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Quelle: Deutsches Dante-Jahrbuch 62, 1987, S. 77–93.
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Quelle: Deutsches Dante-Jahrbuch 62, 1987, S. 77–93.
Die Lecturae Dantis des Jorge Luis Borges
Wie sich schon nach kurzer Lektüre offenbart, folgt Borges’
essayistisches Werk, das ja kaum weniger umfangreich und gewichtig ist als das
narrative oder das lyrische, einer höchst eigentümlichen Poetik. Zu ihr gehört
etwa die auffällige Nähe von Aufsatztexten und Erzählungstexten. Präsentieren
sich die letzteren häufig als Aufsätze über fiktive Erzählungen, so haben die
ersteren oft einen ausgesprochen narrativen Charakter
[1]
. Er gibt der im allgemeinen knappen Folge von Beobachtungen, Konjekturen
und Argumenten den Rhythmus des Geschichtenhaften, der übrigens ähnlich wie in
den deklarierten Geschichten gerne mit der Aporie eines Paradoxons abbricht.
Ein weiteres Merkmal von Borges’ Aufsatztexten ist ihre extreme
Konzision. Sie macht sich vor allem in der Untergruppe seiner
literaturkritischen Beiträge bemerkbar, da sie hier dem üblichen Gattungsdekorum
besonders frappant widerspricht. In der Tat demonstriert gerade die
südamerikanische Literaturkritik normalerweise eine überquellende ‚copia
verborum‘, während es Borges bei dieser Thematik offenkundig auf einen ebenso
prononcierten Lakonismus abgesehen hat. Derart zeichnen sich viele Essays, die
bereits durch die narrative Anlage ihrer Gedankenfolge literarisiert sind,
zusätzlich durch quasi epigrammatische Kürze aus, welche die paradoxalen
Schlußfolgerungen, denen Borges’ Argumentation immer wieder zustrebt, effektvoll
unterstützen.
Beide Charakteristika, die in den essayistischen Texten
seit den dreißiger Jahren als Konstante wirken
[2]
, prägen auch die späten Dante-Aufsätze. 1982 unter dem – zumal numerisch –
opportunen Titel Nueve ensayos dantescos
veröffentlicht
[3]
,bilden sie ein schmales Buch, das eigentlich
erst deshalb zum Buch wird, weil den neun literaturkritischen Prosa-Epigrammen
ein proömialer Apparat von nicht weniger als vier Vorworten vorausgeht, dessen
Umfang jenen des Hauptteils beträchtlich übertrifft. Er setzt sich zusammen aus
einem „Prólogo“ von Borges selbst, einer „Presentación“ Borges, Lector de la ‚Divina Comedia‘
des
spanischen Italianisten Joaquín Arce, einer langen, vorwiegend biographischen
„Introducción“ von Borges’ Freund und Schüler Marcos Ricardo Barnatán, sowie
einer kurzen „Noticia preliminar“, die Barnatán als Einleitung zu seiner
„Introducción“ verfaßt hat. Solcher Aufwand wird in erster Linie natürlich von
der Berühmtheit des alten Borges motiviert, der 1982 wohl auf dem Gipfel seiner
Reputation (insbesondere bei europäischen Literaten) stand
[4]
;doch erscheint er zugleich – wenn man so will
– verlagstechnisch begründet, um ein Buch aus verschiedenen Einzelstücken zu
machen, welche an sich – und gewiß mit voller Absicht – kaum dem Konzept einer
Monographie entsprechen.
Tatsächlich besitzen alle neun „Ensayos“ in Gegenstand und
Darstellungsweise etwas Miszellenartiges. Vergleicht man sie mit den
Dante-Betrachtungen anderer Dichter oder Philosophen des 20. Jahrhunderts, so zeigt sich ihre Besonderheit sofort in dem Umstand, daß sie auf die
Formeln großer geistesgeschichtlicher Synthesen weitgehend Verzicht leisten. Das
ist um so bemerkenswerter, als Borges’ Essays im Grunde ja ebensowenig zur
Dante-Forschung sensu strictiori gehören wie die mehr oder minder berühmt
gewordenen kritischen Beiträge – sagen wir – George Santayanas, T.S. Eliots,
Benedetto Croces oder Giovanni Papinis. Auch bei Borges geht es genaugenommen
eher um eine Form der Dante-Aneignung, für die das Entscheidende nicht bestimmte
sachliche Trouvaillen sind, sondern die hermeneutischen Ergebnisse der Begnung
[sic!] zwischen dem Danteschen Text und einer modernen Poetik. Trotzdem ist als
ein erstes Paradoxon der Nueve ensayos dantescos
festzuhalten, daß sie in ihrem Duktus – zumindest auf den ersten Blick –
keineswegs die Erwartungen erfüllen, die man gemeinhin an typische Beiträge zur
Aneignung eines Klassikers richtet. Statt resolute Begriffe zu entwickeln, die
für ästhetische Aktualisierung oder eine weiträumige historische Einordnung der
Commedia sorgen könnten, wählt Borges seinen
Ausgangspunkt in der Kommentierung einzelner Textstellen, so als wäre er einer
jener detailversessenen gelehrten „Dantisti“, über die sich schon Croce
mokierte
[5]
, und nicht Borges, der erfolg- und folgenreichste Dichter Lateinamerikas
und Ahnherr wie Idol aller literarischen Postmoderne.
