Die nachfolgende Skizze behandelt zwei Arten, vom Krieg zu dichten,
oder genauer gesagt: zwei Arten, literarisch den Krieg zu führen. Eine Variante
– und wohl eine radikalere – ist die Marinettis und der futuristischen
Avantgarde, eine zweite die Gabriele D’Annunzios, während ein Seitenblick, der
auf bezeichnende Weise ratlosen Reaktion Hugo von Hofmannsthals gelten wird.
Dabei sind die Beispiele, welche ich gewählt habe, durchaus als exemplarisch zu
verstehen; denn die Texte Marinettis und D’Annunzios stehen bei vergleichbarer
Kriegsbegeistertung ja in einem offenkundigen Spannungsverhältnis, und es ist
kein Zufall, wenn nach dem Gewinn des Krieges beide für eine gewisse Zeit um die
Hegemonie im faschistischen Diskurs rivalisieren werden.
Wenn ich Marinettis Variante, den Krieg zu führen, als die radikalere
bezeichne, geht das auf den Umstand zurück, daß der Krieg für die Futuristen
anders als für D’Annunzio von Anfang an im Zentrum ihres kulturrevolutionären
Entwurfs stand. Bekanntlich verlangte das 1909 veröffentlichte Futuristische
Manifest nicht allein, die „von Arbeit, dem Vergnügen oder dem Aufstand bewegten
Massen“ der modernen Metropolen zu feiern, sondern außerdem: „Wir wollen die
Museen, die Bibliotheken, die Akademien aller Art zerstören und gegen den
Moralismus, den Feminismus und gegen jede utilitaristische Feigheit kämpfen“
[1]
Dieser Emphase von Kampf und Zerstörung, welche Marinettis spezifischer
Ton ausmacht, entspricht die im ersten Manifest benachbarte These: „Wir wollen
den Krieg glorfizieren – die einzige Hygiene der Welt –, den Militarismus, den Patriotismus, den destruktiven Akt der Anarchisten, die schönen
Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung der Frau.“ (S. 10).
Charakteristisch ist hier, daß die futuristische Lust an der
Destruktion Phänomene zusammenbringt, denen man gemeinhin ganz unterschiedliche
politische Konnotationen zuzuweisen pflegt: einerseits den eher individuellen
Terror anarchistischer Attentate, andererseits den kollektiven Terror eines
nationalistisch entflammten Militarismus. Offensichtlich sind die eine wie die
andere Art des Terrors gleichermaßen willkommen, um zu vernichten, was Marinetti
perhorresziert: „die meditative Bewegungslosigkeit, die Ekstase und den Schlaf“
(,,l’immobilità pensosa, l’estasi e il sonno“ S. 10). Dagegen fordert Marinettis
terroristische Poetik die Exaltation der „aggressiven Bewegung, der fieberhaften
Schlaflosigkeit, des Laufschritts, des Salto mortale, der Ohrfeige und des
Faustschlags“ (ebd.).
Von Anfang an, das heißt: seit der ersten Deklaration der Bewegung, ist
demnach klar, daß für die Avantgarde des Futurismus der Krieg alles andere
darstellt als eine Katastrophe. Vielmehr ist er der letzte Zweck jeder
künstlerischen Aktivität, der höchste Wert des gesteigerten Lebens, weshalb es
später in einem Aufruf an die italienische Studentenschaft, der nicht zuletzt
gegen D’Annunzios weniger avantgardistisches Kriegsverständnis gerichtet ist,
heißen wird: „Der Krieg kann nicht sterben, weil er ein Gesetz des Lebens ist.
Leben = Aggression. Universaler Friede = Vergreisung und Agonie der Rassen“
(„decrepitezza e agonia delle razze“, S. 287). So verwandelt sich der Krieg in
das, was Marinetti „intensivierten Futurismus“ nennt; denn der Krieg – und hier
scheint Marinetti als Prophet weit ins 20. Jahrhundert vorauszuschauen – ist die
Zukunft selber: „Wir [...] Futuristen haben den Krieg stets als einzige
Inspiration der Kunst betrachtet, als einzige läuternde Moral, als einzige Hefe
des Menschenteigs [,,unico lievito della pasta umana“]. Allein der Krieg kann
die menschliche Intelligenz verjüngen, beschleunigen, schärfen, die Nerven
leicht machen und durchlüften, uns von den Alltagslasten befreien, dem Leben
tausendfaches Aroma und den Idioten Geist verleihen“ (ebd.).
