Leonardo Sciascias Una storia semplice oder die Vergeblichkeit der Detektion
Bekanntlich ist das Werk Leonardo Sciascias durch ein besonders enges
Verhältnis zu den Autoren und Ideen der „historischen Aufklärung“
gekennzeichnet. Helene Harth charakterisiert diese „Beziehung“ als eine
„ambivalente“ (vgl. Harth 1980: 84f.). Damit wird unter anderem gesagt, daß
Sciascia den Folgen der Aufklärung – im Unterschied von Adorno und Horkheimer –
keineswegs eine Art negativer Dialektik zuschreibt. Vielmehr besteht die
Ambivalenz in dem tiefen Hiat zwischen theoretisch-moralischem Anspruch, den
Sciascia zeit seines Lebens bewahrt hat, und politisch-gesellschaftlicher
Praxis, deren moderne Realität – wenn wir den Befunden von Sciascias Erzählungen
folgen – die aufklärerischen Ideale mehr und mehr dementiert. Dabei hat sich das
Bild, das Sciascia von der realen Geltung der ‚lumières‘ in Sizilien, aber auch
in anderen Regionen der Welt
[1]
, zu vermitteln suchte, seit den sechziger Jahren zunehmend verdüstert, und
bereits an der Folge seiner Kriminalromane, die ja immer zugleich
Aufklärungsromane sind, kann man ablesen, wie „die Entwicklung von der
Eindeutigkeit der Handlung und des Sinnes zum Rätselhaft-Ungelösten, von
(relativem) Optimismus zu Pessimismus“ verlaufen ist (vgl. Wagner 1984: 123).
Das Fazit, das wir von Birgit Wagner übernehmen, bezieht sich hier
speziell auf die Sukzession der vier ‚gialli‘ Il giorno della
civetta (1961), A ciascuno il suo (1966), Il contesto (1971) und Todo modo
(1974). Wenn wir die beiden Kriminalromane, die Sciascia kurz vor seinem Tod
geschrieben hat, in die Betrachtung einbeziehen, wird nun deutlich, daß
wesentliche Tendenzen der Entwicklung durch sie noch prononciert werden,
freilich nicht ohne gewisse Modifikationen, die insbesondere in Sciascias
letztem Roman (letzter Erzählung) Una storia semplice
hervortreten. Diesem Text, den man mit Hinrich Hudde durchaus als Sciascias
„Vermächtnis“ bezeichnen könnte (vgl. Hudde 1992: 126), wollen wir deshalb im
Folgenden unsere hermeneutische Aufmerksamkeit zuwenden. Einerseits scheint er
nämlich quasi endgültig zu resümieren, was immer Sciascias Erzählungen zuvor
über Verbrechen, Justiz, Staat oder Kirche geäußert haben; andererseits tut er
das mit narrativen Mitteln, deren Singularität in bezug auf seine
literarhistorische Umgebung bislang vielleicht nicht immer ausreichend deutlich
gemacht worden ist.
Um die Eigentümlichkeit von Sciascias gleichsam konklusivem ‚giallo‘ zu
umreißen, empfiehlt es sich, zunächst einen Blick auf seinen im Rahmen der
kriminalistischen Gattung eher ungewöhnlichen Titel zu werfen. Offenbar kann er
in einem doppelten, einmal wörtlichen und ein andermal antiphrastisch-ironischen
Sinn gelesen werden. Wörtlich verstanden, entspricht der Titel jener immanenten
Poetik des Textes, welche wie in einer ‚mise en abyme‘ die Machart der
schriftlichen Berichte des Brigadiere, des Protagonisten und zugleich Helden der
Erzählung, vertritt. Sie wird von einer „capacità di selezione, di scelta, di
essenzialità“ bestimmt (vgl. 15)
[2]
, von der es heißt, daß sie möglicherweise für die Schriftsteller des
italienischen Südens aufgrund ihrer verfremdenden Distanz von der Hochsprache
überhaupt charakteristisch sei. Aus der Befähigung zu solcher ‚Essentialität‘
gewinnt nicht nur das Protokollieren des Brigadiere, sondern die Geschichte
selbst eine eminent „novelleske Konzentriertheit“. Demnach ergibt sie im
Vergleich zu Sciascias früheren ‚gialli‘ tatsächlich eine „storia semplice“ oder
– um mit Hudde zu sprechen – „einen schlackenlos klaren, formal klassischen
‚Krimi‘, den ‚reinsten‘ seiner sechs Beiträge zu dieser Gattung“ (Hudde 1992:
122)
[3]
.
Indessen ist die formale ‚Klassizität‘ von Una storia
semplice nicht allein in der ökonomischen Reduktion auf das narrativ
und diegetisch Wesentliche zu erblicken. Ergänzt wird die „novelleske
Konzentriertheit“ durch die Dominanz einer unaufdringlich, aber entschieden
inszenierten auktorialen Erzählsituation, wie sie in Kriminalromanen, die im
allgemeinen den Perspektiven einer Reflektorfigur oder eines Ich-Erzählers
folgen, sonst kaum üblich ist. Ihr verdankt Una storia
semplice vor allem zwei Charakteristika, welche teilweise im
Widerspruch auch zu Sciascias eigenen Tendenzen beim Umgang mit dem
kriminalistischen Genre stehen. Zum einen garantiert die auktoriale
Verfügungsmacht, daß die Erzählung – anders als das etwa in Il
contesto oder Todo modo der Fall war – nichts
wirklich Wichtiges im Ungewissen läßt. In Anbetracht der Erzählstruktur kann
kein Zweifel bestehen, daß der Commissario für den Mord an Giorgio Roccella und
padre Cricco für die Morde an den Bahnbeamten wesentliche, obgleich sicher nicht
alleinige Verantwortung tragen
[4]
. Ebenfalls dürfte kaum ein Leser bezweifeln, daß der unglückliche
Arzneimittelvertreter in seinem Volvo von den Repräsentanten der Staatsgewalt zu
Unrecht trakassiert wird: Seine Verfolgung dient offensichtlich genauso der
Ablenkung vom wahren Sachverhalt wie vorher die opportunistische Hypothese des
Selbstmordes, welche den Tatbestand der Ermordung Roccellas verdrängen sollte.
