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Quelle: Romanistik Integrativ. Festschrift für W. Pollak, hgg. W. Bandhauer/R. Tanzmeister, Wien, Braumüller, 1985 (Wiener romanistische Arbeiten, 13), S. 505–519.

Joseph Conrads The Secret Agent oder der Anti-Kriminalroman

Für den Erfolg des Kriminalromans, die vielleicht populärste Literaturgattung des 20. Jahrhunderts, gibt es viele Gründe [1] . Ein zentrales Motiv stellt ohne Zweifel sein abenteuerlicher Charakter dar: im bürgerlichen Rechtsstaat, der den Organen seiner Exekutive das Gewaltmonopol verleiht, kann die Materie der alten Abenteuerepik gleichsam offiziell allein in der polizeilichen oder – allgemeiner – detektivischen Verbrechensbekämpfung fortdauern. Wie besonders die Taten des Kommissars Maigret belegen, bleibt die Aktivität eines Polizeidetektivs strenggenommen der einzige literarische Ort, an dem die Handlungsarmut des Berufsbürgers noch legitim und sozusagen systemgerecht die Ausnahme von Ereignissen gestattet, welche auch Abenteuer sein dürfen [2] .
Ein weiterer Grund besteht in dem Umstand, daß sich die Abenteuer dieses Romantyps mit einer Geheimnisspannung verbinden, die alle früheren Formen des Mystery Novel übertrifft. Sie richtet das Interesse der Leser nicht nur auf die Frage, ob und wie das Böse besiegt, sondern mehr noch auf das Problem, wo es gefunden und identifiziert werden kann. Eine solche Spannungssteigerung gibt dem Kriminalroman zugleich die Möglichkeit, sein Happy Ending zu potenzieren. Da es neben der Bosheit auch jede Falschheit, Verwirrung und Ignoranz vernichtet, restituiert es regelmäßig die rechte Ordnung der Erkenntnis nicht weniger als die der Moral.
Ebendiese Potenzierung des Happy Ending weist dem Kriminalroman im Gesamtrepertoire moderner Literatur nun aber eine Position zu, welche in gewisser Weise einzigartig ist. Er präsentiert sich als Erzählform, die ein Ensemble ebenso ingeniöser wie artifizieller Mittel vorzüglich zu dem Zweck einsetzt, das Leserpublikum auf möglichst unterhaltsam überzeugende Art zu beruhigen. Gewiß war die Beruhigung von Ängsten seit alters her das – keineswegs zu verachtende – Ziel jeglicher Unterhaltungsliteratur, deren ‚gutes Ende‘ die Wirklichkeit noch immer so zu verklären wußte, daß sie ein wenngleich bescheidenes Glücksversprechen hergab. Im idealtypischen Kriminalroman hat sich der Effekt von Versöhnung jedoch entscheidend vervollkommnet. Dabei liegt das Wesentliche dieser Wirkung darin, daß spätestens mit Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten die Überwindung des Übels und die Identifikation des Täters (bzw. der Täter) eins wurden.
Indem beides zusammenfällt, erscheint das Böse so emphatisch personalisiert wie nie zuvor. Es bedroht die Ordnung der Gesellschaft, während es anonym bleibt; sobald es dagegen zum Schluß der Erzählung mit einem Namen versehen werden kann, ist der Moment des Triumphes erreicht, das Rätsel gelöst und die Welt gesichert. Das soziale Bild, das zumindest der sogenannte ,klassische‘ Detektivroman vermittelt und bestärkt, ist folglich ein Bild dauernder Stabilität. Zwar wird sie immer wieder gestört; doch macht keine Störung mehr als eine Episode aus, an deren Ende die Ordnung jeweils gereinigt in ihre Rechte zurücktritt. Nimmt man den Roman beim Wort, bedeutet ihre Reinigung sogar auch ihre unablässige Perfektionierung; denn mit jedem Täter, der namentlich identifiziert und überführt wird, ist ja ein weiteres (residuales) Element des Bösen beseitigt. Jedenfalls funktioniert der Erzählapparat von Störung und Ordnung, Spannung und Lösung, welcher den idealtypischen Kriminalroman konstituiert, nur unter der impliziten ideologischen Voraussetzung, daß nach der Ausgliederung des verbrecherischen Täters eine um eben jene Ausgliederung gereinigte, befriedete und fortgeschrittene Gesellschaft von gesetzestreuen Nicht-Tätern in nunmehr stabilerer Harmonie fortlebt.
Indessen bliebe der beruhigende Eindruck solcher Stabilität unvollkommen, wenn der Kriminalroman nicht auch die Illusion ihrer letztendlich unproblematischen Herstellbarkeit erzeugen würde. Als ihr Hauptagent wirkt der detektivische „Scharfsinnsheld“ [3] . Indem er den zunächst unheimlichen Dingen auf den Grund geht, bringt er sie nicht bloß in Ordnung, sondern demonstriert exemplarisch die grundsätzliche Transparenz aller irdischen Verhältnisse. Wie die Ordnung nur episodisch gestört wird, ist auch diese Transparenz lediglich vorübergehend zu verdecken. Auf längere Sicht dagegen muß sich jede Verschleierung vor der Detektion auflösen, umso mehr als die Tätigkeit des Detektivs von Conan Doyle in der „Science of Deduction“ zum Inbegriff fachwissenschaftlicher Analyse stilisiert wurde. Damit entsteht eine gewissermaßen prästabilierte Harmonie von Erkenntnis und Moral. Wo immer die Stabilität des Gesellschaftssystems bedroht ist, kommt ihr die Wissenschaft zu Hilfe, um durch treffendes Raisonnement gleichzeitig das Rätselhafte zu erhellen und das Böse zu eliminieren. Derart führt die Erledigung der Whodunit-Frage, in der alle Spannungslinien des Detective Novel zusammenlaufen, zu einem sowohl soziologischen als auch gnoseologischen Optimismus. Er setzt auf den stillen, quasi geschichtslosen Fortschritt, wie ihn die erfolgreiche Aufklärungsarbeit des Detektivs und seiner „Science of Deduction“ unwandelbar zu garantieren scheint.
