangt, vorbehaltlos auf die Gegebenheiten der jeweiligen
geschichtlichen Lage einzugehen. Eine solche Emphase der radikalen (und
ästhetisch unbekümmerten) Aktualitätsnähe hat Sartre vor allem nach Kriegsende
artikuliert, beispielsweise – um nur einen Passus unter vielen zu zitieren – in
der Présentation der Zeitschrift Les
Temps modernes,wo er (wie immer mit kritischer
Distanzierung von Flaubert, dem „rentier de talent“, oder den Goncourt)
schreibt: ,,Puisque l’écrivain n’a aucun moyen de s’évader, nous voulons qu’il
embrasse étroitement son époque; elle est sa chance unique: elle s’est faite
pour lui et il est fait pour elle.“ Und weiter: ,,Nous ne voulons rien manquer
de notre temps: peut-être en est-il de plus beaux, mais c’est le nôtre; nous
n’avons que cette vie à vivre, au milieu de cette guerre, de cette révolution
peut-être.“
[44]
Selbstverständlich war es Sartre bei dem Postulat „nous
voulons qu’il embrasse étroitement son époque“ nicht unbedingt um eine
Verpflichtung des Intellektuellen zur Bauspekulation zu tun. Was Quinto sich aus
dem Sartreschen Diskurs – offenbar generationsspezifisch – angeeignet hat, ist
jedoch die Überzeugung von der zwingenden Autorität des historischen Moments,
einer Macht, welche alle Nostalgien und Sentimentalitäten
bürgerlich-ästhetischer Provenienz zunichte machen muß. Und so reagiert er auf
die Klagen der Mutter, die sich über die Zerstörung des alten Stadtbilds
beschwert, in der Tat mit der ostentativen Attitüde eines Sartre-Lesers, das
heißt: geradezu mit einem Anflug von „compiacimento ai più irreparabili guasti,
forse per un, residuo di giovanile volontà di scandalo, forse per l’ostentazione
di saggezza, di chi sa inutili le lamentele contro il moto della storia.“
[45]
Gewiß mag der, Anblick des Zements, der sich anschickt, den Ort seiner
Kindheit einzunehmen, Quinto für einen Augenblick bekümmern: „Ma bisogna dire
che egli era uomo storicista, rifiutante malinconie, uomo che ha viaggiato,
eccetera, insomma, non glie ne importava niente!“
[46]
Was den „uomo storicista“ dagegen bewegt, ist der Wille, dem „vero volto
dei tempi“ Genüge zu tun, wobei sich dieser Wille um so stärker auszeichnen
kann, je häßlicher die Züge sind,, welche das ‚wahre Gesicht‘ der Gegenwart
bietet. Daher registriert Quinto mit Befriedigung „che ogni sua mossa non faceva
che favorire l’ascesa dei Caisotti, un’equivoca e antiestetica borghesia di
nuovo conio, come antiestetico e amorale era il vero volto dei tempi.
[47]
Und schon vorher hat Quinto verschmäht, die
Bekanntschaft mit den ehemaligen Genossen zu erneuern, weil deren ‚altmodische‘
Solidarität nicht mehr geeignet scheint, den Herausforderungen der Aktualität –
hier: dem „vero senso dei tempi“ – stand zuhalten:
Erano brava gente, amica, senza diffidenza; ma Quinto non aveva
nessun desiderio di sentirsi tra amici, al contrario, il vero senso dei tempi
era nello stare sul chi vive, con la pistola puntata, come – appunto – tra
uomini d’affari, proprietari avveduti, imprenditori.
[48]
Die „temps modernes“ nämlich sind – wie Quinto (zu Unrecht?)
festzustellen, meint – idealtypisch eben in der Person Caisottis verkörpert,
welche die alten ,,progetti sulla società futura, sugli operai e gli
intellettuali“ historisch überholt hat. Demnach zieht sich Quinto bei der
Entscheidung für den ‚Sieger‘ Caisotti: – und gegen die ‚Verlierer‘ aus seiner
einstigen Partei – auch nicht einfach resignativ und privatistisch
zurück, sondern versucht, so ‚eng‘ wie möglich die Realität seiner ‚Epoche‘ zu
‚umarmen‘:
Paragonò Caisotti, guardingo, reticente, infido, a Masera
fiducioso, espansivo, pronto sempre a trovar conferme al suo ideale: certo, era
Caisotti a vivere la realtà dei tempi, ed anche, in certo modo, a patirla, ad
accettarne il peso, là dove Masera le sfuggiva, pretendeva di serbarsi franco,
leale, puro di cuore, in un mondo che era tutto il contrario
[49]
.
V.