Das zweite Charakteristikum, das auf der auktorialen Erzählsituation
beruht, ist die Evidenz einer ironischen Distanz des Erzählers vom Erzählten,
die wohl auch früher schon zu den narrativen Besonderheiten Sciascias zählte,
doch nie derart ausgeprägt erschien wie just in diesem Text aus seinem
Todesjahr
[5]
. Mehr als jemals zuvor nimmt Sciascia die Entscheidung zur ‚essentiellen‘
Kürze hier als Anlaß für gewissermaßen epigrammatische Pointierungen. Wie solche
Pointierungen aussehen können, zeigt beispielsweise das Ende des 14. Abschnitts
mit seinen Anaphern und Polyptota oder dem thematisch strukturierenden
Wiederholungseffekt der zunächst verbalen und dann gestischen Äußerungen „Dio
mio!“ und „Terrificante!“ (vgl. 64 und 43). Ähnlich arrangiert ist im 13.
Abschnitt der Auftakt zur entscheidenden Konfrontation zwischen Brigadiere und
Commissario: „Mentre il commissario rabbrividiva per il freddo dell’ufficio,
come ogni mattina dicendo che gli uccelli vi sarebbero caduti morti, il
brigadiere, già al proprio tavolo, rabbrividiva di altro brivido“ (57). Oder man
lese im vierten Abschnitt, wie der Brigadiere der These des Questore zu
widersprechen wagt, nach der Roccella aus Gram über die Scheidung von seiner
Frau Selbstmord begangen habe:
Ma il brigadiere [...] fece notare al questore che la separazione
dalla moglie era avvenuta dodici anni prima. Per quanto doloroso, un caso simile
è difficile giunga al vertice della disperazione dodici anni dopo. Arrivò invece
al vertice l’irritazione del questore nei riguardi del brigadiere. (28)
Wenn die identische Wendung „al vertice“ hier abrupt von der Figuren-
zur Erzählerrede überspringt, ergibt das eine geradezu witzige Wirkung, welche
im gesamten Text indes beileibe kein Einzelfall bleibt. Sie stört kaum einmal
die sachbezogene Transparenz der Schreibweise, die im Kriminalroman ja bis zu
einem gewissen Grad gattungskonstitutiv ist
[6]
; doch teilt sie den überaus knapp gehaltenen Kapiteln trotzdem ein Element
von ‚prosa d’arte‘ mit, das insbesondere durch syntaktische Zuspitzungen die
referierten Ereignisse zwar nicht überdeckt, aber – wie gesagt – in ironischer
Distanz hält. Mit solcher Distanzierung verbindet sich paradoxal zumindest ein
Anflug von Heiterkeit, welche – wie immer auch täuschend – die Oberfläche der
‚écriture‘ durchzieht. Am Ende scheint sie sogar das letzte Wort zu behalten;
denn der Arzneimittelvertreter verläßt nach seiner Befreiung ‚singend‘ den Ort
des Geschehens, und selbst als er in padre Cricco zur genrespezifischen
Verblüffung des Lesers einen weiteren Mörder identifiziert, vermag das seiner
guten Laune offenbar keinen Abbruch zu tun: „Riprese cantando la strada verso
casa“(66) lautet der Schlußsatz der Erzählung.
II
Nirgendwo zeigt sich freilich auch klarer als am Ende von Una storia semplice, daß die Atmosphäre solcher
Heiterkeit etwas Falsches hat und auf eine bewußt angelegte Dissonanz
hinausläuft. Wenn der Arzneimittelvertreter seinen Volvo ‚singend‘ nach Hause
lenkt, tut er das ja, weil er sich gerade entschlossen hat, die Identifikation
des zweiten Mörders auf sich beruhen zu lassen und den verbrecherischen Priester
nicht weiter zu behelligen, damit er nicht selber in neue Unannehmlichkeiten mit
der Staatsgewalt gerät
[7]
. Seine gute Laune bedeutet demnach, daß das kriminelle System, das die
Welt der Erzählung beherrscht, auch nach der Lösung einzelner Rätselprobleme
unverändert fortdauert. Sie besiegelt gewissermaßen die frustrierende
Erfolglosigkeit aller Detektion und Aufklärung angesichts von
Machtverhältnissen, welche im Grunde schon die Wahrnehmung des normalisierten
Verbrechens untersagen. In dieser Hinsicht ist symptomatisch, daß die Begriffe,
mit denen das Verbrechen eventuell von einer Position außerhalb des Systems zu
erfassen wäre, in der Erzählung kein einziges Mal explizit genannt werden.
Niemals fällt der Begriff Mafia, und auch von den Drogen, um die sich doch die
ganze Handlung dreht, ist allenfalls indirekt die Rede (vgl. 52 oder 56): am
deutlichsten bezeichnenderweise beim Verhör des unschuldigen
Arzneimittelvertreters, den einer der wirklichen Verbrecher für die Rolle des
Sündenbocks zurichten möchte (vgl. 37).