Versucht man, die Entwicklung des Kriminalromans nach der Sherlock-Holmes-Serie zu resümieren, läßt sich die unterschiedliche Position zu dem optimistischen Weltbild, das seinem Gattungsmodell anhaftet, als geeignetes Kriterium für eine grobe Typologie verwenden. Auf der einen Seite wird die beruhigende Wirkung, die das Genus verbreitet, kunstvoll gesteigert, indem die Autoren der episodischen Verrätselung ihrer Romanwelt eine Wendung ins extrem Paradoxe geben. Je exzessiver das Rätsel und damit die zeitweilige Verfremdung vertrauter Ordnungen sich zuspitzt, umso eklatanter kann auch die Enträtselung wirken, welche die Ordnung bürgerlicher Rationalität gleichsam mit einem Knalleffekt bestätigt und verstärkt. In eine solche Entwicklungslinie, deren Prototyp wohl das Mystère de la chambre jaune von Gaston Leroux darstellt [4] , gehören etwa zahlreiche Detective Novels der zwanziger und dreißiger Jahre, allen voran die Romane der Agatha Christie.
Auf der anderen Seite steht die Bemühung um einen Kriminalroman mit kritisch-realistischen Zügen. Sie impliziert in erster Linie die Korrektur oder wenigstens Modifikation seines affirmativen Bestätigungscharakters. Dazu tragen beispielsweise die moralischen Problematisierungen des Happy Ending bei, wie sie Dorothy L. Sayers in Gaudy Night oder Busman’s Honeymoon anstellt [5] . Wird in ihnen die ethische Legitimation des Verfolgens und Strafens mit einem Fragezeichen versehen, so bleibt doch die Wirksamkeit der Detektion selbst noch außer Zweifel. Damit die Prämissen grundsätzlicher Stabilität und Transparenz, die sie voraussetzt, fraglich werden, muß ihr Protagonist, der Garant von Wahrheit und Sekurität, seine insgesamt märchenhafte Unfehlbarkeit einbüßen, d. h.: der Detektiv muß bei der bislang meist ungetrübt triumphalen Aufklärungsarbeit das Erlebnis seiner Grenzen, des Versagens und Scheiterns machen. In der Tat zeigt sich daher das „Scheitern des Detektivs“ – wie Hinrich Hudde in einem interessanten Aufsatz belegt hat [6] – als ein zentrales Thema moderner und modernster Kriminalliteratur. Es taucht in einigen labyrinthischen Erzählungen bei Borges auf, z. B. in La muerte y la brújula, und prägt mehrere Kurzromane Dürrenmatts sowie Robbe-Grillets Les gommes [7] . Am intensivsten wird es vielleicht von Leonardo Sciascia gestaltet, der seine Detektive nicht nur scheitern, ja sterben läßt, sondern auch ihre Erkenntnismöglichkeiten programmatisch beschneidet, was der Erzählerkommentar in A ciascuno il suo einmal folgendermaßen erläutert: [8]
Che un delitto si offra agli inquirenti come un quadro i cui elementi materiali e, per cosí dire, stilistici consentano, se sottilmente reperiti e analizzati, una sicura attribuzione, è corollario di tutti quei romanzi polizieschi cui buona parte dell’umanità si abbevera. Nella realtà le cose stanno però diversamente: e i coefficienti dell’impunità e dell’errore sono alti non perché (o non soltanto, o non sempre) è basso l’intelletto degli inquirenti, ma perché gli elementi che un delitto offre sono di solito assolutamente insufficienti. Un delitto, diciamo, commesso o organizzato da gente che ha tutta la buona volontà di contribuire a tenere alto il coefficiente di impunità.
Gli elementi che portano a risolvere i delitti che si presentano con carattere di mistero o di gratuità sono la confidenza diciamo professionale, la delazione anonima, il caso. E un po’, soltanto un po’, l’acutezza degli inquirenti.
Wenn der Scharfsinn des Analytikers vor der Undurchschaubarkeit der Welt und dem Widerstand omnipräsent gewordener Kriminalität seine Effizienz verliert, verwandelt sich der Kriminalroman indessen in eine Art Anti-Kriminalroman. Er zitiert die Schemata des Gattungsmodells sozusagen an, um ihre Sekuritätsbeteuerungen enttäuschend und verunsichernd zu falsifizieren [9] . Nun ist dieser Anti-Kriminalroman aber nicht allein eine Domäne neuerer Erzählströmungen, wie sie anhand des Nouveau Roman auch im während des Wintersemesters 1978/79 gemeinsam mit Wolfgang Pollak veranstalteten Wiener Kriminalroman-Seminar ausführlich zur Sprache kamen. Es gibt ihn in nuce bereits zur Zeit des frühen Detective Novel, und als eines seiner eindrucksvollsten Exemplare kann ein überaus beunruhigender Text gelten, der im erwähnten Seminar, das ja speziell dem Französischen gewidmet war, verständlicherweise nicht erwähnt wurde und der doch, wo die ideologische Problematik des kriminalistischen Genres zur Debatte steht, einige Aufmerksamkeit verdient: Joseph Conrads 1907 veröffentlichter „Simple Tale“ The Secret Agent. Ihn möchte ich im folgenden zum Gegenstand einer Betrachtung machen, die einerseits – gewissermaßen als Postille zu den Wiener Diskussionen – die Eigentümlichkeit des Kriminalromans schärfer profilieren soll, andererseits – von einem ungewöhnlichen Point de Vue aus – am Ende auch das Verständnis von Conrads Schreibweise und Erzählkonstruktion um ein paar neue Aspekte bereichern mag.
