Scheiternde Detektive und erfolgreiche Diener im Haus der Billionen
Stanley Ellins Very Old Money
Entgegen manchen literaturkritischen Vorhersagen ist die Produktivität
der Gattung Kriminalroman noch immer nicht erschöpft. Eher scheint sie sich
potenziert zu haben: Zum einen werden gattungsgerechte Krimis nach wie vor in
dafür spezialisierten Reihen publiziert; zum anderen dringt das generische
Modell des Krimis aber auch mit zunehmender Häufigkeit in die allgemeine
Narrativik vor.
[1]
Wie faszinierend sein Gattungsschema in der – wenn man so will –
‚postavantgardistischen‛ Kombination mit anderen generischen Modellen wirken
kann, hat am eindrucksvollsten vielleicht Umberto Ecos Name
der Rose (1980) gezeigt. Dabei gehört zu den verblüffendsten Aspekten
des Welterfolgs, der diesem Text zuteil wurde, nicht zuletzt der Umstand, daß
Eco hier keineswegs auf neuere Entwicklungen oder Verfremdungen des Genres
zurückgegriffen hat, wie sie sich etwa im Werk Leonardo Sciascias oder im
französischen nouveau roman anboten. Was ihm für sein
gattungskombinatorisches Verfahren gelegen kam, war vielmehr der Krimi gerade in
seiner traditionellen Variante, und so verbindet sich in Il
nome della rosa mit dem Historischen Roman und dem Conte philosophique ein Detektivroman, der bereits durch die –
intertextuell ‚sprechenden‘ – Namen von Detektiv und Erzähler an den generischen
Archetyp der Sherlock-Holmes-Erzählungen Arthur Conan Doyles erinnert.
[2]
Ein anderes und ganz verschiedenartiges Beispiel für den unerwarteten
Rekurs auf Krimi-Elemente im zeitgenössischen Roman stellt Mario Vargas Llosas
Conversación en la Catedral (1969) dar, eines der
bedeutendsten Erzählwerke, die wir der lateinamerikanischen Literatur verdanken.
Hier verwendet der zweite Teil des Romans, genauer gesagt: die Bücher 3und 4,den Spannungseffekt einer
Mordaffäre, welche besonders irritierende Züge durch das – im neueren
Kriminalroman oft zu beobachtende – Fehlen des Sicherheitsfaktors einer
Detektivgestalt in Protagonistenrolle annimmt. Tatsächlich bleiben Hergang und
Motiv des Mordes zumindest bei der ersten, linear fortschreitenden Lektüre
ungeklärt. Erst wenn der Leser sich erinnert, daß in den Büchern 1 und 2, als
von der Mordaffäre noch nicht explizit die Rede war, merkwürdig zusammenhanglose
Dialogfragmente auftauchen, die – in zeitlicher Verschiebung – den erst später
berichteten Mord umkreisen, kann er dem Geheimnis dieses Verbrechens auf die
Spur kommen. Freilich muß er sich dazu selbst in eine Art Lesedetektiv
verwandeln, der es nicht bei der einmaligen Lektüre des Romans bewenden läßt, sondern die Mühsal (oder das Vergnügen) einer zweiten Lektüre
riskiert, welche dann – nicht mehr unbedingt linear – wie eine Enquête des
Falles und der Romanstruktur zugleich funktioniert.
Haben wir es bei Autoren wie Vargas Llosa oder Umberto Eco, dem
einstigen Wortführer der italienischen ,Neo-Avantgarde`, mit Romanciers zu tun,
die mehr oder minder ausgeprägte Strukturelemente des Krimis für Romanprojekte
benutzen, welche kaum im Kontext der herkömmlichen Kriminalliteratur zu
situieren sind, so ergibt sich nicht weniger häufig das komplementäre Phänomen
einer Gattungskombination in gleichsam umgekehrter Richtung. Gemeint ist der
Versuch spezialisierter Krimi- oder Thriller-Autoren, mit den Mitteln ihrer
Gattung Texte zu verfassen, die gleichzeitig als Romane tout
court gelesen werden können. Auch hier lassen sich durchaus
verschiedene Spielarten verfolgen. Eine solcher Varianten wäre etwa die
Generalisierung der Geheimnis- und Spannungskomponente zu einer Literatur des
psychischen Schreckens, wie sie auf unterschiedlichem Erzählniveau und in
unterschiedlicher Distanz vom traditionellen Kriminalroman durch Patricia
Highsmith oder Boileau/Narcejac befördert wurde. Eine andere Variante hat mit
bemerkenswerter Konsequenz schon Dorothy L. Sayers verwirklicht, indem sie die
dem analytischen Strukturschema eigene Disposition zu einem „novel of character
and manners auszubauen suchte. So ist in der Romanserie der Sayers nach recht
bescheidenen und konventionellen Anfängen ein ständig vertieftes Raffinement der
Rede-, Figuren- und Milieugestaltung zu beobachten, welches dafür sorgt, daß ein
Roman wie beispielsweise Gaudy Night jedem Vergleich mit
den institutionell höher klassifizierten Romanen – sagen wir – eines Aldous
Huxley bestens standhält.