Die ironische Distanz des auktorialen Erzählers betrifft also einen
gesellschaftlichen Zustand, wie er schwärzer und hoffnungsloser kaum gedacht
werden könnte. Es ist ein Zustand, in dem das zur Normalität gewordene
Verbrechen eben auch Staat und Kirche integriert hat und in dem sich, wie
bereits die ersten Sätze der Erzählung suggerieren, die Hoffnungen der Bürger
auf Arbeit oder auf persönliche Sicherheit vor Gewalt als Illusion erweisen
müssen
[8]
. Damit lassen sich beide Charakteristika, die wir aus der auktorialen
Erzählsituation abgeleitet haben, in Beziehung zu einer tieferen Verzweiflung
des Autors setzen. Solche Verzweiflung bedarf zunächst der Gewißheit über die
tatsächliche Infamie der Verhältnisse, weshalb sie mit deren vieldeutiger
Perspektivierung, auf die sich partiell ja auch noch Todo
modo eingelassen hatte
[9]
, nur mehr wenig anfangen könnte. Daneben setzt Sciascias Verzweiflung die
latent heitere Distanziertheit des erzählerischen Tons sozusagen als
Kontrastmittel ein. Es zeigt einen Grad von Resignation vor der Systematisierung
des Unrechts an, der sich wohl gerade von seinem Exzeß eine aufrüttelnd
skandalisierende Wirkung verspricht, die durch das Pathos einfacher Anklage, wie
sie in höherem Maß Sciascias frühe (freilich auch schon sarkastisch
gebrochene
[10]
) ‚gialli‘ betrieben, möglicherweise nicht länger zu erreichen ist.
Auf jeden Fall gibt es in Una storia semplice
zwischen der eleganten Pointierung des ‚discours‘ und der abgründigen Düsternis
der ‚histoire‘ eine knirschende Dissonanz. Dabei wird die Abgründigkeit der
‚histoire‘ nicht zuletzt durch die Verschärfung bestimmter Konstellationen
manifest, welche für Sciascias Kriminalromane immer schon eine themenbildende
Bedeutung hatten. Von primärer Relevanz ist hier der Interpretationskonflikt,
den der detektivische Außenseiter mit den Instanzen der etablierten politischen
oder religiösen, stets aber mafiosen Macht austragen muß
[11]
. Während der Außenseiter das auktorial verbürgte und demnach wahre
Verbrechensmotiv benennt, das historisch spezifisch eben mit den staatlich
deregulierten und folglich mafios re-regulierten Machtbeziehungen zu tun hat,
postulieren die Autoritäten ein Verbrechensmotiv, das historisch unspezifisch im
Bereich privater Verwicklungen liegt und vom System daher als eine Art Alibi
erwünscht wird, welches von der eigenen, strukturellen Verantwortung ablenken
soll.
Zu einem solchen Interpretationskonflikt kommt es nun auch in Una storia semplice, und zwar derart prononciert, daß der
Konflikt gleichsam die literarische Gestalt der Erzählung (des Romans) selber in
Mitleidenschaft zieht. In der Tat ist der Titel Una storia
semplice – wie wir oben festgehalten haben – ja nicht bloß wörtlich im
Sinn von klassischer ‚Essentialität‘ zu verstehen. Nachdrücklicher bietet er
noch eine antiphrastisch-ironische Lesart an, welche durch den Gang der
Ereignisse selbst nahegelegt wird. Daß sich mit der Leiche Giorgio Roccellas
nicht mehr als eine „storia semplice“ verbinden möge, ist nämlich eben der
dringende Wunsch der Autoritäten, den als erster der Questore formuliert:
„Questo è un caso semplice, bisogna non farlo montare e sbrigarcene al più
presto...“(24). Aus dem „caso semplice“ eine, „storia complicata“(31) zu machen,
entspricht dagegen dem Interesse des Brigadiere, der als aufklärerischer
Außenseiter und zugleich als untere Charge in der Polizeihierarchie geschickt
die Konkurrenz zwischen Polizisten und Carabinieri benutzt, um die
Nachforschungen im Fall Roccella über die simple Selbstmordthese hinaus
auszudehnen (vgl. 24f.). Derart stehen sich im Verlauf der Geschichte
gewissermaßen zwei Parteien gegenüber, die – wenn man so will – auch für
literarisch konträre Optionen stimmen. Auf der einen Seite argumentieren die
zahlreichen Anwälte der „storia semplice“ um ihrer raschen Erledigung, auf der
anderen Seite einzelne Opponenten, die in der „storia semplice“ einen „caso
molto complicato“(24) und gleichsam den Stoff für einen Roman erblicken.
Tatsächlich ist dann auch bezeichnend, daß die Argumente der letzteren von den
ersteren als romanhaft denunziert werden. „Non facciamo romanzi“(29) mahnt
beispielsweise der Commissario, einer der am Ende der Geschichte identifizierten
Mörder, und im gleichen Sinn äußert sich padre Crica, der andere Mörder, wenn er
später lügnerisch insinuiert: „Nonostante tutto il romanzo che vi si va
costruendo intorno, confesso che non riesco a togliermi dalla testa l’ipotesi
del suicidio“(49)
[12]
.