Nach allem, was bisher gesagt wurde, dürfte deutlich geworden sein, daß
es in La speculazione edilizia um ein sehr ernstes und
diffiziles Thema geht. Man könnte das Thema als die Ambivalenz des
‚Historizismus‘ bezeichnen, näherhin als die Zweideutigkeit und Fehlbarkeit
aller Versuche, sich durch und für den Geist einer emphatisch neuen Zeit zu
engagieren. Aus dieser Ambivalenz, die ihr gleichsam allegorisches Bild immer
wieder in der Widersprüchlichkeit von Caisottis Gesichtsausdruck und Verhalten
findet, entsteht, was wir oben unter dem Begriff einer tieferen Paradoxie des
Romans angekündigt haben. Paradox ist die Geschichte, die hier erzählt wird,
insofern, als Quintos Engagement letztlich ja zweifellos auf eine Kapitulation
hinausläuft. Denn wenn Quinto sich einerseits in seiner Solidarität mit Caisotti
engagiert „a vivere la realtà dei tempi“, dann kann, ja muß das in unaufhebbarer
Ambivalenz andererseits bedeuten, daß Quinto und Caisotti gleichzeitig ein Paar
bilden „che accettano il mondo com’è“
[50]
.
Eben das „accettare“ – das Akzeptieren der Welt, wie sie ist – bildet
in Calvinos frühen Saggi nun aber ein permanentes
Skandalon und sozusagen den Unwert par excellence. Als einen Beleg unter vielen
zitieren wir einen Satz, den Calvino am Ende des Vortrags „Natura e storia nel
romanzo“ formuliert hat und dessen These in engem Zusammenhang mit dem zeitlich
benachbarten (und berühmteren) Aufsatz „Il mare dell’oggettività“ steht:
Una resa dell’individualità, e volontà umana di fronte al mare
dell’oggettività, al magma indifferenziato dell’essere non può non corrispondere
a una rinuncia dell’uomo a condurre il corso della storia, a una supina
accettazione del mondo com’è.
[51]
Dabei wird die Haltung der „acettazione del mondo com’è“, welche der
Passus zurückweist, an dieser Stelle ergänzt und erläutert durch den expliziten
Begriff der Kapitulation, die hier als eine „resa dell’ individualità, e volontà
umana“ erscheint. Sie hat die Funktion eines „mot-clef“, auf das
der Essayist Calvino beständig rekurriert, um den Gegenstand seines
ausgeprägtesten Widerwillens und offenbar auch seiner größten Gefährdung
auszudrücken. Er beschwört den Begriff als „resa alla vitalità e all’incultura“,
die er 1955 Vittorini zum Vorwurf macht, als „resa dell’uomo alla natura“ oder
in der allgemeinsten Form als „resa al labirinto“, der es – wie der Titel eines
anderen berühmten Aufsatzes postuliert – die „sfida al labirinto“
entgegenzusetzen gilt
[52]
. Durch Quinto Anfossi hat die „resa“ gewissermaßen ihren romanesken
Protagonisten erhalten. In Anlehnung an die Begriffe der „soggezione biologica“
und der „soggezione industriale“, von denen der Essay „La sfida al labirinto“
das Individuum bedroht sieht
[53]
, könnte man bei Quinto von einer Art ‚soggezione economica‘ sprechen,
der er eben deshalb anheimfällt, weil er mit forciertem Engagement ganz und gar
in seiner historischen ‚Situation‘ aufzugehen versucht.
So bedeutet die Geschichte der Speculazione edilizia
nicht allein eine Distanzierung von Sartres Pathos der Situation und der
unbedingten Autorität des Aktuellen. Sie macht die Haltung der
Selbstkontestation des Literaten, die hinter Sartres aktionistischer Poetik der
„temps modernes“ steht, vielmehr selbst zum Gegenstand ihrer Analyse, indem sie
den Protagonisten der Kapitulation mit manchen typischen Zügen des Sartreschen
Engagements versieht. Was für viele Autoren der Epoche unbefragt als
wirklichkeitsperspektivierende Norm galt, wird von Calvino – wenn man so will –
als ein durchaus dubioser Bestandteil dieser Wirklichkeit aufgefaßt; ja man
könnte sagen, daß die Thesen einer primären Ideologiekritik, die historisch
angeblich obsolete Positionen in Frage stellt, in La
speculazione edilizia einer sekundären Ideologiekritik verfallen,
welche vom Standpunkt eines Beobachters zweiter Ordnung aus enthüllt, wieviel an
neuer Ideologie eben auch in Perspektiven wirkt, die reklamieren, alte
Ideologien kritisch überwinden zu wollen.