Zur Tradition dieser zweiten Variante der Gattungskombination und
-transformation kann man wohl auch die Romane des Amerikaners Stanley Ellin
zählen. Unter den neueren Krimi-Autoren hat sich Ellin als einer der
vielseitigsten und experimentierfreudigsten erwiesen, und zu Recht kommentiert
er in der Enzyklopädie Twentieth-Century Crime and Mystery
Writers seine Poetik mit den Sätzen: „The crime fiction genre offers
the writer infinite diversity of theme and treatment. I like to take advantage
of that diversity.“
[3]
Von der akademischen Kritik scheint Ellin nicht sonderlich geschätzt zu
werden; jedenfalls klafft in der anglistisch-amerikanistischen Bibliothek meiner
Heimatuniversität bei den „Amerikanischen Autoren nach 1945“ zwischen Stanley
Ellin und Ralph Ellison eine auffällige Lücke und dokumentiert, daß Ellin trotz
seiner experimentellen Unruhe und Findigkeit eben doch noch als Spezialist einer
„Trivial“-Gattung, nicht aber als Autor ohne Einschränkung und Bindestrich gilt.
Dagegen hat er vor allem durch seine rasch berühmt gewordenen kürzeren
Erzählungen The Specialty of the House oder The Blessington Method den uneingeschränkten Applaus
anderer Autoren von Arno Schmidt bis Helmut Heißenbüttel
erhalten.
[4]
Wie verdient dieser Applaus ist, zeigt neben den Short
Crime Stories, die offenbar Ellins ‚Spezialität‘ ausmachen, indes auch
ein neuerer Roman größeren Umfangs: Very OldMoney
(1984).
[5]
Er erscheint exemplarisch für die Möglichkeiten, über die heute eine
Kriminalliteratur verfügt, welche es auf intensivierte effets
de réel – sprich: die erzählerischen Mittel, durch die das Erfundene,
das Dargestellte als wirklich erscheint – abgesehen hat.
Dabei ist die strukturelle Fügung dieses Romans vielleicht am besten zu
charakterisieren, wenn man zur Kennzeichnung seiner Besonderheiten den
realistischen Ehrgeiz von Dorothy Sayers’ Spätwerk in Erinnerung ruft. In ihm
war es ja darum gegangen, die Lösung eines Kriminalfalls jeweils möglichst eng
mit der Erschließung eines spezifischen Milieus zu verbinden: der akademischen
Gemeinschaft eines Frauen-College (Gaudy Night), des
sommerlichen Betriebs in einem Seebad (Have his Carcase)
oder des traditionsgebundenen Lebens in einem Marschendorf (The Nine Tailors). Diese Verbindung knüpfte bei
allen ideologischen Kautelen, die aus dem christlichen Konservatismus der Sayers
erwachsen mochten, der Sache nach deutlich an ein naturalistisches Erbe an.
Insbesondere ist hier an die eigentümliche Darstellungstechnik zu denken, welche
darin bestand, die konstitutiven Züge des thematisierten Milieus durch die
Perspektive eines ‚Boten aus der Fremde‘ zu vermitteln, der in gewisser Weise
den neugierigen Blick des Leser vertrat.
