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Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:usb-063-46 | Druckversion | Metadaten
Quelle: Romanistik Integrativ. Festschrift für W. Pollak, hgg. W. Bandhauer/R. Tanzmeister, Wien, Braumüller, 1985 (Wiener romanistische Arbeiten, 13), S. 505–519.
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Quelle: Romanistik Integrativ. Festschrift für W. Pollak, hgg. W. Bandhauer/R. Tanzmeister, Wien, Braumüller, 1985 (Wiener romanistische Arbeiten, 13), S. 505–519.
Joseph Conrads The Secret Agent oder der Anti-Kriminalroman
Für den Erfolg des Kriminalromans, die vielleicht populärste
Literaturgattung des 20. Jahrhunderts, gibt es viele Gründe
[1]
. Ein zentrales Motiv stellt ohne Zweifel sein abenteuerlicher Charakter
dar: im bürgerlichen Rechtsstaat, der den Organen seiner Exekutive das
Gewaltmonopol verleiht, kann die Materie der alten Abenteuerepik gleichsam
offiziell allein in der polizeilichen oder – allgemeiner – detektivischen
Verbrechensbekämpfung fortdauern. Wie besonders die Taten des Kommissars Maigret
belegen, bleibt die Aktivität eines Polizeidetektivs strenggenommen der einzige
literarische Ort, an dem die Handlungsarmut des Berufsbürgers noch legitim und
sozusagen systemgerecht die Ausnahme von Ereignissen gestattet, welche auch
Abenteuer sein dürfen
[2]
.
Ein weiterer Grund besteht in dem Umstand, daß sich die Abenteuer
dieses Romantyps mit einer Geheimnisspannung verbinden, die alle früheren Formen
des Mystery Novel übertrifft. Sie richtet das Interesse der Leser nicht nur auf
die Frage, ob und wie das Böse besiegt, sondern mehr noch auf das Problem, wo es
gefunden und identifiziert werden kann. Eine solche Spannungssteigerung gibt dem
Kriminalroman zugleich die Möglichkeit, sein Happy Ending zu potenzieren. Da es
neben der Bosheit auch jede Falschheit, Verwirrung und Ignoranz vernichtet,
restituiert es regelmäßig die rechte Ordnung der Erkenntnis nicht weniger als
die der Moral.
Ebendiese Potenzierung des Happy Ending weist dem Kriminalroman im
Gesamtrepertoire moderner Literatur nun aber eine Position zu, welche in
gewisser Weise einzigartig ist. Er präsentiert sich als Erzählform, die ein
Ensemble ebenso ingeniöser wie artifizieller Mittel vorzüglich zu dem Zweck
einsetzt, das Leserpublikum auf möglichst unterhaltsam überzeugende Art zu
beruhigen. Gewiß war die Beruhigung von Ängsten seit alters her das – keineswegs
zu verachtende – Ziel jeglicher Unterhaltungsliteratur, deren ‚gutes Ende‘ die
Wirklichkeit noch immer so zu verklären wußte, daß sie ein wenngleich
bescheidenes Glücksversprechen hergab. Im idealtypischen Kriminalroman hat sich
der Effekt von Versöhnung jedoch entscheidend vervollkommnet. Dabei liegt das
Wesentliche dieser Wirkung darin, daß spätestens mit Conan Doyles
Sherlock-Holmes-Geschichten die Überwindung des Übels und die Identifikation des
Täters (bzw. der Täter) eins wurden.
Indem beides zusammenfällt, erscheint das Böse so emphatisch
personalisiert wie nie zuvor. Es bedroht die Ordnung der Gesellschaft, während
es anonym bleibt; sobald es dagegen zum Schluß der Erzählung mit einem Namen
versehen werden kann, ist der Moment des Triumphes erreicht, das Rätsel gelöst
und die Welt gesichert. Das soziale Bild, das zumindest der sogenannte
,klassische‘ Detektivroman vermittelt und bestärkt, ist folglich ein Bild
dauernder Stabilität. Zwar wird sie immer wieder gestört; doch macht keine
Störung mehr als eine Episode aus, an deren Ende die Ordnung jeweils gereinigt
in ihre Rechte zurücktritt. Nimmt man den Roman beim Wort, bedeutet ihre
Reinigung sogar auch ihre unablässige Perfektionierung; denn mit jedem Täter,
der namentlich identifiziert und überführt wird, ist ja ein weiteres
(residuales) Element des Bösen beseitigt. Jedenfalls funktioniert der
Erzählapparat von Störung und Ordnung, Spannung und Lösung, welcher den
idealtypischen Kriminalroman konstituiert, nur unter der impliziten
ideologischen Voraussetzung, daß nach der Ausgliederung des verbrecherischen
Täters eine um eben jene Ausgliederung gereinigte, befriedete und
fortgeschrittene Gesellschaft von gesetzestreuen Nicht-Tätern in nunmehr
stabilerer Harmonie fortlebt.
Indessen bliebe der beruhigende Eindruck solcher Stabilität
unvollkommen, wenn der Kriminalroman nicht auch die Illusion ihrer letztendlich
unproblematischen Herstellbarkeit erzeugen würde. Als ihr Hauptagent wirkt der
detektivische „Scharfsinnsheld“
[3]
. Indem er den zunächst unheimlichen Dingen auf den Grund geht, bringt er
sie nicht bloß in Ordnung, sondern demonstriert exemplarisch die grundsätzliche
Transparenz aller irdischen Verhältnisse. Wie die Ordnung nur episodisch gestört
wird, ist auch diese Transparenz lediglich vorübergehend zu verdecken. Auf
längere Sicht dagegen muß sich jede Verschleierung vor der Detektion auflösen,
umso mehr als die Tätigkeit des Detektivs von Conan Doyle in der „Science of
Deduction“ zum Inbegriff fachwissenschaftlicher Analyse stilisiert wurde. Damit
entsteht eine gewissermaßen prästabilierte Harmonie von Erkenntnis und Moral. Wo
immer die Stabilität des Gesellschaftssystems bedroht ist, kommt ihr die
Wissenschaft zu Hilfe, um durch treffendes Raisonnement gleichzeitig das
Rätselhafte zu erhellen und das Böse zu eliminieren. Derart führt die Erledigung
der Whodunit-Frage, in der alle Spannungslinien des Detective Novel
zusammenlaufen, zu einem sowohl soziologischen als auch gnoseologischen
Optimismus. Er setzt auf den stillen, quasi geschichtslosen Fortschritt, wie ihn
die erfolgreiche Aufklärungsarbeit des Detektivs und seiner „Science of
Deduction“ unwandelbar zu garantieren scheint.