Um die Mitte der fünfziger Jahre mußte eine solche Potenzierung der
ideologiekritischen Analyse, welche auch und gerade im engagierten den
kapitulierenden Intellektuellen sichtbar macht, zumindest im italienischen
Kontext etwas ziemlich Singuläres bleiben
[54]
.Bestätigt wird diese Singularität durch den positiven Gegenentwurf, den Calvino der Gestalt des
kapitulierenden Intellektuellen mit Cosimo, dem ‚Barone rampante‘, zur Seite
gestellt hat
[55]
. Wenn Quinto Anfossi sich vorbehaltlos der aktuellen Situation überläßt,
dann verkörpert Cosimo ihm gegenüber ja ein ‚Pathos der Distanz‘, bei dem die
Distanz dafür sorgen soll, daß das zeitgemäße Engagement nicht zu einem
Einverständnis mit dem Zeitgemäßen verkommt. Wie Quinto als romanesker
Protagonist der „resa“ agiert, symbolisiert Cosimo durch den hartnäckig
gewahrten Abstand seiner Baumexistenz einen anderen Calvinoschen
Schlüsselbegriff, den der „ostinazione“. Als „ostinazione nonostante tutto“und als „ostinazione senza
illusioni“ bildet er jeweils den appellativen Schluß jener Aufsätze „Natura e
storia del romanzo“ und „Il mare dell’oggettività“
[56]
, deren Hauptargument die kritische Analyse einer opportunistischen
Kapitulation vor dem Zeitgemäßen ausmacht. Im Barone rampante
fällt Calvinos positives „mot-clef“ schon im ersten Kapitel, wenn der
Erzähler Biagio angesichts von Cosimos nicht zu beschwichtigenden Protestakten
gesteht:
Di quest’accumularsi di risentimenti familiari mi resi conto solo
in seguito: allora avevo otto anni, [...] non capivo che l’ostinazione che ci
metteva mio fratello celava qualcosa di più fondo.
[57]
Was sich hinter der „ostinazione“ an ‚Tieferem‘ ‚verbirgt‘, zeigt dann
das Fazit, das Biagio im letzten Kapitel aus der Biographie seines Bruders
zieht, indem er pointiert paradoxal auf den gesellschaftlichen Wert
distanzierter Selbstbewahrung verweist:
[...] è altro che lui intendeva, qualcosa che abbracciasse tutto,
e non poteva dirla con parole ma solo vivendo come visse. Solo essendo così
spietatamente se stesso come fu fino alla morte, poteva dare qualcosa a tutti
gli uomini.
[58]
Es ist das ein Paradox, das Quintos kapitulierendes
Engagement quasi umkehrt: die Utopie einer produktiven Teilnahme am Sozialen,
die speziell aus der Treue zu sich selbst erwächst.
Freilich erscheint bezeichnend, daß Calvino die Züge dieser Utopie
allein in einer Erzählung ausgemalt hat, welche die Verklärung vergangener
Geschichte mit dem Märchenhaften vermischt
[59]
. Im engeren Rahmen des neorealistischen Gegenwartsromans war dagegen
bloß für eben die Verhältnisse Platz, auf die als Widerpart und geschichtlichen
Anlaß sich das utopische Konzept zurückbeziehen läßt. In solchen Verhältnissen
ist das „mare dell’oggettività“ anscheinend übermächtig geworden, und während es
Cosimo noch so utopisch wie märchenhaft gelingt, ‚unbedingt er selbst zu sein‘,
kann Quinto Anfossi die Frage nach dem Selbst nicht mehr entscheiden; denn die
widerstreitenden Diskurse und Interessen der Moderne haben ihn zu einer Person
von zerfallender Identität gemacht, bei der unklar geworden ist, „che cosa di
lui fosse autentico e cosa coartato“.
Hat sich die Bestimmung dessen, was dem Individuum das Eigene ist, aber
erst einmal aufgelöst, wird es offenbar auch immer schwerer, Geschichten zu
einem Abschluß zu bringen und literarische Werke ‚abschließend‘ zu runden. So
war Calvino im Poetologischen gewiß ein voluntaristischer Anhänger der „forme
chiuse“, die er in dem Aufsatz „La sfida al labirinto“ – seinerseits durchaus
unzeitgemäß – gegen Umberto Ecos Poetik der „opera aperta“ verteidigt
[60]
. Bei dem praktischen Versuch, mühsam einen neorealistischen Roman zu
schreiben, ist das Thema vom Kollaps des individuellen Engagements
jedoch auch auf der Ebene der Erzählstruktur, wo es eher die „forme aperte“
begünstigt, folgenreich geworden. Jedenfalls hat es hier zu einem Romanende
geführt, das die erzählte Geschichte resigniert undramatisch und offen im Sande
verlaufen läßt, nicht unähnlich dem Ende der Éducation
sentimentale,deren sonst mißtrauisch
betrachtetem Autor Calvino in La speculazione edilizia
näher stand, als ihm selbst bewußt sein mochte.