Der Secret Agent ist entstanden im Kontext eines um die Jahrhundertwende verbreiteten Romaninteresses für die anarchistische Bewegung und ihre spektakulären Attentate. Außer bei Conrad, in dessen Werk ebenfalls an das wenig spätere Under Western Eyes zu denken wäre, wird es etwa noch durch The Princess of Casamassima von Henry James oder den Roman Paris aus den Trois Villes von Emile Zola dokumentiert. Bei einer solchen Thematik, welche die Konflikte zwischen Zerstörung und Schutz des gesellschaftlichen Systems zur Sprache bringt, liegt die Affinität zum Kriminalroman begreiflicherweise schon von der Sache her nahe, und tatsächlich läßt sich die Handlung des Romans zumindest in einigen wichtigen Momenten – dem mißglückten Bombenattentat des indolenten Geheimagenten Verloc, dem dadurch herbeigeführten Tod seines schwachsinnigen Schwagers Stevie, den Untersuchungen des Chief Inspector und des Assistant Commissioner – durchaus als die eines Detective Novel beschreiben. So resümiert beispielsweise C. B. Cox in seiner vorzüglichen Conrad-Monographie den (freilich von vornherein gleichsam in Parenthese gesetzten) detektivischen Aspekt der Erzählung: „The action takes on the character of a parody of the conventional detective thriller. On the surface this is a story of a strange explosion at Greenwich Observatory whose mysteries are solved by the clever Assistant Commissioner, a born detective in the tradition of Sherlock Holmes [...]. Suspense is aroused because we at first believe Verloc is dead, and only later do we discover that it was Stevie who dropped the bomb and so blew himself up. The problem is solved by the discovery of Stevie’s name an the shred of collar picked up with his remains, and by the Assistant Commissioner’s visit to Verloc’s shop, in a suitable disguise“ [10] . Ohne ihn wie Cox einzuklammern, rückte Albert J. Guérard – in einer mittlerweile ,klassischen‘, doch entschieden weniger vorzüglichen Conrad-Monographie – den kriminalistischen Plot allen Ernstes in den Vordergrund. Für ihn ist nicht nur das fünfte Kapitel, wo die Erzählperspektive im Augenblick äußerster Spannung den polizeilichen Ermittlungen zu folgen beginnt, „excellent detective fiction“, sondern der gesamte Roman – „this entertaining and easy book“ – bedeutet ihm kaum etwas anderes als die direkte Antizipation des etliche Dezennien später florierenden ,psycho-politischen‘ Thrillers im Stil etwa von Graham Greene: „The Secret Agent [...] virtually created the genre of the serious psycho-political mystery novel“ [11] . Dabei mag man sich erinnern, daß bereits die ersten Pressestimmen nach der Publikation des „Simple Tale“ einigermaßen irritiert auf die ‚kolportagehaften‘ Züge seiner Handlung reagierten; denn – wie die New Yorker Nation am 26. September 1907 schrieb: „The incidents are bomb throwing, murder, and suicide – the raw stuff of a shilling shocker“ [12] .
Nun hat aber Cox zweifellos recht, wenn er den treffend resümierten kriminalistischen Plot ‚auf der Oberfläche‘ der Geschichte fixiert. Er ist nämlich eingelagert in einen zugleich kontrastierenden und komplementären Handlungskomplex, den der Assistant Commissioner einmal mit dem Begriff „a domestic drama“ (S. 181) [13] belegt. Dies „domestic drama“, das die ,Staatsaktion‘ begleitet, durchwirkt und überdauert, nimmt indes einen Verlauf, dessen tragisches Ende dem Optimismus detektivischer Aufklärungen diametral entgegengesetzt ist. Es geht von einem Zustand höchst prekärer Ruhe aus, in dem die scheinbar befriedete Existenz des Ehepaares Verloc im wesentlichen auf wechselseitiger Ignoranz, auf Mißverständnissen und habitualisierten Lügen beruht, einem Beispiel jener notwendigen und lebenssichernden Inauthentizität also, von der es in Under Western Eyes heißen wird: „A train of thought is never false. The falsehood lies deep in the necessities of existence“ [14] . Dazu gehört, daß unter den Hauptakteuren des „Drama“ – wie H. M. Daleski vermerkt [15] – jeder über die Motive und Interessen des anderen im Dunklen bleibt. Winnie Verloc weiß nichts von der Agententätigkeit ihres Mannes, weshalb sie in ihrer obsessiven, ‚militanten‘ Liebe (vgl. S. 200) zum schutzbedürftigen Bruder keine Bedenken hat, Stevie und Mr. Verloc – „‚Might be father and son‘, she said to herself“ (S. 154) – zu gemeinsamen Unternehmungen anzuhalten; noch weniger ahnt sie, daß ihr Opfermut, dessen Zweck die Sicherheit des Bruders ist, gegenüber Adolf Verloc, der dabei zum bloßen Mittel degradiert wird, im Grunde Täuschung und Ausbeutung bedeutet [16] ; schließlich durchschaut sie beim Auszug der Mutter nicht einmal die Beweggründe einer Aktion, die dem eigenen Verhalten im Ziel immerhin verwandt ist. Solche Dumpfheit darf, wie immer wieder durch leitmotivische Wendungen betont wird, keinesfalls als einfache kognitive Beschränkung gelten; vielmehr entspringt sie dem halb bewußten Willen dunkler, egoistischer Vitalität: „She felt profoundly that things do not stand much looking into. She made her force and her wisdom of that instinct“ (S. 147).