So könnte man sagen, daß die aus Sciascias ersten ‚gialli‘ vertraute
Konstellation des Interpretationskonflikts hier in die narrative Struktur der
Erzählung selbst eingegangen ist. Das heißt: Es wird in der Erzählung selbst
darüber gestritten, ob das Ausgangsereignis eine ‚einfache Geschichte‘ bleiben
oder zu einem ‚Roman‘ werden soll. Daß die Geschichte bei aller ‚Essentialität‘
ihrer Darstellung nach ihrem Gehalt schließlich doch die Dimension des Romans
annimmt, folgt nicht ohne Notwendigkeit aus der oppositionellen These von Mord
und – implicite – Mafia, welche sich durch den zweiten „fatto“(35), die
Ermordung der beiden Bahnbeamten, bald bestätigt. Trotzdem gilt die Sicht des
Brigadiere, die in einer Art Koalition von Unterschicht und ‚freischwebender
Intelligenz‘ lediglich durch den todkranken professor Franzò gestützt wird
[13]
, weiterhin als oppositionell; denn wie die Repräsentanten des Systems im
Fall Roccella auf die ablenkende „storia semplice“ eines Selbstmords
rekurrieren, muß nun der prompt inhaftierte Arzneimittelvertreter den
Ablenkungsmanövern der Staatsgewalt zum Opfer fallen. In diesem zweiten Fall
wird der eigentlich Schuldige, ein „prete all’antica“(49), dann auch nicht mehr
belangt. Schon das Verhör, das der Commissario – „riguardoso, complimentoso“ –
mit ihm führt, unterscheidet sich in seiner respektvollen (später weiß man:
komplizenhaften) Zurückhaltung aufs schärfste von der brutalen Aggressivität,
die der Commissario vorher beim Verhör des Arzneimittelvertreters rücksichtslos
gegen den fälschlich Verdächtigten ausgespielt hat (vgl. S. 37f.).
III
Natürlich ist die minoritäre Position, in der Una
storia semplice den oder (unter Einschluß des professor Franzò) die
Anwälte der Wahrheit erscheinen läßt, gemäß den Konventionen des Detektivromans
nichts Außerordentliches. Nach der Regel, die zur Identifikation des Täters „the
most unlikely person“ empfiehlt
[14]
, muß die Wahrheit des Tathergangs ja zunächst nicht nur verborgen sein,
sondern den Erwartungen des ‚common sense‘ möglichst eklatant widersprechen, so
daß ihre überraschende Erkenntnis weniger aus der gemeinsamen Anstrengung
zahlreicher Köpfe als vielmehr aus dem Werk eines einzelne ‚Scharfsinnshelden‘
hervorgeht.
Daß die Wahrheit des Falles allein von der Opposition des Brigadiere
und nicht von der Majorität der Ermittelnden verteidigt wird, entspricht an sich
folglich durchaus den Üblichkeiten der Gattungsgeschichte, zumal jenen ihrer
frühen und prononciert detektivischen Phase. Überhaupt fallen dem Leser von Una storia semplice in dieser Hinsicht mehrere
Übereinstimmungen mit dem idealtypischen Detektivroman ins Auge. Sie betreffen
etwa die Funktion der Indizien, durch die der Commissario sich verrät. Es
handelt sich um seine Handschuhe und den Lichtschalter, der im Mordhaus
bezeichnenderweise hinter einer Büste des heiligen Ignatius von Loyola versteckt
ist
[15]
, Indizien also, die in ihrer materiellen Unscheinbarkeit an die typischen
‚clues‘ von Sherlock-Holmes-Erzählungen erinnern, bei der finalen Konfrontation
zwischen Commissario und Brigadiere aber dennoch – und ebenfalls nach dem Muster
Conan Doyles – geradezu emphatisch dramatisiert werden, um einen Moment
äußerster Spannung zu schaffen:
Era tra loro, sotto quello scambio di frasi usuali e banali, un
disagio, una freddezza, un che di preoccupato e di impaurito.
L’interruttore. Il guanto. (57)
Ausgesprochen detektivromanhaft ist neben dem Überraschungseffekt der
‚Whodunit‘-Lösung schließlich auch dessen Zuspitzung durch die Identifikation
des Täters im detektivischen Kollegen und Konkurrenten. Eine solche Lösung hatte
in Gaston Leroux’ Le mystere de la chambre jaune, wo der
Amateurdetektiv Rouletabille als Verbrecher den Polizeiinspektor Frédéric Larsan
überführen konnte, einst einen vielbewunderten Extrempunkt in der
Unwahrscheinlichkeitspoetik des pointierten Rätselromans dargestellt
[16]
, der dann – unter halbwegs realistischen Bedingungen – nur noch durch die
Überführung eines verbrecherischen, doch sein Verbrechen dissimulierenden
Ich-Erzählers, wie sie Agatha Christie in The Murder of Roger
Ackroyd .vollzog, zu überbieten war.
Trotz dieser evidenten Affinitäten zu dem, was nach Hudde einen „formal
klassischen ‚Krimi‘“ ausmacht, ist nun aber nicht zu übersehen daß die
traditionellen Gattungselemente in Sciascias letzter Erzählung ganz anders
funktionalisiert werden, als das im früheren Detektivroman üblich war, und ich
meine sogar, daß eben die Differenz, welche Sciasci hier in die scheinbar
identischen Züge des kriminalistischen Genres einführt, die wesentliche Neuheit
seiner – für ihn selbst konklusiven – Botschaft bildet. Dabei liegt eine auf den
ersten Blick sichtbare Komponente der Differenz in dem untergeordneten
professionellen wie sozialen Status, den der Brigadiere als Aufklärer im „corpo
di polizia“ bekleidet. Er agiert nicht wie die ‚Great Detectives‘ der Tradition
märchenhaft souverän, das heißt: außerhalb von bürgerlichen Bindungen und
Berufsroutinen, sondern innerhalb einer hierarchischen Struktur, deren Ränge –
„il commissario“, „il colonello dei carabinieri“, „il questore“, „il procuratore
della Repubblica“ (letzterer eine besonders fatale Gestalt) – ohne Namensnennung
geradezu obsessiv hervorgehoben werden. In dieser Hierarchie ist der Brigadiere,
Sohn eines „bracciante che aveva saputo elevarsi al rango di potatore“(40), das
schwächste Glied, von der Funktion her ein Subalterner, der trotz besseren
Wissens in der Tat auch kaum wagt, einem Akademiker wie dem Commissario, dessen
Titel er naiv bewundert, ins Wort zu fallen (vgl. 38ff.).