1 |
Zur Publikationsgeschichte dieser Kurzromane vgl. die Notizen
von Mario Barenghi und Claudio Milanini in: Italo Calvino, Romanzi e
racconti, I Meridiani, Milano 1991, Bd. 1, S. 1329ff. und 1338ff. |
2 |
Die drei programmatischen Begriffe entstammen der von Calvino
unter dem Anagramm Tonio Cavilla redigierten und kommentierten
Schulausgabe des Romans: I. Calvino, Il barone rampante, prefazione e
note di Tonio Cavilla (Letture per la scuola media. 4), Torino 41973,
S. 5f. |
3 |
So die Einschätzung von Barenghi; vgl. Calvino, Romanzi (vgl.
Anm. 1), S. 1329. |
4 |
Vgl. Calvino, I libri degli altri, a cura di Giovanni Tesio,
Torino 1991, S. 224f. Irreführend ist hier Tesios Kommentar, der die
Editionen von 1957 und (gekürzt) 1958 übersieht und allein auf die 1963
in der Reihe „I Coralli“ erschienene Ausgabe verweist. Näheres zur
‚schwierigen‘ Entstehung des Textes bei Martin L. Mc Laughlin, „The
Genesis of Calvino’s La speculazione edilizia“, Italian Studies Bd.
48/1993, S. 71–85. |
5 |
Als wolle er damit bereits die ironische Boutade belegen, mit
welcher der Autor von Se una notte später die Lesererwartung auf den
„inconfondibile accento dell’autore“ enttäuschen wird: „Ma, a pensarci
bene, chi ha mai detto che questo autore ha un accento inconfondibile?
Anzi, si sa che è un autore che cambia molto da libro a libro. E proprio
in questi cambiamenti si riconosce che è lui“ (Calvino, Se una notte
d’inverno un viaggiatore, Torino 1979, S. 9). |
6 |
Vgl. Calvino, Il barone rampante, prefazione [...] di T.
Cavilla (vgl. Anm. 2), S. 5. |
7 |
Vgl. Calvino, Il barone rampante (I Coralli. 79), Torino
141970, S. 246 und 37. |
8 |
S. 119. |
9 |
Calvino, Il barone rampante, prefazione [...] di T. Cavilla
(vgl. Anm. 2), S. 9. Ähnlich äußert Calvino sich zum Motiv der „assenza
degli alberi“ als Ursprung einer gleichsam kontrafaktischen Baumvision
ebd. S. 67: „[ ...] il narratore apocrifo (Biagio) e l’Autore real si
trovano dunque nella stessa situazione, parlano di qualcosa che non
esiste più, fantasticando fissando un cielo vuoto. La visione degli
alberi – degli alberi che si moltiplicano fino a coprire tutto il
paesaggio – nasce dall’assenza di alberi. Gran parte della letteratura
moderna nasce da questo senso di assenza [...]“. |
10 |
Vgl. K. Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein
der Stadt, München/Wien 1993, S. 12–50 und passim. |
11 |
Calvino, La speculazione edilizia (Nuovi Coralli. 46), Torino
1973, S. 10. |
12 |
Auffällig ist an dem Passus, der einst („un tempo“) und jetzt
(„ora“) kontrastiert, vor allem die Abstraktheit der geometrischen
Fachtermini („parallelepipedi e poliedri“), die den gegenwärtigen
Zustand wiedergeben und von der Zeichenfülle der Vergangenheit
unterscheiden sollen. Außerdem folgt dem Polysyndeton des Blicks über
die alte Stadt eine stärker asyndetisch gefügte Reihung, welche
gleichsam mit scharfen Kanten die blickversperrenden Objekte der neuen
Stadt aufzählt. |
13 |
Vgl. Calvino, Le città invisibili, Torino 21972, S. 135: „[...]