Dabei sind die Phänomene, welche Borges’ Aufmerksamkeit erregt und ihn
zu – wie gesagt – jeweils kurzen Kommentaren veranlaßt haben, unter den
folgenden Überschriften versammelt, die ich zunächst in der vom Buch
vorgegebenen Reihenfolge einführe. El noble castillo del canto
cuarto beschreibt den Limbus, in dem die guten, doch unerlösten
Nichtchristen weilen, als einen Ort stillen Schreckens (S. 96: „un caso perfecto
de uncanniness, de horror tranquilo y silencioso“). El falso problema de Ugolino kommentiert den berühmten
Vers „Poscia, piú che ‘l dolor, poté ‘l digiuno“ (Inferno
33, 75) und findet sein Bedeutungszentrum in der Vermittlung von Ungewissheit
(„incertidumbre“) in Bezug auf Ugolinos suggerierten, aber wohlweislich nicht
affirmierten Kannibalismus. El último viaje de
Ulises schaltet sich in die immer wieder erneuerte Diskussion der
Odysseusgestalt ein, um sie durch eine Hypothese über die Komplexität der
symbolischen Beziehungen zwischen Odysseus, dem Seefahrer, und Dante, dem
Dichter, zu bereichern. EI verdugo piadoso erläutert den
nicht weniger ausgiebig diskutierten Konflikt, in den angesichts von Francescas
Höllenpein das Gesetz und eine gleichsam nominalistische Einfühlung geraten:
„Dante comprende y no perdona; tal es la paradoja insoluble“ (S. 123).
Dante y los visionarios anglosajones behandelt –
ausgehend vom zehnten Gesang des Paradiso –die Historia ecclesiastica gentis
Anglorum des Beda Venerabilis
[6]
, in deren Jenseitsvisionen Borges Episoden erblickt, die Dantes Vision mit
ihrer „unión de lo personal y de lo maravilloso“ („que es típica de Dante“)
präfigurieren (vgl. S. 133). „Purgatorio“ I 13 feiert den
Vers „Dolce color d’orïental zaffiro“ als Beispiel einer labyrinthisch auf sich
selbst verweisenden Metapher
[7]
.
El Simurgh y el águila
vergleicht unter der Kategorie eines ‚Wesens, das aus anderen Wesen gebildet
ist‘ („un ser compuesto de otros seres“) den allegorischen Kaiseradler im 18.
und 19. Gesang des Paradiso mit dem Vogelkönig Simorg in
der mystischen Dichtung Manteq o’t – Tair des Persers
Farid o’d – Din Attar (ca. 1140–1230). El encuentro en un sueño stellt die Frage, weshalb der Triumphzug, der
im 29. Gesang des Purgatorio die Apotheose Beatrices
eröffnet, den Eindruck ‚komplizierter Hässlichkeit‘ („de una complicada
fealdad“) vermittelt: eine mögliche Antwort besteht für Borges in der Vermutung,
die alptraumhaften Züge, welche das ersehnte Treffen annehme, seien ein
unbewusst manifestiertes Symptom des Schmerzes, den Dante über Beatrices
erotische Unerreichbarkeit empfindet (vgl. S. 149ff.). Mit dem gleichen Thema hat schließlich auch der letzte Essay La
última sonrisa de Beatriz zu tun. Er betrachtet die Terzine des
Abschieds von Beatrice (Paradiso 31, 91–93) und sieht in
ihr aufs neue den Ausdruck einer ,tragischen Substanz‘, ja geheimen Schreckens;
denn auf die ‚Flüchtigkeit von (Beatrices) Blick und Lächeln‘ folgt nach Borges
die ewige ‚Entfernung ihres Antlitzes‘. „En las palabras se trasluce el horror:
Come parea se refiere a lontana pero contamina a sorrise [...].También eterna parece contaminar
a si tornó“ (S. 161).
All diese Kommentare und Interpretationen bewegen sich nun vor dem
Hintergrund einer literarästhetischen Exaltation des Textes der Commedia, welche – zumal in Anbetracht der sonstigen
Wortkargheit des Kommentators – manchmal geradezu ins Emphatische umschlägt. So
soll die Terzine, welcher der Schlußessay La última sonrisa de
Beatriz gilt, schlechthin „los versos más patéticos que la literatura
ha alcanzado“ (S. 155) enthalten. Wiederholt wird von der Commedia insgesamt als dem „mejor libro que han escrito los hombres“
gesprochen (vgl. S. 116,mit leichter Variation S 158),
und schon beim Vortragszyklus der Siete Noches hat Borges
die Wahl der Commedia als erstem Thema folgendermaßen
begründet: „Si he elegido la Comedia para esta primera
conferencia es porque soy un hombre de letras y creo que el ápice de la
literatura y de las literaturas es la Comedia
[8]
“.
Natürlich besagt eine solche Exaltation, bei der Dante jetzt den Platz
des von Croce einst ähnlich gefeierten Shakespeare besetzt
[9]
,an sich wenig, wenn die Feier des einen
Autors nicht die Abwertung bestimmter anderer Autoren impliziert. In diesem
Sinne wird die Ästhetik, die Borges bei seiner Begeisterung für Dante
unterstellt, etwa durch die mehrfach artikulierte Synkrisis mit Milton
verdeutlicht
[10]
. Daß es sich dabei um eine pointiert textuelle Ästhetik handelt, geht auf etwas überraschende Weise aus der Kontrastierung der Ich-Form in
der Commedia und der Ich-Form in den Confessiones des Augustinus hervor. Während Borges die erstere als
unrhetorisch und deshalb geschichtlich nah empfiehlt, verweist er die letztere
wegen ihrer – wenngleich ‚glänzenden‘ – Rhetorik in eine größere historische
Ferne: „Recordemos que, antes de Dante, San Agustín escribió sus Confesiones. Pero estas confesiones, precisamente por su
retórica espléndida, no están tan cerca de nosotros como lo está Dante, ya que
la espléndida retórica del africano se interpone entre lo que quiere decir y lo
que nosotros oímos“
[11]
.
Von dieser Unterscheidung wird darauf die Dichotomie einer
,verbindenden‘ und einer ‚trennenden‘ Rhetorik abgeleitet, das heißt: einer
Rhetorik, die sich in der Kommunikation dessen, ‚was gesagt werden soll‘,
auflöst, und einer Rhetorik, die sich zwischen dem, ‚was gesagt werden soll‘,
und dem, ‚was wir hören‘, als eine Art ‚Mauer‘ aufbaut: „La retórica debería ser
un puente, un camino; a veces es una muralla, un obstáculo“. Für den Fall der
‚trennenden‘ Rhetorik fehlt es dann nicht an beispielhaft genannten Namen
‚undantesker‘ Autoren: „Lo cual se observa en escritores tan distintos como
Séneca, Quevedo, Milton o Lugones. En todos ellos las palabras se interponen
entre ellos y nosotros“
[12]
.
