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Quelle: Werk und Diskurs. Karlheinz Stierle zum 60. Geburtstag, hgg. D. Ingenschay/H. Pfeiffer, München, Fink, 1999, S. 377–395.

Engagement als Kapitulation

Zu Italo Calvinos Kurzroman La Speculazione Edilizia

Mit Il barone rampante und La speculazione edilizia wurden von Italo Calvino 1957 zwei „brevi romanzi“ veröffentlicht [1] , die in einem so dichten wie widersprüchlichen Zusammenhang stehen. Il barone rampante,der die neorealistische Poetik zugunsten der Merkmale „Umorismo, fantasia, avventura“ aufkündigt [2] , entstand zwischen Dezember 1956 und Februar 1957 in einer ,,stesura piuttosto rapida“: „quasi un felice, spumeggiante interludio [...] che interrompe la faticosa gestazione della Speculazione edilizia [3] . La speculazione edilizia,die der neorealistischen Poetik im weiteren Sinn treu zu bleiben versucht, hat Calvino dagegen enorme Mühe gekostet. Noch im Mai 1957 heißt es in einem an Pietro Citati gerichteten Brief, der auch interessante Aufschlüsse über den gerade fertiggestellten Barone rampante enthält: „Ora sto scrivendo La speculazione edilizia,tutto introspettivo e psicologico. Molto difficile, accidenti !“ [4]
So verschiedenartig die poetologischen Programme sind, die Calvino in den beiden Romanen verfolgt [5] , so gibt es zwischen den Texten doch auch unverkennbare thematische Gemeinsamkeiten. Eine solcher Gemeinsamkeiten besteht etwa in dem Umstand, daß La speculazione edilizia sich gleichsam als die traurige realhistorische Fortsetzung des märchenhaft utopischen Barone rampante lesen läßt. Schon im Barone rampante wird ja aus einer geschichtlichen Situation erzählt, in der die Baumwelt, welche Cosimos Existenz in einer „minima ma invalicabile distanza [...] tra sé e i suoi simili“ möglich machte [6] , verschwunden ist. Daß die Wälder Ombrosas inzwischen der „furia della scure“ zum Opfer gefallen sind, bringt der melancholische Erzähler Biagio mehrfach zum Ausdruck, beispielsweise am Beginn des vierten Kapitels, wenn er bemerkt: „I dossi sono nudi che a guardarli, noi che li conoscevamo da prima, fa impressione.“ [7] Am eindringlichsten wird die Vernichtung jenes ‚paesaggio ligure‘, den Il barone rampante nostalgisch beschwört, wohl am Ende des 13. Kapitels angesprochen. Dort erinnert Biagio zum einen an Cosimos gleichzeitig zivilisierten und ökologischen Umgang mit der Natur: „Così, questa natura d’Ombrosa ch’egli aveva trovato già tanto benigna, con la sua arte contribuiva a farla vieppiù a lui favorevole, amico a un tempo del prossimo, della natura e di se medesimo.“ Zum anderen ist von späteren Generationen die Rede, deren Naturverhältnis sich von dem Cosimos radikal unterscheidet: „Poi, bastò l’avvento di generazioni più scriteriate; d’imprevidente avidità, gente non amica di nulla, neppure di se stessa, e tutto ormai è cambiato, nessun Cosimo potrà più incedere per gli alberi.“ [8]
Eben diese „gente non amica di nulla, neppure di se stessa“ bildet nun Personal und Gegenstand des „breve romanzo“ La speculazione edilizia,so wie Il barone rampante seinen wahrhaft positiven Helden als „amico a un tempo del prossimo, della natura e di se medesimo“ präsentiert. Demnach ergibt La speculazione edilizia gewissermaßen den Rahmen, in dem Il barone rampante das verklärte Bild einer Landschaft evoziert, deren endgültige Zerstörung sich in dem die Evokation rahmenden Roman vollzieht. Im Vorwort zur Schulausgabe des Barone rampante hat Calvino selbst diesen Zusammenhang ausdrücklich thematisiert:
Ma tutto questo paesaggio geografico e ideale appartiene al passato: sappiamo che la Riviera in questo dopoguerra è diventata irriconoscibile per il modo caotico in cui si è riempita di caseggiati urbani fino a trasformarsi in una distesa di cemento; sappiamo che le speculazioni economiche e un facile edonismo dominano i rapporti umani di una larga parte della nostra società. Ed è solo da tutti questi elementi sommati insieme che possiamo ricavare la radice lirica del libro, la prima spinta dell’invenzione poetica. [9]
Als Entwurf einer ökologischen Utopie und als Darstellung der aktuellen ökologischen Realität gehören Il barone rampante und La speculazione edilizia folglich zusammen. Wo der Baron auf den Bäumen im Geiste einer idealisierten Aufklärung Natur und Kultur gleichermaßen gepflegt hatte, löst die entfesselte Bauspekulation, welche den Boom der fünfziger Jahre begleitet, jetzt ein Werk der Natur- und Kulturvernichtung aus. Es zerstört, was im ohnehin schon reduzierten Garten der Mutter des Protagonisten von der üppigen Vegetation des Barone rampante übrig geblieben ist, und es raubt der Küstenstadt alias San Remo zugleich, was einst deren unverwechselbare Urbanität oder – um mit Karlheinz Stierle zu sprechen [10] – „Lesbarkeit“ ausgemacht hat. War sie früher nicht anders als Paris ein Ensemble bestimmter Zeichen gewesen, welche die Differenzen von „città vecchia“ und „città nuova“, Villenviertel und Hafen markierten, so ist sie nun dabei, die Indifferenz einer „distesa di cemento“ anzunehmen:
Quando Quinto saliva alla sua villa, un tempo dominante la distesa dei tetti della città nuova e i bassi quartieri della marina e il porto, più in qua il mucchio di case muffite e lichenose della città vecchia, tra il versante della collina a ponente dove sopra gli orti s’infittiva l’oliveto, e, a levante, un reame di ville e alberghi verdi come un bosco, sotto il dosso brullo dei campi di garofani scintillanti di serre fino al Capo: ora più nulla, non vedeva che un sovrapporsi geometrico di parallelepipedi e poliedri, spigoli e lati di case, di qua e di là, tetti, finestre, muri ciechi per servitù contigue con solo i finestrini smerigliati dei gabinetti uno sopra l’altro. [11]
In dem Vergleich der zeichenhaft gegliederten Vedute von einst mit dem gestaltlosen Stadtbild, das Horizont und Thema der Speculazione edilizia bildet [12] , eröffnet Calvino einen Motivkomplex, den er dann später durch Le città invisibili noch einmal vertiefen wird. Was hier mit der Küstenstadt geschieht, wiederholt sich dort in der negativen Utopie der „città continue“, welche – wie das Beispiel der universalen Stadt „Trude“ zeigt – Differenzen und Identitäten verloren haben [13] . Mit ihnen ist ein Ende der Formen erreicht, das zugleich ein Ende der „città“ im doppelten Sinn von Stadt und Gemeinwesen bedeutet. Jedenfalls beobachtet der Gran Kan die Duplizität dieser Auflösung in den Blättern des Atlas, der ihm neben den bekannten Städten seines Reichs die ‚unsichtbaren Städte‘ der Zukunft vorstellt:
Dove le forme esauriscono le loro variazioni e si disfano, comincia la fine delle città. Nelle ultime carte dell’atlante si diluivano reticoli senza principio né fine, città a forma di Los Angeles, a forma di Kyoto-Osaka, senza forma. [14]
So steht auch in La speculazione edilizia der Form- und Zeichenverlust des Stadtbilds für den gleichzeitigen Verlust politisch-gesellschaftlicher Hoffnungen. Schon der Barone rampante hatte das Verschwinden der Bäume, das den Himmel über Ombrosa leer macht, gleichsam mit dem ‚Schatten der Restauration‘ überein kommen lassen, weshalb es im letzten Kapitel zur Herstellung symbolischer Äquivalenz einerseits hieß: „Il cielo è vuoto, e a noi vecchi d’Ombrosa, abituati a vivere sotto quelle verdi cupole, fa male agli occhi guardarlo“, andererseits: „[...] tutti i novatori – giacobini o bonapartisti che fossero – sconfitti; l’assolutismo e i gesuiti rianno il campo; gli ideali della giovinezza, i lumi, le speranze del nostro secolo decimottavo, tutto è cenere.“ [15] Aus dem Allegorischen und Historischen ins Neo-Realistische übertragen, beschreibt La speculazione edilizia den gleichen Prozeß eines zweifachen Verfalls. Er wird quasi thesenhaft resümiert, wenn der Romanprotagonist Quinto Anfossi, ein Intellektueller von eklatant unglücklichem Bewußtsein, in seinem Komplizen und Gegenspieler, dem Bauunternehmer Caisotti, einen alten Genossen aus den Tagen der Resistenza wiedererkennt und danach zu den folgenden Überlegungen ansetzt, die von den Interpreten allgemein als eine Art zeitkritisches Fazit der Erzählung betrachtet werden:
Bella curva aveva fatto la società italiana! esclamava tra sé. Due partigiani, un paesano e uno studente, due che s’erano ribellati insieme con l’idea che l’Italia fosse tutta da rifare; e adesso eccoli lì, cosa sono diventati, due che accettano il mondo com’è, che tirano ai quattrini, e senza più nemmeno le virtù della borghesia d’una volta, due pasticcioni dell’edilizia, e non per caso sono diventati soci d’affari, e naturalmente cercano di sopraffarsi a vicenda […] [16]
Tatsächlich verleiht diese Reflexion dem Geschehen eine Figur und einen Sinn, welche dem Idealtyp von Flauberts Desillusionsroman L’Éducation sentimentale verwandt sind. Eine solche Affinität, die ja auch durch die diegetisch schwache Schlußbildung der Speculazione edilizia zum Ausdruck kommt, wirkt um so bemerkenswerter, als Calvino zeit seines Lebens nicht abgelassen hat, sich gegen den – wie er wohl meinte – nihilistischen Sog der Flaubertschen Romane zur Wehr zu setzen [17] . 1959, also zwei Jahre nach dem Erscheinen seiner beiden komplementären „brevi romanzi“, nimmt er in einem Interview sogar explizit gegen eine schriftstellerische Attitüde Stellung, welche er als ein „atteggiamento neo-flaubertiano“ bezeichnet und weiten Teilen der italienischen Gegenwartsliteratur zum Vorwurf macht [18] . Grund für die Kritik ist die (entfernt gewiß noch von Lukács geprägte) Befürchtung, die ‚neo-flaubertianische‘ Haltung führe zu einer „descrittività statica, passiva e stanca“. Daher empfiehlt Calvino im gleichen Interview als alternative Vorbilder Stendhal oder Balzac, in deren Tradition er – einem Aperçu von Elio Vittorini folgend – auch La speculazione edilizia situiert. Zwar wolle er mit diesem Text die „coscienza completa di ogni processo degenerativo“ vermitteln, doch in einer Haltung der „mimesi attiva della negatività“, bei der die Aktivitätskomponente pointiert auf das ‚neo-flaubertianische‘ Phänomen der „descrittività statica, passiva e stanca“ antworten soll [19] .
Wirklich aufschlußreich erweist sich die Kategorie der „mimesi attiva della negatività“ indessen lediglich als Intention und als ein weiterer Beleg für den antithetischen Bezug zur Komplementärgeschichte des Barone rampante. Wenn man La speculazione edilizia aus der Verbindung mit dem entlastenden Intermezzo des ‚Barons auf den Bäumen‘ löst und für sich allein betrachtet, bleibt von der Stendhalschen oder Balzacschen Energie einer „mimesi attiva“, wie sie Calvinos Selbstkonzept reklamiert, wenig übrig, und statt dessen wird eine demoralisierende Bewegung der italienischen Gesellschaft sichtbar, die eben nur antiphrastisch auf den Begriff einer „bella curva“ zu bringen ist. Bei ihr scheint die pure ‚Mimesis der Negativität‘ schon deshalb zu dominieren, weil die Beschreibung der „speculazione“, die zugleich die Beschreibung eines desillusionierenden geschichtlichen Prozesses ist, kaum rettende Perspektiven erkennen läßt. Auch das Angebot einer gewissermaßen sozialistisch moderierten ‚Spekulation‘, das Quinto am Ende von seinem ehemaligen Parteigenossen Masera erhält, wird ja als etwas durchaus Ambivalentes präsentiert [20] . Jedenfalls gibt es keinen auktorialen Fingerzeig, der dem Leser bedeuten könnte, was er von den Argumenten des alten Schreiners, der „bonaria parlantina di Masera“, zu halten hat: ob er in ihnen eher den Beweis praktischer Solidarität oder eher den Ausdruck resignativer Anpassung an die „bella curva“ einer kapitalistisch expandierenden Wirtschaft sehen soll [21] .
Zumindest wird durch Maseras Vorschläge klar, daß die Partei von allen Revolutionshoffnungen, welche das fünfte Kapitel noch einmal als Gegenstand nostalgischer Erinnerungen beschwört, endgültig Abstand genommen hat. Deshalb widmet die Erzählung dem Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Arbeiterschaft, wie er in der neorealistischen Poetik bis hin zu Pratolinis Metello zentrale Bedeutung beanspruchte, auch bloß marginale Aufmerksamkeit. Entschieden wichtiger ist ihr nach Art von Tschechows Kirschgarten der Gegensatz zwischen alter und neuer Bourgeoisie, den „virtù della borghesia d’una volta“, wie sie in dem bereits zitierten inneren Monolog des Protagonisten angesprochen werden, und einer „equivoca e antiestetica borghesia di nuovo conio“, wie sie der ‚paysan parvenu‘ Caisotti repräsentiert. Bei dieser Opposition erscheint die auktoriale Sympathieverteilung, die Calvino vornimmt, nun wesentlich deutlicher artikuliert als im Fall Tschechows. Daß sie sich für die Alten und für das Alte erklärt, geht aus vielen Aspekten des Textes auch und gerade dann hervor, wenn die personale Erzählsituation, die vorwiegend der Perspektive des desorientierten Intellektuellen Quinto Anfossi folgt, einer solchen Deutlichkeit an sich nicht entgegenkommt.
Großes Gewicht besitzt hier zunächst die Gestalt Caisottis. Sie ist zwar von Anfang an durch eine leitmotivartig unterstrichene Ambivalenz gekennzeichnet, welche an dem Unternehmer bald die Züge eines „squalo“ und bald die eines „bambino“ hervorhebt [22] ; doch rückt Caisotti die von ihm vertretene „gente nuova e difforme“ insgesamt zweifellos in ein trüberes Licht, als das einst Tschechows Lopachin tat. Was Caisotti moralisch diskreditiert, ist neben Rohheit und Brutalität vor allem die Undurchschaubarkeit seiner geschäftlichen Manöver, deren Stil höchst verdächtig zwischen Rücksichtslosigkeit und Betrug zu schwanken scheint. Dazu kommt das ebenfalls suspekte Verhältnis zu (mit) seiner Sekretärin Lina, das im opportunen Moment – nach der Integration in die Gesellschaft der örtlichen Honoratioren – durch das Auftauchen einer Ehefrau vom Lande bereinigt wird, sowie schließlich überhaupt der Tatbestand des finalen Erfolgs, der im Kontext dieses Romans ebenso kompromittierend wirkt wie am Ende von Flauberts Madame Bovary oder L’Éducation sentimentale. Demgegenüber verfügt die Partei des Alten über weitaus freundlicher gezeichnete Gestalten. Sie treten sowohl – wie im fünften und im letzten Kapitel – unter den einstigen Genossen auf als auch im Kreis der „vecchia borghesia“, welche durch die stille Gefaßtheit von Quintos Mutter, die bei der Zerstörung ihres Gartens am meisten zu leiden hat, geradezu verklärt wird. Im übrigen nobilitiert sich das alte Bürgertum nach dem gleichen semiotischen Gesetz, welches das neue Unternehmertum durch Erfolg kompromittiert, mit seiner Niederlage, und es ist von symbolischer Bedeutung, wenn in den letzten Sätzen des Romans die Vollendung des Dachs auf Caisottis Neubau mit dem Verschwinden des Sonnenlichts über dem Familienbesitz koinzidiert:
Il sole spariva presto dietro l’edificio di Caisotti e di tra le stecche delle persiane la luce che batteva sull’argenteria del buffet era sempre meno, era adesso solo quella che passava tra le stecche più alte e si spegneva a poco a poco, sulle curve lustre dei vassoi, delle teiere [...] [23]
Freilich bildet auch die Kirschgarten-Thematikvon alter und neuer Lebenswelt nicht das eigentliche Zentrum des Romans. Wie schon die Konzentration auf eine durchgängig personale Erzählsituation anzeigt [24] , hat der Roman seinen Mittelpunkt in der Gestalt Quinto Anfossis, das heißt: in der problematischen Lage des Intellektuellen. Für sie stellen die Gestalten Caisottis, der ehemaligen Schulkameraden, der ehemaligen Genossen, der Kollegen Bensi und Cerveteri, des Bruders Ampelio oder der Mutter gleichsam den Rahmen des Gegebenen dar, in dem der Intellektuelle – zwischen Geistesarbeit, Kulturindustrie, Parteipolitik und eben alter und neuer Bourgeoisie schwankend – einen Weg zu finden sucht. Dabei hat der ‚psychologische und introspektive‘ Charakter, den die perspektivische Bevorzugung Quinto Anfossis mit sich bringt, Calvino offenbar besondere schriftstellerische Schwierigkeiten bereitet, die er in dem oben zitierten Schreiben an Pietro Citati beklagt. Wenn Calvino auf ein narratives Arrangement, das ihm wenig zusagte, trotzdem nicht verzichten wollte, muß dies Schema in Anbetracht des zentralen Themas, das der Erzähler sich hier vornahm, in gewisser Weise wohl unumgänglich erschienen sein, und tatsächlich gibt es auch gute Gründe, welche in La speculazione edilizia für die Zentralität von Quintos reflektierendem Bewußtsein plädieren.
