Nicolas Boileau-Despréaux, der ‚Régent du Parnasse‘
[1]
, erfreut sich seit langem keines sehr hohen Ansehens mehr, weder als Poetologe noch als Satiriker. Schon Gustave Lanson handelte 1892 über die „poésie“ eines Autors, den zwei Jahrhunderte zum „poète scolaire par excellence“ erkoren hatten
[2]
, nur noch mit ausgesprochen apologetischem Ton
[3]
, und für Ernst Robert Curtius, der in Boileau vor allem Ferdinand Brunetière bekämpfte, war er geradezu der literarische Leibhaftige: ein „beschränkter Banause“, der als Widerpart aller „schöpferischen Geister“ die „Tyrannei“ des perhorreszierten „Normalklassizismus“ verkörperte
[4]
. Eine solche Symbolfigur, die gegenüber der ewig gegenwärtigen „Idealklassik“ die „verstaubten Formen“ der „Normalklassik“ repräsentiert, muß demnach den Inbegriff poetologischer Konventionalität abgeben. Nun ist aber kaum zu übersehen, daß Boileaus eigene schriftstellerische Praxis in ihrer konkreten Ausprägung diesem Bild keineswegs entspricht
[5]
, daß sie jedenfalls mit den Konventionen des bevorzugten Genus Verssatire eher bemerkenswert freizügig, ja unkonventionell verfährt. Soll sie als ,tyrannisch‘ gelten, kann das gewiß nicht bloß die Aspekte normativer Poetik meinen, welche ihr überdies im wesentlichen erst durch die Rezeption zuteil wurden
[6]
; mehr noch zeigt es den Charakter eines gleichsam ‚absolutistischen‘ Selbstbewußtseins an, das Boileau beim Umgang mit den spezifischen Gattungstraditionen demonstriert. Statt ihren Übereinkünften lediglich ‚klassizistisch‘ perfektionierend nachzukommen, gibt er ihnen eine neue Wendung, indem er sie grandios unbefangen, um nicht zu sagen: unverfroren, dem einzig wirklich aktuellen Interesse seiner literarästhetischen und literaturpolitischen Bataille unterwirft. Das heißt: Boileaus Satiren verfolgen ein Ziel, aus dem später sicherlich auch rigide Konventionen erwachsen werden
[7]
; doch setzen sie dazu polemische Mittel ein, welche im Rahmen der Kommunikationssituation, die ein klassisches satirisches Dichten bestimmte, alles andere als konventionsgerecht wirken.
Vom Herkömmlichen weichen die erfolgreichsten – und zugleich skandalös umstrittensten – Satiren des Dix-Septième besonders in zwei Aspekten ab. Einmal ist in ihnen neuartig die teils evidente, teils untergründige Permanenz der Literatenverspottung. Sie erscheint nicht mehr als ein spezielles Argument neben anderen, das – wie etwa in Mathurin Régniers neunter Satire – durch ein einzelnes Stück vorgetragen und sozusagen abgehandelt wird; vielmehr dringt sie in verschiedene Satiren und verschiedene Argumente ein, um sich ihnen zumindest als konstantes Seitenthema zu insinuieren
[8]
. Solche Omnipräsenz eines immer wieder neu und außerdem von diversen Ausgangspunkten her formulierten Grundinteresses hat zur Folge, daß die traditionellen Satirenthemen tendenziell zu bloßen Vorwänden absinken. Sie verwandeln sich in Vehikel, die der scheinbar sekundären, tatsächlich aber primären Persiflage mißachteter Zeitgenossen zum möglichst frappanten Ausdruck verhelfen, wobei diese Funktion sie selbst in ihrem Ernst und ihrer thematischen Relevanz zunehmend aushöhlt.
Mit solchem Funktionswandel von der Manifestation moralischer ‚Indignatio‘ zur oft überraschend inszenierten Vermittlung persiflierenden Spotts hängt auch der zweite Aspekt zusammen, der Boileaus Satiren ungewöhnlich macht: ihre – in gewissem Sinn programmwidrige – Nähe zu prononciert burlesken Techniken
[9]
. Zwar weiß man aus dem
Art poétique, wie wenig Boileau die „bassesse“ der um die Jahrhundertmitte beliebten Travestien schätzte
[10]
; doch impliziert die Ablehnung einer bestimmten Verfahrensweise mitnichten grundsätzliche Distanz zum gesamten Repertoire der Burleske, welches neben der Travestie ja auch die im
Lutrin genutzte Parodie kennt. Auf jeden Fall hat sich Boileau realiter ausgiebig beim burlesken Genus bedient, um seinen Satiren jene gesteigerte ‚vis comica‘ zu verschaffen, die im Interesse ihrer vorrangigen Persiflage- und Ridikülisierungstendenzen lag. Zu ihr trägt etwa der eklatante und mit Recht als besonders verletzend empfundene Bruch des überlieferten Namentabus bei, der – wenigstens was die Literaten angeht – den alten Grundsatz „parcere personis, dicere de vitiis“
[11]
umstürzt und die verspotteten Opfer eben kraft ihrer Eigennamen wie in einem Panoptikum zur Schau stellt
[12]
.
Beide Charakteristika, die Permanenz aktualitätsbezogener „raillerie“
[13]
wie die Adaption wesentlicher Kunstmittel des burlesken Registers, lassen sich vielleicht am deutlichsten der dritten Satire über das fast sprichwörtlich gewordene ‚Repas ridicule‘ entnehmen. Dabei mutet gerade dieses Stück auf den ersten Blick derart traditionsgeprägt und gleichzeitig auch wieder traditionsprägend an, daß es in der Kette seiner literarischen Aszendenz und Deszendenz gewissermaßen zu verschwinden droht. Einerseits besitzt es mehr oder weniger offenkundige Modelle bei Horaz (
Sermones II 8), Mathurin Régnier (
Satyre XI) und Antoine Furetière (
Satyre Quatriesme –
Le Desjeuner d’un Procureur)
[14]
; andererseits hat es eine Nachwirkung gehabt, die mit unverkennbaren Anspielungen bis in das Prosawerk beispielsweise Flauberts, Octave Mirbeaus oder Alberto Moravias reicht
[15]
. Indessen schwindet der Eindruck kompakter Traditionalität, sobald man Boileaus Verhältnis zu seinen satirischen Vorbildern genauer überprüft. Es wird dann sichtbar, daß zwar die meisten Einzelelemente der dritten Satire aus verschiedenen ‚Quellen‘ abgeleitet werden können, daß die Art ihrer Komposition und aktuellen Funktionalisierung jedoch von einer Eigenwilligkeit zeugt, die eher den skandalisierenden Überraschungseffekt sucht als die gelehrte Kontamination, wie sie dem später verbreiteten Pedantenbild entspräche.