II
Versucht man, die Entwicklung des Kriminalromans nach der
Sherlock-Holmes-Serie zu resümieren, läßt sich die unterschiedliche Position zu
dem optimistischen Weltbild, das seinem Gattungsmodell anhaftet, als geeignetes
Kriterium für eine grobe Typologie verwenden. Auf der einen Seite wird die
beruhigende Wirkung, die das Genus verbreitet, kunstvoll gesteigert, indem die
Autoren der episodischen Verrätselung ihrer Romanwelt eine Wendung ins extrem
Paradoxe geben. Je exzessiver das Rätsel und damit die zeitweilige Verfremdung
vertrauter Ordnungen sich zuspitzt, umso eklatanter kann auch die Enträtselung
wirken, welche die Ordnung bürgerlicher Rationalität gleichsam mit einem
Knalleffekt bestätigt und verstärkt. In eine solche Entwicklungslinie, deren
Prototyp wohl das Mystère de la chambre jaune von Gaston
Leroux darstellt
[4]
, gehören etwa zahlreiche Detective Novels der zwanziger und dreißiger
Jahre, allen voran die Romane der Agatha Christie.
Auf der anderen Seite steht die Bemühung um einen Kriminalroman mit
kritisch-realistischen Zügen. Sie impliziert in erster Linie die Korrektur oder
wenigstens Modifikation seines affirmativen Bestätigungscharakters. Dazu tragen
beispielsweise die moralischen Problematisierungen des Happy Ending bei, wie sie
Dorothy L. Sayers in Gaudy Night oder Busman’s Honeymoon anstellt
[5]
. Wird in ihnen die ethische Legitimation des Verfolgens und Strafens mit
einem Fragezeichen versehen, so bleibt doch die Wirksamkeit der Detektion selbst
noch außer Zweifel. Damit die Prämissen grundsätzlicher Stabilität und
Transparenz, die sie voraussetzt, fraglich werden, muß ihr Protagonist, der
Garant von Wahrheit und Sekurität, seine insgesamt märchenhafte Unfehlbarkeit
einbüßen, d. h.: der Detektiv muß bei der bislang meist ungetrübt triumphalen
Aufklärungsarbeit das Erlebnis seiner Grenzen, des Versagens und Scheiterns
machen. In der Tat zeigt sich daher das „Scheitern des Detektivs“ – wie Hinrich
Hudde in einem interessanten Aufsatz belegt hat
[6]
– als ein zentrales Thema moderner und modernster Kriminalliteratur. Es
taucht in einigen labyrinthischen Erzählungen bei Borges auf, z. B. in La muerte y la brújula, und prägt mehrere Kurzromane
Dürrenmatts sowie Robbe-Grillets Les gommes
[7]
. Am intensivsten wird es vielleicht von Leonardo Sciascia gestaltet, der
seine Detektive nicht nur scheitern, ja sterben läßt, sondern auch ihre
Erkenntnismöglichkeiten programmatisch beschneidet, was der Erzählerkommentar in
A ciascuno il suo einmal folgendermaßen erläutert:
[8]
Che un delitto si offra agli inquirenti come un quadro i cui
elementi materiali e, per cosí dire, stilistici consentano, se sottilmente
reperiti e analizzati, una sicura attribuzione, è corollario di tutti quei
romanzi polizieschi cui buona parte dell’umanità si abbevera. Nella realtà le
cose stanno però diversamente: e i coefficienti dell’impunità e dell’errore sono
alti non perché (o non soltanto, o non sempre) è basso l’intelletto degli
inquirenti, ma perché gli elementi che un delitto offre sono di solito
assolutamente insufficienti. Un delitto, diciamo, commesso o organizzato da
gente che ha tutta la buona volontà di contribuire a tenere alto il coefficiente
di impunità.
Gli elementi che portano a risolvere i delitti che si presentano
con carattere di mistero o di gratuità sono la confidenza
diciamo professionale, la delazione anonima, il caso. E un po’, soltanto un po’,
l’acutezza degli inquirenti.
Wenn der Scharfsinn des Analytikers vor der Undurchschaubarkeit der
Welt und dem Widerstand omnipräsent gewordener Kriminalität seine Effizienz
verliert, verwandelt sich der Kriminalroman indessen in eine Art
Anti-Kriminalroman. Er zitiert die Schemata des Gattungsmodells sozusagen an, um
ihre Sekuritätsbeteuerungen enttäuschend und verunsichernd zu falsifizieren
[9]
. Nun ist dieser Anti-Kriminalroman aber nicht allein eine Domäne neuerer
Erzählströmungen, wie sie anhand des Nouveau Roman auch im während des
Wintersemesters 1978/79 gemeinsam mit Wolfgang Pollak veranstalteten Wiener
Kriminalroman-Seminar ausführlich zur Sprache kamen. Es gibt ihn in nuce bereits
zur Zeit des frühen Detective Novel, und als eines seiner eindrucksvollsten
Exemplare kann ein überaus beunruhigender Text gelten, der im erwähnten Seminar,
das ja speziell dem Französischen gewidmet war, verständlicherweise nicht
erwähnt wurde und der doch, wo die ideologische Problematik des
kriminalistischen Genres zur Debatte steht, einige Aufmerksamkeit verdient:
Joseph Conrads 1907 veröffentlichter „Simple Tale“ The Secret
Agent. Ihn möchte ich im folgenden zum Gegenstand einer Betrachtung
machen, die einerseits – gewissermaßen als Postille zu den Wiener Diskussionen –
die Eigentümlichkeit des Kriminalromans schärfer profilieren soll, andererseits
– von einem ungewöhnlichen Point de Vue aus – am Ende auch das Verständnis von
Conrads Schreibweise und Erzählkonstruktion um ein paar neue Aspekte bereichern
mag.