Ähnliche ästhetische Werte, deren Postulat das verbreitete Bild von
Borges als einem Erzmanieristen gehörig differenziert
[13]
, verfolgt die Betonung der Danteschen Konkretheit und Genauigkeit, der
„pormenores dantescos“ sowie der „invención de rasgos precisos“. Sie ist – unter
Berufung auf Macaulay und Ruskin – in erster Linie gegen Miltons ‚erhabene
Allgemeinheit‘ gerichtet, um sich indes zur Kritik an einem ganzen literarischen
Typus auszuweiten, für den – pars pro toto – die Namen Petrarca und Góngora
stehen: „A todos es notorio que los poetas proceden por hipérboles: para
Petrarca, o para Góngora, todo cabello de mujer es oro y toda agua es cristal;
ese mecánico y grosero alfabeto de símbolos desvirtúa el rigor de las palabras y
parece fundado en la indiferencia de la observación imperfecta.
Dante se prohíbe ese error; en su libro no hay palabra injustificada“ (S. 87f.)
Diese Kritik an der – wie es heißt – ‚mechanischen‘ Metaphorik und
Symbolik Góngoras, zu der sich analoge Einwände gegen den Konzeptismus Graciáns
oder Virgilio Malvezzis gesellen
[14]
,läßt deutlich erkennen, was das Zentrum von
Borges’ Vorstellungen der écriture ausmacht. Es ist ein
geradezu hermetisches Ideal des „rigor de las palabras“, das entfernt an
Ungarettis „poetica della parola“ erinnert
[15]
und überdies durch Mallarmés Konzept eines (unrealisierbaren) absoluten
Buchs geprägt scheint, in dem kein Wort kontingent und zufällig bleiben darf
[16]
.Damit wird uns bewußt, daß auch für Borges
die Aneignung des Klassikers Dante mit dem Versuch einer Exaltation der eigenen
Poetik zu tun hat. Dieser Zusammenhang zeigt sich bei ihm gewiß weniger kompakt
als zum Beispiel bei Croce oder T.S. Eliot. Für Croce hatte die Commedia ja das ideale Feld ergeben, auf dem er gegen die
‚scuola storica‘ seine Theorie der begriffslosen „poesia“ exekutieren konnte,
nach der die ‚Struktur‘ des „romanzo teologico“ nicht mehr war als ein Apparat
von ‚äusserlichen Verbindungen‘ (,,connessioni estrinseche“) zwischen den
„principali poesie o gruppi d: poesie“, die jeweils ein selbständiges ‚lyrisches
Gedicht‘ („una lirica a sé“) bildeten
[17]
. In scharfem Gegensatz dazu hatte T.S. Eliot auf der Unabdingbarkeit des
Bewußtseins gerade der ‚philosophischen Struktur‘ bestanden, ohne die auch die
‚poetische Schönheit der Teile‘ nicht zu erfahren wäre: „that the philosophy is
essential to the structure, and that the structure is essential to the poetic
beauty of the parts“
[18]
.Mit dieser Forderung war es Eliot
im wesentlichen um einen Einspruch gegen die – vorzüglich von Valéry vertretene
– symbolistische Ästhetik des „suggérer“ und des „exciter“ gegangen, an deren
Stelle eine andere Poetik der konturenscharfen Feststellung und Wahrnehmung (ihr
Schlüsselwort war die ‚Perzeption‘ von Gedanken und Gefühlen) treten sollte,
wobei eben Dante zur Widerlegung Valérys und zur Legitimation des eigenen
Konzepts aufgerufen wurde: „And Dante helps us to provide a criticism of M.
Valéry’s ‚modern poet‘ who attempts ‚to produce in us a state‘. A state, in itself, is nothing whatever“
[19]
.
Wenn Borges nun auf ähnliche (obgleich weniger akzentuierte) Art Dante
als legitimierendes Vorbild der eigenen schriftstellerischen Verfahrensweisen
reklamiert, dann bemüht er ihn – wie wir gesehen haben – vor allem für eine
Poetik der Essentialität, des „rigor de las palabras“ und der „invención de
rasgos precisos“. Eine solche Poetik des Essentiellen schließt neben der
Zurückweisung rhetorischer Redundanz, d. h. eines mecánico y grosero alfabeto de
símbolos“, auch den Verzicht auf die Weitschweifigkeit ein, wie sie nach Borges
den psychologischen Roman der Moderne kennzeichnet: „La novela de nuestro tiempo
sigue con ostentosa prolijidad los procesos mentales; Dante los deja vislumbrar
en una intención o en un gesto“ (S. 89). Oder, um die gleiche Opposition mit den
etwas anderen Worten des Vortrags der Siete Noches zu
umreißen: „Una novela contemporánea requiere quinientas o seiscientas páginas
para hacernos conocer a alguien, si es que lo conocemos. A Dante le basta un
solo momento. En ese momento el personaje está definido para siempre“
[20]
. In der Distanz zur „ostentosa prolijidad“ des zeitgenössischen Romans,
der eben kein absolutes Buch (ohne „palabra injustificada“) sein kann, glaubt
Borges indes, mit Dante eine Art poetologischer Identität erreicht zu haben. Er
entwirft sich gewissermaßen als der Dante moderner Prosa, indem er jene
visionäre Gabe, zentrale beziehungsweise essentielle Momente zu erfassen, welche
sich in der Commedia noch unbewußt manifestierte, in
seinen Erzählungen nunmehr bewußt zu erneuern trachtet: „Dante busca ese momento
central inconscientemente. Yo he querido hacer lo mismo en muchos cuentos y he
sido admirado por ese hallazgo, que es el hallazgo de Dante en la
Edad Media, el de presentar un momento como cifra de una vida“
[21]
.