Relativ wenig verdankt der ‚Repas ridicule‘ dem Horazischen Exemplum ähnlicher Thematik. So ist der bei Horaz vielfältig gegliederte Dialog von Boileau auf die Schwundstufe einer einzigen Anrede reduziert worden, welche „A.“ zum Auftakt an den darauf ununterbrochen sprechenden Erzähler „P.“ richtet, und außerdem sind die Formeln dieser Anrede nicht aus Horaz, sondern aus Juvenals (thematisch ganz anders gelagerter) neunter Satire übernommen
[16]
: der Verwunderung über den „air sombre et severe“ (V. 2)
[17]
, dem die einstige „couleur fleurie“ (V. 5) Platz gemacht habe, korrespondiert dort die Frage „quare totiens mihi, Naevole, tristis/ occurras, fronte obducta ceu Marsya victus“ sowie die Erinnerung an eine Vergangenheit, in der Naevolus fröhlicher zu strahlen pflegte: „Unde repente/ tot rugae? certe modico contentus agebas/ vernam equitem, conviva ioco mordente facetus/ et salibus vehemens intra pomeria natis“. Das Gastmahl selbst ermangelt bei Horaz der für Boileaus Satire – wie wir sehen werden – außerordentlich bedeutsamen Vorgeschichte. Unvermittelt setzt nach den ersten kurzen Fragen die präzis formulierte gastronomische Beschreibung ein, deren zahlreiche Gegenstände durch einen „Lucanus aper“ – umgeben von „acria [...] rapula, lactucae, radices [...] siser, faecula Coa“ – eröffnet werden
[18]
. Gleichfalls fehlen bei Horaz die turbulente Auflösung des Belages, der Streit der Gäste und erst recht dessen literaturkritischer Anlaß. Was Boileau dagegen nahekommt, ist die Aufmerksamkeit, die der römische Satiriker höchst differenziert, konkret und detailfreudig dem Kulinarischen zuwendet
[19]
. Freilich wirkt das ,ridicule‘, das ihm eignet, weit weniger eklatant als in den französischen Stücken. Offenbar sind die Gerichte des Nasidienus nicht völlig mißraten, sondern werden auf diskretere Weise ins Anrüchige gezogen: durch die Andeutung übertriebener gastronomischer Manierismen, wie sie sich z. B. beim „cenamus auis, conchylia, piscis,/ longe dissimilem noto celantia sucum“ dokumentieren
[20]
; durch einen ironisch verdeckten Hinweis auf den geheimen Geiz des Gastgebers, der die „acris potores“ fürchtet
[21]
; durch blamable Zwischenfälle wie den Sturz der staubigen Vorhänge in das gerade zuvor ausführlich kommentierte Muränen-Gericht
[22]
; vor allem durch die aufdringlichen Erläuterungen, die Nasidienus über die Rezepte seiner Speisen zum Besten gibt, womit er selbst das halbwegs Gelungene schließlich schwer genießbar macht: „suauis res, si non causas narraret earum et/ naturas dominus“
[23]
.
Stärker ist Boileau zweifellos von der elften Satire Mathurin Régniers angeregt worden. Zwar läßt in ihr der spezielle Witz des Kulinarischen, verglichen sowohl mit Horaz als auch mit Boileau, ein wenig zu wünschen übrig: alles erscheint um etliches gröber; der Erzähler bekommt einen Teil der Saucen über die Hosen gegossen, und lächerlich sind weniger gewisse gastronomische Kunstfehler als vielmehr die schlichte Kargheit des Gebotenen, der mageren Suppe voller Fliegen oder des zähen, dem Messer trotzenden Gigot, so daß der Gast – im Zeichen von „damoyselle Famine“ – am Ende hungrig bleibt, wo er zunächst reiche Sättigung erwartet hatte: „Où j’estois resolu, faisant autant que trois,/ De boire et de manger comme aux veilles des Rois“
[24]
. Dafür entfaltet sich Régniers Satire als Erzählung durchaus ähnlich der Ereignisfolge bei Boileau. Am Anfang wird das unfreiwillige Zusammentreffen mit dem Gastgeber, einem bedrückend geschwätzigen Höfling, geschildert, und zum Schluß artet das Souper in eine Schlägerei aus
[25]
. Unter ihren Anstiftern sticht die Hauptgestalt der Satire hervor: einer jener ,Pedanten‘, welche das Cinquecento unablässig zu verspotten wußte
[26]
. So ist auch die Darstellung von Régniers „docteur“, die weite Partien des Textes einnimmt, dem italienischen Modell eines burlesken Capitolo von Cesare Caporali nachgebildet, das indessen amplifiziert wird, als der Erzähler auf die literarischen Räsonnements der komischen Figur zu sprechen kommt
[27]
:
| Il me parle latin, il allegue, il discourt |
| | | Que sans robe il a veu la matiere premiere, |
| | Qu’Epicure est yvrongne, Hypocrate un bourreau, |
| | Que Bartolle et Jason ignorent le barreau; |
| | Que Virgille est passable, encor’ qu’en quelques pages |
| | Il meritast au Louvre estre chifflé des pages, |
| | Que Pline est inegal, Terence un peu joly, |
| | Mais surtout il estime un langage poly. |
|
|
Indirekt bestätigt sich Régniers Affinität zu Boileau an Furetières vierter Satire über das „Desjeuner d’un Procureur“. Obwohl sie – 1655 publiziert, aber wohl schon in den vierziger Jahren verfaßt – Boileaus ‚Repas ridicule‘ zeitlich näher steht, bringt ihr Text keine weitere formale oder inhaltliche Annäherung. Sie gehört dem Bereich einer anti-bürgerlichen Verspottung der professionellen Status an, zu denen neben den Advokaten etwa auch noch die ebenfalls von Furetière attackierten Ärzte und Kaufleute zählen. Demnach machen den Mittelpunkt der Satire – gemäß einem recht konventionellen Schema – Gier und Geiz des Berufsbürgers aus. Er läßt kein gesellig-öffentliches Mahl zu, sondern beschränkt sich auf das intime ‚Déjeuner‘ im Kreis der Familie, weshalb auch die dramatische Zuspitzung durch den Streit eventueller Gäste entfallen muß. Stattdessen entspringt die Komik allein der Dürftigkeit des Menüs, dessen schmale Gänge nach den Worten des Hausherrn nicht Kunst und Pracht prätendieren, sondern einen ökonomisch rationalen Einkauf bezeugen sollen
[28]
.
| Mais vous plaist-il, Monsieur, taster de nostre vin? |
| | Fille, allez-en tirer; quittez l’enfant, nourice, |
| | Et nous allez querir chacun une saucisse. |
| | On vend cinq sous les six, chacune un carolus, |
| | Et vous faites donner celle du pardessus. |
|
|
Der Wein („du creû de Gentilly“), der die Wurst begleitet, hat vor allem ‚natürlich‘ zu sein, und beschlossen wird das ‚Déjeuner‘ von einem sogenannten „Compulsoire“
[29]
:
| J’attendois à ces mots qu’un Sergent à la main |
| | Apportast pour contrainte et cire et parchemin, |
| | Quand la fille, entendant mieux que moy son langage, |
| | Sert dans un plat feslé pour un sou de fromage. |
| | – Cela, dit-il, fait boire en tirelarigot; |
| | Et quand à ce vieux os qui restoit du gigot, |
| | Le chat l’avoit mangé, dont il prit la matière |
| | D’argüer le mau-soin qu’avoit sa chambrière. |
|
|
II
In großen Zügen resümierend, könnte man also sagen, daß Boileaus dritte Satire die Finesse der gastronomischen Schilderungen des Horaz in einen narrativ erweiterten Rahmen einfügt, dessen Grundelemente von Régnier stammen. Dabei zeigt aber gerade dieser Schematisierungsversuch, daß das Wesentliche und Eigentümliche am ‚Repas ridicule‘ jenseits der Kreuzung seiner gattungskonformen Satiren-Vorlagen zu suchen ist. Was bei ihnen nämlich nicht oder nur äußerst knapp und spärlich ausgebildet erscheint, ist die Grundfigur von Boileaus Gedicht: der immense Kontrast zwischen Gastmahl und Einladung, Ergebnis und Anspruch, Realität und Prätention. Der „Fat“, dem „P.“ auf den Leim geht, wirkt ja nicht einfach bloß lästig wie der „garrulus“ einer anderen Horazischen Satire (
Sermones I 9), den auch Régnier vor Augen hat, sondern er weiß sehr konkret die glanzvollen Attraktionen seiner Gesellschaft anzupreisen: die speziell kulinarischen ebenso wie die allgemeiner kulturellen, „quatorze bouteilles d’un vin vieux“ und „Molière avec Tartuffe“ (V. 20–27). Damit erhält die Gestalt des Gastgebers ihr Haupt- und Leitmotiv von Anfang an in der ,affectation‘, welche großsprecherisch auf Leistungen und Verdienste hinweist, wo es zum guten Ton gehörte, sie diskret herunterzuspielen oder ihre Würdigung mit geschickterer Rhetorik einem anderen in den Mund zu legen, wie es z. B. in Molières
Bourgeois Gentilhomme Dorante vormacht, indem er seine „haute capacité dans la science des bons morceaux“ hypothetisch von einem gewissen „Damis“ rühmen läßt
[30]
.