il mondo è ricoperto da un’unica Trude che non comincia e non finisce,
cambia solo il nome all’aeroporto.“ Von der gleichen Entwicklungstendenz
handelt Stierle, wenn er in Anlehnung an Adornos und Horkheimers
Dialektik der Aufklärung oder Baudrillards L’échange symbolique et la
mort die Indifferenz der „ortlose(n) ubiquitäre(n) Urbanität
Kaliforniens“ anspricht; vgl. Der Mythos von Paris (vgl. Anm. 10),
S. 35f. Daß der Schrecken vor der Stadt, die ‚nicht beginnt und nicht
endet‘, bei Calvino auch poetologische Hintergründe hat, zeigt etwa der
Hinweis auf seine ,,ansia per il problema del cominciare e del finire“
im einleitenden Vortrag der Norton Lectures; vgl. Calvino, Saggi, a cura
di Mario Barenghi (I Meridiani), Milano 1995, Bd. 1, S. 734–753, hier
S. 750. |
14 |
Calvino, Le città (vgl. Anm. 13), S. 146. Zur „radikalen
Skepsis“, die insbesondere das „spätere Werk“ Calvinos in solchen und
ähnlichen Zukunftsvisionen zum Ausdruck bringt, vgl. Peter Kuon,
„Utopie-Kritik und Utopie-Entwurf in Le città invisibili von Italo
Calvino“, Italienische Forschungen Bd. 10/1987, S. 133–148, hier
S. 148. |
15 |
Calvino, Il barone rampante (vgl. Anm. 7), S. 246 und 243. |
16 |
Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 107f. Die
Zentralität des Passus betonen beispielsweise Germana Pescio Bottino,
Italo Calvino (Il Castoro. 3), Firenze 21976 (1. Ausg. 1967), S. 74, und
insbesondere Contardo Calligaris, Italo Calvino (Profili. 29), Milano
1973, S. 60f. |
17 |
Zu Calvinos zwiespältiger Flaubert-Rezeption, die zwischen
deklariertem Unbehagen – wie im Aufsatz „Natura e storia nel romanzo“ –
und geheimer Faszination – wie in der ,Lezione‘ „Cominciare e finire“ –
schwankt, vgl. Vf., „Italo Calvino und die Poetik des Barone rampante“,
Italienisch Bd. 20/1988, S. 39–51, bes. S. 47ff. Die vielleicht
prononcierteste Äußerung von Unbehagen bietet Calvino, Una pietra sopra.
Discorsi di letteratura e società (Gli struzzi. 219), Torino 1980,
S. 26. |
18 |
Vgl. Calvino, Saggi (vgl. Anm. 13), Bd. 2, S. 2722f. |
19 |
Als Vorbild von „romanzi d’azione“, die konstant gegen eine
Poetik der Deskriptivität ausgespielt werden, gilt für Calvino seit
seinen literarischen Anfängen speziell das Werk Stendhals. In Stendhal
feiert Calvino sowohl – etwas forcierend – das Ideal einer „lucidità
razionalista settecentesca“ wie mehr noch einen „disincantato moralista
dell’azione“; vgl. Calvino, Una pietra (vgl. Anm. 17), S. 15, und ders.,
Il barone rampante, prefazione [...] di T. Cavilla (vgl. Anm. 2),
S. 90. |
20 |
Vgl. zu dieser Episode Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11),
S. 136f. |
21 |
Während ich – nicht ohne Zweifel – für die erste Sehweise
plädieren würde, scheint Cristina Benussi eher der zweiten folgen zu
wollen; vgl. C. Benussi, Introduzione a Calvino (Gli scrittori. 10),
Bari 1989, S.54: „la lotta di classe si è trasformata in competizione
economica“. |
22 |
Zur Permanenz dieses Leitmotivs vgl. Calvino, La speculazione
(vgl. Anm. 11), S.21ff., 67ff. oder 95ff. |
23 |
S. 138. |
24 |
Von ihr weicht partiell eigentlich nur das 14. Kapitel ab, das
in der 1958 erschienenen Kurzfassung bezeichnenderweise auch gestrichen
worden war. Der Befund von Susanne Eversmann, der die „Erzählhaltung“
des Romans insgesamt als „auktorial“ gilt, ist daher irreführend; vgl.
S. Eversmann, Poetik und Erzählstruktur in den Romanen Italo Calvinos
(Romanica Monacensia. 15), München 1979, S. 131. |
25 |
Zu dieser Problematik, die für den realistischen Roman aus den
Eigengesetzlichkeiten einer komplexen Berufswelt resultiert, vgl. Vf.,
„Die Normalität des Berufsbürgers und das heroisch-komische Register im
realistischen Roman – Zu Balzacs César Birotteau“, in: Erzählforschung.
Ein Symposion, hrsg. von Eberhard Lämmert (Germanistische Symposien.