Was der Brigadiere leistet, ist demnach von Beginn an alles andere als
die Verfolgung einer triumphalen Detektion, wie sie im alten Detektivroman
zelebriert zu werden pflegte. Statt dessen ist seine Rolle eine essentiell
defensive. Ohne eigene Forschungen, die sein Status nicht erlaubt, anstellen zu
können, bleibt der Brigadiere darauf beschränkt, die Irrtümer und mehr noch die
Manipulationen seiner Vorgesetzten zu beobachten oder, genauer gesagt:
wahrnehmen zu müssen. Ganz spontan und freiwillig macht er solche Beobachtungen
allein am Anfang der Affäre
[17]
. Im weiteren Verlauf stoßen sie dem Brigadiere eher unfreiwillig zu, da
ihm rasch bewußt wird, daß sie für ihn in erster Linie Gefahr bedeuten. So nimmt
er den entscheidenden Fehler des Commissario, der sich durch sein Wissen um den
Ort des Lichtschalters verrät, keineswegs unter dem Gesichtspunkt detektivischer
Erkenntnis und Erhellung wahr. Was der Brigadiere gleichsam wider Willen
beobachtet, stimmt ihn vielmehr düster vor Furcht. Er antwortet dem Commissario
„cupamente“(53), und in der nächsten Szene wird dies Schlüsselwort beim Gespräch
mit dem Professore wieder aufgenommen: „Ma pensava ad altro: cupo, inquieto,
nervoso“(54).
Dadurch kommt es gerade in der kriminalistischen Struktur von Una storia semplice zu einem singulären Positionswechsel:
Der letzte und im „corpo di polizia“ einzige detektivische Aufklärer ist hier
von vornherein nicht Verfolger, sondern selbst ein Verfolgter, wie das sonst nur
jenen Gestalten passiert, die mehr oder weniger ahnungslos in da Räderwerk der
Machinationen eines Agentenromans à la Eric Ambler geraten. In einer solchen
Lage kämpft der kleine Brigadiere nicht eigentlich gegen eine Übermacht des
etablierten Konsens an, was die ‚großen Detektive‘ zum Beleg ihrer Größe ja
stets getan hatten. Eher ist es so, daß er sich der Übermacht, welche eine
Übermacht mörderischer ökonomischer Interessen ist, unmittelbar in seiner
Existenz ausgesetzt sieht, und das hat zur Folge, daß die genaugenommen
unfreiwillige Erkenntnis mitnichten einen Triumph, sondern Verwirrung, Angst und
einen Impuls zur Flucht auslöst. Tatsächlich haftet der Konsultation des
Professore, bei dem der Brigadiere Rat sucht, aber kaum Hilfe erwarten kann, ein
Element von – wenigstens zeitweiliger – Flucht an, bei welcher die Schwäche des
verfolgten Detektivs symbolisch durch einen Tränenausbruch angezeigt wird (vgl.
54f.), der sich übrigens nach dem Schußwechsel im 13. Abschnitt – wie um das
literarische Bild des ‚Scharfsinnshelden‘ endgültig zu durchkreuzen – wiederholt
(vgl. 60).
Freilich gibt der Brigadiere seinem Fluchtimpuls nicht nach, so ratlos
(„smarrito, stravolto“) er am Ende des Gesprächs mit dem Professore auch
erscheinen mag (vgl. 56) und so suggestiv im nächsten Abschnitt das allmähliche
Crescendo seiner Angst geschildert wird. Wenn er sich der Konfrontation mit dem
Commissario, dessen kriminelle Energie der Leser hier wohl erst zu ahnen
beginnt, dann in einer Szene von unerhörter Spannung stellt, bedeutet das jedoch
ebensowenig die planvolle Vollendung der im vorhergehenden Abschnitt
eingeleiteten Aufklärung. Was sich jetzt vollzieht, ist nicht die von
Erkenntnispathos erfüllte Identifikationsszene des Detektivromans
[18]
, sondern ein Showdown nach Art des Western, auf dessen Modell im übrigen
bei der Schilderung des Mordschauplatzes („magazzini o stalle che circondavano
la casa come un fortilizio da western americano“) schon zu Beginn der Erzählung
hingewiesen wurde (vgl. 21). Dabei übertreibt man gewiß nicht, wenn man diesen
Showdown als einen der zugleich brillantesten und finstersten Momente in der
Entwicklung von Sciascias Erzählkunst bezeichnet. Er ist brillant, was die
Steigerung des Suspense bei dem verborgenen oder scheinbar absichtslosen
Hantieren der – noch Kollegialität fingierenden – Duellanten mit ihren Pistolen
angeht, und er ist auf einer anderen Ebene finster, da er jenseits des
Überlebenskampfes keine höhere Instanz von Ordnung, Recht oder Gerechtigkeit
mehr kennt. Wie wenig es hier noch um irgendwelche Aufklärung geht, verrät der
einzigartige Satz, der die Episode kulminieren läßt und in seiner gedrängten
Vielgliedrigkeit gleichzeitig selber eine Episode von höchster diegetischer
Intensität darstellt:
Il commissario fini di pulire la pistola, la ricaricò, l’impugnò