[6]
Solche Gestalten, die soziale Fremdheit erfahrbar machen sollten, hatten
zumal die Perspektivik von Emile Zolas Romanen geprägt. In Germinal war es z. B. Etienne Lantiers Aufgabe gewesen, den Leser in
die romanesk noch völlig unerschlossene Welt der Bergarbeiter einzuführen,
während die unzivilisierten und sozusagen exotischen Aspekte der bäu. rlichen
Welt in La Terre durch die Vermittlung des landfremden
Jean Macquart dargestellt wurden. Als perspektivische Vermittler pflegten diese
Gestalten am Romananfang in einer neuen Umgebung einzutreffen, aus der sie sich
dann am Romanende gewöhnlich wieder zurückzogen, um die Fremdartigkeit und
Geschlossenheit des Milieus, das sich ihnen nur für begrenzte Zeit öffnete, ein
weiteres Mal zu unterstreichen. Im realistisch-naturalistischen Kriminalroman
kann die gleiche Rolle nun ohne narrative Umstände von der Figur des Detektivs
übernommen werden, der dem thematisierten Milieu nicht mehr wie ein zufälliger
Entdecker, sondern wie ein berufsmäßiger oder doch jedenfalls gewohnheitsmäßiger
Explorator gegenübersteht, in Fall und Milieu eintretend, wenn die Enquête
beginnt, aus Fall und Milieu entlassen, wenn die Schuldigen identifiziert und
die Geheimnisse des jeweiligen sozialen Orts ans Licht gebracht sind.
Charakteristisch für die Sayers (wie überhaupt für den sogenannten ‚klassischen
Detektivroman‘) ist bei diesem Verhältnis im übrigen die besondere Art des
Außenseitertums, das ihren Detektiv und ,Boten aus der Fremde‘ kennzeichnet:
soziologisch gesehen wird Lord Peter Wimsey (gleich anderen Repräsentanten des
‚Great Detective‘) ausgezeichnet durch eine Fremdheit von oben, die
jedes Milieu als sozial inferior wahrnehmen und derart selbst in den human
verstörendsten Affären etwas märchenhaft Überlegenes und Beruhigendes bewahren
muß.
[7]
Diese Grundkonstellation, die wir aus den Detektivromanen der Sayers
und – weiter zurück – aus dem naturalistischen Roman kennen, bestimmt in großen
Zügen zunächst auch das Figuren- und Handlungsgefüge von Very
Old Money. Auch hier handelt es sich um die enthüllende Darstellung
eines genau definierten Milieus: der Welt superlativen Reichtums, eben des ‚sehr
alten Geldes‘, wie es die New Yorker Familie Durie besitzt. Daß diese Welt eine
geheimnisvolle ist (und folglich der Enthüllung bedarf), wird dem Leser
wiederholt mitgeteilt: schließlich befindet sich die Familie Durie in den
Spitzenrängen jener solide fundierten Oligarchie, welche – wie es heißt – nicht
mehr auf das Interesse der Medien angewiesen ist, ja ihm eher systematisch aus
dem Wege geht. Außerdem kommt zu solcher ‚Exotik‘ die prononcierte
Geschlossenheit des gesellschaftlichen Raums, den uns der Roman präsentiert:
sein Zentrum bildet, von wenigen wichtigeren Exkursen abgesehen, ein einziges
Haus in der Madison Avenue, ein Ort, dem Ellins Erzählung ähnlich exklusiv
zugewandt bleibt wie jene Zolas einst dem Ort des großen Mietshauses in Pot-Bouille.
Da das thematisierte Milieu im Gipfelbereich der sozialen Hierarchie
situiert ist, kann der verfremdende Blick, der es wahrnehmen und dem Leser
vermitteln soll, natürlich nicht an eine selber elitäre Gestalt à la Peter
Wimsey delegiert werden (andernfalls würde der Roman sich zu einer Art
interkontinentalem Elitenvergleich in der Manier von Henry James entwickeln).
[8]
Benötigt wird stattdessen ein intelligenter Blick von unten, und so gerät,
um beiden Postulaten – Intelligenz wie sozialer Inferiorität – zu genügen, in
Very Old Money ein arbeitsloses Lehrerehepaar in die
Rolle der ‚Boten aus der Fremde‘. Indem Mike and Amy Lloyd, die – freilich nicht
professionalisierten – detektivischen Protagonisten des Romans, das Lehramt
aufgeben und die Funktionen von ‚Domestiken‘ (vgl. S. 10) im Hause Durie
übernehmen, sorgen sie einerseits für den notwendigen Kontrast zwischen
Perspektive und Gegenstand der Erzählung. Andererseits eröffnen sie indes auch
eine Thematik sui generis, die mit diesem Kontrast Hand in Hand geht und das
(ideologisch bekanntlich weithin tabuisierte) Phänomen von Dienerschaft und
Herrschaft betrifft.