III
Der Secret Agent ist entstanden im Kontext eines
um die Jahrhundertwende verbreiteten Romaninteresses für die anarchistische
Bewegung und ihre spektakulären Attentate. Außer bei Conrad, in dessen Werk
ebenfalls an das wenig spätere Under Western Eyes zu
denken wäre, wird es etwa noch durch The Princess of
Casamassima von Henry James oder den Roman Paris
aus den Trois Villes von Emile Zola dokumentiert. Bei
einer solchen Thematik, welche die Konflikte zwischen Zerstörung und Schutz des
gesellschaftlichen Systems zur Sprache bringt, liegt die Affinität zum
Kriminalroman begreiflicherweise schon von der Sache her nahe, und tatsächlich
läßt sich die Handlung des Romans zumindest in einigen wichtigen Momenten – dem
mißglückten Bombenattentat des indolenten Geheimagenten Verloc, dem dadurch
herbeigeführten Tod seines schwachsinnigen Schwagers Stevie, den Untersuchungen
des Chief Inspector und des Assistant Commissioner – durchaus als die eines
Detective Novel beschreiben. So resümiert beispielsweise C. B. Cox in seiner
vorzüglichen Conrad-Monographie den (freilich von vornherein gleichsam in
Parenthese gesetzten) detektivischen Aspekt der Erzählung: „The action takes on
the character of a parody of the conventional detective thriller. On the surface
this is a story of a strange explosion at Greenwich Observatory whose mysteries
are solved by the clever Assistant Commissioner, a born detective in the
tradition of Sherlock Holmes [...]. Suspense is aroused because we at first
believe Verloc is dead, and only later do we discover that it was Stevie who
dropped the bomb and so blew himself up. The problem is solved by the discovery
of Stevie’s name an the shred of collar picked up with his remains, and by the
Assistant Commissioner’s visit to Verloc’s shop, in a suitable disguise“
[10]
. Ohne ihn wie Cox einzuklammern, rückte Albert J. Guérard – in einer
mittlerweile ,klassischen‘, doch entschieden weniger vorzüglichen
Conrad-Monographie – den kriminalistischen Plot allen Ernstes in den
Vordergrund. Für ihn ist nicht nur das fünfte Kapitel, wo die Erzählperspektive
im Augenblick äußerster Spannung den polizeilichen Ermittlungen zu folgen
beginnt, „excellent detective fiction“, sondern der gesamte Roman – „this
entertaining and easy book“ – bedeutet ihm kaum etwas anderes als die direkte
Antizipation des etliche Dezennien später florierenden ,psycho-politischen‘
Thrillers im Stil etwa von Graham Greene: „The Secret
Agent [...] virtually created the genre of the serious psycho-political
mystery novel“
[11]
. Dabei mag man sich erinnern, daß bereits die ersten Pressestimmen nach
der Publikation des „Simple Tale“ einigermaßen irritiert auf die
‚kolportagehaften‘ Züge seiner Handlung reagierten; denn – wie die New Yorker
Nation am 26. September 1907 schrieb: „The incidents
are bomb throwing, murder, and suicide – the raw stuff of a shilling shocker“
[12]
.
Nun hat aber Cox zweifellos recht, wenn er den treffend resümierten
kriminalistischen Plot ‚auf der Oberfläche‘ der Geschichte fixiert. Er ist
nämlich eingelagert in einen zugleich kontrastierenden und komplementären
Handlungskomplex, den der Assistant Commissioner einmal mit dem Begriff „a
domestic drama“ (S. 181)
[13]
belegt. Dies „domestic drama“, das die ,Staatsaktion‘ begleitet,
durchwirkt und überdauert, nimmt indes einen Verlauf, dessen tragisches Ende dem
Optimismus detektivischer Aufklärungen diametral entgegengesetzt ist. Es geht
von einem Zustand höchst prekärer Ruhe aus, in dem die scheinbar befriedete
Existenz des Ehepaares Verloc im wesentlichen auf wechselseitiger Ignoranz, auf
Mißverständnissen und habitualisierten Lügen beruht, einem Beispiel jener
notwendigen und lebenssichernden Inauthentizität also, von der es in Under Western Eyes heißen wird: „A train of thought is
never false. The falsehood lies deep in the necessities of existence“
[14]
. Dazu gehört, daß unter den Hauptakteuren des „Drama“ – wie H. M. Daleski
vermerkt
[15]
– jeder über die Motive und Interessen des anderen im Dunklen bleibt.
Winnie Verloc weiß nichts von der Agententätigkeit ihres Mannes, weshalb sie in
ihrer obsessiven, ‚militanten‘ Liebe (vgl. S. 200) zum schutzbedürftigen Bruder
keine Bedenken hat, Stevie und Mr. Verloc – „‚Might be father and son‘, she said
to herself“ (S. 154) – zu gemeinsamen Unternehmungen anzuhalten; noch weniger
ahnt sie, daß ihr Opfermut, dessen Zweck die Sicherheit des Bruders ist,
gegenüber Adolf Verloc, der dabei zum bloßen Mittel degradiert wird, im Grunde
Täuschung und Ausbeutung bedeutet
[16]
; schließlich durchschaut sie beim Auszug der Mutter nicht einmal die
Beweggründe einer Aktion, die dem eigenen Verhalten im Ziel immerhin verwandt
ist. Solche Dumpfheit darf, wie immer wieder durch leitmotivische Wendungen
betont wird, keinesfalls als einfache kognitive Beschränkung gelten; vielmehr
entspringt sie dem halb bewußten Willen dunkler, egoistischer Vitalität: „She
felt profoundly that things do not stand much looking into. She made her force
and her wisdom of that instinct“ (S. 147).