Daß der Intellektuelle in diesem Roman – um mit Henry James zu sprechen – zum alleinigen „centre of consciousness“ wird, hängt zunächst mit der Unanschaulichkeit der finanziellen und ‚spekulativen‘ Ereignisse zusammen, welche – wenn man so will – das objektive Substrat der Romanhandlung ausmachen. Die Unanschaulichkeit der Vorgänge, die in professionell wirtschaftlichen Funktionsbereichen höchste Relevanz besitzen, konfrontiert den bürgerlichen Roman ja seit eh und je mit beträchtlichen narrativen Problemen. Sie lassen sich beispielsweise schon an der Spekulationsthematik von Balzacs César Birotteau beobachten, wo die berufsmäßige Spezifizität der ökonomischen Angelegenheiten den Erzähler immer wieder zu längeren traktathaften Kommentaren und Erläuterungen zwingt, welche die innere Dramatik des Geschehens wohl besprechen, nicht aber erzählerisch sichtbar machen können [25] . Solche traktathaften Passagen, die im Hinblick auf die systemspezifischen Handlungsketten keinesfalls als Exkurse zu werten sind, galt es in Calvinos Kurzroman zu vermeiden, und so ist die Fokalisierung des Bauunternehmens durch Quinto Anfossi – statt etwa durch Caisotti – in erster Linie und ganz elementar sicherlich mit einem narratologischen Kalkül zu begründen: Allein die Delegation des Point of View an Quinto Anfossi hat Calvino erlaubt, einen politisch-moralistisch akzentuierten Kurzroman zu schreiben; während die Verlagerung des „centre of consciousness“ auf Caisotti das Maß eines umfassend dokumentierenden und explizierenden Balzac-Romans à la César Birotteau verlangt hätte [26] .
Indes kommt es auch noch unter anderen Aspekten auf den Blickwinkel des Außenseiters an. Als Intellektueller, der in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist „per intraprendervi una speculazione edilizia [27] , macht Quinto in der einst vertrauten Umgebung mit etwas beunruhigend Neuem Bekanntschaft, das ihn nicht zuletzt deshalb fasziniert, weil er es nicht oder allenfalls partiell versteht. Aus der Perspektive des Intellektuellen wird die Bauspekulation nämlich als ein Faszinosum und zugleich als ein Rätsel wahrgenommen, dessen Lösung die eigenen Kompetenzen übersteigen muß. So ist ein Teil des forcierten Interesses, das Quinto an Caisotti bekundet, zweifellos von jener Doppelgesichtigkeit des Unternehmers motiviert, die im Wechsel seiner Gesichtszüge zwischen Kindlichkeit und Haifischähnlichkeit zum Ausdruck kommt. Letztlich steht das Leitmotiv der physiognomischen Ambivalenz aber überhaupt für einen Eindruck von Undurchdringlichkeit. Wo immer Quinto auf Caisotti trifft, begegnet er dem „sguardo indecifrabile dell’impresario [28] , der für den Intellektuellen obskur bleibt, und zwar nicht nur, was das Charakterliche betrifft, sondern mehr noch in geschäftlichen Belangen. Ob und wie der Unternehmer sich an Verträge hält oder welchen Wert von ihm ausgestellte Wechsel besitzen, sind Fragen, die Quinto gleichzeitig quälend und fesselnd beschäftigen. Fast könnte man sagen, daß der Geschäftsmann Caisotti für ihn zu einem ebenso schwer deutbaren Mysterium wird, wie es in einem anderen Realitätsbereich bei Proust einst Odette oder Albertine für ihre eifersüchtigen Liebhaber darstellten [29] .
Indem alles, was wir über Caisotti erfahren, durch Quinto Anfossi und dessen „turbe di sentimenti“ vermittelt wird, geraten die Angelegenheiten der Bauspekulation demnach in eine Atmosphäre der Fremdheit, die sich auch dem Leser gegenüber als essentiell ambivalent, zugleich abstoßend und anziehend, präsentiert. Dabei reagiert Quinto dergestalt, daß er eben das Abstoßende als das speziell Anziehende empfindet und im Zuge solcher Gefühlsdialektik den Entschluß faßt, sich in einer „speculazione edilizia“ zu engagieren. Den Begriff „engagieren“ verwende ich hier bewußt, denn für den intellektuellen Protagonisten handelt es sich beim Eintritt in die Bauspekulation durchaus um ein Engagement im prägnanten Sartreschen Sinn. Von den Interpreten des Romans, die Quintos Unternehmen gerne als bloßen „disimpegno“ und als „Flucht in private wirtschaftliche Interessen“ begreifen [30] , wird das zumeist übersehen oder verdrängt, mit der Folge, daß dann auch die tiefere Paradoxie der Erzählung unbemerkt bleiben muß. Um die Pointe – und mit ihr die Problematik – des Romans verstehen zu können, ist es jedoch nötig, sich klar zu machen, daß Quintos Entschluß zur Bauspekulation von Anfang an sehr nachdrücklich als Wendepunkt einer existentiellen Entscheidung formuliert wird.