So bildet der Eintritt der arbeitslosen Lehrer als „servants of
quality“ (S. 5) in den Palast der Superreichen das auslösende Moment für eine
doppelte Enquête. Auf der einen Ebene, jener des Kriminalromans, ist sie, ohne
daß die (unfreiwilligen) Detektive es selbst schon wüßten, einer eigentümlichen
Mordaffäre gewidmet, welche wir bei unserem Resümee vorerst zurückstellen. Die
andere Ebene der Enquête, welche die erste in gewisser Hinsicht vorbereitet,
bezieht sich im Duktus eines Romans realistisch-naturalistischer Herkunft auf
die Welt der Diener sowie – zuerst tastend und dann mit zunehmend
besorgter Intensität – auf die Welt der herrschaftlichen Familie. Was dies
zweite Niveau der Exploration angeht, ist wichtig festzuhalten, daß die
Erkundung Dienerschaft und Herrschaft gleichermaßen umfaßt; denn „Mrs. Lloyd and
Lloyd“ (so der Titel des ersten Romanteils) sind ja nicht von vornherein
professionell in den Bereich der Dienerschaft integriert, sondern entdecken in
ihm eine noch unvertraute soziale Realität, die ihnen anfänglich kaum weniger
fern liegt als die Sphäre der Herrschaft und des ‚Very Old Money‘. Wichtig ist
dieser Umstand insofern, als er Gelegenheit gibt, die Protagonisten nicht allein
nach dem üblichen Erzählschema der Gattung zu Instrumenten einer Enthüllung zu
machen. Vielmehr wird das „couple-in-service“, Lloyd als Chauffeur des Hauses
und Mrs. Lloyd als Privatsekretärin der alten blinden Miss Margaret, beständig
mit dem Problem ihrer neuen gesellschaftlichen Identität konfrontiert, in deren
Wandlungen sich das umfassende, unverkennbar sozialkritische oder doch
wenigstens sozialanalytische Thema des Romans manifestiert.
Wie problematisch die Identitätsfindung der beiden Protagonisten
verläuft, läßt vor allem Mike Lloyd erkennen. Von ihm kommt zu Beginn die
stärkste Reserviertheit gegenüber der Dienerrolle, und er versucht, seine
subalterne Funktion gewissermaßen auf Distanz zu halten, indem er sich die
Familie Durie als literarischen Gegenstand vornimmt. Ist er bemüht, die Arbeit
des ‚Domestiken‘ mit dem Prestige einer literarischen Forschungsaktivität zu
nobilitieren, so wird das Unbehagen, das sich dadurch äußert, noch vertieft von
den Kommentaren eines befreundeten älteren Ehepaars. Als Ökonomieprofessor und
als Boutiquenbesitzerin vertreten Abe und Audrey Silverstone die ‚liberale‘
bürgerliche Mittelschicht der Ostküste. Bezeichnenderweise fällt ihnen die
Aufgabe zu, ihre jungen Freunde über die Geschichte des Hauses Durie und seiner
Billionen ,aufzuklären‘ (vgl. S. 89), und je weiter die Handlung fortschreitet,
um so deutlicher stellt sich heraus, daß die Silverstones romanintern eben das
repräsentieren, was den herkömmlichen sozialkritischen Gesichtspunkt eines
solchen Romans auszumachen pflegte. Dazu gehört etwa die Aufdeckung der geheimen
Infamie, die von den Herrschenden ausgeht, um auch die manipulierte Dienerschaft
moralisch zu degradieren. In diesem Sinn sucht Abe Silverstone in einer
Schlüsselszene des Romans die Lloyds zu belehren und ihnen zu demonstrieren,
„what five years of self-elected membership in the servant class could do to
you“: „Talking servant talk from the servant’s point of view.“ (S. 217) So
plädiert Abe Silverstone folgerichtig für einen Wechsel des Jobs und damit für
ein Romanende, wie es von der Tradition ‚realistischer‘ Sozialkritik immer schon
vorgesehen war. Nachdem der Außenseiter die Unmoral des Milieus, in das er
verschlagen wurde, erfahren und sichtbar gemacht hat, fordern die
Gattungskonventionen nämlich – wie gesagt – seinen desillusionierten Rückzug,
der für ihn selbst als Befreiung und für das Milieu als Verurteilung gilt.