Nun ist der Futurismus eine, um nicht zu sagen: die idealtypische
Avantgarde-Bewegung vor allem insofern, als er seine Aktivitäten nicht auf den
Raum von Kunst und Literatur beschränkt, sondern mit eklatanten Aktionen das
gesellschaftliche Leben selbst zu bestimmen, oder moderner formuliert: die
sozialen Funktionssysteme der Politik, der Wirtschaft, des Militärs usw.
systematisch zu okkupieren sucht.
[2]
In diesem Sinn erklärt Marinetti im gleichen Aufruf, der den Krieg als
„intensivierten Futurismus“ definiert:
Der Futurismus will auf brutale Weise das Leben in die Kunst
einführen; er bekämpft das alte statische, dekorative, effeminierte, preziöse,
empfindliche Ideal der Ästheten, dem die Aktion verhaßt war. In den letzten
dreißig Jahren wurde Europa infiziert von einem widerlichen sozialistoiden,
anti-patriotischen, internationalistischen Intellektualismus [uno schifoso
intellettualismo socialistoide, antipatriottico, internazionalista], der den
Körper vom Geist trennt, eine törichte Hypertrophie des Gehirns erstrebt, die
Vergebung erlittener Aggressionen lehrt, den universalen Frieden und das
Verschwinden des Krieges verkündet, dessen ‚Schrecken‘ von Ideenkämpfen ersetzt
würden. Gegen diesen lntellektualismus germanischer Herkunft ist der Futurismus
aufgestanden, indem er den Instinkt, die Kraft, den Mut, den Sport und den Krieg
feiert [Contro questo intellettualismo d’origine germanica il Futurismo si
scagliò esaltando l’istinto, la forza, il coraggio, lo sport e la guerra,
S. 284].
Das Spezifische der futuristischen Kriegspropaganda besteht folglich
darin, daß sie in erster Linie gar nicht das Ziel verfolgt, die Sache der
eigenen Nation gegen die einer fremden und feindlichen zu betreiben. Vielmehr
ist sie vorrangig bemüht, den Krieg als Ereignis überhaupt erst einmal
hervorzubringen und dann möglichst auf Dauer zu stellen; denn der ersehnte
Kriegsausbruch scheint eben durch den pazifistischen „Intellektualismus
germanischer Herkunft“ ja aufs äußerste gefährdet zu sein. Deshalb läßt
Marinetti keine Gelegenheit verstreichen, um die Aufhebung der Kunst in
zukünftigen kriegerischen Aktionen zu proklamieren, besonders eindrucksvoll und
mit zynischem Schwung beispielsweise 1911 beim Beginn des Libyenkrieges, als die
‚Geburt‘ des imperialistischen ,Panitalianismus‘ in einem futuristischen
Manifest folgendermaßen zelebriert wird:
Futuristische Dichter, Maler, Bildhauer und Komponisten Italiens!
Solange der Krieg dauert, lassen wir Verse, Pinsel, Meißel und Orchester
beiseite! Es haben die roten Ferien des Genies begonnen! Heute können wir nichts
anderes mehr bewundern als die großartigen Symphonien der Schrapnelle und die
wahnwitzigen Skulpturen, die unsere inspirierte Artillerie aus den Massen der
Feinde formt [Nulla possiamo ammirare, oggi, se non le formidabili sinfonie
degli shrapnels e le folli sculture che la nostra ispirata artiglieria foggia
nelle masse nemiche, S. 291].
Wesentliche Mittel, die für die Kriegspropaganda eingesetzt werden,
sind neben im engern Sinn literarischen Texten wie
Mafarka le
Futuriste (1909), Manifesten und Aufrufen seit 1910 vor allem die
sogenannten ‚Serate futuriste‘: auf Provokationen und Tumulte hin angelegte
Abendveranstaltungen, in denen sich sowohl die Happenings späterer Avantgarden
als auch die ,Saalschlachten‘ des Nationalsozialismus während seiner gleichsam
,squadristischen‘ Phase ankündigen.
