Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Poetik der Erzählung: Geschichte, Fiktion, Zeit, 1985

Paul Ricœur

Quelle

Paul Ricœur: "Poetik der Erzählung: Geschichte, Fiktion, Zeit", in: Zeit und Erzählung. Bd. III. Die erzählte Zeit. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München: Fink 1991. (= Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Bd. 18/III.), S. 159-163. ISBN: 3-7705-2608-2.

Erstausgabe

Temps et récit. Tome III. Le temps raconté. Paris: Éditions du Seuil 1985. ISBN: 2-02-008981-5.

Genre

Buchkapitel

Medium

Literatur

[159] Der Moment ist gekommen, um die wichtigste Hypothese dieses Vierten Teils zu erhärten, die besagt, daß der Schlüssel zum Problem der Refiguration in der Art und Weise liegt, wie Geschichte und Fiktion in ihrem Zusammenwirken den Aporien, die von der Phänomenologie zutage gefördert werden, mit der Replik einer Poetik der Erzählung begegnen.

Bei der Skizzierung der Probleme, die unter der Ägide der mimēsis III standen1, haben wir das Problem der Refiguration mit dem der gekreuzten Referenz von Geschichte und Fiktion identifiziert und sind davon ausgegangen, daß die menschliche Zeit aus dieser Überkreuzung im Milieu des Handelns und Leidens hervorgeht.

Um die Dissymmetrie zwischen den jeweiligen Zielrichtungen von Geschichte und Fiktion zu respektieren, beginnen wir noch einmal mit einer entschieden dichotomischen Auffassung dieser Zielrichtungen. In den beiden ersten Kapiteln dieses Abschnitts werden wir daher zunächst der Spezifität der Referenz der historischen Erzählung, dann der der Fiktionserzählung Gerechtigkeit widerfahren lassen. Diese Vorgehensweise ist notwendig, damit die Verbindung von Geschichte und Fiktion in der Arbeit der Refiguration der Zeit bis zum Schluß ihr paradoxes Relief behält. Meine These ist nun, daß die besondere Weise, in der die Geschichte auf die Aporien der Phänomenologie antwortet, in der Ausarbeitung einer dritten Zeit – der eigentlich historischen Zeit – besteht, die zwischen der erlebten und der kosmischen Zeit vermittelt. Um die These zu beweisen, werden wir auf Verbindungsprozeduren zurückgreifen, die der historischen Praxis selbst entlehnt sind und für die Wiedereinschreibung der erlebten Zeit in die kosmische Zeit sorgen: Kalender, Generationenfolge, Archiv, Dokument und Spur. Für die historische Praxis stellen diese Prozeduren kein Problem dar: erst wenn man sie zu den Aporien der Zeit in Beziehung setzt, zeigt sich einem Denken der Geschichte der poetische Charakter der Geschichte im Hinblick auf die Schwierigkeiten der Spekulation.

[160] Der Wiedereinschreibung der erlebten Zeit in die kosmische Zeit durch die Geschichte entspricht auf Seiten der Fiktion eine entgegengesetzte Lösung derselben Aporien der Phänomenologie der Zeit, nämlich die Phantasievariationen, die die Fiktion mit den Hauptthemen dieser Phänomenologie durchführt. So steht das Verhältnis zwischen Geschichte und Fiktion, was ihr jeweiliges Refigurationsvermögen betrifft, in den Kapiteln I und II immer noch im Zeichen der Opposition. Gleichwohl bleibt die Phänomenologie der Zeit dabei das gemeinsame Maß, ohne das das Verhältnis von Fiktion und Geschichte absolut unentscheidbar bliebe.