Nun besteht das Raffinement von Ellins Roman aber darin,
daß er sich gerade dem Schema, das er durch die Figur des Sozialkritikers Abe
Silverstone zitiert, am Ende überraschend verweigert.
[9]
Zunächst führt die Mordaffäre vor Augen, daß der Hort des ‚Very Old Money‘
nicht einfach – wie es das Schema möchte – eine Domäne des schlechterdings Bösen
darstellt, dem dann die Güte der Besitzlosen oder Minderbemittelten lichtvoll
korrespondieren würde. Was der kriminalistische plot
zutage fördert, ist vielmehr das Bild ausgesprochen gemischter Charaktere
und einer moralischen Atmosphäre, die – allen Lesererwartungen zum Trotz –
keineswegs eindeutig klassifizierbar ist: nicht zufällig wiederholen sich in
diesem Zusammenhang Anspielungen auf Tschechow und insbesondere die Gestalten
des ‚Kirschgarten‘ (vgl. S. 88 und 219). Vielleicht noch eklatanter wird das
Schema indes durch das Verhalten der Protagonisten gestört. Statt auf Abe
Silverstones Angebot einer Tätigkeit für den „All-day kindergarten in the public
schools“ (S. 216), also die Ganztagsschule, einzugehen und damit den Ort des
Verhängnisses zum Schluß gattungs- und normgerecht hinter sich zu lassen,
beschließen die Lloyds, nach opportunen Statusverbesserungen in ihrer neuen
Karriere weiterzumachen. So wird die Figur der sozialkritischen ‚Aufklärung‘ von
unten, welcher der Roman über weite Strecken zu folgen scheint, im letzten
Moment wieder verwischt und durch die pragmatischere Figur des Aufstiegs (hier
in die oberen Managementränge der Dienerschaft) ergänzt. Dabei steht nicht
einmal fest, ob dieses bewußt pragmatische und – wenn man so will –
literaturferne Ende von reinem Zynismus geprägt ist; denn Amy Lloyd hat ja
zweifellos recht, wenn sie die moralische Position des bürgerlichen
Sozialkritikers einschränkt und Abe Silverstone schließlich (nicht ohne einen
erhellenden Hinweis auf die Macht von Begriffen und Diskursen) der „mauvaise
foi“ überführt: „Hypocritical, in fact. He liked good restaurants and luxurious
hotel vacations [...]. He liked to be waited on, he liked servants. But [...]
there was an ingrained distaste for that word servant and
that’s where Abe’s hypocrisy showed. The Duries had servants. Abe and Audie had
people waiting on them whom they refused to call servants.“ (S. 311)
Wenden wir uns jetzt den bislang ausgeklammerten Aspekten des
Kriminalromans zu, so läßt sich beobachten, wie der effet de
réel, den die Durchbrechung des – gleichwohl entwickelten –
literarischen Schemas auf der Ebene des sozialkritischen oder sozialanalytischen
Romans produziert, durch sie mit ähnlichen Transgressionen multipliziert wird.
Auch in diesem Kontext ergibt sich erneut eine höchst raffinierte Verschränkung
von – der Gattungstradition gegenüber – konventionellen und
kombinatorisch-innovativen Zügen. Unter den letzteren fällt als wesentliches
Element sofort die Verlagerung des Mordes vom Anfang ans Ende des Romans ins
Auge, eine Innovation, welche offensichtlich an charakteristische Techniken des
Agentenromans, des Psycho-Thrillers à la Highsmith oder mancher Hitchcock-Filme
anschließt. Diese Verlagerung hat zur Folge, daß sich das
‚Geheimnis‘ des Falles weniger als ein zur Lösung anstehendes Rätsel und stärker
als wachsende Bedrohung entfaltet. So begegnen die detektivischen Protagonisten
auch hier einer Serie von „signs and portents“ (S. 110); das heißt: es gilt,
Spuren zu lesen und Indizien zu deuten. Doch weisen die Spuren nicht in die
Vergangenheit, zurück zu einem Verbrechen, dessen Ereignis – wie oft bei P. D.
James – schon in den ersten Sätzen exponiert würde
[10]
, sondern in die Zukunft. Was Amy und Mike an beunruhigenden Indizien
entdecken, läßt in vagen Umrissen ein Komplott ahnen, von dem indes weder
rechtzeitig klar wird, wer es initiiert hat, noch gegen wen es überhaupt
gerichtet ist.