Im Sinne eines Entscheidungspathos, wie wir es aus Sartres philosophischen und mehr noch literarischen Schriften kennen, ist vor allem der Schlußsatz des ersten Kapitels stilisiert (wobei man freilich in Rechnung stellen muß, daß die Formulierungen praktisch aller Kapitelenden zur Pointierung oder wenigstens zu besonderer Konzision neigen). Durch ihn wird ein Entschluß resümiert, an dem – wie wir wenig später erfahren – auch ein vages Schuldgefühl mitgewirkt hat, das von der Besteuerung des Grundbesitzes ausgelöst wurde: das Gefühl, ein ‚schlechter Besitzer‘ und solcherart den Herausforderungen der Epoche nicht gewachsen zu sein. Jedenfalls trägt zu Quintos Spekulationsentscheidung neben anderen Motiven auch ein Bewußtsein von gesellschaftlichem Versagen angesichts der ,temps modernes‘ bei: „[...] la coscienza d’essere un cattivo proprietario, che non sa far fruttare i propri averi e che in un’epoca di continui avventurosi movimenti di capitali, millantati crediti e giri di cambiali se ne sta mani in mano lasciando svalutare i suoi terreni.“ [31] In diesem Bewußtsein redet der Abkömmling der ‚alten Bourgeoisie‘ sich ein, daß die ‚Unproduktivität‘ seines ‚Kapitals‘ vom Staat wohl nicht völlig zu Unrecht geahndet wird, und überhaupt ist es ein Verlangen nach zeitgemäßer Aktivität und Partizipation, die ihn an der Seite Caisottis zum Spekulanten macht. So weckt gerade die „serena tristezza“ seiner Mutter in Quinto den heftigen Willen, ‚aus der Passivität herauszukommen und zur Offensive überzugehen‘, und eben weil diese Aktivität auf etwas ‚Anti-Ästhetisches‘ hinausläuft, erscheint sie ihm doppelt lebensvoll und zukunftsträchtig:
Ecco, ora, lì, quel suo paese, [...] aveva una nuova vita, sia pure abnorme, antiestetica, e proprio per ciò – per i contrasti che dominano le menti educate alla letteratura – più vita che mai. E lui non ne partecipava; legato ai luoghi ormai appena da un filo d’eccitazione nostalgica, [...] ne aveva solo un danno. [32]
Ein wesentliches Motiv, das Quintos Engagement bestimmt, ist also der Wille (der Zwang) des Intellektuellen zum Selbstwiderspruch oder – mit Calvinos Worten – jene „contrasti che dominano le menti educate alla letteratura“. Auch sie bilden in dem Roman ein Leitmotiv, das hervortritt, wenn Quinto sich bei den Verhandlungen mit dem ungebildeten Caisotti als „suscettibile [...] a tutto ciò che gli ricordava la sua condizione d’intellettuale“ erweist [33] oder wenn er sich bei der Diskussion über den Titel einer neuen Zeitschrift („Il Nuovo Hegel“, „La Nuova Gazzetta Renana“ oder „Enciclopedia“) neiderfüllt durch die unintellektuellen Gespräche am Nachbartisch der Gaststätte ablenken läßt:
Quinto fu preso da un’acuta invidia per tutto ciò che sentiva muovere tra le persone di quel tavolo: senso degli interessi, attaccamento alle cose, passioni concrete e non volgari, desiderio d’un meglio non solo materiale, e insieme un peso placido e un po’ greve di natura. [34]
Als Neid des abstrakten Geistes auf das konkrete Leben gibt die gerade zitierte Version des intellektuellen Selbstwiderspruchs deutlich ihre Herkunft von Thomas Mann zu erkennen, was im übrigen auch intertextuell signalisiert wird; denn im 23. Kapitel, der Episode des flüchtigen Abenteuers mit der signora Hofer, begegnet uns Quinto tatsächlich als Thomas-Mann-Leser: „[...] sprofondato in una sedia a sdraio a leggere il Felix Krull [...].“ [35] Schließlich wird die Neigung zum Selbstwiderspruch derart konstant zum Habitus, daß sich kaum noch entscheiden läßt, worin Quintos ‚authentisches‘ Empfinden bestehen mag. Zwar erscheint ihm die durch Bau- und Tourismusboom modernisierte Heimatstadt einerseits immer unwirtlicher; doch führt gerade dies Gefühl des Widerwillens andererseits zu einer voluntaristischen Gegenreaktion, welche ihn nur um so entschiedener auf die Seite der häßlichen ‚neuen Bourgeoisie‘ bringt:
Ma al solito volendo contrastare se stesso (in una scherma dove ormai non si sapeva più che cosa di lui fosse autentico e cosa coartato) si persuadeva che proprio la nuova borghesia degli alloggetti a *** fosse la migliore che l’Italia potesse esprimere. [36]
Ein weiterer und psychologisch verwandter Impuls, der an Quintos Engagement Anteil hat, erwächst aus dem Gefühl des Intellektuellen, sozial und ideologisch heimatlos zu sein. So kommen Quinto in der schon erwähnten Szene der Diskussion mit Bensi und Cerveteri [37] die folgenden Gedanken, die offenkundig durch Motive von Sartre und Gramsci geprägt sind:
Un tempo solo chi godeva d’una rendita agricola poteva fare l’intellettuale, – pensò Quinto. – La cultura paga ben caro l’essersi liberata da una base economica. Prima viveva sul privilegio, però aveva radici solide. Ora gli intellettuali non sono borghesi e non sono proletari. [...] [38]
Charakteristisch ist in diesem Gedankenmonolog die sehnsuchtsvolle Erinnerung eines Literaten, der sich von der ‚ökonomischen Basis‘ getrennt fühlt, an eine Kultur, welche einst – wie es heißt – ‚feste Wurzeln‘ („radici solide“) besaß. Auch aus Quinto spricht folglich jene Sorge um die ‚Entwurzelung‘ bindungsloser Intellektualität, die etwa bei Barrès oder Bourget zunächst ein prononciert konservatives Argument dargestellt hatte [39] , bei Sartre unter veränderten politischen Vorzeichen dann jedoch zu einem nicht weniger wichtigen ‚linken‘ Ideologem avanciert war [40] . Wie Quinto sich später zeitweilig von seinem ligurischen Bauvorhaben absentiert und bei einer Filmproduktion tätig wird, empfindet er das Leben in Rom bald schuldbewußt als Evasion, das heißt: „[...] una vita senza radici. E sempre più il pensiero della costruzione continuava a stargli dentro come una spina. [41] Dagegen scheint die Solidarität mit Caisotti ihm einen festen gesellschaftlichen Standpunkt geben zu können, dessen Vorteile er gegenüber dem altbürgerlichen Milieu, dem sich der bis dahin ‚wurzellose‘ Intellektuelle entfremdet hat, als neue, selbst gewählte Identität ausspielen möchte. Sobald die Brüder Anfossi sich von den Relevanzzentren der Moderne nicht mehr ‚schuldhaft‘ entfernt glauben, sondern meinen, ‚in das ökonomische Leben der Stadt integriert‘ zu sein („inseriti nella vita economica della città“) [42] , entwickelt Quinto auch im Hinblick auf die ortsansässigen Honoratioren ein Selbstbewußtsein, das er aus dem Gefühl des Gleichklangs mit den progressiven Bewegungen der Geschichte zieht:
Per la prima volta Quinto si sentì non più colpevolmente estraneo a questo mondo avito ma parte d’un altro, da cui poteva guardare quello con superiorità e ironia: il mondo della gente nuova, spregiudicata, abituata a maneggiare il denaro. [43]
Eben die Übereinstimmung mit dem, was er als den aktuellen historischen Prozeß zu erkennen glaubt, ist nämlich letzten Endes das mächtigste Argument für Quintos ökonomisches Engagement. Wenn er zum einen den Kontrast zu seinen ästhetischen Neigungen und zum anderen eine ‚Verwurzelung‘ sucht, die ihm Authentizität verschaffen soll, so findet er die entscheidende Legitimation doch in jenem für eine ganze Generation verpflichtenden Sartreschen Pathos der ‚Situation‘, das verlangt, vorbehaltlos auf die Gegebenheiten der jeweiligen geschichtlichen Lage einzugehen. Eine solche Emphase der radikalen (und ästhetisch unbekümmerten) Aktualitätsnähe hat Sartre vor allem nach Kriegsende artikuliert, beispielsweise – um nur einen Passus unter vielen zu zitieren – in der Présentation der Zeitschrift Les Temps modernes,wo er (wie immer mit kritischer Distanzierung von Flaubert, dem „rentier de talent“, oder den Goncourt) schreibt: ,,Puisque l’écrivain n’a aucun moyen de s’évader, nous voulons qu’il embrasse étroitement son époque; elle est sa chance unique: elle s’est faite pour lui et il est fait pour elle.“ Und weiter: ,,Nous ne voulons rien manquer de notre temps: peut-être en est-il de plus beaux, mais c’est le nôtre; nous n’avons que cette vie à vivre, au milieu de cette guerre, de cette révolution peut-être.“ [44]
Selbstverständlich war es Sartre bei dem Postulat „nous voulons qu’il embrasse étroitement son époque“ nicht unbedingt um eine Verpflichtung des Intellektuellen zur Bauspekulation zu tun. Was Quinto sich aus dem Sartreschen Diskurs – offenbar generationsspezifisch – angeeignet hat, ist jedoch die Überzeugung von der zwingenden Autorität des historischen Moments, einer Macht, welche alle Nostalgien und Sentimentalitäten bürgerlich-ästhetischer Provenienz zunichte machen muß. Und so reagiert er auf die Klagen der Mutter, die sich über die Zerstörung des alten Stadtbilds beschwert, in der Tat mit der ostentativen Attitüde eines Sartre-Lesers, das heißt: geradezu mit einem Anflug von „compiacimento ai più irreparabili guasti, forse per un, residuo di giovanile volontà di scandalo, forse per l’ostentazione di saggezza, di chi sa inutili le lamentele contro il moto della storia.“ [45] Gewiß mag der, Anblick des Zements, der sich anschickt, den Ort seiner Kindheit einzunehmen, Quinto für einen Augenblick bekümmern: „Ma bisogna dire che egli era uomo storicista, rifiutante malinconie, uomo che ha viaggiato, eccetera, insomma, non glie ne importava niente!“ [46] Was den „uomo storicista“ dagegen bewegt, ist der Wille, dem „vero volto dei tempi“ Genüge zu tun, wobei sich dieser Wille um so stärker auszeichnen kann, je häßlicher die Züge sind,, welche das ‚wahre Gesicht‘ der Gegenwart bietet. Daher registriert Quinto mit Befriedigung „che ogni sua mossa non faceva che favorire l’ascesa dei Caisotti, un’equivoca e antiestetica borghesia di nuovo conio, come antiestetico e amorale era il vero volto dei tempi. [47] Und schon vorher hat Quinto verschmäht, die Bekanntschaft mit den ehemaligen Genossen zu erneuern, weil deren ‚altmodische‘ Solidarität nicht mehr geeignet scheint, den Herausforderungen der Aktualität – hier: dem „vero senso dei tempi“ – stand zuhalten:
Erano brava gente, amica, senza diffidenza; ma Quinto non aveva nessun desiderio di sentirsi tra amici, al contrario, il vero senso dei tempi era nello stare sul chi vive, con la pistola puntata, come – appunto – tra uomini d’affari, proprietari avveduti, imprenditori. [48]
Die „temps modernes“ nämlich sind – wie Quinto (zu Unrecht?) festzustellen, meint – idealtypisch eben in der Person Caisottis verkörpert, welche die alten ,,progetti sulla società futura, sugli operai e gli intellettuali“ historisch überholt hat. Demnach zieht sich Quinto bei der Entscheidung für den ‚Sieger‘ Caisotti: – und gegen die ‚Verlierer‘ aus seiner einstigen Partei – auch nicht einfach resignativ und privatistisch zurück, sondern versucht, so ‚eng‘ wie möglich die Realität seiner ‚Epoche‘ zu ‚umarmen‘:
Paragonò Caisotti, guardingo, reticente, infido, a Masera fiducioso, espansivo, pronto sempre a trovar conferme al suo ideale: certo, era Caisotti a vivere la realtà dei tempi, ed anche, in certo modo, a patirla, ad accettarne il peso, là dove Masera le sfuggiva, pretendeva di serbarsi franco, leale, puro di cuore, in un mondo che era tutto il contrario [49] .