Finden sich Stücke mit vergleichbaren Kontrasteffekten kaum in der klassischen Satirentradition, so ist dagegen leicht ein Analogon in der italienischen Burleske des Cinquecento auszumachen, welche durch Caporalis Pedantenkapitel – wie wir sahen – auch schon Mathurin Régnier inspiriert hatte: es handelt sich um Francesco Bernis rasch berühmt gewordenes, an Gerolamo Fracastoro adressiertes
Capitolo del prete
da Povigliano „Udite, Fracastoro, un caso strano“
[31]
. Dort erwächst die überaus komische Wirkung genau wie bei Boileau aus dem Gegensatz von großartigem Versprechen und kümmerlicher Einlösung, mit dem Unterschied allerdings, daß der grobschlächtig pedantische „prete della villa“ („un ser saccente“) nicht ein Gastmahl, sondern eine bequeme Herberge, dazu Wein, Früchte und Konfekt, ankündigt
[32]
:
| Poi, vòlto a me, per farmi un gran favore, |
| | Disse: – Sta sera ne verrete meco, |
| | Che sarete alloggiato da signore: |
| | | Io ho un vin che fa vergogna al greco; |
| | Con esso vi darò frutti e confetti, |
| | Da far veder un morto, andar un cieco; |
| | | Fra tre persone arete quattro letti, |
| | Grandi, ben fatti, spiumacciati, e voglio |
| | Che mi diciate poi se saran netti –. |
|
|
Der Widerspruch zwischen Erwartung und Wirklichkeit könnte indessen – wie das Folgende zeigt – schärfer nicht sein, zumal die affektierte Rhetorik des Priesters den Gästen die Vision eines Märchenpalastes vorgaukelt, der sich dann in Wahrheit als eine elende, baufällige Hütte erweist
[33]
:
| Io credetti trovar qualche palazzo |
| | Murato di diamanti e di turchine, |
| | Avendo udito far tanto schiamazzo: |
| | | Quando Dio volse, vi giungemmo al fine: |
| | Entrammo in una porta da soccorso, |
| | Sepolta nell’ortiche e nelle spine. |
|
|
In dieser Hütte wird alles zum Gegenbild des „bel palazo de cristallo“ aus Boiardos
Orlando innamorato
[34]
, dessen luxuriöse Bequemlichkeiten gerade noch in Bernis ,Rifacimento‘ liebevoll ausgemalt worden waren
[35]
: das enge und kurze Bett ähnelt, durch die schmutzigen Laken kaum zur Hälfte bedeckt, einem Hundeverschlag; den Wein ersetzt eine trübe, dickflüssige Brühe, und von Früchten oder Konfekt ist überhaupt nicht mehr die Rede. Dabei erfährt die Schilderung solchen Ungemachs ihre Wendung ins Komische vor allem durch eine Serie parodistischer Zitate, welche die triste Realität mit der widersinnigen Evokation von römischen Elegien, Vergils
Aeneis, Dantes
Divina Commedia und insbesondere Petrarcas
Trionfi konfrontiert.
Dazu kommt der Umstand, daß der „Prete da Povigliano“ gleichzeitig ein „ser saccente“ ist, d. h. ein Pedant, der seine angestrengte Eloquenz nicht zuletzt mit Vorliebe auf literarische Themen richtet. So wiederholt er das „docti sumus“ des Horazischen „garrulus“
[36]
:
| – Non son – diceva – di lettere ignaro; |
| | Son bene in arte metrica erudito –, |
|
|
mischt sich unerschrocken ins Humanistengespräch, kommentiert Vergil und Homer, um schließlich sogar selbstgefällige kritische Urteile über Sannazaro und Fracastoro, also prominente neulateinische Autoren der Renaissance, zu wagen, womit er ein Verhalten an den Tag legt, das bald wiederum Caporalis und Régniers Pedanten als dubioses Vorbild dienen wird
[37]
:
| La sera, doppo cena, andammo a spasso; |
| | Parlando Adamo et io di varie cose, |
| | Costui faceva a tutti il contrabasso. |
| | | Tutto Vergilio et Omero ci espose, |
| | Disse di voi, parlò del Sannazaro, |
| | Nelle bilancie tutti dua vi pose. |
|
|
Sind solcherart die Parallelen zwischen Bernis Burleskkapitel, Régniers elfter und Boileaus dritter Satire einigermaßen evident, muß daraus freilich nicht notwendig folgen, daß sie auch auf bewußten Übernahmen beruhen. Solche Übernahmen, welche die französische Satire gleichsam programmatisch mit der italienischen „poesia burlesca“ verbinden, finden wir gewiß bei Régnier: neben den Caporali-Paraphrasen der elften Satire wären da etwa die Anklänge eben an Bernis
Capitolo del prete da Povigliano in der zwölften Satire zu nennen, außerdem die Imitationen von Lodovico Dolces
Capitolo della poesia in der vierten und insbesondere von Giovanni Mauros Capitoli
In dishonore dell’Honore in der sechsten Satire. Bei Boileau sind sie dagegen – wenigstens auf der Ebene planmäßiger Programmatik – kaum zu erwarten, da zumindest ein zentrales Spezifikum der Burleske, die Lust an zwei- oder eindeutiger Obszönität, mit den Bienséance-Vorstellungen des Grand Siècle nicht mehr kompatibel war
[38]
. Trotzdem spricht einiges dafür, daß Boileau intensiver, als er selber zugeben mochte, wenn nicht die Stoffe, so doch die Techniken der „poesia bernesca“ konsultiert hat und daß folglich auch die Nähe seiner dritten Satire zum
Capitolo del prete da Povigliano mehr darstellt als puren Zufall.