fingendo mira alla lampada, a un calendario, al pomo di una porta; ma al momento
in cui con improvvisa rapidità la puntò sul brigadiere e sparò, questi si era
già gettato a terra con tutta la sedia, aveva scoperto dal giornale che teneva
con la sinistra la pistola che aveva tirato dal cassetto, sparato un colpo
dritto al cuore del commissario, che crollò sulle carte che aveva davanti
copiosamente insanguinandole. (60)
Näher betrachtet, enthält die Periode zumindest zwei sensationelle
Peripetien, und zwar dergestalt, daß die entscheidenden Wendepunkte zur
Pointierung der Dramatik jeweils täuschend in den syntaktischen Hintergrund
verlegt sind: zunächst in einen von der Zeitbestimmung „al momento“ abhängigen
Relativsatz, der die plötzliche Aktion des Commissario mitteilt, und darauf in
das letzte Glied einer Satzfolge im Tempus der Vorzeitigkeit, durch das wir
ebenso unerwartet über die Reaktion des Brigadiere und vor allem deren blutigen
Erfolg unterrichtet werden. Zur Manier des Western gehört hier sowohl die
Plötzlichkeit des Angriffs, der den Brigadiere zur Selbstverteidigung zwingt,
als auch die lange Suspension des Gegenschlags, der den Angegriffenen im letzten
Moment zum Sieger macht. Genauer müßte man vielleicht sagen: der dem
Angegriffenen im letzten Moment die Chance zum Überleben verschafft; denn was
von der Ersetzung der Identifikationsszene durch die Westernszene des Showdown
angezeigt wird, ist eben die Dominanz eines Kampfes ums Überleben, quasi um das
„survival of the fittest“, gegenüber dem das Streben nach Aufklärung, die allein
dem Leser noch etwas besagen mag, auf der Handlungsebene quasi auftragslos,
ohnmächtig und irrelevant geworden ist.
Dabei hat der Sieg im Duell wohl das physische, nicht aber auch das
soziale Überleben des unerwünschten Aufklärers sichern können. In der Folge von
drei Finali, welche die Erzählung beschließen (vgl. Guagnini 1996: 308), bedroht
das vorletzte Finale den Brigadiere ein weiteres Mal und nunmehr im Innersten
seiner professionellen Existenz. Wie er vorher zum Objekt eines Mordversuch von
Seiten des Commissario wurde, erscheint er jetzt als Objekt der Erwägungen
vorgesetzter Behörden, welche dem Ziel gelten, die Folgen der Affäre auf die
günstigste Weise an die Öffentlichkeit zu bringen. Wenigstens für einen
Augenblick spielt man mit dem Gedanken des fatalen Staatsanwalts, der im
Polizeibericht die Rollen vertauschen und dem Brigadiere jene des
verbrecherischen Commissario zuweisen möchte (vgl. 63f.). Wenn das nach den
Einwänden von Questore und Colonello nicht geschieht, sind dafür statt Gründen
der Gerechtigkeit am Ende ausschließlich Opportunitätsgründe maßgebend. Die
Tatsache, daß er auch bei dem zweiten, subtileren Angriff von Seiten einer
höheren Instanz überlebt, verdankt der Brigadiere also keinem Urteil das Recht
und Ordnung restituierte, sondern der Kontingenz einer Situation, welche die vom
Staatsanwalt vorgeschlagene Manipulationsstrategie schlicht unmöglich macht. Als
durchführbar erweist sich offenkundig nur eine andere Manipulation. Durch sie
wird der Brigadiere zwar persönlich geschont, doch nicht weniger prononciert auf
die Funktion eines bloßen Gegenstands im Machtkalkül des Systems verwiesen:
Poi il questore invitò il brigadiere ad uscire: „Aspetta in
anticamera, ti chiameremo tra cinque minuti“.
Lo richiamarono più di un’ora dopo.
„Incidente“ disse il magistrato.
„Incidente“disse il questore.
„Incidente“ disse il colonello.
E perciò sui giornali: Brigadiere uccide
incidentalmente, mentre pulisce la pistola, il commissario capo della
polizia giudiziaria. (64)
Der Kommentar, mit dem Questore und Colonello auf die ursprüngliche
Manipulationsabsicht des Staatsanwalts reagieren, ist an dieser Stelle ein
lautloses „Dio mio!“ und „Terrificante!“. Durch den stummen Kommentar wird die
identische Bemerkung wiederholt, die in einer früheren Situation dem ähnlich
manipulativen Vorschlag des Staatsanwalts galt, den Arzneimittelvertreter in der
Mordrolle zu fixieren (vgl. 43). So gewinnen das „Dio mio!“ und zumal das
steigernde „Terrificante!“ gewissermaßen den Wert eines Leitmotivs, welches wie
in einem Choc registriert, daß Detektion und Aufklärung in der hier modellierten
Welt ihren Auftrag, ja ihre Legitimität verloren haben. Für die Erzählung soll
das Motiv wohl eine Art Fazit ziehen; für den Leser ergibt es dagegen eine –
womöglich aufrüttelnde – Provokation.