[3]
Mit Absicht fand die erste dieser ‚Serate futuriste‘ im noch
habsburgischen Triest statt (am 12. Jänner 1910 im Politeama Rossetti), und bald
– wenn wir Marinetti selbst glauben wollen: spätestens mit der zweiten, in
Mailand organisierten ,Serata‘ vom 15. Februar 1910 – stellte sich auch die
Effizienz prägnanter, leicht wiederholbarer Slogans heraus. Und so pflegte der
Schlachtruf futuristischer Agitation seit 1910 mit einem Vivat („Viva la guerra
sola igiene del mondo!“) zu beginnen und mit einer dazu komplementären
Pereat-Formel (,,Abbasso l’Austria!“) zu enden (vgl. S. 290).
Indessen ist noch einmal zu betonen, daß in diesem Slogan der erste
Teil, die Komponente des „Viva la guerra“, ein weit größeres Gewicht besitzt als
die zweite Komponente des „Abasso l’Austria“. Sein Hauptadressat sind nämlich
nicht die Österreicher, die Feinde der Nation, sondern die italienischen
Anhänger „pazifistischer und internationalistischer Theorien“ (vgl. S. 247).
Allein die ‚germanisch‘ korrumpierte Partei Giolittis und der italienischen
Neutralisten erscheint hier als ernst zu nehmender Widersacher,
während die Germanen selber nicht eigentlich in die Position gleichrangiger
Gegner erhoben werden: die Propaganda des Futurismus macht aus ihnen mit
selbstsicherer Konsequenz Zerrbilder eines kraft- und leblosen ,Passatismus‘,
von denen bei kriegerischen Auseinandersetzungen keine adäquate Gegenwehr zu
erwarten ist.
Daraus ergibt sich ein Image der Kriegsgegner, das auf den ersten Blick
vielleicht etwas Überraschendes hat. Es wird insbesondere durch den Umstand
bestimmt, daß Begriffe wie Militarismus, Gewalt und Aggression entschieden
positiv besetzt sind und deshalb für den Gegner nicht mehr zur Verfügung stehen.
Statt dessen erscheinen die Feinde von vornherein in einer karikaturalen
Gestalt, das heißt: als groteske Objekte der eigenen, ,inspirierten‘ Aggression,
welche demnach eher Verachtung und sarkastisches Gelächter als eigentlichen Haß
verdienen. Gewiß ist in den Schriften der futuristischen Aufrüstung immer wieder
auch die Rede von ,unserem Haß auf Osterreich‘, und über Nietzsche, dem
Marinetti ansonsten einige Schlagwörter verdankt, heißt es einmal: „Dieser
Philosoph haßte den germanischen Typ nicht intensiv genug, um die unaufhebbare
Antipathie begreifen zu können, welche alle Rassen von der unverdaulichen
deutschen Rasse trennt“ (S. 248). Doch wirken solche und ähnliche Äußerungen
einer konkret rassistischen Abneigung verhältnismäßig konventionell, wenn man
sie an dem mißt, was in ihrem Kontext als generelle Glorifikation des
(vitalisierenden) Kriegs unmittelbar vorausgeht:
Wir [Futuristen] sind überzeugt, daß man nicht entschlossen in
die Zukunft voranschreiten kann ohne eine persönliche Hygiene täglichen Kampfes
und ohne die kollektive Hygiene von Blutduschen im Rhythmus von zehn Jahren [noi
rispondiamo che non si può avanzare risolutamente nell’avvenire, senza mantenere
la nostra igiene personale di lotta quotidiana e la nostra igiene collettiva di
doccia sanguinosa decennale, S. 248].
Charakteristischer als Tiraden anti-österreichischen und anti-deutschen
Hasses, wie wir sie dann – virtuos formuliert – bei D’Annunzio finden, wirkt in
den futuristischen Schriften also die karikaturale Degradierung der präsumtiven
Kriegs g e g n e r, die in einer Haltung forcierter
Selbstexaltation stets auch als die präsumtiven Kriegs o p f e r angesehen werden. Daß sie zu Opfern bestimmt sind, steht
außer jedem Zweifel, weil sie für Marinetti immer schon den Typus der
Anti-Futuristen, das heißt: der ,Passatisten‘. darstellten: sie sind der
Vergangenheit verhaftet, schwerfällig langsam, professoral pedantisch, ja im
Grunde pazifistisch. So wird in dem Bericht über die Provokation eines
futuristischen Auftritts in Triest 1910 der (verständliche) Protest des
pro-österreichischen Publikums als „großer Aufstand der Mumien“ bezeichnet (vgl.