Diese Vermutung wird bestätigt durch den Witz des Reimzwangs, der in der zweiten Satire bei der Verspottung Quinaults und des Abbé de Pure als Skandalon gewirkt hatte
[39]
:
| Souvent j’ai beau réver du matin jusqu’au soir: |
| | Quand je veux dire blanc, la quinteuse dit noir. |
| | Si je veux d’un Galant dépeindre la figure, |
| | Ma plume pour rimer trouve l’Abbé de Pure: |
| | Si je pense exprimer un Auteur sans defaut, |
| | La raison dit Virgile, et la rime Quinaut. |
|
|
Daß er skandalisierte und zugleich seinen Autor mit Stolz erfüllte, ist aus der – ebenso virtuosen wie kecken – Reprise beim ‚Repas ridicule‘ zu ersehen, wo er sozusagen zu Boileaus Markenzeichen aufsteigt. Als einer der Landedelleute das Unrecht beklagen will, das Quinault durch eine neuere Satire zugefügt wurde, beeilt sich der Gastgeber, just den Reimwitz zu zitieren (V. 189–192):
| On dit qu’on l’a drapé dans certaine satire, |
| | Qu’un jeune homme ... – Ah! je sçai ce que vous voulez dire, |
| | A répondu nostre Hoste, Un Auteur sans defaut, |
| |
La Raison dit Virgile, et la Rime Quinaut.
|
|
|
Kein Zweifel, daß hier jenes Gran Albernheit virulent wird, welches den Spott potenziert, aber dem Ideal klassischer Satirendichtung eigentlich recht unangemessen ist. Und in der Tat stammt die Pointe, wie bereits ihre Reimgebundenheit anzeigt, auch nicht aus der Satire, sondern aus den gleichen „Opere burlesche“, an die sich schon Régnier gehalten hatte, wenn er prononciert komische Effekte erzielen wollte. Im ersten
Capitolo della Fava legitimiert nämlich Giovanni Mauro, ein Burleskdichter, dessen ‚Capitoli‘ stets zusammen mit denen Francesco Bernis veröffentlicht worden waren
[40]
, eine – jedenfalls moralisch – anstößige Lizenz ebenfalls durch den Reimzwang
[41]
:
| Credo, che non sia vergine, nè sposa |
| | Nel casto sen della mamma nudrita, |
| | Che non colga la Fava anzi la rosa, |
| | | Nè vecchia sî increspata, e ribambita, |
| | Che non ne voglia la scodella piena |
| | Ne l’estreme giornate di sua vita, |
| | | Nè fanciullo da latte tolto appena, |
| | Che non se n’empia (io volea dir la pancia) |
| | Ma la rima mi sforza a dir la schiena. |
|
|
Natürlich liegt der obszöne Gehalt dieses Witzes
[42]
weitab vom geistesgeschichtlichen Kontext Boileauscher Satiren. Vergleichbar sind jedoch die Techniken, wie Boileau im ‚Repas ridicule‘ ja auch das Schema des Exordiums nach einer der obszönsten Satiren Juvenals gestaltete, ohne sich im folgenden um deren speziellen und höchst anrüchigen Gehalt weiter zu kümmern. Beide Male wird zunächst eine harmlose, gewissermaßen orthodoxe Aussage als die ernstlich gemeinte fingiert, welche dann der bloße Reimzwang in einen gleichsam wider Willen entstandenen Passus unorthodoxer – sexueller oder poetologischer – Aggressivität umwandelt. Dabei äußert sich die Aggressivität bei Mauro direkt und ,wörtlich‘, während Boileau sie rhetorisch effektvoller indirekt in Szene setzt: Quinault und der Abbé de Pure werden nicht explizit geschmäht, sondern eher beiläufig kompromittiert durch den Hinweis, daß ihr – ,wörtliches‘ – Lob kein anderes Motiv als eben die ‚irrationalen‘ Capricen des Reims haben kann.
Intensiviert Boileau die Attacke also kraft ihres obliquen, insinuierenden Vortrags, schärft er sie überdies noch mit einem anderen Mittel: der bereits von der siebten Satire erprobten Malice, in der exponierten Position des Reims just die Namen der Gegner an den Pranger zu stellen, hier Michel de Pure, Quinault und den unvermeidlichen Sonettisten Pelletier, dort gleich eine ganze Phalanx, die zum Ärger vieler Zeitgenossen später noch oftmals aufmarschieren sollte
[43]
:
| Faut-il d’un froid Rimeur dépeindre la manie? |
| | Mes vers, comme un torrent, coulent sur le papier. |
| | Je rencontre à la fois Perrin et Pelletier, |
| | Bonnecorse, Pradon, Colletet, Titreville, |
| | Et pour un que je veux, j’en trouve plus de mille. |
|
|
Nun war aber – wie gesagt – auch solche Namensanprangerung der klassischen Satire fremd. Dafür bildete sie eine Hauptwaffe des Pasquills und wurde toleriert bei Invektiven, die deutlich einen burlesken und nicht satirischen Stilcharakter erkennen ließen. Demgemäß erscheinen Eigennamen, die Spott und Hohn auf sich ziehen, vor Boileau in reicher Fülle wiederum bei Francesco Berni. Als Beispiele von eher spielerischem Badinage wären etwa das
Sonetto sopra la barba di Domenico d’Ancona oder das Sonett über die innige Verbindung zwischen Francesco wie Trifone Benci und dem römischen Hof zu nennen
[44]
, als ein Exemplum roher Invektive das
Sonetto sopra la mula dell’Alcionio
[45]
, ein Maultier,
| Che l’Alcionio, poeta laureato, |
| | Ebbe in commenda a vita masculina; |
| | Che gli scusa cavallo e concubina. |
|
|
In Boileaus Manier zur Phalanx gereiht werden die Namen insbesondere in den der traditionellen ‚Pasquinata‘ nahestehenden Papst-Invektiven. So gibt es im Gefolge des fremdländischen und daher verhaßten Papstes Hadrian Vl.
| Copis, Vincl, Corizio e Trincaforte! |
| | Nomi da far isbigottir un cane, |
| | Da far ispiritar un cimitero, |
| | Al suon delle parole orrende e strane
[46]
, |
|
|
wobei Namen wie Winkel, Goritz und Enkevoirt zur ‚schrecklich barbarischen‘ Wirkung offenbar noch geringfügig deformiert wurden. Einheimische Persönlichkeiten macht der Angriff auf die Politik Klemens VII., des „papa Chimenti, ciò è papa castron, papa balordo“ namhaft, wenn er „gli Jacopi e’ Vettori,/ Filippo, Baccio, Zanobi e Simone“ bloßstellt oder prognostiziert
[47]
:
| | Renzo, Andrea d’Oria e Conte di Gaiazzo, |
| | Vi menarete tutti quanti il cazzo. |
|
|
Eine letzte Affinität zwischen Boileauscher Satire und Bernischer Burleske ist in der gemeinsamen Neigung zum Selbstzitat zu sehen. Bei Boileau durchzieht die pointierte Selbstzitierung verschiedene Satiren und Episteln, vorzüglich an jenen Stellen, an denen es um die Verspottung von Literaten geht. Beispielsweise zitiert die dritte Satire die anstößigsten Verse der zweiten, während die neunte, die so tut, als wolle sie eine Palinodie jeglicher vorhergehenden Literaturkritik liefern, gerade durch die Ironisierung der Palinodie alle früheren Attacken verstärkt. Derart nimmt die falsche Selbstanklage Bezug auf die Phalanx der „froids Rimeurs“, welche die siebte Satire verletzt hatte
[48]
:
| Que vous ont fait Perrin, Bardin, Pradon, Haynaut, |
| | Colletet, Pelletier, Titreville, Quinaut, |
| | Dont les noms en cent lieux, placez comme en leurs niches |
| | Vont de vos vers malins remplir les hemistiches? |
|
|
Oder sie simuliert Wiedergutmachung für das Unrecht, das Quinault und der Abbé Cotin in der zweiten und dritten Satire erleiden mußten
[49]
:
| Toutefois, s’il le faut, je veux bien m’en dédire: |
| | Et pour calmer enfin tous ces flots d’Ennemis, |
| | Reparer en mes vers les maux que j’ay commis. |
| | Puisque vous le voulez, je vais changer de stile. |
| | Je le déclare donc. Quinaut est un Virgile. |
| | | Cotin à ses Sermons traînant toute la terre, |
| | Fend les flots d’Auditeurs pour aller à sa chaire. |
|
|