Umgekehrt geht es Adolf Verloc, den sein eigener Egoismus gefangenhält,
mit Winnie nicht anders. Wie er sich selbst, eine Mission zum Schutz der
Gesellschaft zuschreibt, unterlegt er Mrs. Verloc eine eheliche Neigung, die ihn
als Person und nicht als bloßes Instrument der familiären Sicherheit betrachtet
(vgl. S. 232). Auch hier wirkt das vitale Bedürfnis, ein heikles Gleichgewicht,
selbst wenn es im Unverständlichen gründet, vor den Gefährdungen durch
eventuelle Analysen zu bewahren. So erscheint Winnie Verloc dem Geheimagenten
wohl geheimnisvoll, „with the mysteriousness of living beings“ (S. 149). Doch
lautet darauf der nächste, pointiert ironische Satz, der Mr. und Mrs. Verloc im
Punkte des kalkulierten Nichtverstehens gleichordnet: „The far-famed secret
agent Δ of the late Baron Stott-Wartenheim’s alarmist dispatches was not the man
to break into such mysteries. He was easily intimidated.“
Dies Nichtverstehen, das mit dialektischer Pointe die Voraussetzung
gemeinsamen Lebens – einer „existence [...] admirable in the continuity of
feeling and tenacity of purpose“ (S. 198) – abgibt, explodiert gleichsam in den
letzten Kapiteln des Romans, als Winnie Verloc vom Tod ihres Bruders erfährt und
den Zusammenbruch ihrer Identitätskonstruktion erlebt. Zumal im elften und
zwölften Kapitel – bei Adolf Verlocs Ermordung und Winnie Verlocs Fluchtversuch
– nehmen jene Mißverständnisse, die bis dahin das Zusammenleben gesichert
hatten, eine Wendung ins Aggressiv-Katastrophale. Während der „excellent husband
of Winnie Verloc“ (S. 195) die ‚Schrift an der Wand‘ übersieht und nichts von
der Krise seiner Frau bemerkt (vgl. S. 211), verwandelt er sich für Winnie in
einen vorsätzlichen Mörder: „He took the boy away from me to murder him!“
(S. 200). Die schneidende Verfehlung jeglicher Kommunikation erreicht ihren
Höhepunkt dann in Winnies Begegnung mit dem ‚Genossen‘ Ossipon. Einerseits
verfällt hier selbst das Wissenschaftsethos des ehemaligen Medizinstudenten der
diffusen Erkenntnisangst der übrigen Gestalten und wird in immer neue Schrecken
gejagt; andererseits deutet die panisch geängstigte Winnie gerade Ossipons
Schreckensäußerungen als fälschlich beruhigende Signale der Liebe, „full of
force and tenderness“ (S. 238). Zur Wahrheit gelangen die Akteure dieser Kapitel
allein durch Tod oder Identitätsverlust:
[17]
Verloc im Moment der Ermordung, indem er mit dem „flavour of death“
zugleich „the full meaning of the portent“ wahrnimmt (vgl. S. 212); Mrs. Verloc
in der Einsamkeit ihres Selbstmords; Ossipon bei der Offenbarung von „madness
and despair“, die jenseits der Übereinkünfte von Wissenschaft und Fortschritt –
als „heart of darkness“ sozusagen – das letzte Wort behalten.
IV
Im „domestic drama“ unseres Anti-Kriminalromans wirken demnach einige
Motive, die dem Betrachter der Literatur um die Jahrhundertwende nicht
unvertraut sind: die solipsistische Vereinzelung der Individuen führt zu
universaler Verkennung und zum Scheitern aller Kommunikation; Identitäten
erweisen sich als Ergebnisse bewußter Konstruktion oder unbewußter Illusion; das
Leben scheint unauflöslich mit der Lüge verbunden, während die Wahrheit den Tod
enthält; die Wissenschaft, die der Diplomat Mr. Vladimir als den „sacrosanct
fetish of today“ erachtet (S. 34) und die ‚Genosse‘ Ossipon in der Tat als
Richtschnur seines Lebens nimmt, prägt lediglich die Oberfläche des Bewußtseins
und vermag nichts gegen ‚Wahn und Verzweiflung‘ der Tiefe. Diese Themen
enthüllen vor allem eine ebenso evidente wie verblüffende Analogie zu der Welt
von Conrads italienischem Zeitgenossen Pirandello, mit dessen Novellen mehr noch
als mit den Romanen oder Dramen The Secret Agent sogar
gewisse formale Elemente, etwa die Multiperspektivik der verwirrenden
Szenenwechsel, gemein hat, ohne daß es sich dabei um direkte Einflüsse handeln
dürfte
[18]
. Sie belegen im Sinne von C. B. Cox die essentielle Modernität der
Conradschen Imagination und widersprechen dem reichlich forcierten Versuch, ihre
Besonderheit in der Perduranz romantischer oder viktorianischer Motive zu
bestimmen
[19]
.
Indessen müßten die erwähnten Themen der Sekurität des Detective Novel
dann nicht unbedingt opponieren, wenn im Labyrinth ihrer Verwicklungen jene
ordnende Interpretation auszumachen wäre, welche die verläßliche
Realitätsdeutung eines Detektivs zu präsentieren pflegt. Zwar bliebe das düstere
Geschick, in das Verlocs „domestic drama“ präzipitiert, auch dann noch tragisch;
doch ließe es sich auf den Begriff bringen oder sogar hilfreich und nutzbringend
als Verletzung einer konkreten sozialen Norm verstehen. Als ob Conrad diese
Möglichkeit habe andeuten wollen, widmet der Roman seinen speziell
detektivischen Szenen einen verhältnismäßig breiten Raum, der offenbar nicht
wenige Leser, die sich daraufhin über die fehlende Einheit der Romankomposition
beklagten, verwundert hat
[20]
. Betrachtet man die Polizeiepisoden genauer, wird jedoch deutlich, daß sie
eine doppelte Notwendigkeit besitzen, welche sowohl auf die Erzählstruktur als
auch paradoxerweise auf den beunruhigenden Sinn des Romans zu beziehen ist.
D. h.: jene Zerstörung überlieferter Sicherheit, die etwa Irving Howe an der
Negativität der Erzählung tadelt
[21]
, war erst dadurch zu vollenden, daß auch die Detektive als die
traditionellen Garanten gültiger Realitätsdeutung in ihrem
Interpretationsmonopol explizit verunsichert, in Frage gestellt und
kompromittiert wurden.
Unmittelbar einsichtig ist das bei der Figur des Chief Inspector Heat.
Er tritt – von vornherein ironisch relativiert – als der „eminent specialist“
(S. 76) auf. Daß seine prononciert berufsbürgerliche Spezialisierung
gleichzeitig Beschränktheit meint, zeigt bald ein offenkundiger ‚Mangel an
wahrer Klugheit‘ („true wisdom“), welcher sich in der eitlen Selbstsicherheit
seiner Prognosen zur Anarchistenszene äußert. Sie werden durch den Bombenunfall
bei Greenwich prompt ad absurdum geführt, weil es Heat widerstrebt, über den
Bereich letztlich opportunistischer Professionalität hinauszudenken. Was er
beherrscht, ist gewissermaßen die departementale Ratio der Polizei, eine Sphäre,
in der – mittels des „close-woven stuff of relations between the conspirator and
police“ (S. 76) – die Kontrolle funktioniert. In diese Sphäre passen
beispielsweise Eigentumsdelikte hinein, welche der berufsbürgerlichen
Rationalität sozusagen systemkonform – als wenngleich perverse Variante
zweckmäßiger Arbeit und Industrie – erscheinen wollen (S. 81f.):
Thieving was not a sheer absurdity. It was a form of human
industry, perverse indeed, but still an industry exercised in an industrious
world; it was work undertaken for the same reason as the work in potteries, in
coal mines, in fields, in tool-grinding shops. It was labour, whose practical
difference from the other forms of labour consisted in the nature of its risk,
which did not lie in ankylosis, or lead poisoning, or fire-damp, or gritty dust,
but in what may be briefly defined in its own special phraseology as ‚Seven
years hard‘.