Umgekehrt geht es Adolf Verloc, den sein eigener Egoismus gefangenhält, mit Winnie nicht anders. Wie er sich selbst, eine Mission zum Schutz der Gesellschaft zuschreibt, unterlegt er Mrs. Verloc eine eheliche Neigung, die ihn als Person und nicht als bloßes Instrument der familiären Sicherheit betrachtet (vgl. S. 232). Auch hier wirkt das vitale Bedürfnis, ein heikles Gleichgewicht, selbst wenn es im Unverständlichen gründet, vor den Gefährdungen durch eventuelle Analysen zu bewahren. So erscheint Winnie Verloc dem Geheimagenten wohl geheimnisvoll, „with the mysteriousness of living beings“ (S. 149). Doch lautet darauf der nächste, pointiert ironische Satz, der Mr. und Mrs. Verloc im Punkte des kalkulierten Nichtverstehens gleichordnet: „The far-famed secret agent Δ of the late Baron Stott-Wartenheim’s alarmist dispatches was not the man to break into such mysteries. He was easily intimidated.“
Dies Nichtverstehen, das mit dialektischer Pointe die Voraussetzung gemeinsamen Lebens – einer „existence [...] admirable in the continuity of feeling and tenacity of purpose“ (S. 198) – abgibt, explodiert gleichsam in den letzten Kapiteln des Romans, als Winnie Verloc vom Tod ihres Bruders erfährt und den Zusammenbruch ihrer Identitätskonstruktion erlebt. Zumal im elften und zwölften Kapitel – bei Adolf Verlocs Ermordung und Winnie Verlocs Fluchtversuch – nehmen jene Mißverständnisse, die bis dahin das Zusammenleben gesichert hatten, eine Wendung ins Aggressiv-Katastrophale. Während der „excellent husband of Winnie Verloc“ (S. 195) die ‚Schrift an der Wand‘ übersieht und nichts von der Krise seiner Frau bemerkt (vgl. S. 211), verwandelt er sich für Winnie in einen vorsätzlichen Mörder: „He took the boy away from me to murder him!“ (S. 200). Die schneidende Verfehlung jeglicher Kommunikation erreicht ihren Höhepunkt dann in Winnies Begegnung mit dem ‚Genossen‘ Ossipon. Einerseits verfällt hier selbst das Wissenschaftsethos des ehemaligen Medizinstudenten der diffusen Erkenntnisangst der übrigen Gestalten und wird in immer neue Schrecken gejagt; andererseits deutet die panisch geängstigte Winnie gerade Ossipons Schreckensäußerungen als fälschlich beruhigende Signale der Liebe, „full of force and tenderness“ (S. 238). Zur Wahrheit gelangen die Akteure dieser Kapitel allein durch Tod oder Identitätsverlust: [17] Verloc im Moment der Ermordung, indem er mit dem „flavour of death“ zugleich „the full meaning of the portent“ wahrnimmt (vgl. S. 212); Mrs. Verloc in der Einsamkeit ihres Selbstmords; Ossipon bei der Offenbarung von „madness and despair“, die jenseits der Übereinkünfte von Wissenschaft und Fortschritt – als „heart of darkness“ sozusagen – das letzte Wort behalten.
Im „domestic drama“ unseres Anti-Kriminalromans wirken demnach einige Motive, die dem Betrachter der Literatur um die Jahrhundertwende nicht unvertraut sind: die solipsistische Vereinzelung der Individuen führt zu universaler Verkennung und zum Scheitern aller Kommunikation; Identitäten erweisen sich als Ergebnisse bewußter Konstruktion oder unbewußter Illusion; das Leben scheint unauflöslich mit der Lüge verbunden, während die Wahrheit den Tod enthält; die Wissenschaft, die der Diplomat Mr. Vladimir als den „sacrosanct fetish of today“ erachtet (S. 34) und die ‚Genosse‘ Ossipon in der Tat als Richtschnur seines Lebens nimmt, prägt lediglich die Oberfläche des Bewußtseins und vermag nichts gegen ‚Wahn und Verzweiflung‘ der Tiefe. Diese Themen enthüllen vor allem eine ebenso evidente wie verblüffende Analogie zu der Welt von Conrads italienischem Zeitgenossen Pirandello, mit dessen Novellen mehr noch als mit den Romanen oder Dramen The Secret Agent sogar gewisse formale Elemente, etwa die Multiperspektivik der verwirrenden Szenenwechsel, gemein hat, ohne daß es sich dabei um direkte Einflüsse handeln dürfte [18] . Sie belegen im Sinne von C. B. Cox die essentielle Modernität der Conradschen Imagination und widersprechen dem reichlich forcierten Versuch, ihre Besonderheit in der Perduranz romantischer oder viktorianischer Motive zu bestimmen [19] .
Indessen müßten die erwähnten Themen der Sekurität des Detective Novel dann nicht unbedingt opponieren, wenn im Labyrinth ihrer Verwicklungen jene ordnende Interpretation auszumachen wäre, welche die verläßliche Realitätsdeutung eines Detektivs zu präsentieren pflegt. Zwar bliebe das düstere Geschick, in das Verlocs „domestic drama“ präzipitiert, auch dann noch tragisch; doch ließe es sich auf den Begriff bringen oder sogar hilfreich und nutzbringend als Verletzung einer konkreten sozialen Norm verstehen. Als ob Conrad diese Möglichkeit habe andeuten wollen, widmet der Roman seinen speziell detektivischen Szenen einen verhältnismäßig breiten Raum, der offenbar nicht wenige Leser, die sich daraufhin über die fehlende Einheit der Romankomposition beklagten, verwundert hat [20] . Betrachtet man die Polizeiepisoden genauer, wird jedoch deutlich, daß sie eine doppelte Notwendigkeit besitzen, welche sowohl auf die Erzählstruktur als auch paradoxerweise auf den beunruhigenden Sinn des Romans zu beziehen ist. D. h.: jene Zerstörung überlieferter Sicherheit, die etwa Irving Howe an der Negativität der Erzählung tadelt [21] , war erst dadurch zu vollenden, daß auch die Detektive als die traditionellen Garanten gültiger Realitätsdeutung in ihrem Interpretationsmonopol explizit verunsichert, in Frage gestellt und kompromittiert wurden.
Unmittelbar einsichtig ist das bei der Figur des Chief Inspector Heat. Er tritt – von vornherein ironisch relativiert – als der „eminent specialist“ (S. 76) auf. Daß seine prononciert berufsbürgerliche Spezialisierung gleichzeitig Beschränktheit meint, zeigt bald ein offenkundiger ‚Mangel an wahrer Klugheit‘ („true wisdom“), welcher sich in der eitlen Selbstsicherheit seiner Prognosen zur Anarchistenszene äußert. Sie werden durch den Bombenunfall bei Greenwich prompt ad absurdum geführt, weil es Heat widerstrebt, über den Bereich letztlich opportunistischer Professionalität hinauszudenken. Was er beherrscht, ist gewissermaßen die departementale Ratio der Polizei, eine Sphäre, in der – mittels des „close-woven stuff of relations between the conspirator and police“ (S. 76) – die Kontrolle funktioniert. In diese Sphäre passen beispielsweise Eigentumsdelikte hinein, welche der berufsbürgerlichen Rationalität sozusagen systemkonform – als wenngleich perverse Variante zweckmäßiger Arbeit und Industrie – erscheinen wollen (S. 81f.):
Thieving was not a sheer absurdity. It was a form of human industry, perverse indeed, but still an industry exercised in an industrious world; it was work undertaken for the same reason as the work in potteries, in coal mines, in fields, in tool-grinding shops. It was labour, whose practical difference from the other forms of labour consisted in the nature of its risk, which did not lie in ankylosis, or lead poisoning, or fire-damp, or gritty dust, but in what may be briefly defined in its own special phraseology as ‚Seven years hard‘.