Demnach haben wir es bei dem Ehepaar Lloyd mit Detektiven zu tun,
welche dem Leser nur wenig Sicherheit zu geben verstehen (und solcherart
natürlich zur erwünschten Steigerung des suspense
beitragen). Zum einen sind sie auf das Geschäft des Spurenlesens ja
mitnichten berufsmäßig spezialisiert und zum anderen tappen sie im dunkeln, weil
ihnen fast bis zum Schluß verborgen bleibt, in wessen Interesse und unter wessen
geheimer Anleitung sie eigentlich agieren: ein Motiv, das Ellin aufs neue dem
Agentenroman entlehnt hat. In besonderem Maße betrifft es die Rolle, die Amy
Lloyd als Privatsekretärin von Margaret Durie zu spielen hat. Sie wird zunächst
als eine Art Agentenrolle für die übrigen Familienangehörigen gedeutet:
jedenfalls empfängt Amy den Eindruck, daß sie nicht zuletzt deshalb im Dienst
der Blinden steht, weil die Familie über deren unvermutet entwickelte
Aktivitäten auf dem laufenden gehalten werden möchte.
[11]
Da Amy, sich aber bald solidarisch mit Miss Margaret fühlt, läßt sie diese
Funktion unerfüllt und versucht stattdessen, ihre Schutzbefohlene vor der
Überwachung durch die Familie abzuschirmen. In erster Linie scheint nämlich –
wie immer wieder insinuiert wird – Miss Margaret des Schutzes bedürftig zu sein.
Bald sieht es so aus, als solle ihre späte ‚Emanzipation‘ von den Verwandten
verhindert werden; bald scheint sie einem Erpressungsversuch zum Opfer zu fallen
oder sich zumindest in der Gefahr zu befinden, auf dunkle Einflußnahmen hin ihr
Vermögen zu verschleudern.
Daß um Margaret Durie, Amys „Ma’am“ (so der Titel des zweiten und
längeren Romanteils), eine finstere Intrige abläuft, wird praktisch zur
Gewißheit, als sie aus unerklärlichen Gründen einen Kontakt zu der jungen
Malerin Kim Lowry sucht.
[12]
Dabei stellen sich die Umstände der Kontaktsuche, die Miss Margaret
geradezu als ihre „mission“ (S. 251) auffaßt, derart dar, daß die Detektive wie
die Leser an eine Erbschaftsangelegenheit denken müssen. Was das rätselhafte
Interesse der alten Milliardärin für die Künstlerin, deren Werke Miss Margaret
ja nicht einmal wahrnehmen kann, hervorgerufen haben mag, ist lediglich nach
diversen Andeutungen – zu vermuten, bis die Einladung an Kim Lowry zu einem
intimen Dinner mit ihrer Gönnerin endlich Klarheit zu schaffen verspricht.
Demzufolge sind die Spannungslinien des Romanschlusses auf eben dies
Dinner hin gerichtet, das einen um so ausgeprägteren Ereignischarakter gewinnt,
als Kim Lowry seit Jahrzehnten der erste Gast sein soll, den Miss Margaret in
ihren Räumen empfängt.
In der Tat wird die Begegnung, die durch Erwartungen, Befürchtungen und
mancherlei Vorzeichen ein außergewöhnliches narratives Relief erhält, dann auch
zu einem Ereignis: dem Ereignis des Mordes, der diesen Mystery
Novel am Ende zu einem entschiedenen Kriminalroman macht. Und wie es
sich für einen Kriminalroman gehört, ereignet sich der Mord auf so überraschende
Weise wie sonst im herkömmlichen Detektivroman die Rätsellösung. Als Täter
entpuppt sich nämlich die blinde Greisin, in der man eigentlich viel eher das
Mordopfer vermutet hätte: mit dem für das Entrée des Menüs, ein Tournedos,
bestimmten Steakmesser köpft sie die scheinbar protegierte Malerin, um sich an
deren Großmutter zu rächen, die sie einst um Liebes- und Lebensglück gebracht
und in die Blindheit gestürzt hatte. Und mehr noch! Was immer in dem Roman bis
dahin als irritierendes Indiz von schwer durchschaubaren Vorgängen erschienen
war, wird nun, nachdem das Verbrechen geschehen ist, als Bestandteil eines von
langer Hand vorbereiteten Mordplans verständlich. Von Miss Margarets jäh
erwachtem Interesse an feministischer Kunst bis zur Wahl des Tournedos als
Menügericht treten die verschiedensten Episoden und deren Begleitumstände in
einen pervers sinnvollen Zusammenhang, in dem – wie jetzt offenbar wird – auch
Amy Lloyd eine zentrale Funktion innehatte. Wenn sie gleichsam Miss Margarets
Agentin und Privatdetektiv war, diente sie, ohne davon das Geringste zu ahnen,
vor allem als eine Art Sparringspartner für den geplanten Mord, den „Ma’am“ an
ihr – die Kim Lowry in der Körpergröße ähnelte – durch Nackenmassagen probte und
trainierte. So jedenfalls wird die Essenz von Amys Rolle zum Schluß in Mikes
Rekonstruktion erklärt: „Hell, yes. She's blind. She wanted someone Kim's height
to practise on. To know how to position herself when the time came. That’s what
those phony neck massages were about too. Practice runs.“ (S. 299f.)