S. 214). In einer gleichfalls 1910 gehaltenen Rede an die Venezianer
rechtfertigt Marinetti seinen Vorschlag, die Kanäle zuschütten zu lassen und die
Stadt zu modernisieren, folgendermaßen:
Protestiert nicht gegen die angebliche Häßlichkeit der
Lokomotiven, der Straßenbahnen, der Automobile und der Fahrräder [...1. Sie sind
immer noch dazu gut, irgendeinen schmutzigen und grotesken nördlichen Professor
mit Tirolerhut zu zerquetschen [Potranno sempre servire a schiacciare qualche
lurido e grottesco professore nordico dal cappelluccio tirolese, S. 32].
Dem entspricht das Sintesi Futurista
della Guerra betitelte Schaubild, das die „Direktion der futuristischen
Bewegung“ am 20. September 1914 ausgegeben hat. Auf ihm sieht man, wie ein
phallisch stilisierter Keil, welcher acht Völker des ‚schöpferischen Geistes‘
symbolisiert, siegreich in den Bereich der ‚deutschen Kultur‘ eindringt. Unter
den Völkern des „Genio Creatore“ ragt selbstverständlich Frankreich hervor:
„Intelligenz, Mut, Schnelligkeit, Eleganz, Spontaneität, Explosivität,
Disinvoltura“. Auf der Gegenseite befindet sich zwischen Deutschland
(Qualitäten: „Schafsblödheit, Schwerfälligkeit, Rohheit, Pedanterie“ etc.) und
der Türkei (Qualitäten: „0“) der Erzfeind Österreich, ein Land, dessen
futuristische Charakteristik mit den Worten „Idiotie, Schmutz“ beginnt und mit
den Worten „Wanzen, Priester“ („cimici, preti“) endet (vgl. S. 280f.).
In dem schon erwähnten Aufruf an die italienische Studentenschaft
unterscheidet Marinetti die eigene Glorifikation des Kriegs, der zum Selbstzweck
wird und nie enden darf, scharf von der – wie er meint – ‚passatistischen‘
Kriegsdichtung konkurrierender Literaten. Dabei mokiert er sich über Autoren,
die „weinerlich die Schrecken des Kriegs beklagen oder in pompösem Stil die
toten Helden feiern“ (vgl. S. 287). Für sie sei der Krieg nur ein „neues
poetisches Motiv, ein Vorwand, um unter den Ruinen ihres Gehirns in monströsen
Aufzügen von Terzinen Griechen und Römer wiedererstehen zu lassen“ (ebd.).
Schließlich seien sie nichts anderes als verkappte Pazifisten, da sie insgeheim
hofften, im Kampf gegen Deutschland und Österreich auch den Krieg selber zu
vernichten. Diese Polemik bezieht sich, wie kurz zuvor explizit gemacht wird,
speziell auf D’Annunzio, der somit als letzter Zeuge einer nunmehr erledigten
und zu begrabenden ‚poesia pacifista‘ erscheint.
Mit einer solchen Qualifikation tut Marinetti seinem größten
Konkurrenten allerdings eindeutig Unrecht; denn ein Vertreter ,pazifistischer
Dichtung‘ war D’Annunzio auf keinen Fall. Nur insofern hat Marinetti recht, als
D’Annunzios literarische Kriegführung in der Tat einen Diskurs entwickelt, der
sich zum futuristischen Kriegsdiskurs ziemlich genau komplementär verhält. Die
Glorifikation der Futuristen betraf ja zuvörderst das Phänomen des modernen
Kriegs an sich: sie pries „die Bombardierungen, die Panzerzüge, die
Schützengräben, die Salven der Artillerie, die elektrifizierten Drahtverhaue“,
da diese neuen Dinge nichts mit der klassizistischen, traditionalen,
archäologischen, georgischen, nostalgischen, erotischen ‚poesia pacifista‘ zu
tun hätten“, für die exemplarisch die Namen „Baudelaire, Mallarmé, Verlaine,
Carducci, Pascoli, D’Annunzio“ genannt werden (vgl. S. 285f.). Sublim waren die
gepriesenen Phänomene, weil in ihnen die Subjekte – wie poetologisch verordnet
–jetzt auch ganz real explodierten und zumal, weil sie alle Vorstellungen
überlieferter Moral ad absurdum führten. Hinter solcher Feier der Modernität, ja
Futurität des Krieges als umwälzendes Ereignis verblaßte bei Marinetti
wenigstens relativ die Invektive gegen den konkreten Kriegsgegner. Dieser zieht
keinerlei Emphase auf sich, sondern erscheint als das prädestinierte Opfer einer
überlegenen, technifizierten und vitalisierten Zivilisation: eben als ein
„schmutziger Professor mit Tirolerhut“, der von der Superiorität avancierter,
avantgardistischer Techniken „zerquetscht“ wird.