Dagegen verlieren Heats Kontrolle und Planung ihre Macht, wenn Außenseiter die Regeln des Spiels („the rules of the game“, S. 105) durchbrechen, wie es der Chief Inspector beim Greenwich-Attentat erleben muß (S. 77): „He admitted to himself that it was difficult to preserve one’s reputation if rank outsiders were going to take a hand in the business. Outsiders are the bane of the police as of other professions“.
Solche gleichsam fachfremden Außenseiter sind im aktuellen Fall Mr. Vladimir, der durch Verlocs Erpressung in einer Mischung aus Ingeniosität und Ignoranz die Affäre ins Rollen bringt, oder ein „Professor“ genannter Anarchist, der – rücksichtslos zur Revolte und Destruktion entschlossen – an jedermann seinen Sprengstoff verteilt; nicht aber Verloc, der – eher zufällige – Täter selbst, den Heat seit langem als allseits kooperativen Spitzel kennt und benutzt. Durch dieses System von Vertrautheit und Unvertrautheit, Nützlichkeit und Schädlichkeit, weniger durch eine Logik methodischer Erkenntnis, läßt sich der Chief Inspector dann bei seiner Enquête leiten. Wenn sie zu dem nachgerade lächerlich harmlosen ,Marxisten‘ Michaelis führen soll, ist das begründet ausschließlich in Erwägungen professioneller Opportunität. Sie verbieten, den Spitzel Verloc zu kompromittieren; denn den betrachtet Heat – laut seinem Konkurrenten, dem Assistant Commissioner – ja als „private property“ (S. 118) von hohem beruflichen Nutzwert [22] . Noch mehr untersagen sie, den radikalen Anarchisten zu belästigen, solange dieser außerhalb der „rules of the game“ verharrt und den Chief Inspector mit tiefem Schrecken vor einer absurd anmutenden Revolte erfüllt. Wenn sich der Hüter des Gesetzes und der Spielregeln stattdessen Michaelis zuwendet, gibt dabei nicht zuletzt die Ratlosigkeit des lebenstüchtigen Bürgers angesichts eines todbereiten Outsiders den Ausschlag: „Deep down in his blameless bosom of an average married citizen, almost unconscious but potent nevertheless, the dislike of being compelled by events to meddle with the desperate ferocity of the Professor had its say“ (S. 105), und das umso mehr, als eine Begegnung mit dem „Professor“ im dramatischsten Moment des fünften Kapitels dem Polizeibeamten seine Unterlegenheit gegenüber jenem Destruktionswillen bewußt gemacht hat, der die Demonstration äußerster Macht im Hohn auf alle sozialen Übereinkünfte sucht: „The encounter did not leave behind with Chief Inspector Heat that satisfactory sense of superiority the members of the police force get from the unofficial but intimate side of their intercourse with the criminal classes, by which the vanity of power is soothed, and the vulgar love of domination over our fellow-creatures is flattered as worthily as it deserves“ (S. 105).
Eingeschränkt auf die Gesichtspunkte eines Opportunismus, der sich allein nach den Zweckmäßigkeiten des Berufsinteresses richtet, hat also auch Chief inspector Heat teil an dem ‚moralischen Nihilismus‘, der den ‚Secret Agent‘ Verloc kennzeichnen soll, in Wahrheit aber das Stigma fast aller Gestalten dieses Romans bildet. Eine solche Partizipation wird einmal durch die geheime Zusammenarbeit zwischen Agent und Polizist angedeutet, zum anderen ausdrücklich unterstrichen, wenn das Aussehen Verlocs, der seine Agententätigkeit mit dem Unterhalt eines Ladens pornographischer Schriften und hygienischer Artikel beschattet, charakterisiert ist durch ein „air of moral nihilism common to keepers of gambling hells and disorderly houses; to private detectives and inquiry agents; to drink sellers and, I should say, to the sellers of invigorating electric belts and to the inventors of patent medicines“ (S. 21).
Diesen Niederungen der fragmentierten Moral, die Pornohändler, Spitzel und Polizisten umfaßt, scheint der Assistant Commissioner, Heats Vorgesetzter und Rivale, auf den ersten Blick enthoben zu sein. Dementsprechend hält ihn Guérard ohne weitere Umstände für das Sprachrohr seines Autors, mit dessen Hilfe die Erzählung Züge von einem Thesenroman annehme: „The novel [...] does express certain strong and austere convictions, recognizably the author’s. The convictions are simple and forcefully affirmed“ [23] . Dabei kann sich Guérard vor allem auf eine gewisse Unangepaßtheit des Assistant Commissioner berufen, deren romantischer Charakter durch die zweifache Gleichsetzung mit einem „energetic“ bzw. „cool, reflective“ Don Quijote hervorgehoben wird (vgl. S. 99 und 124). Sie soll seinem Wesen offenbar etwas Anachronistisches verleihen; denn wir erfahren, daß Heats Vorgesetzter dem noch handlungs- und abenteuerreicheren Dienst in den tropischen Kolonien entstammt und daß ihm die von stärkerer Arbeitsteilung bestimmte Funktion in der europäischen Metropole Unbehagen bereitet: „He did not like the work he had to do now. He felt himself dependent on too many subordinates and too many masters“ (S. 88).