Berichtsbände. 4), Stuttgart 1982, S. 457–469, bes. S. 460ff. Wie die
Unanschaulichkeit der speziell kapitalistischen Verkehrsformen durch das
ganze 19. Jahrhundert von der forcierten Anschaulichkeit und
Leibhaftigkeit des Abenteuerromans kompensiert wird, hat mit
scharfsichtigen Analysen Volker Klotz (Abenteuer-Romane, München/Wien
1979, S. 22–26 und passim) gezeigt. Man darf annehmen, daß gewisse Züge
dieses Kompensationswillens auch in Calvinos ‚obstinater‘ Emphase von
„avventura“ und „azione“ fortleben, welche sich mit Vorliebe auf Autoren
wie Dumas oder Stevenson beruft. |
26 |
Deshalb scheint mir Vittorinis Begriff des „neo-balzacchismo“
in bezug auf die Textstruktur der Speculazione edilizia trotz des
verhaltenen Beifalls von Calvino auch nicht ganz adäquat zu sein. Daß
der Begriff etwas Inadäquates hat, bezeugt unfreiwillig Contardo
Calligaris, der einerseits den „neo-balzacchismo“ als Generalschlüssel
seiner Interpretation verwenden möchte und andererseits in dem Roman
einen „monismo della terza persona“ und eine „assenza totale del
soggetto scrittore“ wahrnimmt, welche ihm den Befund nahelegen: „lo
scrittore non si riserva spazio alcuno“; vgl. C. Calligaris, Italo
Calvino (vgl. Anm. 16), S. 59. Ein solches Verschwinden der
Erzählersubjektivität wäre aber eben keineswegs „neo-balzacchismo“,
sondern – allen Calvinoschen Reserven zum Trotz – ein „atteggiamento
neo-flaubertiano“. |
27 |
Wie der pointierte Schlußsatz des ersten Kapitels endet;
vgl. Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 12. |
28 |
Vgl. S. 51. |
29 |
Jedenfalls stimuliert der ‚undurchschaubare Unternehmer‘ Quinto
zu einer distanzlosen und desorientierten „Suche nach Wahrheit“, wie sie
anderenorts – bei Proust, Svevo oder Robbe-Grillet – die von Eifersucht
besessenen Protagonisten des modernen Romans kennzeichnet; vgl. dazu die
klugen Bemerkungen von Roland Galle, „Eifersucht und moderner Roman“,
in: Italo Svevo. Ein Paradigma der europäischen Moderne, hrsg. von
Rudolf Behrens/Richard Schwaderer, Würzburg 1990, S. 21–36. |
30 |
Vgl. z. B. S. Eversmann, Poetik (vgl. Anm. 24), S. 132f., C.
Calligaris, Italo Calvino (vgl. Anm. 16), S. 59ff., oder C. Benussi,
Introduzione (vgl. Anm. 21), S. 51ff. |
31 |
Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 15. |
32 |
S. 12. |
33 |
Vgl. S. 23. |
34 |
S. 42. |
35 |
Vgl. ebd. S. 129. Wie gegenwärtig Calvino das Werk Thomas Manns
gewesen ist, beweist im übrigen das Erzählarrangement des Barone
rampante, das im 1960 verfaßten Nachwort zu der Trilogie I nostri
antenati als „il ben noto dispositivo Serenus Zeitblom“ bezeichnet wird;
vgl. Calvino, Romanzi (vgl. Anm. 1), S. 1218. |
36 |
Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 86f. |
37 |
Für diese Szene ist kennzeichnend, daß sie leicht ins
Karikaturale stilisiert wird, was hier dazu dient, Quintos Überdruß an
nunmehr als fruchtlos empfundenen ideologischen Auseinandersetzungen zu
unterstreichen. Dabei rekurriert Calvino auf die Figur des antithetisch
komplementären Doppelporträts, welche den Philosophen Bensi als
„strabico all’infuori“, den Dichter Cerveteri als „strabico
all’indentro“ darstellt (vgl. S. 41). Eine solche komisierende
Rhetorisierung der Bildung von „caractères“, bei denen man eher an La
Bruyère als an Balzac denkt, widerspricht genaugenommen der
neorealistischen Poetik, kehrt aber auch in der Zeichnung von zwei
gegensätzlichen Bauarbeitern wieder (vgl. S. 80) und zählt überhaupt zu
Calvinos schriftstellerischen Lieblingsfiguren, die ihn einer speziell
moralistischen Tradition verpflichtet zeigen. Ein typisches (und
wesentlich elaborierteres) Beispiel aus dem späteren Werk bildet etwa
Silas Flannerys „progetto di racconto“ von einem ,scrittore produttivo“
und einem ,,scrittore tormentato“; vgl. Calvino, Se una notte (vgl. Anm.
5), S. 172ff. |
38 |
Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 42. |
39 |
Die für dieses Argument kanonischen Texte sind vor allem
Bourgets Kritik des „Dilettantisme“ im Renan-Aufsatz der Essais de
psychologie contemporaine, eine Kritik, welche der ,,théorie du
détachement sympathique à l’égard des objets de la passion humaine“ –
also einer Theorie des Anti-Engagements – gilt, sowie Barrès’ Roman Les
Déracinés, der nicht zufällig Bourget gewidmet ist und das
Bildungssystem der „humanités“ angreift, weil es den Heranwachsenden
kein „lien social“ liefere; vgl. Paul Bourget, Essais de psychologie
contemporaine, Paris 1924 (1. Ausg. 1883), Bd. 1, S. 57, und Maurice
Barrès, Les Déracinés, préface de Jean Borie (Collection Folio. 1983),
Paris 1988, S. 280. |
40 |
So beginnt der programmatische Essay, durch den Sartre Les
Temps modernes vorstellt, mit einer energischen Distanzierung von
literarischen Werken, die „bien gratuits, bien privés de racines“ sind
und als deren Autor ein idealtypischer „dilettante“ fungiert, der
‚Bindung‘ (Bourget) bzw. ,Engagement‘ (Sartre) verweigert und sich statt
im Zentrum vorzugsweise an den Rändern der Gesellschaft aufhält: „Ainsi
se met-il en marge de la société, ou plutôt il ne consent à y figurer
qu’au titre de pur consommateur: précisément comme le boursier“; vgl.