Nach allem, was bisher gesagt wurde, dürfte deutlich geworden sein, daß es in La speculazione edilizia um ein sehr ernstes und diffiziles Thema geht. Man könnte das Thema als die Ambivalenz des ‚Historizismus‘ bezeichnen, näherhin als die Zweideutigkeit und Fehlbarkeit aller Versuche, sich durch und für den Geist einer emphatisch neuen Zeit zu engagieren. Aus dieser Ambivalenz, die ihr gleichsam allegorisches Bild immer wieder in der Widersprüchlichkeit von Caisottis Gesichtsausdruck und Verhalten findet, entsteht, was wir oben unter dem Begriff einer tieferen Paradoxie des Romans angekündigt haben. Paradox ist die Geschichte, die hier erzählt wird, insofern, als Quintos Engagement letztlich ja zweifellos auf eine Kapitulation hinausläuft. Denn wenn Quinto sich einerseits in seiner Solidarität mit Caisotti engagiert „a vivere la realtà dei tempi“, dann kann, ja muß das in unaufhebbarer Ambivalenz andererseits bedeuten, daß Quinto und Caisotti gleichzeitig ein Paar bilden „che accettano il mondo com’è“ [50] .
Eben das „accettare“ – das Akzeptieren der Welt, wie sie ist – bildet in Calvinos frühen Saggi nun aber ein permanentes Skandalon und sozusagen den Unwert par excellence. Als einen Beleg unter vielen zitieren wir einen Satz, den Calvino am Ende des Vortrags „Natura e storia nel romanzo“ formuliert hat und dessen These in engem Zusammenhang mit dem zeitlich benachbarten (und berühmteren) Aufsatz „Il mare dell’oggettività“ steht:
Una resa dell’individualità, e volontà umana di fronte al mare dell’oggettività, al magma indifferenziato dell’essere non può non corrispondere a una rinuncia dell’uomo a condurre il corso della storia, a una supina accettazione del mondo com’è. [51]
Dabei wird die Haltung der „acettazione del mondo com’è“, welche der Passus zurückweist, an dieser Stelle ergänzt und erläutert durch den expliziten Begriff der Kapitulation, die hier als eine „resa dell’ individualità, e volontà umana“ erscheint. Sie hat die Funktion eines „mot-clef“, auf das der Essayist Calvino beständig rekurriert, um den Gegenstand seines ausgeprägtesten Widerwillens und offenbar auch seiner größten Gefährdung auszudrücken. Er beschwört den Begriff als „resa alla vitalità e all’incultura“, die er 1955 Vittorini zum Vorwurf macht, als „resa dell’uomo alla natura“ oder in der allgemeinsten Form als „resa al labirinto“, der es – wie der Titel eines anderen berühmten Aufsatzes postuliert – die „sfida al labirinto“ entgegenzusetzen gilt [52] . Durch Quinto Anfossi hat die „resa“ gewissermaßen ihren romanesken Protagonisten erhalten. In Anlehnung an die Begriffe der „soggezione biologica“ und der „soggezione industriale“, von denen der Essay „La sfida al labirinto“ das Individuum bedroht sieht [53] , könnte man bei Quinto von einer Art ‚soggezione economica‘ sprechen, der er eben deshalb anheimfällt, weil er mit forciertem Engagement ganz und gar in seiner historischen ‚Situation‘ aufzugehen versucht.
So bedeutet die Geschichte der Speculazione edilizia nicht allein eine Distanzierung von Sartres Pathos der Situation und der unbedingten Autorität des Aktuellen. Sie macht die Haltung der Selbstkontestation des Literaten, die hinter Sartres aktionistischer Poetik der „temps modernes“ steht, vielmehr selbst zum Gegenstand ihrer Analyse, indem sie den Protagonisten der Kapitulation mit manchen typischen Zügen des Sartreschen Engagements versieht. Was für viele Autoren der Epoche unbefragt als wirklichkeitsperspektivierende Norm galt, wird von Calvino – wenn man so will – als ein durchaus dubioser Bestandteil dieser Wirklichkeit aufgefaßt; ja man könnte sagen, daß die Thesen einer primären Ideologiekritik, die historisch angeblich obsolete Positionen in Frage stellt, in La speculazione edilizia einer sekundären Ideologiekritik verfallen, welche vom Standpunkt eines Beobachters zweiter Ordnung aus enthüllt, wieviel an neuer Ideologie eben auch in Perspektiven wirkt, die reklamieren, alte Ideologien kritisch überwinden zu wollen.
Um die Mitte der fünfziger Jahre mußte eine solche Potenzierung der ideologiekritischen Analyse, welche auch und gerade im engagierten den kapitulierenden Intellektuellen sichtbar macht, zumindest im italienischen Kontext etwas ziemlich Singuläres bleiben [54] .Bestätigt wird diese Singularität durch den positiven Gegenentwurf, den Calvino der Gestalt des kapitulierenden Intellektuellen mit Cosimo, dem ‚Barone rampante‘, zur Seite gestellt hat [55] . Wenn Quinto Anfossi sich vorbehaltlos der aktuellen Situation überläßt, dann verkörpert Cosimo ihm gegenüber ja ein ‚Pathos der Distanz‘, bei dem die Distanz dafür sorgen soll, daß das zeitgemäße Engagement nicht zu einem Einverständnis mit dem Zeitgemäßen verkommt. Wie Quinto als romanesker Protagonist der „resa“ agiert, symbolisiert Cosimo durch den hartnäckig gewahrten Abstand seiner Baumexistenz einen anderen Calvinoschen Schlüsselbegriff, den der „ostinazione“. Als „ostinazione nonostante tutto“und als „ostinazione senza illusioni“ bildet er jeweils den appellativen Schluß jener Aufsätze „Natura e storia del romanzo“ und „Il mare dell’oggettività“ [56] , deren Hauptargument die kritische Analyse einer opportunistischen Kapitulation vor dem Zeitgemäßen ausmacht. Im Barone rampante fällt Calvinos positives „mot-clef“ schon im ersten Kapitel, wenn der Erzähler Biagio angesichts von Cosimos nicht zu beschwichtigenden Protestakten gesteht:
Di quest’accumularsi di risentimenti familiari mi resi conto solo in seguito: allora avevo otto anni, [...] non capivo che l’ostinazione che ci metteva mio fratello celava qualcosa di più fondo. [57]
Was sich hinter der „ostinazione“ an ‚Tieferem‘ ‚verbirgt‘, zeigt dann das Fazit, das Biagio im letzten Kapitel aus der Biographie seines Bruders zieht, indem er pointiert paradoxal auf den gesellschaftlichen Wert distanzierter Selbstbewahrung verweist:
[...] è altro che lui intendeva, qualcosa che abbracciasse tutto, e non poteva dirla con parole ma solo vivendo come visse. Solo essendo così spietatamente se stesso come fu fino alla morte, poteva dare qualcosa a tutti gli uomini. [58]
Es ist das ein Paradox, das Quintos kapitulierendes Engagement quasi umkehrt: die Utopie einer produktiven Teilnahme am Sozialen, die speziell aus der Treue zu sich selbst erwächst.