Mit solchem Unbehagen angesichts eines unentwirrbaren Netzes professioneller Einschränkungen und Abhängigkeiten hat das Gefühl von Befreiung zu tun, das der ehemalige Kolonialbeamte erfährt, als er sich allein und incognito aufmacht, um Verlocs Geschäft in der Brett Street zu besuchen. Zumindest für Augenblicke knüpft diese Exploration an die alte Abenteuerexistenz an und realisiert jenes Vergnügen, welches auch der Idealtyp des Kriminalromans seinen Protagonisten wie seinen Lesern zu verschaffen weiß: „The adventurous head of the Special Crimes Department [...] felt light-hearted, as though he had been ambushed all alone in a jungle many thousands of miles away from departmental desks and official inkstands“ (S. 126). So sehr das möglicherweise Conrads eigene Empfindungen in der Welt durchrationalisierter Verwaltung wiedergeben mag, so deutlich wird andererseits aber, daß die abenteuerliche Aktivität des Assistant Commissioner durchaus auch moralische Bedenken weckt. Zwar suggeriert sie ihm ein „pleasurable feeling of independence“; doch ist die Freiheit, die er dabei empfindet, zugleich ein „evil freedom“, verbunden mit dem Verlust sozialer Identität und stimuliert durch eine ‚unmoralische Atmosphäre‘, welche die betrügerische Gastronomie („an atmosphere of fraudulent cookery mocking an abject mankind in the most pressing of its miserable necessities“) eines italienischen Restaurants verbreitet: „In this immoral atmosphere the Assistant Commissioner, reflecting upon his enterprise, seemed to lose some more of his identity. He had a sense of loneliness, of evil freedom. It was rather pleasant“ (S. 125).
Sollte hier – wie Guérard meint [24] – ein Conradsches Selbstporträt vorliegen, verfolgt es jedenfalls nicht zuletzt den Eindruck einer Ambivalenz, die sich jeglicher Vorbildlichkeit entzieht und auch den romantischen Widerspruch gegen die Rationalität der Arbeitsteilung, welcher vielen frühen Detektiverzählungen zu eigen ist [25] , eher als Evasion denn als heroischen Protest darstellt. Dieser Ambivalenz entspricht es gleichfalls, wenn der Assistant Commissioner zur Aufklärung des Falles genaugenommen ja nur wenig beiträgt und im Grunde lediglich von einem Zufall profitiert, jener Namensangabe auf Stevies Kragen, die überdies noch Chief Inspector Heat entdeckte. Außerdem bildet die eindrucksvolle Tirade über den negativen Effekt der Verwendung von Geheimagenten (vgl. S. 117), in der Guérard die zentrale Botschaft des Romans zu erblicken glaubt, im Zusammenhang des Gesprächs mit Sir Ethelred kaum mehr als ein opportunes Argumentationselement bei dem Versuch, den in dieser Affäre lästig störenden Chief Inspector vor dem gemeinsamen Vorgesetzten abzuwerten und aus der Enquête zu eliminieren; daß sich der Assistant Commissioner hier keineswegs sehr loyal verhält, hat etwa Daleski zu Recht betont [26] .
Indessen wird das Verhalten des detektivischen Helden nicht allein durch gelegentliche Illoyalitäten und Unaufrichtigkeiten ins Zwielicht gerückt; vielmehr fußen Interesse und Richtung seiner gesamten Detektion von Anfang an auf einem falschen, ungehemmt den eigenen Nutzen kalkulierenden Bewußtsein, das letzten Endes eigentlich bloß durch Zufall das Richtige trifft. In dieser fraglosen Verfolgung des persönlichen Vorteils wirkt der Assistant Commissioner geradezu wie eine Umkehrung der idealisierten Detektivfigur, wie wir sie aus den zum Melodram tendierenden Kriminalromanen Emile Gaboriaus kennen. Dort sind der Detektiv oder der Richter – beispielsweise Père Tabaret und M. Daburon in L’affaire Lerouge – immer wieder in einen scharfen Konflikt zwischen öffentlich-moralischem und familiär-privatem Interesse gestellt, den sie regelmäßig zugunsten der höheren und allgemeineren Norm entscheiden. Dagegen läßt sich Conrads Assistant Commissioner allein von seinem familiär-privaten Interesse leiten; denn – so konstatiert mit skeptischer Ironie der Erzähler –: „The instinct of self-preservation was strong within him“ (S. 98). Wenn der ranghöchste Detektiv des Romans die Untersuchung in andere Richtungen als die vom Chief Inspector intendierte lenkt, liegt sein Motiv in dem Wunsch, eine bestimmte Person – eben den friedfertig schriftstellernden Sozialrevolutionär Michaelis – ähnlich zu schonen, wie Heat aus Gründen von „self-preservation“ und Berufsroutine den „Professor“ oder Verloc begünstigen möchte. Michaelis ist nämlich der Protégé einer mächtigen aristokratischen Gönnerin, die wiederum mit der etwas kapriziösen Ehefrau des Assistant Commissioner befreundet ist und einen heilsam stabilisierenden Einfluß auf dessen Ehe ausübt. Michaelis aus dem Spiel zu halten, bedeutet für den Detektiv demnach keinen Akt der Erkenntnis oder der Humanität, sondern gehört zu einer Strategie der Selbstbewahrung, die vor allem um das Wohlwollen einer einflußreichen Bekannten besorgt ist (S. 97):
The Assistant Commissioner made a reflection extremely unbecoming his official position without being really creditable to his humanity. ‚If the fellow is laid hold of again‘, he thought, ‚she will never forgive me‘.
Gewiß legt der Erzähler gleichfalls Wert auf die Feststellung, daß diesen Opportunismus beim Assistant Commissioner eine klarsichtige Bereitschaft zur Selbstkritik begleitet. Sie erwächst, wie betont wird, aus seiner Unangepaßtheit, d. h. aus einem offenbar folgenreichen Mangel an Übereinstimmung zwischen Charakter und Beruf. Wenn der Assistant Commissioner solcherart um den „comfort of complete self-deception“ (S. 97) gebracht wird und damit das Prestige einer Luzidität gewinnt, die den übrigen Romanfiguren abgeht, schließt das freilich kaum ein, daß er auch in der Sache selbst ihren ,moralischen Nihilismus‘ überwindet. Das eigentliche Handeln unterscheidet ihn von seinem Chefinspektor lediglich durch die besondere Art des Opportunismus: orientiert sich Heat vor allem an speziell beruflichen Zweckmäßigkeiten, so achtet der Assistant Commissioner in erster Linie auf die gesellschaftliche Integration und Integrität seiner Ehe. Dank dieser Rücksichtnahme gelangt er am Ende zur tendenziellen Äquivalenz nicht nur mit dem Chief Inspector, sondern geradezu mit Adolf Verloc, dem es ja ebenso vorrangig um die Bewahrung häuslicher Sicherheit und Ruhe geht, als er sich notgedrungen auf den Attentatsplan der Botschaft einläßt.