Die neunte Satire wiederum wird neben der zweiten und der achten in der zehnten Epistel
A mes vers erwähnt, als der alternde Autor auf die Zeit seiner größten Erfolge zurückblickt
[50]
:
| Le temps n’est plus, mes Vers, où ma Muse en sa force |
| | Du Parnasse François formant les Nouriçons, |
| | De si riches couleurs habilloit ses leçons: |
| | Quand mon Esprit poussé d’un couroux legitime, |
| | Vint devant la Raison plaider contre la Rime, |
| | A tout le Genre Humain sceût faire le procez, |
| | Et s’attaqua soy-mesme avec tant de succez. |
|
|
Nicht viel weniger auffällig wirkt die Selbstzitierung und Selbstkommentierung bei Berni, wo zumal die ‚Capitoli‘ paradox enkomiastischen Charakters durch ständige Querverweise untereinander verbunden sind, so daß das
Capitolo dei cardi die Kapitel „de’ghiozzi“ und „dell’anguille“ anführt
[51]
, das
Capitolo della gelatina ein anderes „dell’orinale“
[52]
, während das
Capitolo dell’ago aus dem
Capitolo dell’anguille zitiert
[53]
:
| Dissi già, in una certa opera mia, |
| | Che le figure che son lunghe e tonde |
| | Governan tutta la geometria. |
|
|
Das
Capitolo in laude d’Aristotele wird zu Beginn und am Ende von der Thematik der übrigen Stücke, besonders des „ragionamento [...] ch’io feci l’altro dí della moría“ abgehoben
[54]
, und in einer Epistel an den Kardinal Ippolito de’Medici zieht Berni eigene Verse heran, als handele es sich um Sentenzen von antik-klassischer Autorität
[55]
:
| Non bisogna parlarmi di fatica; |
| | Ché, come dice el cotal della Peste, |
| | Quella è la vera mia mortal nemica. |
|
|
Satirisch-burleske Prägnanz gewinnen solche Referenzen auf selbst Gedichtetes im
Capitolo di papa Adriano. Dort ruft Berni zum Schluß die trivialen Gegenstände seiner paradoxen Enkomien in Erinnerung, vergleicht sie mit dem neuen ,Gegenstand‘ „papa Adriano“, um dann ausgerechnet bei diesem – wie später Boileaus neunte Satire mit freilich umgekehrter Richtung – die ,Palinodie‘ der früheren ‚Hymnen, Lauden, Psalmen und Oden‘ anzukündigen
[56]
:
| San Pier, s’i’ dico pur qualche pazzia, |
| | Qualche parola ch’abbia del bestiale, |
| | Fa con Domenedio la scusa mia: |
| | | L’usanza mia non fu mai di dir male; |
| | E che sia ‘l ver, leggi le cose mie; |
| | Leggi l’Anguille, leggi l’Orinale, |
| | | Le Pèsche, i Cardi e l’altre fantasie: |
| | Tutte sono inni, laude, salmi et ode: |
| | Guàrdati or tu dalle palinodie. |
|
|
III
Die zuletzt gereihten Beispiele von Selbstzitierung, Namensanprangerung und Reimwitz dürften zur Genüge belegen, daß Boileaus satirisches Dichten von einer kräftigen burlesken Grundströmung getragen wird, deren Materien im Zeitalter der ,bienséance‘ zwar kaum an die Oberfläche gelangen können, deren Techniken aber offenbar ergiebige Anregungen spendeten. Demnach braucht wohl auch der bis zur Skurrilität komische Effekt des ‚Repas ridicule‘ nicht mehr zu verwundern, bei dem – wie jetzt als sicher gelten kann – neben Horaz und Régnier ebenfalls der durchaus anrüchige und entschieden klassizismusferne Francesco Berni Pate gestanden hat. Erst durch das Vorbild seines Capitolo del prete da Povigliano kam jener extreme Kontrast von Prätention und Realität in die dritte Satire, welcher erlaubte, das Geschehen als blamable Enttäuschung eines ehrgeizig affektierten Versprechens zu präsentieren. Diese burleske Grundfigur gestattet zugleich, der Komposition eine gewisse Einheit zu verleihen, indem die Falsifikation des Versprechens wie in Bernis Capitolo die Bewegung eines kontinuierlichen Crescendo erhält, das gleichsam Schrecken auf Schrecken türmt.
Dabei ist nun bezeichnend, daß die Serie der Schrecken anders als bei Berni ihren Höhepunkt in der literarischen Debatte und den von ihr ausgelösten Handgreiflichkeiten findet
[57]
. So insinuiert die unverkennbare Crescendo-Bewegung eine Gewichts- verlagerung vom Gastmahl auf die Diskussion: wir empfangen den Eindruck, als sei der gastronomische Horror nur eine Art Vorspiel für den poetologischen, der im Endeffekt zum ‚non plus ultra‘ des „ridicule“ wird. Diesen Eindruck bestätigen vereinzelte literarische Referenzen, die bereits in den kulinarisch akzentuierten ersten Gedichtteil eingelassen sind, um schon hier den poetologischen Hintergrund der gesamten Satire anzudeuten. Das beginnt mit der vielversprechenden Behauptung „Moliere avec Tartuffe y doit joüer son rôle“ (V. 25). Als es soweit ist, glänzt nicht nur Molière durch Abwesenheit, sondern statt seiner erwarteten Präsenz drängt sich als erste eine literarästhetisch ganz entgegengesetzte auf: „Deux nobles Campagnards, grands lecteurs de Romans,/ Qui m’ont dit tout Cyrus dans leurs longs complimens“ (V. 43f.). Auch die unbehagliche Enge am Tisch gibt Gelegenheit, Seitenhiebe auf Jacques Cassagnes und Charles Cotin anzubringen, bei deren wenig attraktiven Predigten man offenbar keinen Andrang zu fürchten brauchte. In der neunten Satire wird Boileau – wie wir gesehen haben – durch ironische Palinodie potenzierend diese Bemerkungen wiederaufgreifen (V. 57–60)
[58]
:
| Jugez en cet estat, si je pouvois me plaire, |
| | Moy qui ne conte rien ni le vin, ni la chere; |
| | Si l’on n’est plus au large assis en un festin, |
| | Qu’aux sermons de Cassaigne, ou de l’Abbé Cotin. |
|
|
Als der Gastgeber – ebenso beredt wie Horazens Nasidienus – seine bzw. Mignots Saucen kommentiert und vom reichen Vorrat an Pfeffertüten redet, muß schließlich noch der nie verschonte Pelletier den probaten Spott einstecken (V. 125–128):
| Quand on parle de sauce il faut qu’on y raffine, |
| | Pour moi, j’aime sur tout que le poivre y domine: |
| | J’en suis fourni, Dieu sçait, et j’ai tout Pelletier |
| | Roulé dans mon office en cornets de papier. |
|
|
Indessen sind solche manchmal blitzschnell en passant formulierten Ausfälle bloß das Präludium zum Hauptakt der Literatenverspottung. Er ist aufs engste mit dem Kontext des ‚Repas ridicule‘ verknüpft, da er gegenüber den vorhergehenden Satiren eine neue Stufe überraschender Indirektheit erreicht. Hatte die siebte Satire ihre Phalanx von ‚froids Rimeurs‘ noch frontal attackiert, so war die zweite bereits subtiler vorgegangen: sie simulierte ein ironisches Lob, das kompromittiert wurde einerseits durch das Motiv des Reimzwangs, andererseits durch die offenkundig falschen Argumente einer bedenkenlosen „fertile plume“, wie sie „Scuderi“ oder „Pelletier“ auszeichnen soll
[59]
. In der dritten Satire verfeinert sich die Technik des kompromittierenden Lobs ein weiteres Mal, indem es im Durcheinander müßiger, „d’un ton gravement fou“ (V. 160) geführter Gespräche an Personen delegiert wird, welche von Anfang an ridikülisiert erscheinen. Es sind Figuren, die gewissermaßen mit verteilten Rollen eine Funktion übernehmen, die bei Berni, Caporali oder Régnier allein die ,Pedanten‘ innegehabt hatten: jetzt wird sie aufgespalten auf einen – der traditionellen Pedantengestalt entsprechenden – „Auteur“ („certain Fat, qu’à sa mine discrete/ Et son maintien jaloux j’ai reconnu Poëte“, V. 201f.), einen der beiden Edelleute vom Lande sowie den Gastgeber.