Freilich erscheint bezeichnend, daß Calvino die Züge dieser Utopie allein in einer Erzählung ausgemalt hat, welche die Verklärung vergangener Geschichte mit dem Märchenhaften vermischt [59] . Im engeren Rahmen des neorealistischen Gegenwartsromans war dagegen bloß für eben die Verhältnisse Platz, auf die als Widerpart und geschichtlichen Anlaß sich das utopische Konzept zurückbeziehen läßt. In solchen Verhältnissen ist das „mare dell’oggettività“ anscheinend übermächtig geworden, und während es Cosimo noch so utopisch wie märchenhaft gelingt, ‚unbedingt er selbst zu sein‘, kann Quinto Anfossi die Frage nach dem Selbst nicht mehr entscheiden; denn die widerstreitenden Diskurse und Interessen der Moderne haben ihn zu einer Person von zerfallender Identität gemacht, bei der unklar geworden ist, „che cosa di lui fosse autentico e cosa coartato“.
Hat sich die Bestimmung dessen, was dem Individuum das Eigene ist, aber erst einmal aufgelöst, wird es offenbar auch immer schwerer, Geschichten zu einem Abschluß zu bringen und literarische Werke ‚abschließend‘ zu runden. So war Calvino im Poetologischen gewiß ein voluntaristischer Anhänger der „forme chiuse“, die er in dem Aufsatz „La sfida al labirinto“ – seinerseits durchaus unzeitgemäß – gegen Umberto Ecos Poetik der „opera aperta“ verteidigt [60] . Bei dem praktischen Versuch, mühsam einen neorealistischen Roman zu schreiben, ist das Thema vom Kollaps des individuellen Engagements jedoch auch auf der Ebene der Erzählstruktur, wo es eher die „forme aperte“ begünstigt, folgenreich geworden. Jedenfalls hat es hier zu einem Romanende geführt, das die erzählte Geschichte resigniert undramatisch und offen im Sande verlaufen läßt, nicht unähnlich dem Ende der Éducation sentimentale,deren sonst mißtrauisch betrachtetem Autor Calvino in La speculazione edilizia näher stand, als ihm selbst bewußt sein mochte.
1 Zur Publikationsgeschichte dieser Kurzromane vgl. die Notizen von Mario Barenghi und Claudio Milanini in: Italo Calvino, Romanzi e racconti, I Meridiani, Milano 1991, Bd. 1, S. 1329ff. und 1338ff.
2 Die drei programmatischen Begriffe entstammen der von Calvino unter dem Anagramm Tonio Cavilla redigierten und kommentierten Schulausgabe des Romans: I. Calvino, Il barone rampante, prefazione e note di Tonio Cavilla (Letture per la scuola media. 4), Torino 41973, S. 5f.
3 So die Einschätzung von Barenghi; vgl. Calvino, Romanzi (vgl. Anm. 1), S. 1329.
4 Vgl. Calvino, I libri degli altri, a cura di Giovanni Tesio, Torino 1991, S. 224f. Irreführend ist hier Tesios Kommentar, der die Editionen von 1957 und (gekürzt) 1958 übersieht und allein auf die 1963 in der Reihe „I Coralli“ erschienene Ausgabe verweist. Näheres zur ‚schwierigen‘ Entstehung des Textes bei Martin L. Mc Laughlin, „The Genesis of Calvino’s La speculazione edilizia“, Italian Studies Bd. 48/1993, S. 71–85.
5 Als wolle er damit bereits die ironische Boutade belegen, mit welcher der Autor von Se una notte später die Lesererwartung auf den „inconfondibile accento dell’autore“ enttäuschen wird: „Ma, a pensarci bene, chi ha mai detto che questo autore ha un accento inconfondibile? Anzi, si sa che è un autore che cambia molto da libro a libro. E proprio in questi cambiamenti si riconosce che è lui“ (Calvino, Se una notte d’inverno un viaggiatore, Torino 1979, S. 9).
6 Vgl. Calvino, Il barone rampante, prefazione [...] di T. Cavilla (vgl. Anm. 2), S. 5.
7 Vgl. Calvino, Il barone rampante (I Coralli. 79), Torino 141970, S. 246 und 37.
8 S. 119.
9 Calvino, Il barone rampante, prefazione [...] di T. Cavilla (vgl. Anm. 2), S. 9. Ähnlich äußert Calvino sich zum Motiv der „assenza degli alberi“ als Ursprung einer gleichsam kontrafaktischen Baumvision ebd. S. 67: „[ ...] il narratore apocrifo (Biagio) e l’Autore real si trovano dunque nella stessa situazione, parlano di qualcosa che non esiste più, fantasticando fissando un cielo vuoto. La visione degli alberi – degli alberi che si moltiplicano fino a coprire tutto il paesaggio – nasce dall’assenza di alberi. Gran parte della letteratura moderna nasce da questo senso di assenza [...]“.
10 Vgl. K. Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München/Wien 1993, S. 12–50 und passim.
11 Calvino, La speculazione edilizia (Nuovi Coralli. 46), Torino 1973, S. 10.
12 Auffällig ist an dem Passus, der einst („un tempo“) und jetzt („ora“) kontrastiert, vor allem die Abstraktheit der geometrischen Fachtermini („parallelepipedi e poliedri“), die den gegenwärtigen Zustand wiedergeben und von der Zeichenfülle der Vergangenheit unterscheiden sollen. Außerdem folgt dem Polysyndeton des Blicks über die alte Stadt eine stärker asyndetisch gefügte Reihung, welche gleichsam mit scharfen Kanten die blickversperrenden Objekte der neuen Stadt aufzählt.
13 Vgl. Calvino, Le città invisibili, Torino 21972, S. 135: „[...] il mondo è ricoperto da un’unica Trude che non comincia e non finisce, cambia solo il nome all’aeroporto.“ Von der gleichen Entwicklungstendenz handelt Stierle, wenn er in Anlehnung an Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung oder Baudrillards L’échange symbolique et la mort die Indifferenz der „ortlose(n) ubiquitäre(n) Urbanität Kaliforniens“ anspricht; vgl. Der Mythos von Paris (vgl. Anm. 10), S. 35f. Daß der Schrecken vor der Stadt, die ‚nicht beginnt und nicht endet‘, bei Calvino auch poetologische Hintergründe hat, zeigt etwa der Hinweis auf seine ,,ansia per il problema del cominciare e del finire“ im einleitenden Vortrag der Norton Lectures; vgl. Calvino, Saggi, a cura di Mario Barenghi (I Meridiani), Milano 1995, Bd. 1, S. 734–753, hier S. 750.
14 Calvino, Le città (vgl. Anm. 13), S. 146. Zur „radikalen Skepsis“, die insbesondere das „spätere Werk“ Calvinos in solchen und ähnlichen Zukunftsvisionen zum Ausdruck bringt, vgl. Peter Kuon, „Utopie-Kritik und Utopie-Entwurf in Le città invisibili von Italo Calvino“, Italienische Forschungen Bd. 10/1987, S. 133–148, hier S. 148.
15 Calvino, Il barone rampante (vgl. Anm. 7), S. 246 und 243.
16 Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 107f. Die Zentralität des Passus betonen beispielsweise Germana Pescio Bottino, Italo Calvino (Il Castoro. 3), Firenze 21976 (1. Ausg. 1967), S. 74, und insbesondere Contardo Calligaris, Italo Calvino (Profili. 29), Milano 1973, S. 60f.
17 Zu Calvinos zwiespältiger Flaubert-Rezeption, die zwischen deklariertem Unbehagen – wie im Aufsatz „Natura e storia nel romanzo“ – und geheimer Faszination – wie in der ,Lezione‘ „Cominciare e finire“ – schwankt, vgl. Vf., „Italo Calvino und die Poetik des Barone rampante“, Italienisch Bd. 20/1988, S. 39–51, bes. S. 47ff. Die vielleicht prononcierteste Äußerung von Unbehagen bietet Calvino, Una pietra sopra. Discorsi di letteratura e società (Gli struzzi. 219), Torino 1980, S. 26.