Sodann werden wir in den Kapiteln III und IV einen Schritt in Richtung auf das Komplementaritätsverhältnis von Geschichte und Fiktion machen, indem wir das klassische Problem des Verhältnisses sowohl der historischen wie der fiktiven Erzählung zur Wirklichkeit zum Prüfstein machen. Die Neubearbeitung des Problems und seiner Lösung wird den terminologischen Wechsel rechtfertigen, der uns seit geraumer Zeit lieber von Refiguration als von Referenz sprechen läßt. Im Fall der Geschichte bestand das klassische Problem der Referenz in der Tat darin zu wissen, was es heißt, wenn man erklärt, daß die historische Erzählung sich auf Ereignisse bezieht, die in der Vergangenheit „wirklich“ stattgefunden haben. Und eben die Bedeutung, die dem auf die Vergangenheit angewandten Wort „Wirklichkeit“ beigelegt wird, ist es, die ich zu erneuern hoffe. Den Anfang damit werden wir, wenigstens implizit, machen, indem wir das Schicksal dieses Ausdrucks mit der Invention (im doppelten Sinne von Schöpfung und Entdeckung) der dritten, der historischen Zeit verknüpfen. Aber die Art von Sicherheit, die die Wiedereinschreibung der erlebten Zeit in die kosmische Zeit vielleicht hervorgerufen haben mag, zerrinnt, sobald man sich mit dem Paradox auseinandersetzt, das mit dem Gedanken einer verschwundenen Vergangenheit zusammenhängt, die dennoch war – „wirklich“ war. Dies Paradox wurde mit Hilfe eines methodischen Kunstgriffs sorgfältig von unserer Erforschung der historischen Intentionalität2 ferngehalten: Konfrontiert mit dem Begriff des Ereignisses, haben wir uns entschlossen, die epistemologischen Kriterien des Ereignisses von seinen ontologischen Kriterien zu trennen, um so in den Grenzen einer Untersuchung zu verharren, die der Beziehung zwischen der historischen Erklärung und der Konfiguration durch Fabelkomposition gewidmet war. Diese ontologischen Kriterien treten nun mit dem Begriff der „wirklichen“ Vergangenheit [161] wieder in der [sic] Vordergrund. Dieser Begriff nämlich wird getragen von einer impliziten Ontologie, kraft deren die Konstruktionen des Historikers den Ehrgeiz haben, Rekonstruktionen zu sein, die sich dem, was irgendwann einmal „wirklich“ war, mehr oder weniger annähern. Es sieht ganz so aus, als verspürte der Historiker den Menschen von einst, den Toten gegenüber eine Art Schuld. Es ist die Aufgabe einer philosophischen Besinnung, die Voraussetzungen dieses stillschweigenden „Realismus“ ans Licht zu bringen, den auch der militanteste „Konstruktivismus“ der Mehrzahl der Epistemologen der Historie nicht auszurotten vermag. Den Beziehungen zwischen den Konstruktionen der Geschichte und ihrem Gegenüber, nämlich einer zugleich verschwundenen und in ihren Spuren bewahrten Vergangenheit, geben wir den Namen Repräsentanz (oder Vertretung). Das Paradox, das mit diesem Begriff der Repräsentanz (oder Vertretung) zusammenhängt, brachte mich auf den Gedanken, den naiven Begriff der „wirklichen“ Vergangenheit anhand einiger „großer Gattungen“ zu überprüfen, die sich recht frei am Platonischen Sophistes orientieren: das Selbe, das Andere, das Analoge. Es sei gleich gesagt, daß wir von dieser Dialektik der Repräsentanz nicht erwarten, daß sie das Paradox auflöse, das dem Begriff der „wirklichen“ Vergangenheit anhaftet, sondern sie problematisiert gerade den Begriff der „Wirklichkeit“, sofern er auf die Vergangenheit angewendet wird. Gibt es auf Seiten der Fiktion irgendeine Beziehung auf das „Wirkliche“, von der man sagen könnte, sie entspreche derjenigen der Repräsentanz? Auf den ersten Blick scheint es, daß diese letztgenannte Beziehung ohne Parallele bleiben müßte, in dem Maße, wie die Personen, Ereignisse und Fabeln, die von den narrativen Fiktionen entworfen werden, „unwirkliche“ sind. Der Abgrund zwischen der „wirklichen“ Vergangenheit und der „unwirklichen“ Fiktion scheint unüberbrückbar zu sein. Dennoch darf eine genauere Analyse bei dieser elementaren Dichotomie zwischen „wirklich“ und „unwirklich“ nicht stehenbleiben. In Kapitel III werden wir sehen, wie groß die Schwierigkeiten sind, die einem begegnen, wenn man an der Idee der „wirklichen“ Vergangenheit festhalten will, und welcher dialektischen Behandlung sie unterzogen werden muß. Entsprechend verhält es sich mit der „Unwirklichkeit“ der fiktiven Entitäten. Denn dadurch, daß man sie „unwirklich“ nennt, charakterisiert man sie bloß negativ. Doch die Fiktionen haben darüber hinaus Wirkungen, in denen ihre positive Funktion zum Ausdruck kommt, das Leben und die Sitten aufzuzeigen und zu verwandeln. Man muß die Untersuchung jetzt also auf eine Theorie der Wirkungen hin orientieren. Den halben Weg in dieser Richtung haben wir zurück[162]gelegt, als wir am Ende von Zeit und Erzählung II den Begriff der Welt des Textes eingeführt haben im Sinne einer Welt, in der wir wohnen und unsere eigensten Möglichkeiten entfalten können3. Aber immer noch ist diese Welt des Textes bloß eine Transzendenz in der Immanenz; in dieser Hinsicht bleibt sie ein Teil des Textes. Die zweite Hälfte des Weges besteht in der Vermittlung, die die Lektüre zwischen der fiktiven Welt des Textes und der tatsächlichen Welt des Lesers bewirkt. Die Wirkungen der Fiktion, nämlich aufzuzeigen und zu verwandeln, sind im wesentlichen Wirkungen der Lektüre4. Über die Lektüre kehrt die Literatur zum Leben zurück, das heißt ins praktische und pathische Feld der Existenz. Wir werden daher versuchen, auf dem Weg einer Theorie der Lektüre die Applikationsrelation zu bestimmen, die im Bereich der Fiktion das Äquivalent zur Repräsentanzrelation darstellt.