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1 |
Daß Sciascias Diagnosen nicht auf Sizilien beschränkt sein
wollen, gibt unter anderem die zunehmend betonte Parabelkomponente
der Erzählungen zu verstehen. Exemplarisch wird sie insbesondere in
dem Nachwort zu dem Roman Il contesto
hervorgehoben, dessen Gestalten Namen tragen, die regional oder
national nicht mehr eindeutig lokalisierbar sind. Sciascia
reklamiert für diesen Roman, den er „parodia“ nennt, dort die
‚Substanz‘ eines „apologo sul potere nel mondo, sul potere che
sempre più digrada nella impenetrabile forma di una concatenazione
che approssimativamente possiamo dire mafiosa“ (Sciascia 1971:
122). |
2 |
Alle Zitate aus Una storia semplice,
auf die wir in unserem Essay lediglich mit der Seitenangabe
verweisen, sind der im Dezember 1989 erschienenen „seconda edizione“
des Textes entnommen. Die erste Ausgabe erschien – bereits postum –
im November 1989. |
3 |
Hier muß freilich bedacht werden, daß der Unterschied
zwischen der „novellesken Konzentriertheit“ von Sciascias letztem
‚Krimi‘ und den Maßen seiner früheren ‚gialli‘ ein rein gradueller
ist; denn zweifellos hat Arnaldo Bruni recht, wenn er Sciascias dem
Wert der ‚brevitas‘ verpflichtetes Gesamtwerk durch den treffenden
Satz charakterisiert: „[...] nessun scrittore contemporaneo si è
ricordato come il callimacheo Sciascia dell’antico adagio per cui un
gran libro è un gran male“(Bruni 1994: 363). |
4 |
Bezeichnend ist, daß der Text hinter beiden Mördern, von
denen padre Cricco als der offensichtlich „schlimmere“ ungeschoren
davonkommt (vgl. Hudde 1992: 125), das Geflecht einer
weitverzweigten Organisation suggeriert, deren genaue Konsistenz
sich dann aber jeder detektivischen Annäherung entzieht. So werden
in Una storia semplice im Gegensatz zum
frühen ‚giallo‘ Il giorno della civetta nicht
einmal mehr Funktionen und Amtstitel derjenigen genannt, welche im
Sinne des Contesto die „impenetrabile forma
di una concatenazione che approssimativamente possiamo dire mafiosa“
ausmachen. |
5 |
Wie schon in Il cavaliere e la morte
der Vice von tödlicher Krankheit gezeichnet war, tritt auch in Una storia semplice mit dem professor Franzò
eine Gestalt auf, an die Sciascia das Bewußtsein seiner Todesnähe
delegiert zu haben scheint. Sie äußert sich in medizinischen
Details, etwa der „periodica e inalienabile dialisi“(30), oder
pathetischer in einem Gespräch, bei dem der leidende Professore dem
Brigadiere nicht jene Aufmerksamkeit schenkt, welche dieser sich als
bildungsfreudiger Autodidakt gewünscht hätte: „Ma il professore
parlò dei propri mali, lasciando memorabile al brigadiere [...] la
frase che ad un certo punto della vita non e la speranza l’ultima a
morire, ma il morire è l’ultima speranza“(51). Vgl. dazu Hudde 1992:
124, und Guagnini 1996: 303. |
6 |
Als eine wesentliche generische Prämisse wird das „Postulat
der verläßlichen erzählerischen Vermittlung“, welches ein souveränes
Spiel mit den sprachlichen Signifikanten, wie es die Avantgarde
liebt, prinzipiell untersagt oder wenigstens einschränkt, von
Gabriele Vickermann (1998: 19–23) hervorgehoben. Vgl. dazu in einem
anderen literarhistorischen Zusammenhang auch die Kategorie des
„sachbezogenen Erzählens“, durch welche Hans-Otto Hügel (1978:
70–81) die Detektiverzählung des 19.Jahrhunderts vom
„personalorientierten Erzählen“ des einstigen Sensations- und
Familienromans unterscheidet. |
7 |
Der Impuls, den Mörder anzuzeigen, währt nur einen kurzen
Moment, um sofort der niedrigen, doch gewitzt realistischen Erwägung
Platz zu machen: „E che, vado di nuovo a cacciarmi in un guaio, e
più grosso ancora?“(66). Als ein eminent sizilianisches Motiv, das
dem Sciascia-Leser seit Il giorno della
civetta vertraut ist, durchzieht dies Kalkül auch Una storia semplice, wo es bereits im vierten
Abschnitt durch die Weltklugheit eines Taxifahrers angedeutet wird,
der sich in heikler Lage gleichfalls fragt: „E perche andarsi a
cacciare in un guaio?“(27). |
8 |
Der illusorische Charakter, welcher der Hoffnung auf Arbeit
anhaftet, wird später noch einmal durch eine höhnische Bemerkung des
Commissario über das Prestige seines akademischen Titels
unterstrichen: „Laureato! In un paese dove ormai sono laureati gli
uscieri, i camerieri e persino gli spazzini“(41). Daß die Hoffnung
der Bürger auf persönliche Sicherheit in noch höherem Maß
illusorisch bleiben wird, zählt zu den zentralen machttheoretischen
Thesen, welche die Romane Il contesto und vor
allem Il cavaliere e la morte entwickeln. Der
letztere Roman pointiert die These, die ein Regierungs- und
Herrschaftsinteresse an der Schaffung fiktiver subversiver
Gruppierungen behauptet, zu dem zynischen Aphorismus: „La sicurezza
del potere si fonda sull’insicurezza dei cittadini“(Sciascia 1988:
60). |
9 |
Dort war die Bemühung um Vieldeutigkeit dadurch zum
Ausdruck gekommen, daß die Gestalt des Verführers don Gaetano Züge
einer verwirrenden ekklesiastisch-diabolischen Ambivalenz besaß.