Dante als der Dichter essentieller Momente, die jeweils ein Leben
chiffrieren und damit Ewigkeit erlangen: das ist ein Bild, das dem
Dante-Verständnis Croces, der ja ebenfalls auf die Profilierung einzelner
„rappresentazioni poetiche“ setzte, zunächst durchaus verwandt erscheint und ihm
jedenfalls nicht völlig fernsteht. Mit Croce gemein hat Borges’ Lektüre außerdem
den Primat, den in ihr ein hedonistisches und – wie es heißt – ‚naives‘ Lesen
beansprucht. Hatte Croce sich zum Programm gemacht: „leggere Dante proprio come
tutti i lettori ingenui lo leggono e hanno ragione di leggerlo, poco badando
all’altro mondo, pochissimo alle partizioni morali, nient’affatto alle
allegorie, e molto godendo delle rappresentazioni poetiche“
[22]
, so teilt Borges dies Programm wenigstens im Punkte des Anschlusses an die
„lettori ingenui“. Zumindest hält er es lesepsychologisch für vorteilhaft, von
der (gleichwohl als falsch erachteten) Annahme auszugehen, Dante habe seine
Jenseitsvisionen für die literale Wirklichkeit genommen: „Creo, sin embargo, en
la conveniencia de ese concepto ingenuo, ese concepto de que estamos leyendo un
relato verídico. Sirve para que nos dejemos llevar por la lectura. De mí sé
decir que soy lector hedónico; nunca he leído un libro porque fuera antiguo. He
leído libros por la emoción estética que me deparan y he postergado los
comentarios y las críticas“
[23]
.
In der Tat ist es schon aus Gründen der Generationszugehörigkeit
unvermeidlich, daß Borges’ Begegnung mit Dante in ihrer frühesten Phase durch
Croce bestimmt wurde. Borges selber berichtet über diesen Einfluß in den Siete Noches, und man darf wohl vermuten, daß der
Kommentar Attilio Momiglianos, den Borges dort gleichfalls hervorhebt
[24]
, die prägende Wirkung der Croceschen Perspektive noch bekräftigt hat.
Freilich bewahrt Borges gegenüber Croce, dessen Denkstil ihn fasziniert, in der
Sache selbst Reserven („no siempre estoy de acuerdo con él“), die sich bald als
recht weitreichend herausstellen. So insistiert der Dante-Vortrag
gleich zu Beginn auf der Bedeutung der Allegorie (welche Croce ja bewußt
verdrängte) und der Lehre vom vierfachen Schriftsinn, wie sie die Epistel an Can
Grande entwickelt
[25]
. Auffälliger noch ist die Unterstreichung der Narrativität des Commedia-Textes. Zwar werden gerne – etwa am Beispiel des
Verses „e caddi come corpo morto cade“ (Inferno 5, 143) –
die bekannten Augenblicke höchster sprachlicher Konzentration gewürdigt: „Toda
la Commedia está llena de felicidades de ese tipo“; doch
heißt es unmittelbar anschließend: „Pero lo que la mantiene es el hecho de ser
narrativa“
[26]
.Das impliziert nun einen eklatanten Widerspruch gegen Croces Auffassung
von der Lyrizität jener poetischen Momente, welche die platte Prosa des
‚theologischen Romans‘ in mehr oder minder großen Abständen unterbrechen sollen,
und Borges ist sich dieser Abkehr von der poetologischen Mentalität seiner
Jugendzeit, in der Croce ja nur eine Stimme neben anderen war, auch klar bewußt:
„Cuando yo era joven se despreciaba lo narrativo, se lo llabama anécdota y se
olvidaba que la poesía empezó siendo narrativa, que en las raíces de la poesía
está la épica y la épica es el género primordial, narrativo. En la épica está el
tiempo, en la épica hay un antes, un mientras y un después; todo eso está en la
poesía“
[27]
.
Derart verbindet sich die Poetik der Essentialität, die Borges in der
Commedia sucht, mit der Überzeugung vom Primat des
Narrativen, welche den Eindruck vermittelt, bei der Aneignung Dantes eben den
,essentiellen‘ Narrationen der Ficciones oder des Aleph nunmehr einen weiteren Schritt nahegekommen zu
sein. Der Eindruck verstärkt sich, wenn man bemerkt, daß Borges seine
Interpretationen von Danteschen Erzählungen und Bildern quasi ausnahmslos in
einem Sinn pointiert, der aus ihnen unauflösliche Paradoxa, Ambivalenzen und
Aporien hervorgehen läßt. Das beste Beispiel dafür ist El
verdugo piadoso, eine Überlegung, welche die Frage nach den Gründen der
„discordia“ zwischen Bestrafung und Mitleid durch ein doppeltes Paradoxon
beantwortet. Zunächst wird vermutet: „Dante comprende y no perdona; tal es la
paradoja insoluble“ (S. 123),was hier eine oxymorische
Übereinkunft von „nominalistischer“ Empathie und „realistischer“
Thetik besagen will. Darauf heißt es von dieser Vermutung, der letzten unter
vier „conjeturas“: „Las otras conjeturas eran lógicas; ésta, que no lo es, me
parece la verdadera“ (ebda.). Am Ende des Ugolino-Aufsatzes, der die Dantesche
Episode u. a. mit Henry James’ The Turn of the Screw
assoziiert, steht der Vorschlag, gerade das Oxymoron („Ugolino devora y no
devora los amados cadáveres“) als eigentlichen Kern der Gestalt zu verstehen und
die Koinzidenz gegensätzlicher Bestimmungen überhaupt für ein Wesensmerkmal der
Kunst gegenüber der geschichtlichen Wirklichkeit zu halten: „En el tiempo real,
en la historia, cada vez que un hombre se enfrenta con diversas alternativas
opta por una y elimina y pierde las otras; no así en el ambiguo tiempo del arte,
que se parece al de la esperanza y al del olvido“ (S. 110). Dazu paßt, daß einen
der wenigen Fälle, in denen Borges eine Dantesche Erfindung von einer anderen
vergleichbaren übertroffen sieht, der Simorg des persischen Mystikers Attar
darstellt; denn der Simorg ist anders als der Kaiseradler des Paradiso nicht nur ,unwahrscheinlich‘, sondern ,unmöglich‘: „El Águila
es un símbolo momentáneo, como antes lo fueron las letras, y quienes lo dibujan
no dejan de ser quienes son; el ubicuo Simurgh es inextricable“ (S. 143).