Dabei ist es nur konsequent, daß der Gastgeber die paradoxen Enkomien eröffnet; denn er hat sich durch seinen Mangel an gastronomischem Geschmack am stärksten blamiert und kann deshalb das Verfahren des kompromittierenden Lobs am wirkungsvollsten und unmißverständlichsten einleiten. Nachdem er die mißratenen Gerichte Mignots großsprecherisch zu rühmen wagte, wissen wir, was davon zu halten ist, wenn er Ronsard und Théophile de Viau ausgerechnet „pour la justesse et l’art“ (V. 71) ‚in den Himmel hebt‘: es wird uns eingeprägt, daß sie gerade dieser Qualitäten am meisten entbehren. Zumindest beteuern das mit direkter Kritik später der
Art poétique oder die
Préface von 1701: dort treffen die Verweise bei Ronsard, der einen „art à sa mode“ schuf, vor allem „de ses grands mots le faste pedantesque“
[60]
, bei Théophile den Inbegriff einer konzeptistischen „pensée fausse“, die das Ideal der „pensées vraies et [...] expressions justes“ verletze
[61]
. Im Gegensatz zu Régnier setzt der Literatenstreit also nicht mit Urteilen über die Klassiker Vergil, Plinius oder Terenz ein, sondern geht aus von Schriftstellern, deren Werk – nach Boileau auf fatale Weise – noch in die Gegenwart hineinwirkt, darin übrigens wieder Bernis
Capitolo del prete da Povigliano ähnlich, wo die Meinungsäußerungen des Pedanten ja auch Moderneres – Sannazaro und Fracastoro – berührt hatten. Bezeichnenderweise lassen sich beide Lieblingsautoren des Gastgebers oppositionell auf Malherbe zuordnen, der für Boileau die Norm von „justesse“ und „art“ oder – in den Begriffen des Lehrgedichts – von „pureté“ und „clarté“ verkörpert
[62]
: im Kontrast zu Ronsard, der Pléiade und ihren Nachfahren hatte sich diese Norm konstituiert, während sie von Théophile erneut durchbrochen oder wenigstens mißachtet worden war („Malherbe a tres-bien fait, mais il a fait pour luy“)
[63]
. Somit wird schon beim Auftakt der Debatte eine Traditionslinie etabliert, welche der Boileauschen Poetik kraß zuwiderläuft, und alle Autoren, die im folgenden ein Lob erhalten, werden daher gleichfalls in die blamable Gegentradition von ‚Kunst- und Geschmacklosigkeit‘ eingefügt.
Die Pointe der weiteren Urteile, denen der „Campagnard“ zunächst im Dialog mit dem Gastgeber, dann im Streit mit einem neiderfüllten Dichter Ausdruck verleiht, liegt nun darin, daß sie sich – gleichsam unter dem ästhetischen Patronat Théophiles und Ronsards – zunehmend der literarischen Aktualität zuwenden. Stilisiert sind die Äußerungen des Landadligen nach dem Vorbild von Scarrons
Epître chagrine
[64]
als ahnungsloses Geschwätz; denn Gestalt und Redeweise, zumal das grobschlächtige „Morbleu“ (V. 176) am Anfang, verstärken den antiphrastischen Sinn, welcher bereits den Meinungen des Gastgebers zukam. Wer hier redet, ist unverkennbar durch eine vielfache Distanz vom rechten Geschmack deklassiert: er verletzt die Normen von „cour“ und „ville“ als Provinzler, der die – feudalaristokratische – Mode von vorgestern („son feutre à grands poils ombragé d’un pennache“, V. 174) zur Schau stellt und überdies den indiskret autoritären Ton eines Pedanten („Docteur“) anschlägt. Bei aller Unsinnigkeit, die ihr Stil konnotieren soll, zeigt die Rede jedoch einen überaus planvollen Aufbau, was ihren indirekt satirischen Gehalt angeht. Er beruht einmal auf dem sorgfältig ausgewählten Repertoire der poetologischen Werte, welche der „Campagnard“ nennt: den Qualitäten von „charmant“, „coulant“, „galant“, „plaisant“, „joli“ und vor allem „tendre“. Es sind Werte, die – wie insbesondere der Dialog
Les héros de roman dokumentiert – speziell die Salonkultur der Préciosité, ihre Recueils, ihre heroisch-galanten Romane und ihren Theatergeschmack charakterisieren. Durch den Kontext der Satire werden sie jetzt als lächerliche Anti-Norm ausdrücklich von der Norm des Hofes und der Stadt geschieden, da sie nach Boileaus Suggestionen – literarhistorisch – die ‚kunstferne‘ Gegentradition Ronsards oder Théophiles verlängern und – soziologisch – der geschichtlich überholten, hoffernen Feudalaristokratie angehören.
Was solcherart als überholt und vergangen erscheinen soll, ist aber, wie die Rede des Landadligen ebenfalls erkennen läßt, andererseits auch das gerade noch Gegenwärtige; ja die Rede entwickelt sich höchst raffiniert dergestalt, daß sie immer Aktuelleres in den peinlichen Komplex einer vorgestrigen Ästhetik des unzivilisierten Provinzadels hereinzuziehen versucht. Das beginnt – verhältnismäßig harmlos – mit dem jüngst verstorbenen La Serre, den eigentlich niemand mehr schätzte
[65]
. Weniger harmlos wirkt bereits die Erwähnung des vielgeschmähten Chapelain, der immerhin noch lebte, während René Le Pays das Beispiel eines Modeschriftstellers bietet, dessen rezente Veröffentlichungen – etwa die
Amitiez, Amours et Amourettes von 1664 – typisch für den preziösen Zeitgeschmack eintreten
[66]
. Über Anspielungen auf Corneille und Racines
Alexandre le Grand hebt sich dann das literarische Niveau und erreicht zugleich das Hic et Nunc des Autors, d. h. Boileaus eigene Auseinandersetzung mit Quinault, die jedem Leser aus der zweiten Satire vertraut sein mußte. In ihr greift die Polemik gewissermaßen zur journalistischen Momentaufnahme, welche den Widersacher in ein doppelt schiefes Licht rückt; denn einmal wird die Quinault-Invektive durch das ironisch verfremdete Selbstzitat bestätigt, zum anderen bedient sie sich der Synkrisis von Quinaults jüngstem Stück
Astrate mit Racines soeben erst bekannt gewordenem
Alexandre
[67]
. Und als sei der „Auteur sans defaut“ dadurch noch nicht genug verhöhnt, muß er zu allem Überfluß den Anlaß des heroisch-komischen Schlußgefechts zwischen Landmann und Dichter bilden, bei dem der „Campagnard“ „sans plus de langage,/ Lui [à l’Auteur] jette pour deffi, son assiette au visage“ (V. 213f.)