Demnach zählt auch Amy Lloyds Geschichte zu jenem Motivkreis des
‚scheiternden Detektivs‘, welcher der modernen Erzählliteratur zwischen Borges
und Sciascia so eigentümlich teuer ist.
[13]
Dabei erscheint das Motiv hier noch in gewissermaßen zugespitzter Form;
denn Amy scheitert ja nicht nur in ihrer ehrlichen Anstrengung, eine vage
befürchtete Untat zu verhindern, sondern trägt zu dieser Untat selber ahnungslos
bei. Zwar ergibt sich in der zitierten Passage des drittletzten Kapitels eine
partielle ‚Aufklärung‘ in dem Sinn, daß Plan und Motivation des Mords
rekonstruiert werden; doch folgen der ‚Aufklärung‘ eben keinerlei Katharsis oder
gar Versöhnung und Ordnung. Gelöst werden an dem Mord lediglich Fragen, welche
Verfahren und Vorgeschichte betreffen; unter dem Aspekt von Recht und Moral
bleibt der Fall dagegen irritierend und unentscheidbar in der Schwebe. Zunächst
wird das Verbrechen, das ein anderes geringeres, ein halbes
Jahrhundert zurückliegendes Verbrechen durch den Mord an einer Unschuldigen
sühnen soll, selbst nicht mehr gesühnt; denn Miss Margaret „is seventy years old
and blind [...] and does have a long history of what can be labeled psychosis.“
(S. 304) Deshalb ist Dorothy Durie – zu Recht, wie sich herausstellt – davon
überzeugt, daß die Mörderin mit keiner Strafe zu rechnen hat: „Once certain
legalisms are steered around, she'll be placed in the family’s charge and be
required to undergo therapy. That’s about it.“ (Ebd.)
Ähnlich dissonant erscheint auf den letzten Seiten die psychologische
Konstellation, mit welcher der Roman eher abbricht als beschlossen wird. Die
Konstellation sieht einerseits Amy Lloyd weiterhin im Dienst des Hauses Durie,
freilich aufgestiegen und entschlossen, im Gegensatz zur Vergangenheit nicht
länger Miss Margarets „instrument“ (S. 312) zu sein. Andererseits erleben wir,
wie Miss Margarets Rachedurst nach wie vor ungestillt ist. Für ihren Haß und
ihre Frustration gibt es offenbar keine Beruhigung, zumal sie am Ende verrät,
daß der Ursprung allen Unglücks, die ehebrecherische Liaison mit dem Maler Ross
Taliaferro, nicht einmal von der Dignität wirklicher Leidenschaft erfüllt war:
‚Fifty-two years of darkness‘, Ma’am whispered. ‚[...] And he was
neuer worth it. He was a clumsy lover. Impatient and clumsy. He was never worth
it at all.‘ (S. 313)
Derart entzieht sich die Geschichte, die bereits den aufklärerischen
Schemata der Detektion und der Sozialkritik die gattungsgerechte Erfüllung
verweigerte, in ihren letzten Äußerungen auch noch der – wenn man so will –
voraufklärerischen Würde der Tragödie, um den Leser einer Kontingenzerfahrung
auszusetzen, welche durch keine literarische Ordnung mehr beschwichtigt zu
werden scheint.