Bei D’Annunzio sind die Akzente dagegen umgekehrt gesetzt. Was in
seiner Kriegsdichtung anders als bei den Futuristen in den Vordergrund drängt,
ist gerade die Invektive des Feindes. Wo Marinetti groteske Karikaturen des
,Passatismo‘ wahrnimmt, welche zu bloßen Objekten von Zerstörung bestimmt
scheinen, sieht D’Annunzio einen Bezirk des schlechterdings Monströsen, der
durch den Sieg im gerechten, ja heiligen Krieg unschädlich gemacht werden muß.
Ein solcher Krieg kann keineswegs wie für Marinetti als Selbstzweck gelten; denn
über ihm steht die Notwendigkeit, einen Feind zu vernichten, den die Geschichte
immer schon als Inkarnation barbarischer Unmenschlichkeit erwiesen hat. Deshalb
bildet jener „Haß auf Österreich“, den Marinettis Propaganda hinter einer
„fieberhaften Erwartung des Kriegs“ zurücktreten läßt (vgl. S. 278), in
D’Annunzios Kriegsdichtung den eigentlichen Sinnmittelpunkt. Ihm dient eine
Rhetorik, welche an die Tradition des antiken oder antikisierenden Jambus
anschließt, aus der von Archilochos bis zu André Chéniers
Iambes geeignete Vorbilder für den hier erforderlichen Ton vehementer
Beschimpfung zu entnehmen waren.
[4]
Passagen solcher Beschimpfung enthält z. B. bereits D’Annunzios Canzone dei Dardanelli aus dem Jahr 1911. Sie wurde
berühmt, weil sie wegen der Beleidigung des Oberhaupts eines damals ja noch
alliierten Staats am 24. Jänner 1912 zur Konfiszierung des Bandes der Canzoni della Gesta d’Oltremare führte und außerdem Hugo
von Hofmannsthals erschrockene Protestreaktion vom 1. Februar 1912 auslöste. In
dieser Canzone wird der österreichische Kaiser unter anderem als ein „frommer
Henker“ angesprochen, „der Engel des ewigen Galgens“ („l’Angelo della forca
sempiterna“), und es folgen zwei Terzinen, welche – übersetzt – ungefähr lauten:
| Düsteres Mantua, Bastionen von Belfiore, |
| | Gräber der Lombardei, geschwungenes Triest, |
| | sah man je ein größeres Wunder? |
| | | der – einem Aasgeier gleich – |
| | das unverdauliche Fleisch der Leichen auskotzt! |
| | | fosse di Lombardia, curva Trieste, |
| | si vide mai miracolo maggiore? |
| | | che rivomisce, come l’avvoltoio, |
| | le carni dei cadaveri indigeste!)
[5]
|
|
|
Bezeichnenderweise werden eben diese Verse in einem opportunen Moment,
nämlich im ersten Kriegsjahr 1914, von D’Annunzio wiederverwendet und in die
französisch geschriebene Ode pour la Résurrection Latine
eingearbeitet. Dort geht ihnen eine Schreckensvision von siegreichen
germanischen Barbaren voraus, die plündern und vergewaltigen, worauf sich als
Nebensatz anschließt (S. 999):
| tandis que le vautour à deux têtes. |
| | le maître puant au double cou dénudé, |
| | pousse soir cri lugubre et rejette |
| |
|
Dem Paroxysmus des Hasses, den solche und ähnliche
Formulierungen manifestieren, entspricht ein geradezu besinnungsloser
Wortrausch. Zwar ist dieser Wortrausch immer schon gewissermaßen das
Markenzeichen von D’Annunzios Lyrik gewesen; doch offenbart er in den
Kriegsgedichten Züge gesteigerter Hysterie. So besteht etwa in der Ode an die serbische Nation (Ode alla Nazione Serba)
vomNovember 1915 eine ganze, 21 Verse umfassende
Strophe allein aus den Appositionen des Subjekts „Der Henker von Habsburg“ („Il
boia d’Asburgo“), und auch in der nächsten Strophe muß man 15 weitere Verse
warten, bis man auf das zum Subjekt gehörende Verbum stößt: „0 Serbien, der
schmutzige Henker von Habsburg [...] ruft gegen dich die feisten Henkersknechte
zur Hilfe, 50 gegen einen.“ Dabei lauten die ersten Appositionen, die ich hier
lediglich über acht Verse hin verfolge (S. 1028f.):
| Der Henker von Habsburg, der alte |
| | Schlächter von Kranken und Wehrlosen, |
| | der Verstümmler von Kindern |
| | und von Frauen, der lüsterne |
| | Greis, dem schon die Würmer in der Nase |
| | kriechen und dem mit Eiter und Schleim |
| | die verfaulte Seele aus den Augen |
| | und vom Kinn tropft [usw.]. |
| | (Il boia d’Asburgo, l’antico |
| | uccisor d’infermi e d’inermi, |
| | il mutilator di fanciulli |
| | e di feminine, l’impudico |
| | vecchiardo cui pascono i vermi |
| | già entro le nari e già cola |
| | dal ciglio e dal mento la marcia |
| | anima in cispa ed in bava). |
|
|
Kein Zweifel, daß D’Annunzio mit diesen und anderen Oden eine
diskursstrategische Funktion erfüllt, die bei den Futuristen leer geblieben war.