[68]
, während der mutige Dichter im zeugmatischen Gegenstreich „se levant de la table,/ Lance à mon Campagnard un regard effroyable“ (V. 217).
IV
Die poetologische Polemik stellt folglich im syntagmatischen Sinn das letzte Ziel des ‚Repas ridicule‘ dar, dem Boileau sich mit wohlkalkulierten Steigerungseffekten nähert, um das Ganze am Punkt der höchsten Aktualität im Eklat einer burlesken Prügelei aufzulösen. Doch würden wir die äußerst dichte Komposition des Stücks verfehlen, wenn wir nicht berücksichtigten, daß der ‚Repas ridicule‘ auch im paradigmatischen Sinn zur Literatenverspottung beiträgt. Das heißt: er läuft nicht nur auf eine poetologische Polemik hinaus, sondern er ist sie – dank der Machart und Präsentation der Gerichte – schon selber, indem er die Demonstration ‚mißratener‘ Literatur durch eine Demonstration verblüffend ähnlich mißratener Küche vorbereitet und spiegelt.
Zum genaueren Verständnis dieses Effekts ist zunächst die Grundfigur der Satire in Erinnerung zu rufen, welche Boileau aus Bernis Burleske übernommen hatte. Sie besteht – wie gesagt – im tatsächlich grotesk komischen Kontrast von großsprecherischer Ankündigung und dubioser Ausführung: der Gastgeber gebraucht zu Beginn – gleichsam im Stil Ronsards – „grands mots“, worauf die traurige Realität seine unkluge ‚affectation‘ dann umso eklatanter bloßstellt. Damit verhält er sich aber ebenso wie der allzu emphatische Epiker, den der
Art poétique in Horazischer Manier vor einer rhetorisch ‚affektierten‘ Propositio warnen wird
[69]
:
| Que le debut soit simple et n’ait rien d’affecté. |
| | N’allez pas dés l’abord sur Pégaze monté, |
| | Crier à vos Lecteurs, d’une voix de tonnerre, |
| |
Je chante le Vainqueur des Vainqueurs de la terre.
|
| | Que produira l’Auteur après tous ces grands cris? |
| | La montagne en travail enfante une souris. |
|
|
Diese Analogie wäre weniger auffällig, wenn sich der Kontrast zwischen gastronomischer ‚Propositio‘ und gastronomischer ‚Narratio‘ allein auf das Rahmenschema des ‚Repas‘ beschränkte. Er wird jedoch beim Ablauf des Menüs vervielfältigt, indem jeder einzelne Gang durch seinen prätentiösen ‚Auftritt‘ die einleitende Propositio gewissermaßen wiederholt. Einen solchen ‚Auftritt‘ hatte in Bernis Capitolo bereits das Weinglas gehabt, von dem es mit Wendungen skurriler Personifikation hieß
[70]
:
| Ecco apparir di súbito un bicchiere |
| | Che s’era cresimato allora allora; |
| | Sudava tutto, e non potea sedere. |
|
|
Bei Boileaus Gastgeber ist aus dem Auftritt eine pomphafte Entrée geworden, die sich etwa folgendermaßen vollzieht (V. 45f.):
| [...] Cependant on apporte un potage. |
| | Un coq y paroissoit en pompeux équipage, |
|
|
oder in ähnlichem Stil (V. 88):
| J’allois sortir enfin: quand le rost a paru. |
|
|
Besonders feierlich gestaltet sich die ‚Ankunft‘ des Schinkens (V. 149–156):
| Sur ce point un jambon d’assez maigre apparence |
| | Arrive sous le nom de jambon de Mayence. |
| | Un Valet le portoit, marchant à pas contez, |
| | Comme un Recteur suivi des quatre Facultez. |
| | Deux Marmitons crasseux revestus de serviettes, |
| | Luy servoient de Massiers, et portoient deux assiettes, |
| | L’une de champignons avec des ris de veau, |
| | Et l’autre de pois verds, qui se noyoient dans l’eau. |
|
|
Zweifellos hat die Serie dieser gastronomischen Propositiones etwas bewußt Ostentatives, weshalb Vers 157 den zuletzt zitierten Auftritt durchaus passend als „un spectacle si beau“ resümiert. Neben dem Prinzip der Ostentation wirkt bei der Inszenierung des Gastmahls indessen auch noch das Prinzip der Metamorphose mit; denn der so prunkvoll aufgetragene Schinken ist in Wahrheit „d’assez maigre apparence“ und erhält vom „jambon de Mayence“ lediglich den täuschenden ,Namen‘
[71]
. Die gleiche Art der Verwandlung stößt dem zuvor präsentierten „coq“ zu (V. 47f.),
| Qui changeant sur ce plat et d’estat et de nom, |
| | Par tous les Conviez s’est appellé chappon; |
|
|
überdies dem „Auvernat fumeux, qui meslé de Lignage,/ Se vendoit chez Crenet, pour vin de l’Hermitage“ (V. 73f.) sowie den „clapiers“ und „pigeons“, deren sich ein geschmeidiger Parasit annimmt, um sie zu ,,lapins de garenne“ und „superbes ramiers“ zu nobilitieren (vgl. V. 109–112).
Nun ist dem Satiriker des Dix-Septième der Begriff ‚Barock‘ selbstverständlich noch fremd gewesen; doch geben die kräftig hervorgehobenen Elemente von Metamorphose und Ostentation zu verstehen, daß auch das gastronomische Arrangement einer sozusagen barocken (Küchen-)Poetik gehorcht, wie sie Jean Rousset in seiner bekannten Studie unter den Leitsymbolen der Kirke und des Pfaus rekonstruiert hat
[72]
. Diese Stilisierung des kulinarischen Angebots zur Metapher einer Dichtung, der „la justesse et l’art“ fehlen sollen, drängt sich umso mehr auf, als die komische Antithese zur hochfliegenden Prätention bei Boileau ja keineswegs wie bei Régnier oder Furetière einfach in der Dürftigkeit und Ärmlichkeit des Menüs zu sehen ist. Vielmehr wird das Lächerliche des ‚Repas‘ in noch weit höherem Maß als in der Horazsatire durch ausgesprochene Kunstfehler bewirkt, die sich teilweise mit analogen Mängeln, welche der
Art poétique angreift, parallelisieren lassen. Dabei zeigt sich, daß solche Kunstfehler statt der Spärlichkeit zumeist gerade die Abundanz verschiedenartiger (in sich allerdings eher minderwertiger) Materialien zur Voraussetzung haben: es entsteht in erster Linie ein ‚ridicule‘ des Emphatischen, Exzessiven und Überflüssigen, weniger ein ‚ridicule‘ der Ökonomie, wie es kurz zuvor Furetière präsentiert hatte.
Hierzu gehört etwa die Schärfe des Bratens wie des Würzens. So wird uns ein „godiveau tout brûlé par dehors“ (V. 50) vorgestellt, und wenig später sehen sich ,sechs Tauben‘ auf ihre „squeletes bruslez“ (V. 96) reduziert. Die Ideologie des Würzens verkündet der Gastgeber, als er wie Horazens Nasidienus sein Mahl mit Selbstlob überhäuft, in den Saucen die Dominanz des Pfeffers rühmt (V. 125f.) und aufdringlich fragt (V.119)
[73]
:
| Aimez-vous la muscade? On en a mis partout. |
|
|
Den feineren, an „justesse“ und „art“ orientierten Geschmack stören natürlich Muskat wie Pfeffer; denn beide ergeben in der Gastronomie offenbar jene „faux brillans“ des Pointenstils, gegen die der
Art poétique erklären wird: „Evitons ces excez“
[74]
. Freilich widersprechen die Saucen den Regeln der Diskretion nicht nur durch ihre überpointierte Würze, sondern mehr noch durch ihre pure Fülle. Diese Saucenfülle, in der die Substanz der Gerichte ,ertrinkt‘, bildet geradezu das Leitmotiv des ‚Repas ridicule‘ und seiner ‚extravagant‘ anti-klassischen Tendenzen: „un beurre gluant
inondoit tous les bords“ (V. 52); ,,l’autre (salade) [...]
nageoit dans des flots de vinaigre rosat“ (V. 98ff.); eine Schüssel enthält „pois verds, qui se
noyoient dans l’eau“ (V. 156; Hervorhebung von mir).