Dagegen verlieren Heats Kontrolle und Planung ihre Macht, wenn
Außenseiter die Regeln des Spiels („the rules of the game“, S. 105)
durchbrechen, wie es der Chief Inspector beim Greenwich-Attentat erleben muß
(S. 77): „He admitted to himself that it was difficult to preserve one’s
reputation if rank outsiders were going to take a hand in the business.
Outsiders are the bane of the police as of other professions“.
Solche gleichsam fachfremden Außenseiter sind im aktuellen Fall Mr.
Vladimir, der durch Verlocs Erpressung in einer Mischung aus Ingeniosität und
Ignoranz die Affäre ins Rollen bringt, oder ein „Professor“ genannter Anarchist,
der – rücksichtslos zur Revolte und Destruktion entschlossen – an jedermann
seinen Sprengstoff verteilt; nicht aber Verloc, der – eher zufällige – Täter
selbst, den Heat seit langem als allseits kooperativen Spitzel kennt und
benutzt. Durch dieses System von Vertrautheit und Unvertrautheit, Nützlichkeit
und Schädlichkeit, weniger durch eine Logik methodischer Erkenntnis, läßt sich
der Chief Inspector dann bei seiner Enquête leiten. Wenn sie zu dem nachgerade
lächerlich harmlosen ,Marxisten‘ Michaelis führen soll, ist das begründet
ausschließlich in Erwägungen professioneller Opportunität. Sie verbieten, den
Spitzel Verloc zu kompromittieren; denn den betrachtet Heat – laut seinem
Konkurrenten, dem Assistant Commissioner – ja als „private property“ (S. 118)
von hohem beruflichen Nutzwert
[22]
. Noch mehr untersagen sie, den radikalen Anarchisten zu belästigen,
solange dieser außerhalb der „rules of the game“ verharrt und den Chief
Inspector mit tiefem Schrecken vor einer absurd anmutenden Revolte erfüllt. Wenn
sich der Hüter des Gesetzes und der Spielregeln stattdessen Michaelis zuwendet,
gibt dabei nicht zuletzt die Ratlosigkeit des lebenstüchtigen Bürgers angesichts
eines todbereiten Outsiders den Ausschlag: „Deep down in his blameless bosom of
an average married citizen, almost unconscious but potent nevertheless, the
dislike of being compelled by events to meddle with the desperate ferocity of
the Professor had its say“ (S. 105), und das umso mehr, als eine Begegnung mit
dem „Professor“ im dramatischsten Moment des fünften Kapitels dem Polizeibeamten
seine Unterlegenheit gegenüber jenem Destruktionswillen bewußt gemacht hat, der
die Demonstration äußerster Macht im Hohn auf alle sozialen Übereinkünfte sucht:
„The encounter did not leave behind with Chief Inspector Heat that satisfactory
sense of superiority the members of the police force get from the unofficial but
intimate side of their intercourse with the criminal classes, by which the
vanity of power is soothed, and the vulgar love of domination over our
fellow-creatures is flattered as worthily as it deserves“ (S. 105).
Eingeschränkt auf die Gesichtspunkte eines Opportunismus, der sich
allein nach den Zweckmäßigkeiten des Berufsinteresses richtet, hat also auch
Chief inspector Heat teil an dem ‚moralischen Nihilismus‘, der den ‚Secret
Agent‘ Verloc kennzeichnen soll, in Wahrheit aber das Stigma fast aller
Gestalten dieses Romans bildet. Eine solche Partizipation wird einmal durch die
geheime Zusammenarbeit zwischen Agent und Polizist angedeutet, zum anderen
ausdrücklich unterstrichen, wenn das Aussehen Verlocs, der seine
Agententätigkeit mit dem Unterhalt eines Ladens pornographischer Schriften und
hygienischer Artikel beschattet, charakterisiert ist durch ein „air of moral
nihilism common to keepers of gambling hells and disorderly houses; to private
detectives and inquiry agents; to drink sellers and, I should say, to the
sellers of invigorating electric belts and to the inventors of patent medicines“
(S. 21).
Diesen Niederungen der fragmentierten Moral, die Pornohändler, Spitzel
und Polizisten umfaßt, scheint der Assistant Commissioner, Heats Vorgesetzter
und Rivale, auf den ersten Blick enthoben zu sein. Dementsprechend hält ihn
Guérard ohne weitere Umstände für das Sprachrohr seines Autors, mit dessen Hilfe
die Erzählung Züge von einem Thesenroman annehme: „The novel [...] does express
certain strong and austere convictions, recognizably the author’s. The
convictions are simple and forcefully affirmed“
[23]
. Dabei kann sich Guérard vor allem auf eine gewisse Unangepaßtheit des
Assistant Commissioner berufen, deren romantischer Charakter durch die zweifache
Gleichsetzung mit einem „energetic“ bzw. „cool, reflective“ Don Quijote
hervorgehoben wird (vgl. S. 99 und 124). Sie soll seinem Wesen offenbar etwas
Anachronistisches verleihen; denn wir erfahren, daß Heats Vorgesetzter dem noch
handlungs- und abenteuerreicheren Dienst in den tropischen Kolonien entstammt
und daß ihm die von stärkerer Arbeitsteilung bestimmte Funktion in der
europäischen Metropole Unbehagen bereitet: „He did not like the work he had to
do now. He felt himself dependent on too many subordinates and too many masters“
(S. 88).
Mit solchem Unbehagen angesichts eines unentwirrbaren Netzes
professioneller Einschränkungen und Abhängigkeiten hat das Gefühl von Befreiung
zu tun, das der ehemalige Kolonialbeamte erfährt, als er sich allein und
incognito aufmacht, um Verlocs Geschäft in der Brett Street zu besuchen.
Zumindest für Augenblicke knüpft diese Exploration an die alte Abenteuerexistenz
an und realisiert jenes Vergnügen, welches auch der Idealtyp des Kriminalromans
seinen Protagonisten wie seinen Lesern zu verschaffen weiß: „The adventurous
head of the Special Crimes Department [...] felt light-hearted, as though he had
been ambushed all alone in a jungle many thousands of miles away from
departmental desks and official inkstands“ (S. 126). So sehr das möglicherweise
Conrads eigene Empfindungen in der Welt durchrationalisierter Verwaltung
wiedergeben mag, so deutlich wird andererseits aber, daß die abenteuerliche
Aktivität des Assistant Commissioner durchaus auch moralische Bedenken weckt.