Marinetti hatte den Feinden gegenüber ein Bewußtsein triumphaler Überlegenheit
proklamiert, das aus einer exaltierten Selbstgewißheit der Kriegs- und
Aggressionslust resultierte. Dagegen verläuft die Inzitation. welche D’Annunzio
betreibt, wesentlich über die Erregung von Haß. So ruft er der serbischen Nation
zu: „Se pane non hai, odio mangia;/ se vino non hai, odio bevi;/ se odio sol
hai, va sicuro“ (S. 1040). Um Haß zu erregen, ist es indes unpraktisch, nach
Marinettis Art überschwengliche eigene Aggressionslust zum Ausdruck zu bringen;
eher bietet sich an, Aggressionen, die vom Heroischen ins Infame gewendet sind,
dem Gegner zuzuschreiben. Derart sieht D’Annunzio, wie die Feinde in serbischen
Orten „Greise ohne Augen, Frauen ohne Brüste, Kinder ohne Arme und Beine“
hinterlassen (vgl. S. 1036). Eine fundamentale Rolle spielt unter solchen
Imaginationen die Sorge um sexuelle Integrität, in der die lateinische Rasse
durch den – wie stets betont wird – schmutziggefräßigen Gegner aufs höchste
gefährdet zu sein scheint. Zu diesem Komplex gehören etwa die Vision der
germanischen Horde mit ihren „zahllosen Konkubinen“ oder das Bild des „Henkers
von Habsburg“, der bezeichnenderweise als auch sexuell bedrohlicher Syphilitiker
porträtiert wird.
[6]
So ist das Pathos, das D’Annunzio entfaltet, vor allem ein Pathos des
lateinischen Blutes und des lateinischen Bodens, wie es exemplarisch die Ode
Per i Combattenti (21. Jänner 1916) fordert. Um dies
Pathos zu begründen, wird der Blick unablässig in die Tiefe der Geschichte
zurückgelenkt, wo immer schon in einem als ewig angesehenen Kampf die
lateinische Rasse mit den Barbaren, den ,,Tedeschi lurchi“. die „Erwählten“ mit
der „Horde“ zusammenstießen.
[7]
Aus solcher Überlieferung gewinnt der neue Kampf nicht nur den Charakter
eines gerechten, sondern nachgerade eines heiligen Krieges: durchaus
bedeutungsvoll lautet der Untertitel des Gedichtbandes
Asterope „Gli inni sacri della guerra giusta“. Da Frankreich, die
führende Nation der Latinität, in einen heiligen Vergeltungskrieg eingetreten
ist, schlägt die Stunde, wie von der Providenz verordnet, auch für den
italienischen Flügel der „race élue“ (S. 993): „Nous sourirons quand il faudra
mourir./ Car, pour les Latins, c’est l’heure sainte/ de la moisson et du combat“
(S. 1003).