Der letzte Schritt in unserer Erforschung der Überkreuzungen von Geschichte und Fiktion führt uns hinaus über die einfache Dichotomie, ja selbst über die Konvergenz zwischen den jeweiligen Vermögen der Geschichte und Fiktion, die Zeit zu refigurieren: nämlich mitten hinein in das Problem, das wir in unserem Ersten Band mit dem Ausdruck der überkreuzten Referenz von Geschichte und Fiktion bezeichnet haben5. Aus mehrfach angeführten Gründen ziehen wir es jetzt vor, von überkreuzter Refiguration zu reden, um die gemeinschaftlichen Wirkungen der Geschichte und Fiktion auf der Ebene des menschlichen Handelns und Leidens zu benennen. Um zu dieser höchsten Problematik zu gelangen, gilt es, den Raum der Lektüre auf jede Graphie auszudehnen: auf die Historiographie ebenso wie auf die Literatur. Daraus resultiert eine allgemeine Theorie der Wirkungen, die es erlaubt, die Arbeit der Refiguration der Praxis durch die Erzählung im weitesten Sinne bis in ihr letztes Stadium der Konkretisierung zu verfolgen. Das Problem wird dann sein zu zeigen, wie sich die Refiguration der Zeit durch Geschichte und Fiktion mit Hilfe von Anleihen konkretisiert, die jeder der narrativen Modi beim jeweils anderen macht. Diese Anleihen werden so aussehen, daß sich die historische Intentionalität nur verwirklichen kann, indem sie ihrer Absicht die Mittel der Fiktionalisierung dienstbar macht, die ins narrative Reich der Phantasie gehören, während die Intentionalität der Fiktionserzählung ihre Wirkungen des Sichtbarmachens und Verwan[163]delns des Handelns und Leidens nur hervorbringt, indem sie entsprechend die Mittel der Historisierung übernimmt, die ihr von den Versuchen angeboten werden, die wirkliche Vergangenheit zu rekonstruieren. Aus diesen innigen Austauschbeziehungen zwischen Historisierung der Fiktionserzählung und Fiktionalisierung der historischen Erzählung entsteht das, was man die menschliche Zeit nennt, die letztlich nichts anderes ist als die erzählte Zeit. Um das wechselseitige Ineinander dieser beiden überkreuzten Bewegungen zu unterstreichen, wird ihm ein eigenes Kapitel gewidmet, das fünfte dieses Abschnitts.

1 Zeit und Erzählung, Bd. I, S. 113 ff.

2 a.a.O., S. 263.

3 Zeit und Erzählung, Bd. II, Kap. IV.

4 Zeit und Erzählung, Bd. I, S. 120-122.

5 a.a.O., S. 122-129.

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Paul Ricœur: Poetik der Erzählung: Geschichte, Fiktion, Zeit, 1985

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