Seine extremen und jetzt ganz eigenwilligen Paradoxien, die mit einer
im Text manifesten voluntas auctoris kaum noch zu
vermitteln sind, verlegt Borges indes in die Deutung der paradiesischen Szenen
von Beatrices Glorienerscheinung und Abschied. In beiden Momenten nimmt er einen
untergründigen Horror des Paradieses wahr, der an die Schrecken der Erzählung
El inmortal denken läßt. Hier soll er freilich aus
Dantes Bewußtsein des bloß Imaginären erwachsen, das der Begegnung mit Beatrice
anhaftet und die Vision der unerreichten und auf ewig verlorenen Geliebten
paradox verdunkelt: „De ahí las circunstancias atroces, tanto más infernales,
claro está, por ocurrir en el empíreo: la desaparición de Beatriz, el anciano
que toma su lugar, su brusca elevación a la Rosa, la fugacidad de la sonrisa y
de la mirada, el desvío eterno del rostro“ (S. 161). Demnach verwandelt sich,
was für Dante Ziel allen Begehrens war, in Borges’ Vision von Dantes Vision in
einen Alptraum, so daß aus der „pesadilla“ des Paradieses die Erinnerung
zurückgehen kann zu einem Bild des Inferno, das nun – in
einem beunruhigenden Chiasmus – so paradiesisch wirkt wie (angesichts von
Beatrices Versagung) das Paradiso infernalisch: „[...]
pienso en dos amantes que el Alighieri soñó en el huracán del
segundo círculo y que son emblemas oscuros, aunque él no lo entendiera o no lo
quisiera, de esa dicha que no logró. Pienso en Francesca y en Paolo, unidos para
siempre en su Infierno. [...] Con espantoso amor, con ansiedad, con admiración,
con envidia“ (S. 152f.)
[28]
.
Natürlich steht eine solche Vision in der Überlieferung dessen, was man
(mit nicht unberechtigter Kritik) die romantische Dante-Lektüre zu nennen
pflegt
[29]
, und Borges räumt ja auch selber ein, daß der sehnsuchtsvolle Rückblick
auf Paolos und Francescas Höllenkreis nicht Dantes Absicht und Selbstkonzept
entsprochen haben kann („aunque él no lo entendiera o no lo quisiera“). Was
durch die Eigenwilligkeit dieser Gedankenverbindung jedoch nur um so deutlicher
offenbar wird, ist Borges’ zentrale Intention, eben jenem Text der
Weltliteratur, der auf das metaphysisch umfassendste Happy-Ending hinauszulaufen
scheint, eine verborgene „trágica sustancia“ (S. 156) abzugewinnen. Mit dem
Bemühen, in der Commedia Züge von Tragik freizulegen,
hängt sicherlich die Zentralität zusammen, die Beatrice für Borges’
Dante-Interpretation besitzt. Obwohl Borges ansonsten das Allegorische durchaus
akzeptiert oder jedenfalls längst nicht so dogmatisch zurückweist wie Croce,
klammert er im Falle Beatrices die Bedeutungsschicht der Allegorie weithin aus.
Für ihn ist Beatrice vor allem anderen die historische Gestalt der unerreichten
und unerreichbaren Geliebten, und als solche bewirkt sie nicht zu behebendes
Unglück. Derart sieht Borges in ihr mit hier recht verschlungenen Argumenten den
Ursprung der „uncanniness“ bzw. des stillen Schreckens, die im „nobile castello“
unter den antiken Dichtern Homer, Horaz, Ovid und Lukan herrschen. Da die
„quattro grand’ombre“ nach Borges’ psychologischer Intuition nichts anderes sind
als Projektionen oder Figurationen Dantes’, mag auch das Unheimliche ihrer
Erscheinung (das deutsche Wort „unheimlich“ steht an dieser Stelle im spanischen
Text, vgl. S. 95) aus der Trauer über die Ferne Beatrices resultieren: „Hablan
interminablemente de letras [...]; son magistrales en el ejercicio de su arte y,
sin embargo, están en el infierno porque los olvida Beatriz“ (S. 103).
Dabei muß die Tragik, die in Beatrices Versagung und Abschied liegt, um
so tiefer wirken, als Borges geradezu obsessiv auf der Idee besteht, daß Dante
den ungeheuren Aufbau seiner Jenseitsreiche nur zu dem Zweck unternommen hat, um
in ihnen einen Ort für die Begegnung mit Beatrice zu finden: „Dante, muerta
Beatriz, perdida para siempre Beatriz, jugó con la ficción de encontrarla, para
mitigar su tristeza; yo tengo para mí que edificó la triple arquitectura de su
poema para intercalar ese encuentro“ (S. 150ff.). Noch pointierter wird die Idee
wenig später ausgedrückt, wenn Borges das Verhältnis zwischen Hauptsache und
Einschub, „arquitectura“ und „intercalación“ auf den Kopf stellt: „Yo sospecho
que Dante edificó el mejor libro que la literatura ha alcanzado para intercalar
algunos encuentros con la irrecuperable Beatriz. Mejor dicho, los círculos del
castigo y el Purgatorio austral y los nueve círculos concéntricos y Francesca y
la sirena y el Grifo y Bertrand de Born son intercalaciones; una sonrisa y una
voz, que él sabe perdidas, son lo fundamental“ (S. 158). Die Tragik, welche so
das ‚Fundament‘ der Commedia durchzieht, ist demnach
nicht allein jene des auf Ewigkeit vergeblich Liebenden, es ist auch die des
Dichters, der eine unerhörte Liebe vergeblich durch die Dichtung zu befriedigen
trachtet. War der Zweck seiner „triple arquitectura“ tatsächlich die
Beseligung beim Wiedersehen Beatrices, dann hat er, da sich die Vision im
Bewußtsein ihrer Irrealität verzerrt und verliert, gleichsam ins Leere gebaut.