Zwar suggeriert sie ihm ein „pleasurable feeling of independence“; doch ist die
Freiheit, die er dabei empfindet, zugleich ein „evil freedom“, verbunden mit dem
Verlust sozialer Identität und stimuliert durch eine ‚unmoralische Atmosphäre‘,
welche die betrügerische Gastronomie („an atmosphere of fraudulent cookery
mocking an abject mankind in the most pressing of its miserable necessities“)
eines italienischen Restaurants verbreitet: „In this immoral atmosphere the
Assistant Commissioner, reflecting upon his enterprise, seemed to lose some more
of his identity. He had a sense of loneliness, of evil freedom. It was rather
pleasant“ (S. 125).
Sollte hier – wie Guérard meint
[24]
– ein Conradsches Selbstporträt vorliegen, verfolgt es jedenfalls nicht
zuletzt den Eindruck einer Ambivalenz, die sich jeglicher Vorbildlichkeit
entzieht und auch den romantischen Widerspruch gegen die Rationalität der
Arbeitsteilung, welcher vielen frühen Detektiverzählungen zu eigen ist
[25]
, eher als Evasion denn als heroischen Protest darstellt. Dieser Ambivalenz
entspricht es gleichfalls, wenn der Assistant Commissioner zur Aufklärung des
Falles genaugenommen ja nur wenig beiträgt und im Grunde lediglich von einem
Zufall profitiert, jener Namensangabe auf Stevies Kragen, die überdies noch
Chief Inspector Heat entdeckte. Außerdem bildet die eindrucksvolle Tirade über
den negativen Effekt der Verwendung von Geheimagenten (vgl. S. 117), in der
Guérard die zentrale Botschaft des Romans zu erblicken glaubt, im Zusammenhang
des Gesprächs mit Sir Ethelred kaum mehr als ein opportunes
Argumentationselement bei dem Versuch, den in dieser Affäre lästig störenden
Chief Inspector vor dem gemeinsamen Vorgesetzten abzuwerten und aus der Enquête
zu eliminieren; daß sich der Assistant Commissioner hier keineswegs sehr loyal
verhält, hat etwa Daleski zu Recht betont
[26]
.
Indessen wird das Verhalten des detektivischen Helden nicht allein
durch gelegentliche Illoyalitäten und Unaufrichtigkeiten ins Zwielicht gerückt;
vielmehr fußen Interesse und Richtung seiner gesamten Detektion von Anfang an
auf einem falschen, ungehemmt den eigenen Nutzen kalkulierenden Bewußtsein, das
letzten Endes eigentlich bloß durch Zufall das Richtige trifft. In dieser
fraglosen Verfolgung des persönlichen Vorteils wirkt der Assistant Commissioner
geradezu wie eine Umkehrung der idealisierten Detektivfigur, wie wir sie aus den
zum Melodram tendierenden Kriminalromanen Emile Gaboriaus kennen. Dort sind der
Detektiv oder der Richter – beispielsweise Père Tabaret und M. Daburon in L’affaire Lerouge – immer wieder in einen scharfen
Konflikt zwischen öffentlich-moralischem und familiär-privatem Interesse
gestellt, den sie regelmäßig zugunsten der höheren und allgemeineren Norm
entscheiden. Dagegen läßt sich Conrads Assistant Commissioner allein von seinem
familiär-privaten Interesse leiten; denn – so konstatiert mit skeptischer Ironie
der Erzähler –: „The instinct of self-preservation was strong within him“
(S. 98). Wenn der ranghöchste Detektiv des Romans die Untersuchung in andere
Richtungen als die vom Chief Inspector intendierte lenkt, liegt sein Motiv in
dem Wunsch, eine bestimmte Person – eben den friedfertig schriftstellernden
Sozialrevolutionär Michaelis – ähnlich zu schonen, wie Heat aus Gründen von
„self-preservation“ und Berufsroutine den „Professor“ oder Verloc begünstigen
möchte. Michaelis ist nämlich der Protégé einer mächtigen aristokratischen
Gönnerin, die wiederum mit der etwas kapriziösen Ehefrau des Assistant
Commissioner befreundet ist und einen heilsam stabilisierenden Einfluß auf
dessen Ehe ausübt. Michaelis aus dem Spiel zu halten, bedeutet für den Detektiv
demnach keinen Akt der Erkenntnis oder der Humanität, sondern gehört zu einer
Strategie der Selbstbewahrung, die vor allem um das Wohlwollen einer
einflußreichen Bekannten besorgt ist (S. 97):
The Assistant Commissioner made a reflection extremely unbecoming
his official position without being really creditable to his humanity. ‚If the
fellow is laid hold of again‘, he thought, ‚she will never forgive me‘.
Gewiß legt der Erzähler gleichfalls Wert auf die Feststellung, daß
diesen Opportunismus beim Assistant Commissioner eine klarsichtige Bereitschaft
zur Selbstkritik begleitet. Sie erwächst, wie betont wird, aus seiner
Unangepaßtheit, d. h. aus einem offenbar folgenreichen Mangel an Übereinstimmung
zwischen Charakter und Beruf. Wenn der Assistant Commissioner solcherart um den
„comfort of complete self-deception“ (S. 97) gebracht wird und damit das
Prestige einer Luzidität gewinnt, die den übrigen Romanfiguren abgeht, schließt
das freilich kaum ein, daß er auch in der Sache selbst ihren ,moralischen
Nihilismus‘ überwindet. Das eigentliche Handeln unterscheidet ihn von seinem
Chefinspektor lediglich durch die besondere Art des Opportunismus: orientiert
sich Heat vor allem an speziell beruflichen Zweckmäßigkeiten, so achtet der
Assistant Commissioner in erster Linie auf die gesellschaftliche Integration und
Integrität seiner Ehe. Dank dieser Rücksichtnahme gelangt er am Ende zur
tendenziellen Äquivalenz nicht nur mit dem Chief Inspector, sondern geradezu mit
Adolf Verloc, dem es ja ebenso vorrangig um die Bewahrung häuslicher Sicherheit
und Ruhe geht, als er sich notgedrungen auf den Attentatsplan der Botschaft
einläßt.