In der Tendenz zu solcher Gleichwertigkeit zwischen Detektiven und Detegierten, die auch andere Momente der Erzählung unterstreichen [27] , erreicht der Anti-Kriminalroman im Secret Agent seine extreme Pointe. Sie macht die Hüter der Ordnung nicht mehr zum leuchtenden Gegenbild ihrer Feinde, sondern insinuiert zwischen den nach allen Regeln der Konvention essentiell getrennten Gruppen eine spiegelbildliche Ähnlichkeit. Damit wird aus dem Gegensatz von Kontrahenten, welcher im Kriminalroman die sinnerfüllte Finalität des Handlungs- und Aufklärungsverlaufs stiftet, gleichsam eine ‚opposition creuse‘, wie sie etwa in Madame Bovary die bloß scheinbare Konfrontation des Klerikers Bournisien und des Laizisten Homais bildete. Sie läßt den Sinn der Detektion in einer Affäre, bei der die Zerstörung ja von den staatlichen Organen selbst ihren Ausgang nimmt, von vornherein verschwimmen, ohne ihn an irgendeiner Stelle durch eine unbeschädigt zur Identifikation einladende Detektivgestalt auch nur ansatzweise zu restituieren. Statt Sinn, Moral und Ordnung zu garantieren, haben sich die Detektive hier selber – mehr oder weniger bewußt – im universalen Labyrinth der Interessen verloren und erscheinen nunmehr als dessen Teil, wo sie sonst als dessen Erforscher und Aufklärer gelten dürfen.
Dabei spricht für die Schärfe der gesellschaftlichen Einsicht, welche Conrads Roman vermittelt, das allgemeinste Motiv, mit dem er die trübe Äquivalenz seiner ordnungschützenden oder ordnungstörenden Figuren erklärt. Es ist paradoxerweise gerade in der Besonderheit und Ich-Bezogenheit ihrer jeweils fragmentarischen Rationalität zu sehen. Denn daß die Romanfiguren auf ihre Weise rational – d. h. zweckmäßig im Sinn eines partikularen Ziels – handeln, kann kaum bezweifelt werden: Mrs. Verloc agiert konsequent nach den Bedürfnissen ihrer geschwisterlichen Liebe; Mr. Verlor hat neben der eigenen die häusliche und gesellschaftliche Ruhe und Bequemlichkeit im Auge; der (russische oder habsburgische) Diplomat Mr. Vladimir möchte auf die weitreichenden Gefahren des Anarchismus aufmerksam machen und erkennt – keineswegs begriffsstutzig – in der Wissenschaft den „sacrosanct fetish“ der bürgerlichen „middle classes“ (vgl. S. 34ff.); der anarchistische ;,Professor“ treibt den Kampf gegen die sozialen Konventionen bis zum logischen Endpunkt des „Exterminate, exterminate!“ (vgl. S. 243), wobei ihm ganz folgerichtig der so hilflose wie vertrauensvolle Stevie als erster zum Opfer fällt; Chief Inspector Heat setzt über alles die Effizienz polizeilicher Kontrolle, während der Assistant Commissioner bei der Auseinandersetzung mit Heat energisch die „self-preservation“ seiner Amts- und Familienautorität verfolgt. All diese partikularen Ziele trennen und isolieren nun nicht nur die Individuen, sondern mehr noch die autonom gewordenen Teile und Funktionen des gesellschaftlichen Ganzen. Sie ergeben, wie Avrom Fleishman richtig bemerkt hat, „a vision of the modern world in a state of fragmentation – as if by explosion. It is an ironic vision because Conrad’s fundamental social value was the organic community, while the present status of men is that of isolation from each other, alienation from the social whole, and, in consequence, loneliness and self-destruction“ [28] .
Eben weil Individuen und soziale Funktionen ihre jeweils autonome und – vom Ganzen her gesehen – partielle Raison beanspruchen, werden sie zugleich auf abstrakte Art äquivalent und (in einem tieferen Sinn, mit dem auch die ironische Erzählhaltung zu tun hat) gleich-gültig. Jedenfalls ist jenseits der Partikularität ihrer Motive und Zwecke kein verbindender Wert mehr auszumachen, der einigermaßen evident über die Legitimität der inhaltlich verschiedenen und doch formal identischen Ansprüche entscheiden könnte: auch die Detektive sind dem System fragmentierter, berufs- und klassenspezifischer Rationalität ja ebenso real anheimgegeben wie die anderen Gestalten, die ihnen im Detektivroman – zur Ausübung von Analyse und Rechtspflege – fiktiv untergeordnet blieben. Entbehrt die Zweckrationalität der arbeitsteiligen Gesellschaft solcherart der Illusion einer höheren Instanz, gibt sie beunruhigend den Anteil an Irrationalität zu erkennen, welche das Ensemble selbständiger Organisationen und ichbezogener Subjekte nicht zu bannen vermag; das vermeintlich geordnete System zeigt sich als menschenverschlingendes Labyrinth, aus dem bestenfalls der Zufall einen Ausweg findet. Unter diesem Aspekt hat es seine Bedeutung, wenn am Anfang wie am Schluß des Romans, im zweiten und im dreizehnten Kapitel, lange von der Wissenschaft die Rede ist. Das Konzept „Science“ übernimmt damit für die Erzählung eine ähnliche ideologische Rahmenfunktion wie in den beiden frühen Conan-Doyle-Romanen A Study in Scarlet und The Sign of Four, die zu Beginn die Detektion als Inbegriff einer ordnung- und systembewahrenden „Science of Deduction“ präsentierten. Nur ist ihr Verhältnis zur erzählten Geschichte jetzt umgekehrt. Statt harmonisch ein Exempel zu erstellen, endet die Geschichte bei der Falsifikation des Konzepts, welche Ossipons „Science reigns already“ (S. 244) mit Winnie Verlocs „act of madness or despair“ widerlegt. Wie oft in moderner Literatur, sind es gerade die marginalsten oder unscheinbarsten Gestalten, auf deren dunkle Lakonismen in dieser Welt sich wechselseitig widerlegender und vereitelnder Rationalitäten noch am meisten Verlaß zu sein scheint, und so bleiben am Ende Stevies Erkenntnis „Bad world for poor people“ (S. 143) und die Überzeugung des „Professor“ „Mankind [...] does not know what it wants“ (S. 245) als die einzigen Auskünfte zurück, die – zwar trostlos, aber nicht offenkundig falsch – vor dem Gang der Ereignisse in The Secret Agent halbwegs bestehen können.