Alles Nicht-Substantielle und Dekorative – neben den Saucen vor allem noch das Fett (vgl. V. 132) – sind also im Überfluß vorhanden und drängen den essentiellen Gegenstand der Kunstanstrengung ungebührlich in den Hintergrund
[75]
. Damit herrscht aber in der Küche die gleiche „abondance sterile“, die Boileau im
Art poétique Scudérys Epos
Alaric („Ce ne sont que Festons, ce ne sont qu’Astragales“) zum Vorwurf macht
[76]
, demselben Epos, an dem er auch den Trompetenton der Expositio tadelt. Es ist die ‚Abundanz‘ der narrativ funktionslosen, vorwiegend schmückend repräsentativen Beschreibungen, welche schon aus Marinos umstrittenem
Adone ein „poema di madrigali“ gemacht hatten
[77]
und über Saint-Amants
Moyse sauvé in die französische Epik eingedrungen waren, um dort ebenfalls den Zusammenhang der Dihegesis zu mindern und – nach Boileau – die Ungeduld des Lesers zu erregen
[78]
. Dabei hat indessen auch der Kritiker des manierierten Deskriptivismus in seine dritte Satire wenigstens eine breit ausladende Beschreibung eingefügt, welche es lohnt, noch einmal in extenso zitiert zu werden. Gemeint ist die ‚Erscheinung‘ des „rost“ (V. 89–100):
| Sur un lièvre flanqué de six poulets étiques, |
| | S’élevoient trois lapins, animaux domestiques, |
| | Qui dés leur tendre enfance élevez dans Paris, |
| | Sentoient encor le chou dont ils furent nouris. |
| | Autour de cet amas de viandes entassées |
| | Regnoit un long cordon d’aloüetes pressées, |
| | Et sur les bords du plat, six pigeons étalez |
| | Presentoient pour renfort leurs squeletes bruslez. |
| | A costé de ce plat paroissoient deux salades, |
| | L’une de pourpier jaune et l’autre d’herbes fades, |
| | Dont l’huile de fort loin saisissoit l’odorat, |
| | Et nageoit dans des flots de vinaigre rosat. |
|
|
Wie nach dem bisher Gesagten leicht ergänzt werden kann, wirkt diese Beschreibung nun jedoch nicht mehr bloß dekorativ, sondern gewinnt eine präzise burlesk-satirische Funktion auf Grund ihrer poetologischen Transparenz. Sie läßt sich nämlich in der Tat – im Zentrum des eigentlichen ‚Repas‘ placiert – als kulinarische Allegorie für das ‚extravagante‘ oder mit einem neueren Begriff: ‚barocke‘ Kunstwerk lesen.
Unübersehbar ist vor allem der architektonische Charakter des Hauptgangs. Er wird von den Gästen bezeichnenderweise auch sogleich erfaßt (V. 101f.):
| Tous mes Sots à l’instant changeant de contenance |
| | Ont loüé du festin la superbe ordonnance. |
|
|
Wenn wir nach dem Grundprinzip unserer Satire das Urteil der ‚Toren‘ antiphrastisch umkehren, ergibt sich, daß der Gang eben das Gegenbild einer ,prächtigen Ordnung‘ bildet. Wie alles andere steht er unter dem Zeichen der „abondance sterile“, die bereits durch die verwirrend gehäuften Umstandsbestimmungen des Satzanfangs (V. 89f.) suggeriert und von den dreimal wiederholten Zahlenangaben verstärkt wird. In Vers 93 ist solche Abundanz als hyperbolisch auf den Begriff gebracht. Vielleicht nicht ganz zufällig erinnert Boileaus Formulierung hier an die Wendungen, mit denen er später die sprachliche Hyperbolik von Brébeufs
Pharsale als abschreckendes Beispiel festhält
[79]
:
| Mais n’allez point aussi, sur les pas de Brebeuf, |
| | Mesme en une Pharsale entasser sur les rives, |
| | De morts et de mourans cent montagnes plaintives. |
|
|
Wirkt der „amas de viandes entassées“ solcherart ungeschlacht wegen seiner Masse, verletzt er das ästhetische Empfinden außerdem noch durch die mangelnde Konkordanz seiner Teile. Diese Teile sind einerseits von so zweifelhafter Substanz, daß sie der Euphemismen in Vers 91 bedürfen; andererseits manifestieren sie eine Komposition chaotischer Anhäufung, bei der offenkundig ein gesteigerter Horror Vacui mitgespielt hat
[80]
. Auf engstem Raum nämlich preßt sich das Disparateste zusammen, hält der komplizierte Aufbau von Hasen, Hühnern und Kaninchen die Mitte der Schüssel besetzt, während selbst ihr Rand noch von der Kette der Lerchen und den sechs Tauben beansprucht wird. Und auch an dieser Stelle liegt wiederum eine Devise des
Art poétique nahe, welche für das dichterische Werk jene harmonisch kohärente Komposition verlangt, die dem gedrängten Durcheinander des „rost“ diametral entgegengesetzt ist
[81]
:
| Il faut que chaque chose y soit mise en son lieu; |
| | Que le début, la fin, répondent au milieu; |
| | Que d’un art délicat les pieces assorties |
| | N’y forment qu’un seul tout de diverses parties. |
|
|
Hinter der Gastronomie und der Poetologie, die der gastgebende „Fat“ propagiert, wirken also die gleichen literar- wie küchenästhetischen Prinzipien. Ist der ,Repas‘ von Grund auf ,ridicule‘, sind es auch die Maximen der Literaturdebatte, und werden hier die barock-preziösen Autoren in den Himmel gehoben, müssen dort die prätentiös mißlungenen Gerichte gleichsam die Küche der Geschwister Scudéry, Théophiles oder Saint-Amants ausmachen. Derart verwandelt sich das Gastronomische parodistisch ins Poetologische, während das Poetologische travestierend ins Gastronomische übersetzt wird. In solchem Austausch ist die letztere Bewegung die wichtigere wie auch die reizvoll pikantere. Sie verleiht den Angelegenheiten der Literarästhetik eine überraschende sinnliche Evidenz und stellt dem Satiriker zugleich das effektvolle Repertoire burlesker Komik zur Verfügung; denn die Küchenwelt ist für alle Burleske ja seit altersher die angestammte Domäne
[82]
. Verwunderlich bleibt nur, daß Boileau, der ,Normalklassizist‘, zu solcher Travestie ein Kunststück ingeniöser Metaphorik vollbracht hat, das paradoxerweise gerade der Poetik seiner barock-,manieristischen‘ Gegner nahekommt, um sie gewissermaßen mit den eigenen Waffen zu schlagen. Fragt man heute oft etwas erstaunt nach den Gründen für Boileaus Erfolg und Einfluß
[83]
, sollte man daher nicht zuletzt diesen Aspekt außerordentlicher Virtuosität bedenken, welche zumindest in den satirischen Strategien über jeden engen Klassizismus hinausgeht.