Der Krieg, für die Futuristen ein arbiträrer Willensakt, in dem die
avancierteste Nation ihre aus allen traditionellen Bindungen emanzipierte Immoralität beweist, verwandelt sich bei D’Annunzio demnach in
ein sakrales Geschehen, durch das die Tradition selbst zur Erfüllung gelangt und
gleichsam den Endsieg der Kultur gegen die Barbarei besorgt. Gewiß hat auch hier
ein zeittypischer élan vital sein Gewicht. Wenn die Zeit
gekommen ist, diktiert der Kriegssänger: „Vorsicht ist Schande, Niederlage der
Zweifel, Verbrechen die Ruhe, Feigheit jedes müßige Wort, und Säumen ist schon
Verlust“ (S. 1047). Doch wird der élan vital aufgehoben
in einer Legitimität, die den erwählten und künftigen Siegern aus den Mächten
der Geschichte, der Rasse und des Blutes zuwächst. In deren Sinne dichtet
D’Annunzio als Prototyp des künftigen Siegers: „Nous sommes les nobles, nous
sommes les élus,/ et nous écraserons la horde hideuse“ (S. 1003). Oder am Ende
der Ode an die serbische Nation: „E v’è uno Iddio:
l’Iddio nostro“ (S. 1047).
Ich habe einleitend von der Ratlosigkeit gesprochen, die Hofmannsthals
Reaktion auf D’Annunzios vehemente anti-österreichischen Invektiven
kennzeichnet. Dazu noch ein paar Notizen. Liest man Hofmannsthals Stellungnahmen
zur Kriegsagitation und zum Krieg, zeigt sich kontrastiv mit schneidender
Schärfe die (wenngleich moralisch natürlich tief fragwürdige) Modernität der
Agitationsstrategien, welche Marinetti und D’Annunzio entwickelt haben. Beide
haben teil an spezifischen und ausgesprochenen zukunftsreichen Diskursformen des
20. Jahrhunderts: dem Diskurs der Entfesselung von kollektivem Haß, dem Diskurs
der Liquidierung des historisch Zurückgebliebenen und vital Defekten. Vor diesem
Hintergrund wird einerseits offenbar, was ich mit bewußter Patina Hofmannsthals
Noblesse nennen möchte; andererseits enthüllt sich eine unaufhebbare und – man
darf wohl sagen – tragische Fremdheit angesichts gesellschaftlicher und
sozialpsychologischer Realitäten, welche aus der idealistischen Bildungswelt des
19. Jahrhunderts nicht mehr zu begreifen waren.
Dabei ist die wesentliche Realität, die hier Relevanz gewinnt,
sicherlich die der Masse. Wo es um Propaganda für den modernen Krieg geht, muß
in erster Linie eben die Masse oder – mit Marinettis Wendung – der Menschenteig,
die „pasta umana“, agitiert werden. Daß die Futuristen durch ihre ‚Serate
futuriste‘, die ihnen eigentümliche ‚Propaganda der Tat‘ und durch ihre
Formulierung griffiger Slogans solche Agitation betreiben, ist evident. Indessen
wendet sich auch D’Annunzios lyrische Kriegsbeschwörung letztlich an ein
potentielles Massenpublikums
[8]
: so sehr dem manche lexikalischen Extravaganzen und Preziosismen zu
widersprechen scheinen, so sehr ist dieser Intention andererseits die plakativ
vereinfachte semantische Grundstruktur des Gedichtkorpus untergeordnet, zumal
der machtvolle Appell an elementare Sexualängste, welche das kollektive
Unbewußte bestimmen.
Nichts von solcher Ansprache der Massen, für die D’Annunzio und
Marinetti untereinander ganz verschiedenartige Formen und Ideologien
erarbeiteten, findet sich nun in den essayistischen Äußerungen Hofmannsthals.