1 |
Vgl. dazu Schulz-Buschhaus, U.: „Kriminalromane jenseits
des Krimi“. die horen H. 148, 1987, 7–16. |
2 |
Zu den epistemologischen Aspekten dieser Affinität von Il nome della rosa zum traditionellen Detective Novel vgl. U. Schulz-Buschhaus:
„Kriminalroman und Post-Avantgarde“. Merkur
41,1987, 287–296, hier: 295f. |
3 |
Reilly, J. M. (Ed.): Twentieth-Century
Crime and Mystery Writers. London, 21985, S. 299. |
4 |
Vgl. dazu Schmidt, A.: „Die 10 Kammern des Blaubart“. – In
ders.: Trommler beim Zaren. Karlsruhe, 1966,
S. 243–252; Heißenbüttel, H.: „Spielregeln des Kriminalromans“. – In
Vogt, J.: Der Kriminalroman. Zur Theorie und
Geschichte einer Gattung. München, 1971, Bd. 2, S. 356–371,
hier: S. 369; außerdem Julian Symons Vorwort („The Short Crime Story
and Stanley Ellin“) zu Ellin, St.: The Blessington
Method. Harmondsworth, 1971, S. 9–12. |
5 |
Der Roman wird im folgenden zitiert nach der amerikanischen
Taschenbuchausgabe: Ellin, St.: Very Old Money.
New York: Ballantine Books, 1986 (eine englische
Taschenbuchausgabe ist bei Futura erschienen). |
6 |
Vgl. zu dieser Technik Y. Chevrel: Le
Naturalisme. Paris, 1982, S. 120ff. Chevrel verwendet und
erweitert hier eine Kategorie, die zurückgeht auf E.-H. Bleich: Der Bote aus der Fremde als
formbedingenderKompositionsfaktor im Drama des deutschen
Naturalismus. Berlin, 1936. |
7 |
Wie sich Wimseys Überlegenheit in seiner fabulösen
literarischen Kennerschaft spiegelt, zeigt W. G. Müller: „The
Erudite Detective. A Tradition in English and American Detective
Fiction“. Sprachkunst 17,1986, 245–262, bes. 255f. |
8 |
Immerhin gehören zu den zahlreichen literarischen
Anspielungen des Romans auch solche auf Henry James, und Miss
Margaret, eine der Hauptgestalten des Buchs, gilt einmal als „a sort
of Jamesian character“ (vgl. S. 179). |
9 |
Auf diese Weise schafft Ellin jenen effet
de réel, den Karl Eibl in einem wichtigen Aufsatz durch den
Begriff des „,Realismus‘ als Widerlegung von Literatur“
gekennzeichnet hat (Poetica 6, 1974,
456–467). |
10 |
Vgl. etwa die charakteristischen Romananfänge voll Unnatural Causes („The corpse without hands
lay in the bottom of a small sailing dinghy drifting just within
sight of the Suffolk coast“.) oder A Taste for
Death („The bodies were discovered at eight forty-five on
the morning of Wednesday 18 September by Miss Emily Wharton, a
65-year-old spinster of the parish of St. Matthew’s in Paddington,
London, and Darren Wilkes, aged 10, of no particular parish as far
as he knew or cared.“). In beiden Fällen signalisieren die
Eröffnungssätze einen bewußten Anschluß an den traditionellen Detective Novel, welcher in den Jahren 1967
(Unnatural Causes) und zumal 1986 (A Taste for Death) bei Kennern der
Gattungsentwicklung natürlich auch wieder einen paradoxalen
Überraschungseffekt hervorrufen kann. |
11 |
Vgl. in diesem Sinn etwa die Beschreibung, die Amy S. 148
im style indirect libre von der ihr
zugedachten Funktion gibt: „Confidential secretary to Ma’am,
confidential agent for her terribly devoted family.“ |
12 |
In diesem Zusammenhang agiert Amy, wie Mike Lloyd warnend
vermerkt, nun als ‚confidential agent‘ für Miss Margaret: „[...]
dear old Miss Margaret with the best of intentions – viva woman’s lib – has you playing Mata Hari,
and you’re just not the Mata Hari type.“ (S. 229) |
13 |
Vgl. dazu Hudde, H.: „Das Scheitern des Detektivs. Ein
literarisches Thema bei Borges sowie Robbe-Grillet, Dürrenmatt und
Sciascia“. Romanistisches Jahrbuch 29, 1978,
322–342, und Tani, St.: The Doomed Detective. The
Contribution of the Detective Novel to Postmodern American and
Italian Fiction. Carbondale, Edwardsville, 1984. |