Außerdem verfügte don Gaetano über eine besonders starke, auf
niemand Geringeren als Pascal gestützte Rhetorik, während die an
sich privilegierte Perspektive des Ich-Erzählers in Voltaire einen
Anwalt reklamierte, der gegenüber Pascal zumindest nicht von
vornherein als überlegen gelten durfte. |
10 |
Das beste Beispiel für eine solche sarkastische Brechung
bildet wohl das Urteil „Era un cretino“, das don Luigi im letzten
Satz von A ciascuno il suo über den
ermordeten Aufklärer Laurana fällt. In Anbetracht des Sprechers ist
das Urteil wenigstens in moralischer Hinsicht essentiell
antiphrastisch zu verstehen und darf selbstverständlich nicht
wörtlich genommen werden, wie das Paolo Puppa (1994: 98) oder
Costantino Maeder (1994: 224) zu tun scheinen. |
11 |
Diesen Interpretationskonflikt habe ich in meinem Aufsatz
„Sciascias beunruhigende Kriminalromane“ näher beschrieben. Für die
nach detektivischer Einsicht und öffentlicher Sprachregelung
gespaltenen Lösungen, die er bei Sciascia erhält, ist
charakteristisch, daß sie eine Art impliziter Ideologiekritik an den
Schemata der amerikanischen ‚hard-boiled novel‘ à la Raymond
Chandler enthalten. Sie besteht darin, daß der
Interpretationswechsel vom organisierten zum privaten Verbrechen,
den Chandlers Romane – nicht zuletzt der Überraschungspointe wegen –
im Sinne des Autors vollzogen, in Sciascias Romanen gegen das
bessere Wissen der Detektive (und Leser) von den Instanzen der Macht
durch politisch-ökonomische Gewalt romanintern oktroyiert wird. Vgl.
dazu Schulz-Buschhaus 1978: 46ff. |
12 |
Auffälligerweise findet die gleiche Argumentation gegen
eine unerwünschte und deshalb als romanhaft denunzierte Version der
Ereignisse auch schon in Il cavaliere e la
morte statt, wenn dem detektivisch verläßlichen Vice dort von
seinem unzuverlässigen, da opportunistischen Capo vorgeworfen wird:
„[...] la sua è una linea romanzesca, da romanzo poliziesco diciamo
classico, di quelli ehe i lettori, ormai smaliziati, arrivano a
indovinare come va a finire dopo aver letto le prime venti pagine...
Niente romanzo, dunque“ (Sciascia 1988: 34). |
13 |
Die Bedeutung dieser Koalition, in deren handlungsmäßig
allerdings folgenlosem Entwurf man den einzig direkt positiven, ja
utopischen Punkt von Una storia semplice
erblicken könnte, hebt insbesondere Guagnini (1996: 308) hervor. |
14 |
Diese Regel hat für die Poetik des klassischen
Detektivromans bzw. ‚pointierten Rätselromans‘ eine so fundamentale
Geltung, daß sie bereits in den zwanziger Jahren von Dorothy L.
Sayers ironisiert werden konnte. In ihrem frühen Detektivroman The Unpleasantness at the Bellona Club
benutzt Sayers die Regel, um bei der Rätsellösung dadurch eine
‚Unwahrscheinlichkeit‘ in zweiter Potenz zu erzeugen, daß sie gegen
die Gattungskonvention eben die in referentieller Hinsicht ‚most
likely person‘ als Täter überführt. Vgl. dazu Schulz-Buschhaus 1975:
109. |
15 |
So unscheinbar der letztere ‚clue‘ an sich auch sein mag,
so bedeutungsvoll wirkt er freilich im Hinblick auf seine
ideologische Symbolik. Daß die jesuitische Tradition das schwache
Licht der Aufklärung verdeckt, ist eine Insinuation, welche
unmittelbar an die in Todo modo geführte
Auseinandersetzung mit don Gaetanos ‚totalitärer‘ Vision der Kirche
anschließt, wie sie treffend von Rossana Dedola (1994: 239ff.)
beschrieben wird. |
16 |
Wie und mit welcher Absicht das bis dahin wohl virtuoseste
„surprise ending“ der Gattungsgeschichte von Leroux arrangiert wurde
ist ausführlicher erläutert in Schulz-Buschhaus 1975: 86–96. Die
traditions- und schulbildende Rolle des Mystère de
la chambre jaune haben später unter anderen John Dickson
Carr (1963 [1935]: 190f.) oder Agatha Christie (³1980 [1977]: 216f.
und 263) bestätigt. Nach der „Locked-Room Lecture“, die Dickson Carr
als Poetik der ‚Detectiv Novel‘ im 17. Kapitel von The Hollow Man vorträgt, ist „Gaston Leroux’s The Mystery of the Yellow Room the best
detective tale ever written“. |
17 |
Vor allem indem er die Inauthentizität des Punktes hinter
Roccellas Notiz „Ho trovato.“ erkennt. Der Punkt, der offenkundig
vom Mörder angebracht wurde, soll der Simulation des Selbstmords
dienen und die Ermittelnden dazu verleiten, der Notiz „significati
esistenziali e filosofici“ zuzuschreiben, statt in der Lesart eines
abgebrochenen Satzes ohne Punkt die entscheidende Spur zum Mordmotiv
zu entdecken (vgl. 17). |
18 |
Als exemplarisch für solche Identifikationsszenen kann man
etwa die Szene der Überführung Frédéric Larsans in Le mystère de la chambre jaune oder das Arrangement einer
Zusammenkunft aller Verdächtigen betrachten, wie es bei Agatha
Christie an der romanesken Tagesordnung ist. |