VI
In der Tendenz zu solcher Gleichwertigkeit zwischen Detektiven und
Detegierten, die auch andere Momente der Erzählung unterstreichen
[27]
, erreicht der Anti-Kriminalroman im Secret Agent
seine extreme Pointe. Sie macht die Hüter der Ordnung nicht mehr zum leuchtenden
Gegenbild ihrer Feinde, sondern insinuiert zwischen den nach allen Regeln der
Konvention essentiell getrennten Gruppen eine spiegelbildliche Ähnlichkeit.
Damit wird aus dem Gegensatz von Kontrahenten, welcher im Kriminalroman die
sinnerfüllte Finalität des Handlungs- und Aufklärungsverlaufs stiftet, gleichsam
eine ‚opposition creuse‘, wie sie etwa in Madame Bovary
die bloß scheinbare Konfrontation des Klerikers Bournisien und des Laizisten
Homais bildete. Sie läßt den Sinn der Detektion in einer Affäre, bei der die
Zerstörung ja von den staatlichen Organen selbst ihren Ausgang nimmt, von
vornherein verschwimmen, ohne ihn an irgendeiner Stelle durch eine unbeschädigt
zur Identifikation einladende Detektivgestalt auch nur ansatzweise zu
restituieren. Statt Sinn, Moral und Ordnung zu garantieren, haben sich die
Detektive hier selber – mehr oder weniger bewußt – im universalen Labyrinth der
Interessen verloren und erscheinen nunmehr als dessen Teil, wo sie sonst als
dessen Erforscher und Aufklärer gelten dürfen.
Dabei spricht für die Schärfe der gesellschaftlichen Einsicht, welche
Conrads Roman vermittelt, das allgemeinste Motiv, mit dem er die trübe
Äquivalenz seiner ordnungschützenden oder ordnungstörenden Figuren erklärt. Es
ist paradoxerweise gerade in der Besonderheit und Ich-Bezogenheit ihrer jeweils
fragmentarischen Rationalität zu sehen. Denn daß die Romanfiguren auf ihre Weise
rational – d. h. zweckmäßig im Sinn eines partikularen Ziels – handeln, kann
kaum bezweifelt werden: Mrs. Verloc agiert konsequent nach den Bedürfnissen
ihrer geschwisterlichen Liebe; Mr. Verlor hat neben der eigenen die häusliche
und gesellschaftliche Ruhe und Bequemlichkeit im Auge; der (russische oder
habsburgische) Diplomat Mr. Vladimir möchte auf die weitreichenden Gefahren des
Anarchismus aufmerksam machen und erkennt – keineswegs begriffsstutzig – in der
Wissenschaft den „sacrosanct fetish“ der bürgerlichen „middle classes“
(vgl. S. 34ff.); der anarchistische ;,Professor“ treibt den Kampf gegen die
sozialen Konventionen bis zum logischen Endpunkt des „Exterminate, exterminate!“
(vgl. S. 243), wobei ihm ganz folgerichtig der so hilflose wie vertrauensvolle
Stevie als erster zum Opfer fällt; Chief Inspector Heat setzt über alles die
Effizienz polizeilicher Kontrolle, während der Assistant Commissioner bei der
Auseinandersetzung mit Heat energisch die „self-preservation“ seiner Amts- und
Familienautorität verfolgt. All diese partikularen Ziele trennen und isolieren
nun nicht nur die Individuen, sondern mehr noch die autonom gewordenen Teile und
Funktionen des gesellschaftlichen Ganzen. Sie ergeben, wie Avrom Fleishman
richtig bemerkt hat, „a vision of the modern world in a state of fragmentation –
as if by explosion. It is an ironic vision because Conrad’s fundamental social
value was the organic community, while the present status of men is that of
isolation from each other, alienation from the social whole, and, in
consequence, loneliness and self-destruction“
[28]
.
Eben weil Individuen und soziale Funktionen ihre jeweils autonome und –
vom Ganzen her gesehen – partielle Raison beanspruchen, werden sie zugleich auf
abstrakte Art äquivalent und (in einem tieferen Sinn, mit dem auch die ironische
Erzählhaltung zu tun hat) gleich-gültig. Jedenfalls ist jenseits der
Partikularität ihrer Motive und Zwecke kein verbindender Wert mehr auszumachen,
der einigermaßen evident über die Legitimität der inhaltlich verschiedenen und
doch formal identischen Ansprüche entscheiden könnte: auch die Detektive sind
dem System fragmentierter, berufs- und klassenspezifischer Rationalität ja
ebenso real anheimgegeben wie die anderen Gestalten, die ihnen im Detektivroman
– zur Ausübung von Analyse und Rechtspflege – fiktiv untergeordnet blieben.
Entbehrt die Zweckrationalität der arbeitsteiligen Gesellschaft solcherart der
Illusion einer höheren Instanz, gibt sie beunruhigend den Anteil an
Irrationalität zu erkennen, welche das Ensemble selbständiger Organisationen und
ichbezogener Subjekte nicht zu bannen vermag; das vermeintlich geordnete System
zeigt sich als menschenverschlingendes Labyrinth, aus dem bestenfalls der Zufall
einen Ausweg findet. Unter diesem Aspekt hat es seine Bedeutung, wenn am Anfang
wie am Schluß des Romans, im zweiten und im dreizehnten Kapitel, lange von der
Wissenschaft die Rede ist. Das Konzept „Science“ übernimmt damit für die
Erzählung eine ähnliche ideologische Rahmenfunktion wie in den beiden frühen
Conan-Doyle-Romanen A Study in Scarlet und The Sign of Four, die zu Beginn die Detektion als
Inbegriff einer ordnung- und systembewahrenden „Science of Deduction“
präsentierten. Nur ist ihr Verhältnis zur erzählten Geschichte jetzt umgekehrt.
Statt harmonisch ein Exempel zu erstellen, endet die Geschichte bei der
Falsifikation des Konzepts, welche Ossipons „Science reigns already“ (S. 244)
mit Winnie Verlocs „act of madness or despair“ widerlegt. Wie oft in moderner
Literatur, sind es gerade die marginalsten oder unscheinbarsten Gestalten, auf
deren dunkle Lakonismen in dieser Welt sich wechselseitig widerlegender und
vereitelnder Rationalitäten noch am meisten Verlaß zu sein scheint, und so
bleiben am Ende Stevies Erkenntnis „Bad world for poor people“ (S. 143) und die
Überzeugung des „Professor“ „Mankind [...] does not know what it wants“ (S. 245)
als die einzigen Auskünfte zurück, die – zwar trostlos, aber nicht offenkundig
falsch – vor dem Gang der Ereignisse in The Secret Agent
halbwegs bestehen können.