18 Vgl. Calvino, Saggi (vgl. Anm. 13), Bd. 2, S. 2722f.
19 Als Vorbild von „romanzi d’azione“, die konstant gegen eine Poetik der Deskriptivität ausgespielt werden, gilt für Calvino seit seinen literarischen Anfängen speziell das Werk Stendhals. In Stendhal feiert Calvino sowohl – etwas forcierend – das Ideal einer „lucidità razionalista settecentesca“ wie mehr noch einen „disincantato moralista dell’azione“; vgl. Calvino, Una pietra (vgl. Anm. 17), S. 15, und ders., Il barone rampante, prefazione [...] di T. Cavilla (vgl. Anm. 2), S. 90.
20 Vgl. zu dieser Episode Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 136f.
21 Während ich – nicht ohne Zweifel – für die erste Sehweise plädieren würde, scheint Cristina Benussi eher der zweiten folgen zu wollen; vgl. C. Benussi, Introduzione a Calvino (Gli scrittori. 10), Bari 1989, S.54: „la lotta di classe si è trasformata in competizione economica“.
22 Zur Permanenz dieses Leitmotivs vgl. Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S.21ff., 67ff. oder 95ff.
23 S. 138.
24 Von ihr weicht partiell eigentlich nur das 14. Kapitel ab, das in der 1958 erschienenen Kurzfassung bezeichnenderweise auch gestrichen worden war. Der Befund von Susanne Eversmann, der die „Erzählhaltung“ des Romans insgesamt als „auktorial“ gilt, ist daher irreführend; vgl. S. Eversmann, Poetik und Erzählstruktur in den Romanen Italo Calvinos (Romanica Monacensia. 15), München 1979, S. 131.
25 Zu dieser Problematik, die für den realistischen Roman aus den Eigengesetzlichkeiten einer komplexen Berufswelt resultiert, vgl. Vf., „Die Normalität des Berufsbürgers und das heroisch-komische Register im realistischen Roman – Zu Balzacs César Birotteau“, in: Erzählforschung. Ein Symposion, hrsg. von Eberhard Lämmert (Germanistische Symposien. Berichtsbände. 4), Stuttgart 1982, S. 457–469, bes. S. 460ff. Wie die Unanschaulichkeit der speziell kapitalistischen Verkehrsformen durch das ganze 19. Jahrhundert von der forcierten Anschaulichkeit und Leibhaftigkeit des Abenteuerromans kompensiert wird, hat mit scharfsichtigen Analysen Volker Klotz (Abenteuer-Romane, München/Wien 1979, S. 22–26 und passim) gezeigt. Man darf annehmen, daß gewisse Züge dieses Kompensationswillens auch in Calvinos ‚obstinater‘ Emphase von „avventura“ und „azione“ fortleben, welche sich mit Vorliebe auf Autoren wie Dumas oder Stevenson beruft.
26 Deshalb scheint mir Vittorinis Begriff des „neo-balzacchismo“ in bezug auf die Textstruktur der Speculazione edilizia trotz des verhaltenen Beifalls von Calvino auch nicht ganz adäquat zu sein. Daß der Begriff etwas Inadäquates hat, bezeugt unfreiwillig Contardo Calligaris, der einerseits den „neo-balzacchismo“ als Generalschlüssel seiner Interpretation verwenden möchte und andererseits in dem Roman einen „monismo della terza persona“ und eine „assenza totale del soggetto scrittore“ wahrnimmt, welche ihm den Befund nahelegen: „lo scrittore non si riserva spazio alcuno“; vgl. C. Calligaris, Italo Calvino (vgl. Anm. 16), S. 59. Ein solches Verschwinden der Erzählersubjektivität wäre aber eben keineswegs „neo-balzacchismo“, sondern – allen Calvinoschen Reserven zum Trotz – ein „atteggiamento neo-flaubertiano“.
27 Wie der pointierte Schlußsatz des ersten Kapitels endet; vgl. Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 12.
28 Vgl. S. 51.
29 Jedenfalls stimuliert der ‚undurchschaubare Unternehmer‘ Quinto zu einer distanzlosen und desorientierten „Suche nach Wahrheit“, wie sie anderenorts – bei Proust, Svevo oder Robbe-Grillet – die von Eifersucht besessenen Protagonisten des modernen Romans kennzeichnet; vgl. dazu die klugen Bemerkungen von Roland Galle, „Eifersucht und moderner Roman“, in: Italo Svevo. Ein Paradigma der europäischen Moderne, hrsg. von Rudolf Behrens/Richard Schwaderer, Würzburg 1990, S. 21–36.
30 Vgl. z. B. S. Eversmann, Poetik (vgl. Anm. 24), S. 132f., C. Calligaris, Italo Calvino (vgl. Anm. 16), S. 59ff., oder C. Benussi, Introduzione (vgl. Anm. 21), S. 51ff.
31 Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 15.
32 S. 12.
33 Vgl. S. 23.
34 S. 42.
35 Vgl. ebd. S. 129. Wie gegenwärtig Calvino das Werk Thomas Manns gewesen ist, beweist im übrigen das Erzählarrangement des Barone rampante, das im 1960 verfaßten Nachwort zu der Trilogie I nostri antenati als „il ben noto dispositivo Serenus Zeitblom“ bezeichnet wird; vgl. Calvino, Romanzi (vgl. Anm. 1), S. 1218.
36 Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 86f.
37 Für diese Szene ist kennzeichnend, daß sie leicht ins Karikaturale stilisiert wird, was hier dazu dient, Quintos Überdruß an nunmehr als fruchtlos empfundenen ideologischen Auseinandersetzungen zu unterstreichen. Dabei rekurriert Calvino auf die Figur des antithetisch komplementären Doppelporträts, welche den Philosophen Bensi als „strabico all’infuori“, den Dichter Cerveteri als „strabico all’indentro“ darstellt (vgl. S. 41). Eine solche komisierende Rhetorisierung der Bildung von „caractères“, bei denen man eher an La Bruyère als an Balzac denkt, widerspricht genaugenommen der neorealistischen Poetik, kehrt aber auch in der Zeichnung von zwei gegensätzlichen Bauarbeitern wieder (vgl. S. 80) und zählt überhaupt zu Calvinos schriftstellerischen Lieblingsfiguren, die ihn einer speziell moralistischen Tradition verpflichtet zeigen. Ein typisches (und wesentlich elaborierteres) Beispiel aus dem späteren Werk bildet etwa Silas Flannerys „progetto di racconto“ von einem ,scrittore produttivo“ und einem ,,scrittore tormentato“; vgl. Calvino, Se una notte (vgl. Anm. 5), S. 172ff.
38 Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 42.
39 Die für dieses Argument kanonischen Texte sind vor allem Bourgets Kritik des „Dilettantisme“ im Renan-Aufsatz der Essais de psychologie contemporaine, eine Kritik, welche der ,,théorie du détachement sympathique à l’égard des objets de la passion humaine“ – also einer Theorie des Anti-Engagements – gilt, sowie Barrès’ Roman Les Déracinés, der nicht zufällig Bourget gewidmet ist und das Bildungssystem der „humanités“ angreift, weil es den Heranwachsenden kein „lien social“ liefere; vgl. Paul Bourget, Essais de psychologie contemporaine, Paris 1924 (1. Ausg. 1883), Bd. 1, S. 57, und Maurice Barrès, Les Déracinés, préface de Jean Borie (Collection Folio. 1983), Paris 1988, S. 280.