1 Vgl. Hühn, P.: „Zu den Gründen für die Popularität des Detektivromans“, in: Arcadia 12 (1977), 273–296.
2 Vgl. Schulz-Buschhaus, U.: „Soziologische Aspekte der Entwicklung des Kriminalromans“, in: Sociologia Internationalis 17 (1979), 175–190, bes. 185.
3 Diesen auf den ersten Blick kuriosen, doch überaus treffenden Begriff verdanken wir: Ludwig, A.: „Die Kriminaldichtung und ihre Träger“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 18 (1930), 57–71, 123–135.
4 Die traditions- und schulbildende Rolle dieses Romans, die schon von Carr, J. D., in der „Locked-Room Lecture“ seines Hollow Man (1935) hervorgehoben wurde (vgl. The Hollow Man, Harmondsworth, Penguin Books, 1963, 186–199, bes. 190f.), ist neuerdings auch durch Christie, A.: An Autobiography, Glasgow (Fontana-Collins) 31980, 216f. und 263 nachdrücklich bestätigt worden.
5 Vgl. dazu Schulz-Buschhaus, U.: Formen und Ideologien des Kriminalromans, Frankfurt a. M. 1975, 106–122, bes. 113ff.
6 Vgl. Hudde, H.: „Das Scheitern des Detektivs“, in: Romanistisches Jahrbuch 29 (1978), 322–342.
7 Vgl. dazu Mölk, U.: „Vom Detektivroman zum Noveau [sic!] Roman“, in: Giessener Universitätsblätter 1 (1968), 40–51.
8 Sciascia, L.: A ciascuno il suo, Torino (Einaudi) 1971, 1. Aufl. 1966, 53.
9 Vgl. zu dem Realismuskonzept, das diesem Verfahren zugrunde liegt und einen Großteil spezifisch ‚moderner‘ Literatur bestimmt, den scharfsinnigen Aufsatz von Eibl K.: „‚Realismus‘ als Widerlegung von Literatur“, in: Poetica 6 (1974), 456–467.
10 Cox, C. B.: Joseph Conrad – The Modern Imagination, London – Totowa, N. J. 1974, 85f.
11 Vgl. Guérard, A. J.: Conrad the Novelist, Harvard UP 1958, 220, sowie 228 und 231.
12 Zitiert nach: Conrad: The Secret Agent – A. Casebook, edit. by I. Watt, London 1973, 50.
13 Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf die leicht zugängliche Taschenbuchausgabe: Conrad, J.: The Secret Agent, Harmondsworth (Penguin Modern Classics) 1980.
14 Conrad, J.: Under Western Eyes, Harmondsworth (Penguin Modern Classics) 1971, 35.
15 Vgl. Daleski, H. M.: Joseph Conrad – The Way of Dispossession, London 1977, 153f.
16 Vgl. ebd. 146.
17 Vgl. Cox, C. B.: a. a. O. 99: „The truth Seen by the narrator is that human forms of identity are self-created illusion, and knowledge of their real death-in-life condition destroys Verloc, Winnie and Ossipon.“
18 Sonderbarerweise ist mir bei der Durchsicht der umfangreichen Conrad-Literatur nur ein einziger Hinweis auf diese Analogie begegnet. Jeremy Hawthorn, der die Aspekte von Sprachskepsis bei Conrad unterstreicht, zitiert aus einem Brief an Cunninghame Graham vom 14. Januar 1898 („Half the words we use have no meaning whatever and of the other half each man understands each word after the fashion of his own folly and conceit. Faith is a myth and beliefs shift like mists on the shore; thoughts vanish; words, once pronounced, die [...]“) und fühlt sich durch ihn an ein „play by Pirandello“ erinnert. Vgl. Hawthorn, J.: Joseph Conrad – Language and Fictional Self-Consciousness, London 1979, 15.
19 Vgl. dagegen etwa Thorburn, D.: Conrad’s Romanticism, Yale UP 1974, oder Burkhart, C.: „Conrad the Victorian“, in: English Literature in Transition 6 (1963), 1–8.
20 So befindet schon die unfreundliche Rezension in der Zeitschrift „Country Life“ vom 21. September 1907: „The characters of the Assistant Commissioner, the Inspector of Police, and the Minister [...] are all unnecessary to the picture, and might have been left out [...] to very great advantage“ (zitiert nach: Conrad: The Secret Agent – A Casebook, a. a. O. 53). Ähnlich urteilen noch Baines, J. (Joseph Conrad – A Critical Biography, London 1960, 340) und vor allem Tillyard, E. M. W. („The Secret Agent Reconsidered“, in: Essays in Criticism 11, 1961, 309–318).
21 Vgl. Conrad: The Secret Agent – A Casebook, a. a. O. 143: „What one misses in The Secret Agent is some dramatic principle of contradiction, some force of resistance; in a word, a moral positive to serve literary ends“ (Das Urteil ist der 1957 publizierten Studie Politics and the Novel entnommen).
22 Mit Recht konstatiert Daleski, H. M. (a. a. O. 170) diesbezüglich: „The Chief Inspector [...] has a vested interest in the darkness.“
23 Guérard, A. J.: a. a. O. 223.
24 Vgl. ebd. 224ff. In die gleiche Richtung gehen auch die Interpretationen Tillyards (a. a. O. 315), der den Assistant Commissioner von der Ironie des Erzählers ausgenommen sieht, oder Hawthorns (a. a. O. 92f.), wo der Detektiv als verläßlicher Statthalter der Conradschen Sprachskepsis erscheint.
25 Zu ihrer Bedeutung für Poes ‚Tales of Ratiocination‘ vgl. Schulz-Buschhaus, U.: Formen und Ideologien des Kriminalromans, a. a. O. 7f.
26 Vgl. Daleski, H. M.: a. a. O. 167ff.
27 Vgl. dazu Cox, C. B.: a. a. O. 94.
28 Fleishman, A.: Conrad’s Politics – Community and Anarchy in the Fiction of Joseph Conrad, Johns Hopkins P. 1967, 188f.
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