Damit gewinnt Borges’ Projektion in Dante, von der man sagen könnte,
daß sie Dantes Projektion in Homer, Horaz, Ovid und Lukan wiederholt, noch eine
neue Dimension. Was auf der Oberfläche stilistisch-poetologischer Konvergenzen
begann, vertieft sich im metaphysischen Konzept eines Dichters, der seine
Gebäude oder ‚Fiktionen‘ ungesichert über dem Abgrund errichtet. In diesem
Konzept erscheint der Dichter ohne Legitimation und tragisch erfolglos, doch
zugleich (innerhalb des Textes) allmächtig wie ein pantheistischer Gott.
Bezeichnend ist hier, daß Borges über das Argument der auktorialen
„omnipresencia“ auch einen technischen Aspekt des Problems der Diskrepanz
zwischen strafender Gesetzlichkeit und mitleidiger Einfühlung zu erklären
versucht. Nach dieser Erklärung ginge das Oxymoron des „verdugo piadoso“ unter
anderem auf die Intention zurück, eben die omnipräsente Allmacht des Dichters zu
verbergen und dem Leser nicht zu zeigen, daß alle Urteilssprüche der Commedia in letzter Instanz von Dante gesprochen werden,
„que la Justicia que emitía los fallos era, en último término, él mismo“: „Para
conseguir ese fin, se incluyó como personaje de la Comedia, e hizo que sus reacciones no coincidieran, o sólo coincidieran
alguna vez – en el caso de Filippo Argenti, o en el de Judas – con las
decisiones divinas“ (S. 94)
Am klarsten kommt diese radikal heterodoxe Sicht des Dichters Dante
(wie des Dichters Borges) vielleicht in der Deutung der Odysseus-Episode zum
Ausdruck. Es ist unter allen Interpretationen diejenige, für die Borges sich am
ausgiebigsten – bis hin zu Hugo Friedrichs Odysseus in der
Hölle – auch bei der Dante-Forschung informiert hat
[30]
, weshalb sie sich – im Gegensatz zu manchen anderen – durch eine
überraschend akkurat dokumentierte Gelehrsamkeit auszeichnet. Z. B finden wir in
ihr den wichtigen Hinweis auf den Um stand, daß der „folle volo“ von Vers 125
ein bestätigendes Echo im „varco folle d’Ulisse“ des Paradiso (27, 82f.) und eine konstrastive Replik in Dantes
„temo che la venuta non sia folle“ (Inferno 2, 35)
erhält. Daneben steht die ebenso wichtige Bemerkung, daß die Wendung „com’altrui
piacque“, die beim Scheitern der frevlerischen Seefahrt in Vers 141 erscheint,
sich mit gleichfalls kontrastiver Tendenz in Purgatorio
1, 133 wiederholt, als Dante für seinen frommen Aufstieg mit jenem Schilf
gegürtet wird, das – wie wir von Manfred Bambeck wissen
[31]
– als „flos humilitatis“ die läuternde Gnade Christi symbolisiert. So
stimmt Borges hier mit der neueren Dante-Forschung in dem Befund überein, die
gottlose Entdeckungsreise, die Odysseus nach John A. Scott zur negativen
Gegenfigur des Aeneas, des Cato und des Salomon macht
[32]
, für eine „sacrílega avéntura“ (S. 116) zu halten und in ein prononciertes
Oppositionsverhältnis zu Dantes gnadenerfüllter Jenseitswanderung zu bringen.
Trotzdem erblickt Borges neben der Opposition auch eine Äquivalenz
zwischen Dante und dem Odysseus des Inferno. Sie wird
sichtbar, wenn man als Dantes eigentliche Tat nicht die Jenseitswanderung seines
Protagonisten nimmt, sondern die ‚Schrift seines Buches‘: „la ejecución de su
libro“. Bei der Schrift des Buches nämlich konnte Dante sich nicht von
vornherein im Besitz der Gnade wissen, vielmehr muß ihm sein Text – so Borges –
oft nicht weniger schwierig, riskant, ja fatal erschienen sein als die letzte
Fahrt des Odysseus; denn auch der Autor der Commedia
hatte ja (gerade als Theologe) unvergleichlich Kühnes unternommen: „Había osado
fraguar los arcanos que la pluma del Espíritu Santo apenas indica [...]. Había
osado equiparar a Beatriz Portinari con la Virgen y con Jesús. Había osado
anticipar los dictámenes del inescrutable Juicio Final que los bienaventurados
ignoran; había juzgado y condenado las almas de papas simoniacos y había salvado
la del averroísta Siger, que enseñó el tiempo circular“ (S. 116f.). Auf diese
Weise situiert Borges den Hintersinn der Episode im Themenkontext der Fragen,
die Dante beim Aufbruch an Vergil und im Paradies an Cacciaguida stellt. Mehr
noch als die expliziten Fragen mag dabei Odysseus als Symbolgestalt die Sorge
eines Dichters verraten, der sich seiner Rechtfertigung im tiefsten
nicht sicher ist. Jedenfalls ist das der „conflicto mental“, von dem Borges hier
spricht („yo sugiero que […] lo simbolizó, acaso sin quererlo y sin sospecharlo,
en la trágica fábula de Ulises,y que a esa carga emocional ésta debe su tremenda
virtud“) und von dem er dann vorzüglich den Aspekt der begründeten Angst
unterstreicht: „Dante fue Ulises y de algún modo pudo temer el castigo de
Ulises“ (S. 118).