Jean-Paul Sartre, Situations, II, Paris 1968 (1. Ausg. 1948), S. 9.
Überhaupt existieren zwischen dem ‚linken‘ Sartre und dem ‚rechten‘
Bourget erstaunliche diskursive Parallelen. Sie betreffen insbesondere
Sartres Stellungnahmen gegen den „esprit d’analyse“ als
klassenspezifische Mentalität der Bourgeoisie und gegen die angeblich
aus dem ‚Geist der Analyse‘ erwachsene „irresponsabilité du poète“ (vgl.
S. 17ff.): Stellungnahmen, die bis in die Wortwahl hinein mit Bourgets
Protesten gegen die „implacable analyse“ und die
‚Verantwortungslosigkeit‘ des Psychologen übereinstimmen, wie sie vor
allem in dem Taine-Aufsatz der Essais und im Roman Le Disciple
vorgetragen werden. Durch solche Parallelen mag sich erklären, daß
Sartres Rhetorik der sozialen Verantwortung, wenn man sie strikt
wörtlich nimmt, insgeheim totalitäre Züge offenbart, während sie bei
wohlwollender Betrachtung – wie Karlheinz Stierle konstatiert – ‚in
Gefahr gerät, jeden präzisen Umriß zu verlieren‘; vgl. Stierle,
„Interpretations of Responsibility and Responsibilities of
Interpretation“, New Literary History Bd. 25/1994, S. 853–867, hier
S. 860. |
41 |
Vgl. Calvino, La Speculazione (vgl. Anm. 11), S. 123f. |
42 |
Vgl. S. 50. Freilich verläßt die Brüder nie der Verdacht, daß
ihr Wechsel vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft eine Art Selbstbetrug
sein könnte: „[...] pareva loro [...] d’essere due fratelli del luogo
molto indaffarati, [...] con tutta una rete d’interessi che faceva capo
a loro, gente pratica, brusca, che bada al sodo. Stavano recitando e lo
sapevano.“ |
43 |
S. 58. |
44 |
Sartre, Situations (vgl. Anm. 40), S. 12f. |
45 |
Vgl. Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 11. |
46 |
Ebd. |
47 |
Vgl. S. 37. An dieser Stelle, dem Übergang vom sechsten zum
siebten Kapitel, wird Caisotti (und mit ihm die „borghesia di nuovo
conio“) von Quinto nicht nur gegenüber dem alten Bürgertum seiner
Heimatstadt, sondern gerade auch gegenüber den Intellektuellen der
Metropolen und deren eitlen ‚Projekten‘ zum ‚Sieger‘ der Geschichte
erklärt: „Ha vinto Caisotti“ (ebd.). |
48 |
S. 32. |
49 |
Ebd. Indem der alte Genosse Masera hier – wie tendenziell
ebenfalls im letzten Kapitel des Romans – in einer symbolischen
Äquivalenz mit der „vecchia borghesia“ nach Art von Quintos Mutter
wahrgenommen wird, hebt sich für Quinto die früher bedeutsame
Distinktion sozialer Klassen und Mentalitäten auf, um statt dessen einer
jetzt allein dominant gesetzten Distinktion historischer Phasen und
Momente Platz zu machen. |
50 |
Vgl. S. 32, 107, sowie 34: „Quinto adesso si sentiva solidale
con Caisotti“. |
51 |
Calvino, Una pietra (vgl. Anm. 17), S. 38. |
52 |
Vgl. S. 9, 37 und 96. |
53 |
Vgl. S. 93, wo es über die von Calvino wenig geliebte „linea
viscerale dell’avanguardia“ heißt: „La linea ,viscerale‘
dell’avanguardia ci porta oggi dunque di fronte all’alternativa tra la
soggezione biologica e la soggezione industriale“. Zu dieser Richtung,
die von der milder kritisierten linea razionalista dell’avanguardia“
abgesetzt wird, gehören in Calvinos Verständnis etwa „l’espressionismo,
Celine (sic), Artaud, una parte di Joyce, il monologo interiore, il
surrealismo più umido, Henry Miller“ (S. 89). |
54 |
Auch außerhalb Italiens hat die literarische Akzeptanz der
aktualistischen und aktionistischen Ethik, unter deren Normen Sartre
seine Ideologiekritik von ‚Inauthentizität‘ und ‚falschem Bewußtsein‘
betrieb, bemerkenswert lange angehalten. Ein eklatantes Beispiel dafür
bietet das nicht zuletzt von Calvino – wie zwei Würdigungen freilich
speziell der Historias de cronopios y de famas zeigen (vgl. Saggi [vgl.