40 So beginnt der programmatische Essay, durch den Sartre Les Temps modernes vorstellt, mit einer energischen Distanzierung von literarischen Werken, die „bien gratuits, bien privés de racines“ sind und als deren Autor ein idealtypischer „dilettante“ fungiert, der ‚Bindung‘ (Bourget) bzw. ,Engagement‘ (Sartre) verweigert und sich statt im Zentrum vorzugsweise an den Rändern der Gesellschaft aufhält: „Ainsi se met-il en marge de la société, ou plutôt il ne consent à y figurer qu’au titre de pur consommateur: précisément comme le boursier“; vgl. Jean-Paul Sartre, Situations, II, Paris 1968 (1. Ausg. 1948), S. 9. Überhaupt existieren zwischen dem ‚linken‘ Sartre und dem ‚rechten‘ Bourget erstaunliche diskursive Parallelen. Sie betreffen insbesondere Sartres Stellungnahmen gegen den „esprit d’analyse“ als klassenspezifische Mentalität der Bourgeoisie und gegen die angeblich aus dem ‚Geist der Analyse‘ erwachsene „irresponsabilité du poète“ (vgl. S. 17ff.): Stellungnahmen, die bis in die Wortwahl hinein mit Bourgets Protesten gegen die „implacable analyse“ und die ‚Verantwortungslosigkeit‘ des Psychologen übereinstimmen, wie sie vor allem in dem Taine-Aufsatz der Essais und im Roman Le Disciple vorgetragen werden. Durch solche Parallelen mag sich erklären, daß Sartres Rhetorik der sozialen Verantwortung, wenn man sie strikt wörtlich nimmt, insgeheim totalitäre Züge offenbart, während sie bei wohlwollender Betrachtung – wie Karlheinz Stierle konstatiert – ‚in Gefahr gerät, jeden präzisen Umriß zu verlieren‘; vgl. Stierle, „Interpretations of Responsibility and Responsibilities of Interpretation“, New Literary History Bd. 25/1994, S. 853–867, hier S. 860.
41 Vgl. Calvino, La Speculazione (vgl. Anm. 11), S. 123f.
42 Vgl. S. 50. Freilich verläßt die Brüder nie der Verdacht, daß ihr Wechsel vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft eine Art Selbstbetrug sein könnte: „[...] pareva loro [...] d’essere due fratelli del luogo molto indaffarati, [...] con tutta una rete d’interessi che faceva capo a loro, gente pratica, brusca, che bada al sodo. Stavano recitando e lo sapevano.“
43 S. 58.
44 Sartre, Situations (vgl. Anm. 40), S. 12f.
45 Vgl. Calvino, La speculazione (vgl. Anm. 11), S. 11.
46 Ebd.
47 Vgl. S. 37. An dieser Stelle, dem Übergang vom sechsten zum siebten Kapitel, wird Caisotti (und mit ihm die „borghesia di nuovo conio“) von Quinto nicht nur gegenüber dem alten Bürgertum seiner Heimatstadt, sondern gerade auch gegenüber den Intellektuellen der Metropolen und deren eitlen ‚Projekten‘ zum ‚Sieger‘ der Geschichte erklärt: „Ha vinto Caisotti“ (ebd.).
48 S. 32.
49 Ebd. Indem der alte Genosse Masera hier – wie tendenziell ebenfalls im letzten Kapitel des Romans – in einer symbolischen Äquivalenz mit der „vecchia borghesia“ nach Art von Quintos Mutter wahrgenommen wird, hebt sich für Quinto die früher bedeutsame Distinktion sozialer Klassen und Mentalitäten auf, um statt dessen einer jetzt allein dominant gesetzten Distinktion historischer Phasen und Momente Platz zu machen.
50 Vgl. S. 32, 107, sowie 34: „Quinto adesso si sentiva solidale con Caisotti“.
51 Calvino, Una pietra (vgl. Anm. 17), S. 38.
52 Vgl. S. 9, 37 und 96.
53 Vgl. S. 93, wo es über die von Calvino wenig geliebte „linea viscerale dell’avanguardia“ heißt: „La linea ,viscerale‘ dell’avanguardia ci porta oggi dunque di fronte all’alternativa tra la soggezione biologica e la soggezione industriale“. Zu dieser Richtung, die von der milder kritisierten linea razionalista dell’avanguardia“ abgesetzt wird, gehören in Calvinos Verständnis etwa „l’espressionismo, Celine (sic), Artaud, una parte di Joyce, il monologo interiore, il surrealismo più umido, Henry Miller“ (S. 89).
54 Auch außerhalb Italiens hat die literarische Akzeptanz der aktualistischen und aktionistischen Ethik, unter deren Normen Sartre seine Ideologiekritik von ‚Inauthentizität‘ und ‚falschem Bewußtsein‘ betrieb, bemerkenswert lange angehalten. Ein eklatantes Beispiel dafür bietet das nicht zuletzt von Calvino – wie zwei Würdigungen freilich speziell der Historias de cronopios y de famas zeigen (vgl. Saggi [vgl. Anm. 13], Bd. 1, S. 1303–1308) – hochgeschätzte Erzählwerk Julio Cortázars. In ihm stellt etwa die Erzählung Los pasos en las huellas mit originär Sartreschen Diskurselementen dar, wie ein inauthentisches literarisches Forminteresse die Authentizität eines Lebens verfälscht (vgl. Cortázar, Octaedro, Barcelona 1988, 1. Ausg. 1974, S. 21–46, hier S. 44ff.). Besonders frappant erscheint der Fall der späten Erzählung Diario para un cuento. Bei ihr beruft das auktoriale Unbehagen vor der geschlossenen Form des „cuento“, die am Ende in paradoxaler Manier doch virtuos erfüllt wird, sich nominell auf Derrida, während es in den entscheidenden Diskurselementen dann deutlich die Lektüre von Qu’est-ce que la littérature?, zumal der dort entwickelten Kritik an den distanzierenden Ordnungsstrukturen von Maupassants Novellen, erkennen läßt (vgl. Cortázar, Deshoras, Madrid 1987, 1. Ausg. 1982, S. 139–173, bes. 139ff. und 171ff.).
55 Daß Cristina Benussi in Cosimo weniger einen Gegenentwurf als vielmehr eine partielle Präfiguration Quintos erblickt, ist wohl als ein originelles, aber kaum anschlußfähiges ‚misreading‘ der beiden Romane zu werten; vgl. C. Benussi, Introduzione (vgl. Anm. 21), S. 52: „Cosimo, negli ultimi anni della sua vita, non aveva disdegnato certe comodità di un’esistenza pur da passare sugli alberi; Quinto Anfossi va oltre e svela il proprio attaccamento alla logica borghese.“
56 Vgl. Calvino, Una pietra (vgl. Anm. 17), S. 38 und 45.
57 Calvino, Il barone rampante (vgl. Anm. 7), S. 10.
58 S.243.
59 Zur Bedeutung des Märchens, das für Calvinos Erzählwerk sowohl ein narratives Modell von konturierter Form wie ein konzeptuelles Modell von ,obstinatem‘ Optimismus liefert, vgl. Calvino, Sulla fiaba, a cura di Mario Lavagetto (Saggi brevi. 1), Torino 1988, außerdem die Kongreßakten Inchiesta sulle fate. Italo Calvino e la fiaba, a cura di Delia Frigessi (Biblioteca di lingue e culture locali. 7), Bergamo 1988. Den Höhepunkt der Kongreßakten bildet Mario Barenghis Essay „Il fiabesco nella narativa di Calvino“ (ebd. S. 27–37), der die treffende These vertritt, daß in Calvinos Neigung zum Märchenhaften gleichsam dessen Vorlieben für Ariost und Galilei zusammenkämen, und zwar nicht dergestalt, daß er im Märchen das Fantastische und in der Wissenschaft das Rationale suche, sondern eher umgekehrt: „[...] egli si avvale della ragione intrinseca e della logica costruttiva della fiaba, mentre dalla scienza [...] desume gli aspetti di creatività, di intuizione, di invenzione“ (S. 35).
60 Vgl. Calvino, Una pietra sopra (vgl. Anm. 17), S. 91. Calvino zieht dort neben Ecos Plädoyer für die „forme aperte“ auch eine scharfe Trennung zwischen „tradizione“ und „avanguardia“ in Zweifel, welche ja – wie er zurecht moniert – eine „fede storicistica che oggi appare troppo semplice“ voraussetzt. Die prinzipielle Präferenz von „forme chiuse“ bildet im übrigen zweifellos einen der tiefsten Gründe für Calvinos bewußten Widerstand gegen Flaubert und das „atteggiamento neo-flaubertiano“, das er speziell bei Carlo Cassola zu beobachten meint. So enthält der Essay „Il romanzo come spettacolo“ einen aufschlußreichen Satz, der lediglich auf den ersten Blick Anerkennung, im Grunde aber dezidierte Kritik zum Ausdruck bringt: „Giustamente Cassola fa segnare a Flaubert la fine del romanzesco (per questo Flaubert va riconosciuto come l’iniziatore della dissoluzione delle forme letterarie che sarà poi programma delle avanguardie), e giustamente lo tiene presente come modello costante della sua poetica personale“ (S. 218).
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