Hofmannsthals Rede ist nicht nur bei einer Gelegenheit, sondern kontinuierlich
ein überaus moderater, besorgter und melancholischer „Appell an die oberen
Stände“. Beispielhaft wird das schon durch die Antwort auf D’Annunzios
Dardanellen-Kanzone deutlich. Bei ihr ist zu berücksichtigen, daß D’Annunzio
neben Paul Bourget ursprünglich ja Hofmannsthals ideologisches Leitbild
dargestellt hatte
[9]
, und noch 1897 rühmte Hofmannsthal in einer Haltung bewegter Empathie, wie
in D’Annunzios Wirken die Worte des Dichters zur bindenden politischen Tat
würden. Wenn Hofmannsthal im Jahr 1912 der [sic!] Dardanellen-Kanzone
repliziert, fällt indes auf, daß eben der Aspekt des Agitatorischen aus der
Betrachtung weithin ausgeklammert bleibt. Statt dessen spricht Hofmannsthal
sozusagen vor einem Publikum von Kennern in erster Linie als Literaturkritiker,
wobei er mitunter treffende Formeln feiner Ironie findet, wie etwa die
Charakteristik: ,,Ihre Poesie vereinigte zuweilen den Schwung Pindars mit der
Zuverlässigkeit des Baedeker“ (Genaueres über D’Annunzios Gedichte ist auch
später nie mehr gesagt worden). Darauf erinnert Hofmannsthal an das, was er nach
kunst- und kulturhistorischer Übereinkunft für den „wahren italienischen Geist“
hält: „Italienischsein heißt hart und fein und klar sein, das Gegebene sehen,
wie es ist, mit uralten Bauernauen, und sich das beste davon nehmen “
[10]
Von diesem „wahren italienischen Geist“ sei D’Annunzio abgewichen, um ein
„zweites italienisches Gesicht“ zu zeigen, das des Pasquillanten Pietro Aretino.
Damit habe er zwar die Grenzen des „Anstandes“ (ein Schlüsselwort in Hofmannsthals Argumentation) überschritten.
doch letztlich nur „für einen Augenblick“ (S. 86); denn insgesamt scheint es
nach Hofmannsthals Entscheid oder vielmehr Wunsch „unmöglich“, dies
Pasquillantengesicht „heute“, „im zwanzigsten Jahrhundert“ noch länger als „für
einen Augenblick“ hervorzukehren.
So ist Hofmannsthals Antwort bei aller Kritik auf Versöhnung
eingestellt. Ihr soll die Erwähnung der „Marmortafeln“ in den „Dörfern vom
Cadorin bis zur Brianza“ dienen, „auf denen die Namen der braven Leute zu lesen
sind, die im Kampf gegen brave Leute für die Freiheit und Einheit von Italien
gefallen sind“ (S. 84). Solche Visionen der Versöhnung von „braven Leuten“ mit
„braven Leuten“ kehren dann auch in Hofmannsthals Schriften der Kriegszeit
bemerkenswert oft wieder: vor allem als „österreichische Idee“, aus der sich ein
„Ausgleich der alteuropäischen lateinisch-germanischen mit der neu-europäischen
Slawenwelt“ (S. 404) ergibt. Dieser Idee zuliebe – und wohl auch wegen einer
Vorahnung der Niederlage – scheint Hofmannsthals tiefstes Interesse über den
Krieg hinweg immer schon beim Kriegsende zu sein. Was ihm vorausgeht, gilt als
„das völlig Unfaßbare“ (vgl. S. 176), das die eigentlichen Kriegsschriften mit
einem starren Ethos des Ausharrens zu bewältigen suchen. Zu ihm gehört die „edle
Stummheit“ der k.u.k. Armee, der „stoische“ und der „christliche“ Zug ihrer
Krieger (vgl. S. 247), schließlich in sinnbildlicher Konzentration der „Geist
der Karpathen“, der als höchste militärische Tugend, „kostbarer als Mut“, die
„Geduld“ feiert: „und das unsagbare Ausharren, das heldenhafte Vor, immer
wieder, und das heldenhaftere Zurück, diese siegreichen Rückzugsgefechte, dies
innerliche Überlegenbleiben im scheinbaren Unterliegen“ (S. 264). Verglichen mit
den Diskursen D’Annunzios oder Marinettis, welche im Krieg die aggressiv
überwältigende Dynamik von Massenbewegungen vorantreiben, laufen diese
Hofmansthalschen Formulierungen tatsächlich auf diskursive
„Rückzugsgefechte“ – freilich nicht „siegreicher“ Art hinaus.
[11]
Immerhin deuten sie aber an, daß Hofmannsthal die neuen präfaschistischen
Wirklichkeiten, denen er sich („stoisch“, „christlich“, „alteuropäisch“)
versagte, zumindest unbewußt als kaum zu überwindenden Widerstand wahrnahm.
Jedenfalls hat er – trotz aller politischen Tätigkeit, Selbstermutigung und
„Bejahung Österreichs“
[12]
– wohl schon 1916 gewußt, daß der Krieg verloren war und daß es keine
andere Hoffnung gab als den prekären Versuch eines „innerlich[en]
Überlegenbleiben[s]“ im nicht bloß scheinbaren „Unterliegen“.