Anm. 13], Bd. 1, S. 1303–1308) – hochgeschätzte Erzählwerk Julio
Cortázars. In ihm stellt etwa die Erzählung Los pasos en las huellas mit
originär Sartreschen Diskurselementen dar, wie ein inauthentisches
literarisches Forminteresse die Authentizität eines Lebens verfälscht
(vgl. Cortázar, Octaedro, Barcelona 1988, 1. Ausg. 1974, S. 21–46, hier
S. 44ff.). Besonders frappant erscheint der Fall der späten Erzählung
Diario para un cuento. Bei ihr beruft das auktoriale Unbehagen vor der
geschlossenen Form des „cuento“, die am Ende in paradoxaler Manier doch
virtuos erfüllt wird, sich nominell auf Derrida, während es in den
entscheidenden Diskurselementen dann deutlich die Lektüre von Qu’est-ce
que la littérature?, zumal der dort entwickelten Kritik an den
distanzierenden Ordnungsstrukturen von Maupassants Novellen, erkennen
läßt (vgl. Cortázar, Deshoras, Madrid 1987, 1. Ausg. 1982, S. 139–173,
bes. 139ff. und 171ff.). |
55 |
Daß Cristina Benussi in Cosimo weniger einen Gegenentwurf als
vielmehr eine partielle Präfiguration Quintos erblickt, ist wohl als ein
originelles, aber kaum anschlußfähiges ‚misreading‘ der beiden Romane zu
werten; vgl. C. Benussi, Introduzione (vgl. Anm. 21), S. 52: „Cosimo,
negli ultimi anni della sua vita, non aveva disdegnato certe comodità di
un’esistenza pur da passare sugli alberi; Quinto Anfossi va oltre e
svela il proprio attaccamento alla logica borghese.“ |
56 |
Vgl. Calvino, Una pietra (vgl. Anm. 17), S. 38 und 45. |
57 |
Calvino, Il barone rampante (vgl. Anm. 7), S. 10. |
58 |
S.243. |
59 |
Zur Bedeutung des Märchens, das für Calvinos Erzählwerk sowohl
ein narratives Modell von konturierter Form wie ein konzeptuelles Modell
von ,obstinatem‘ Optimismus liefert, vgl. Calvino, Sulla fiaba, a cura
di Mario Lavagetto (Saggi brevi. 1), Torino 1988, außerdem die
Kongreßakten Inchiesta sulle fate. Italo Calvino e la fiaba, a cura di
Delia Frigessi (Biblioteca di lingue e culture locali. 7), Bergamo 1988.
Den Höhepunkt der Kongreßakten bildet Mario Barenghis Essay „Il fiabesco
nella narativa di Calvino“ (ebd. S. 27–37), der die treffende These
vertritt, daß in Calvinos Neigung zum Märchenhaften gleichsam dessen
Vorlieben für Ariost und Galilei zusammenkämen, und zwar nicht
dergestalt, daß er im Märchen das Fantastische und in der Wissenschaft
das Rationale suche, sondern eher umgekehrt: „[...] egli si avvale della
ragione intrinseca e della logica costruttiva della fiaba, mentre dalla
scienza [...] desume gli aspetti di creatività, di intuizione, di
invenzione“ (S. 35). |
60 |
Vgl. Calvino, Una pietra sopra (vgl. Anm. 17), S. 91. Calvino
zieht dort neben Ecos Plädoyer für die „forme aperte“ auch eine scharfe
Trennung zwischen „tradizione“ und „avanguardia“ in Zweifel, welche ja –
wie er zurecht moniert – eine „fede storicistica che oggi appare troppo
semplice“ voraussetzt. Die prinzipielle Präferenz von „forme chiuse“
bildet im übrigen zweifellos einen der tiefsten Gründe für Calvinos
bewußten Widerstand gegen Flaubert und das „atteggiamento
neo-flaubertiano“, das er speziell bei Carlo Cassola zu beobachten
meint. So enthält der Essay „Il romanzo come spettacolo“ einen
aufschlußreichen Satz, der lediglich auf den ersten Blick Anerkennung,
im Grunde aber dezidierte Kritik zum Ausdruck bringt: „Giustamente
Cassola fa segnare a Flaubert la fine del romanzesco (per questo
Flaubert va riconosciuto come l’iniziatore della dissoluzione delle
forme letterarie che sarà poi programma delle avanguardie), e
giustamente lo tiene presente come modello costante della sua poetica
personale“ (S. 218). |