Zum Schluß eine letzte Bemerkung zu Qualitäten der Nueve ensayos dantescos, die auf eine allgemeinere hermeneutische
Problematik verweisen. Im Laufe meiner Charakteristik habe ich Borges’
Interpretationen mehrfach von der Dante-Forschung
abgehoben und stattdessen – zumindest in ihren entscheidnden Zügen – der
Kategorie einer Dante-Aneignung unterstellt. Indessen
sind sie auch für diese Kategorie ein Sonderfall. Das zeigt sich zum einen an
der bemerkenswerten Diskretion von Borges’ Deutungsvorschlägen, die durchweg den
Habitus bloßer Konjekturen bewahren. Symptomatisch dafür ist etwa die Einleitung
und Themenformulierung des Essays El verdugo piadoso. Sie
nennt das erklärungsbedürftige Phänomen („Dante […] pone a Francesca en el
Infierno y oye con infinita compasión la historia de su culpa“), schließt die
aus ihm resultierende Frage an („¿Como atenuar esa discordia, cómo
justificarla?“) und beschreibt darauf das Programm des Beitrags mit der
lakonischen Wendung „Vislumbro cuatro conjeturas posibles“ (S. 119). Dem hier
gebraucheten Verbum „vislumbrar“ entsprechen anderenorts die Verben „pensar“
(S. 152): „Leo y releo los azares de su ilusorio encuentro y pienso […]),
„sospechar“ (S. 158: „Yo sospecho que Dante edificó el mejor libro […]“) oder
„insinuar“ (S. 103: „Yo insinuaría otra razón de índole personal“). Durch sie
wird jede Interpretation stets aufs neue ausdrücklich mit dem Vorbehalt des
Subjektiven und des Provisorischen versehen. Wenn es Borges um Aneignung geht,
bleibt sie demnach in einer Art Schwebezustand zwischen halber Affirmation und
halber Suspension: eine Aneignung gleichsam im Modus Potentialis.
Auffälliger noch wirkt eine zweite Besonderheit. Bemühen sich moderne
Autoren (oder Literaturkritiker) um die Aneignung eines Klassikers (oder
genereller gesagt: eines Textes der Vergangenheit), läuft diese Bemühung ja
zumeist auf die Übertragung des vergangenen Textes in die Begriffe eines aktuell
herrschenden Diskurses hinaus. Häufig erweist sich solche
Übertragung als ein Prozeß von Unterwerfung; das heißt: der angeeignete Text
wird von der Begrifflichkeit des aneignenden Diskurses gewissermaßen überwältigt
und absorbiert. Dagegen ist für Borges’ Essays kennzeichnend, daß es in ihnen
kaum jemals zu eindeutig hierarchisierten Verhältnissen zwischen Text und
Diskurs kommt. An die Stelle der Übertragung in Begriffe tritt hier oft der
Verweis auf andere Texte, welche dem Danteschen Text nicht übergeordnet, sondern
beigeordnet werden. So dienen beispielsweise der Kommentierung des Verses
„Poscia, più che ‘l dolor, poté ‘l digiuno“ die Erinnerungen an Henry James’ The Turn of the Screw oder an Shakespeares Hamlet, von dem es – analog zum Satz „Ugolino devora y no
devora los amados cadáveres“ – heißt: „Hamlet, en ese tiempo (del arte), es
cuerdo y es loco“ (S. 110f.). Oder der Odysseus des Inferno wird kommentiert durch die Assoziation mit dem „admirable Ulysses de Tennison“ oder dem Kapitän Ahab des Moby Dick (vgl. S. 118). Derart privilegiert Borges statt
der Dominanz eines Diskurses die potentiell unendliche Verkettung verschiedener
Texte. Unter ihnen ergibt sich nicht mehr jene Hierarchie, bei der das
Gegenwärtige über das Vergangene und das Allgemeine über das Besondere herrscht,
sondern die Figur einer Juxtaposition, die, was als Wahrheit gelten soll,
zwischen den Texten zirkulieren läßt. Dabei mag manchmal auch eine eigentümliche
Poetik, ja Koketterie der Belesenheit im Spiel sein; doch ist nicht zu
verkennen, daß diese Poetik gleichzeitig eine hermeneutische Utopie impliziert:
die Utopie einer Aneignung, die (weithin) frei bleibt von den Ansprüchen
diskursiver Herrschaft.
1 |
Als exemplarisch für dies Verhältnis können einerseits die
,,Ficciones“ El acercamiento a Almotásim oder
Examen de la obra de Herbert Quain,
andererseits „Otras Inquisiciones“ wie Kafka y sus
precursores, La esfera de Pascal oder Historia de los ecos de un nombre gelten. |
2 |
Besonders eindrucksvoll manifestieren sie sich in den
zwischen 1936 und 1939 für die Wochenzeitschrift El Hogar verfaßten Aufsätzen und Besprechungen. Vgl. zu
ihnen die aufschlußreiche rezente Ausgabe: J.L. Borges, Textos cautivos, edición de
E. Sacerio-Garí y E. Rodríguez Monegal, Barcelona (Tusquets)
1986. |
3 |
J.L. Borges, Nueve ensayos dantescos, Madrid (Espasa-Calpe) 1982 (Selecciones Austral, 102). Auf diesen Band
beziehen sich im Folgenden die Seitenangaben nach den
Zitationen. |
4 |
Die eklatantesten Zeugnisse für diese Berühmtheit bieten
freilich speziell die französische und die italienische (entschieden
weniger die deutschsprachige) Literatur. Als wichtige Stationen
einer produktiven Rezeption wären hier etwa Italo Calvinos
Se una notte d’inverno und Umberto Ecos
Il nome della rosa zu nennen – Texte, in
denen eine Art Borges-Mythos geradezu sein Unwesen treibt –,