1 |
Vgl. Hühn, P.: „Zu den Gründen für
die Popularität des Detektivromans“, in: Arcadia 12 (1977),
273–296. |
2 |
Vgl. Schulz-Buschhaus, U.:
„Soziologische Aspekte der Entwicklung des Kriminalromans“, in:
Sociologia Internationalis 17 (1979), 175–190, bes. 185. |
3 |
Diesen auf den ersten Blick kuriosen, doch überaus
treffenden Begriff verdanken wir: Ludwig, A.:
„Die Kriminaldichtung und ihre Träger“, in: Germanisch-Romanische
Monatsschrift 18 (1930), 57–71, 123–135. |
4 |
Die traditions- und schulbildende Rolle dieses Romans, die
schon von Carr, J. D., in der „Locked-Room
Lecture“ seines Hollow Man (1935)
hervorgehoben wurde (vgl. The Hollow Man,
Harmondsworth, Penguin Books, 1963, 186–199, bes. 190f.), ist
neuerdings auch durch Christie, A.: An
Autobiography, Glasgow (Fontana-Collins) 31980, 216f. und
263 nachdrücklich bestätigt worden. |
5 |
Vgl. dazu Schulz-Buschhaus, U.: Formen
und Ideologien des Kriminalromans, Frankfurt a. M. 1975,
106–122, bes. 113ff. |
6 |
Vgl. Hudde, H.: „Das Scheitern des
Detektivs“, in: Romanistisches Jahrbuch 29 (1978), 322–342. |
7 |
Vgl. dazu Mölk, U.: „Vom
Detektivroman zum Noveau [sic!] Roman“, in: Giessener
Universitätsblätter 1 (1968), 40–51. |
8 |
Sciascia, L.: A ciascuno il suo,
Torino (Einaudi) 1971, 1. Aufl. 1966, 53. |
9 |
Vgl. zu dem Realismuskonzept, das diesem Verfahren zugrunde
liegt und einen Großteil spezifisch ‚moderner‘ Literatur bestimmt,
den scharfsinnigen Aufsatz von Eibl K.:
„‚Realismus‘ als Widerlegung von Literatur“, in: Poetica 6 (1974),
456–467. |
10 |
Cox, C. B.: Joseph Conrad – The Modern
Imagination, London – Totowa, N. J. 1974, 85f. |
11 |
Vgl. Guérard, A. J.: Conrad the
Novelist, Harvard UP 1958, 220, sowie 228 und 231. |
12 |
Zitiert nach: Conrad: The Secret Agent –
A. Casebook, edit. by I. Watt, London 1973, 50. |
13 |
Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf die leicht
zugängliche Taschenbuchausgabe: Conrad, J.: The
Secret Agent, Harmondsworth (Penguin Modern Classics)
1980. |
14 |
Conrad, J.: Under Western Eyes,
Harmondsworth (Penguin Modern Classics) 1971, 35. |
15 |
Vgl. Daleski, H. M.: Joseph Conrad – The
Way of Dispossession, London 1977, 153f. |
16 |
Vgl. ebd. 146. |
17 |
Vgl. Cox, C. B.: a. a. O. 99: „The
truth Seen by the narrator is that human forms of identity are
self-created illusion, and knowledge of their real death-in-life
condition destroys Verloc, Winnie and Ossipon.“ |
18 |
Sonderbarerweise ist mir bei der Durchsicht der
umfangreichen Conrad-Literatur nur ein einziger Hinweis auf diese
Analogie begegnet. Jeremy Hawthorn, der die Aspekte von
Sprachskepsis bei Conrad unterstreicht, zitiert aus einem Brief an
Cunninghame Graham vom 14. Januar 1898 („Half the words we use have
no meaning whatever and of the other half each man understands each
word after the fashion of his own folly and conceit. Faith is a myth
and beliefs shift like mists on the shore; thoughts vanish; words,
once pronounced, die [...]“) und fühlt sich durch ihn an ein „play
by Pirandello“ erinnert. Vgl. Hawthorn, J.:
Joseph Conrad – Language and Fictional
Self-Consciousness, London 1979, 15. |
19 |
Vgl. dagegen etwa Thorburn, D.:
Conrad’s Romanticism, Yale UP 1974, oder Burkhart, C.: „Conrad the Victorian“, in:
English Literature in Transition 6 (1963), 1–8. |
20 |
So befindet schon die unfreundliche Rezension in der
Zeitschrift „Country Life“ vom 21. September 1907: „The characters
of the Assistant Commissioner, the Inspector of Police, and the
Minister [...] are all unnecessary to the picture, and might have
been left out [...] to very great advantage“ (zitiert nach: Conrad:
The Secret Agent – A Casebook, a. a. O.
53). Ähnlich urteilen noch Baines, J. (Joseph Conrad – A Critical Biography, London
1960, 340) und vor allem Tillyard, E. M. W.
(„The Secret Agent Reconsidered“,
in: Essays in Criticism 11, 1961, 309–318). |
21 |
Vgl. Conrad: The Secret Agent – A
Casebook, a. a. O. 143: „What one misses in The Secret Agent is some dramatic principle
of contradiction, some force of resistance; in a word, a moral
positive to serve literary ends“ (Das Urteil ist der 1957
publizierten Studie Politics and the Novel
entnommen). |
22 |
Mit Recht konstatiert Daleski, H. M.
(a. a. O. 170) diesbezüglich: „The Chief Inspector [...] has a
vested interest in the darkness.“ |
23 |
Guérard, A. J.: a. a. O. 223. |
24 |
Vgl. ebd. 224ff. In die gleiche Richtung gehen auch die
Interpretationen Tillyards (a. a. O. 315),
der den Assistant Commissioner von der Ironie des Erzählers
ausgenommen sieht, oder Hawthorns (a. a. O.
92f.), wo der Detektiv als verläßlicher Statthalter der Conradschen
Sprachskepsis erscheint. |
25 |
Zu ihrer Bedeutung für Poes ‚Tales of Ratiocination‘ vgl.
Schulz-Buschhaus, U.:
Formen und Ideologien des Kriminalromans, a.
a. O. 7f. |
26 |
Vgl. Daleski, H. M.: a. a. O.
167ff. |
27 |
Vgl. dazu Cox, C. B.: a. a. O.
94. |
28 |
Fleishman, A.: Conrad’s Politics –
Community and Anarchy in the Fiction of Joseph Conrad,
Johns Hopkins P. 1967, 188f. |