außerdem Michel Foucaults große Abhandlung Les
mots et les choses, deren Vorwort schon 1966 erklärt: „Ce
livre a son lieu de naissance dans un texte de Borges“. |
5 |
Bekanntlich sah Croce die Dante-Forschung zumal der
perhorreszierten ,scuola storica‘ als eine weithin müßige
Beschäftigung mit „minuzie“ und „inezie“ an; vgl. La poesia di Dante, Bari 111966 (1. Ausgb. 1920), S. 6ff.,
66f. und passim. |
6 |
In diesem Gesang erscheint Beda indes nicht – wie Borges
versehentlich schreibt (vgl. S. 125) – als ‚Siebter‘ in einer Gruppe
von zwölf Weisheitslehrern, sondern zwischen Isidor und Richard von
St. Viktor an zehnter Stelle. |
7 |
Über denselben Vers, den er ‚von Tausendundeiner Nacht
erfüllt‘ sieht, spricht Borges auch in dem ersten einer Reihe von
sieben Vorträgen, die er 1977 seinen Lieblingsthemen (u.a. La Divina Comedia, La pesadilla, Las mil y una
noches, La cábala) widmete; vgl. J.L. Borges, Siete Noches, México–Madrid–Buenos Aires
1980, S. 15f. |
8 |
Siete Noches, a.a.O. S. 26f. |
9 |
Vgl. dazu gerade in La poesia di
Dante (a.a.O. S. 65) Croces Urteil über die ,,maggiori drammi
dello Shakespeare“, in denen – anders als in der Commedia oder in Goethes Faust –
„lo schema o struttura nasce dal motivo poetico, e non c’è struttura
e poesia, ma tutto [...] è omogeneo, tutto è poesia“. |
10 |
Vgl. z. B. S. 86 oder besonders Siete
Noches, a.a.O. S. 13: „Se ha comparado a Milton con Dante,
pero Milton tiene una sola música: es lo que se llama en inglés ‚un
estilo sublime‘. [...] En cambio en Dante, como en Shakespeare, la
música va siguiendo las emociones“. |
11 |
Siete Noches, a.a.O. S. 18. |
12 |
Ebda. |
13 |
Vgl. zu diesem Bild Y.J. Broy1es,
The German Response to Latin American
Literature and the Reception of Jorge Luis Borges and Pablo
Neruda, Heidelberg 1981, S. 137–140 (Borges’ style and Mannerism). |
14 |
Vgl. dazu auch noch S. 136, wo die Abwertung von Góngoras
Vers „En campos de zafiros pace estrellas“ das Verdikt des
Metaphernaufsatzes aus Historia de la eternidad
wiederholt (vgl. die Introducción von
Barnatán S. 65f.), zu Gracián und Malvezzi S. 107. |
15 |
Vgl. A. Noyer-Weidner, Zur Frage der „Poetik des Wortes“ in Ungarettis
L’Allegria, Krefeld 1980 (= Schriften und Vorträge des
Petrarca-Instituts Köln 30). |
16 |
Vgl. zu dieser Vorstellung – freilich in einem anderen
Argumentationszusammenhang – Siete Noches,
a.a.O. S. 14, sowie J.L. Borges, Otras Inquisiciones, Madrid 1979, S. 110 (Del culto de los libros). |
17 |
Vgl. B. Croce, La
poesia di Dante, a.a.O. S. 60ff. und passim. |
18 |
T.S. Eliot, The Sacred Wood,
London–New York 1983 (1. Ausgb. 1920), S. 160. |
19 |
Ebda. S. 170. |
20 |
Siete Noches, a.a.O. S. 20. |
21 |
Ebda. |
22 |
Vgl. La poesia di Dante, a.a.O.
S. 67. |
23 |
Siete Noches, a.a.O. S. 11. |
24 |
Vgl. ebda. S. 13. |
25 |
Vgl. ebda. S. 10. |
26 |
Ebda. S. 16. |
27 |
Ebda. |
28 |
Deutlicher wird Borges’ entschieden idiosynkratische Sicht
der Paolo-Francesca-Episode noch im Vortrag von 1977; vgl. Siete Noches, a.a.O. S. 24:„Con infinita piedad, Dante nos refiere el destino de los dos
amantes y sentimos que él envidia ese destino. Paolo y Francesca
están en el Infierno, él se salvará, pero ellos se han querido y él
no ha logrado el amor de la mujer que ama, de Beatriz. [...] Están
juntos para la eternidad, comparten el Infierno y eso para Dante
tiene que haber sido una suerte de Paraíso“. |
29 |
Aus der Perspektive dieser Kritik protestiert z. B. Hans
Felten gegen ein „Mißverständnis“ der gleichen Episode bei H.R. Jauß
(Vgl. Ästhetische Erfahrung und literarische
Hermeneutik, Frankfurt 21984, S. 413f., und H. F e 1ten,
„Zur Frage in der Divina Commedia“, in: Dante A
lighieri 1985 – In memoriam Hermann Gmelin, Tübingen 1985,
S. 141–148, hier S. 146f.). Zu welchen Spannungsverlusten (und teils
sogar Verzerrungen) andererseits indes auch das Streben nach einer
ausgesprochen scholastisch-orthodoxen Exegese führen kann, zeigen
etwa neuere Deutungen der Pier-della-Vigna-Episode, die pointiert
gegen das Erbe des „romantic criticism" gerichtet sind wie
beispielsweise A.K. Casse11, „Pier della
Vigna’s Metamorphosis: Iconography and History“, in Dante, Petrarch, Boccaccio – Studies in the
Italian 7iecento in Honor of Charles S. Singleton,
Binghamton 1983, S. 31–76, oder J.T Chiampi, „Consequentia rerum: Dante’s Pier della Vigna and the Vine
of Israel“, Romanic Review 75 (1984), S. 162–175. Zu Cassells
Aufsatz vgl. meine Rezension ZrP 101 (1985), S. 478–484, hier
S. 482f. |
30 |
Vgl. zu ihr als einen besonders perspektivenreichen
Überblick R. K1esczewski, „Dantes
Odysseus-Gesang“, in: Dante Alighieri 1985,
a.a.O. S. 17–30. |
31 |
Vgl., „Dantes Waschung mit dem Tau und Gürtung mit dem
Schilf“, RJb 21 (1970), S. 75–92. |
32 |
Vgl. J.A. Scott, „L’Ulisse
dantesco“, in: ds., Dante magnanimo – Studi sulla
„Commedia“, Firenze 1972, S. 117–193. |