Realität und Wirklichkeit in der Moderne

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Einleitung in die Enzyklopädie von 1751 (Discours préliminaire), 1751

Jean-Baptiste le Rond d'Alembert

Quelle

Jean-Baptiste le Rond d'Alembert: "Einleitung in die Enzyklopädie von 1751 (Discours préliminaire)", in: D'Alembert. Einleitung in die französische Enzyklopädie von 1751 (Discours préliminaire), hrsg. und erläutert von Dr. Eugen Hirschberg. 1. Teil: Text. Leipzig: Felix Meiner 1912, S. 3-8.

Erstausgabe

"Discours préliminaire des éditeurs", in: Encyclopèdie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres. Mis en ordre & publié par M. DIDEROT, de l'Académie Royale des Sciences & des Belles-Lettres de Pruffe; & quant à la PARTIE MATHÉMATIQUE, par M. D'ALEMBERT, de l'Académie Royale des Sciences de Paris, de celle de Pruffe, & de la Société Royale de Londres. TOME PREMIER. À PARIS, Chez BRIASSON, rue Saint Jacques, à la Science. DAVID l'aîné, rue Saint Jacques, à la Plume d'or. LE BRETON, Imprimeur ordinaire du Roy, rue de la Harpe. DURAND, rue Saint Jacques, à Saint Landry, & au Griffon. M.DCC.LI. AVEC APPROBATION ET PRIVILEGE DU ROY. Paris 1751, s. i-iv.

Genre

Einleitung

[3] […] Man mag auch noch so wenig über die wechselseitige Verknüpfung der menschlichen Erfindungen nachgedacht haben, so sieht man doch leicht ein, daß Wissenschaften und Künste sich gegenseitig stets hilfreiche Hand leisten und daß es demzufolge ein Band geben muß, daß [sic!] beide zusammenhält. Aber wenn es oft schon schwierig ist, jede einzelne Wissenschaft oder Kunst für sich auf eine kleine Anzahl von Regeln oder allgemeinen Begriffen zurückzuführen, so ist es nicht minder schwierig, die unendlich mannigfaltigen Verzweigungen des menschlichen Wissens zu einem einheitlichen System zusammenzuschließen.

Der erste Schritt, den wir in dieser Untersuchung zu machen hätten, wäre also – man gestatte uns den Ausdruck – den Stammbaum und die Entwicklungsfolge unserer Kenntnisse, ferner die Ursachen, die Ihre Entstehung bedangen, und endlich die Merkmale zu prüfen, durch die sie sich unterscheiden; mit einem Worte, bis auf den Ursprung und die Entstehung unserer Vorstellungen (idées) zurückzugehen. Ganz abgesehen von dem Vorteil, den wir für die enzyklopädische Aufzählung der Wissenschaften und Künste daraus gewinnen, dürfte eine solche Untersuchung wohl auch an den Anfang eines methodischen Sachwörterbuches des menschlichen Wissens gehören.

Man kann alle unsere Kenntnisse einteilen in unmittelbare (directes) und in verstandesmäßige (réfléchies)1. Die unmittelbaren sind solche, die wir unvermittelt, ohne irgendwelche Willenshandlung unserer[4]seits erhalten; die, wenn man so sagen darf, alle Türen unserer Seele offen finden und dort ohne Widerstand und Mühe eintreten. Die verstandesmäßigen Kenntnisse sind diejenigen, welche der Geist durch Verarbeitung der unmittelbaren Eindrücke, durch ihre Sammlung und Verbindung erlangt.

Alle unsere unmittelbaren Kenntnisse lassen sich auf die Eindrücke zurückführen, die wir durch die Sinne empfangen; daraus folgt also, daß unsere Sinnesempfindungen es sind, denen wir unsere gesamten Vorstellungen verdanken. Dieser Grundsatz der frühesten Philosophen ist von den Scholastikern lange Zeit als ein Axiom betrachtet worden. Um ihm diese Ehre zu erweisen, genügte ihnen die Begründung, daß er eben alt war; und mit derselben Wärme würden sie auch die substantialen Formen oder die verborgenen Qualitäten (qualitates occultae) verteidigt haben. Bei der Wiedergeburt der Philosophie verfiel denn auch diese Wahrheit demselben Schicksal wie jene abgeschmackten Anschauungen, von denen man sie füglich hätte unterscheiden sollen; man beseitigte sie zusammen mit diesen Anschauungen, weil der Wahrheit nichts so gefährlich ist und sie so der Verkennung aussetzt, als die Verknüpfung mit einem Irrtum oder selbst nur die Nachbarschaft eines solchen. Auf das obenerwähnte Axiom der Scholastiker folgte das in mehrfacher Hinsicht verführerische System der angeborenen Ideen, das vielleicht deshalb solchen Eindruck machte, weil es weniger bekannt war. Noch heute, nach so langer Geltung, hat es sich einige Anhänger bewahrt. So große Mühe hat die Wahrheit, den Platz wiederzuerobern, von dem Vorurteile oder Trugschlüsse sie verdrängt haben. Erst seit ganz kurzer Zeit ist man schließlich fast allgemein darüber einig, daß die Alten mit ihrer Theorie doch recht hatten; und sie ist nicht die einzige Frage, in der wir uns ihnen wieder zu nähern beginnen.

Nichts ist unbestreitbarer als die Existenz unserer Sinnesempfindungen. Zum Beweise, daß sie der Ursprung aller unserer Kenntnisse sind, genügt es zu [5] zeigen, daß sie es sein können: denn eine gute Philosophie wird einer Schlußfolgerung, die auf Tatsachen oder anerkannten Wahrheiten beruht, stets vor derjenigen den Vorzug geben, die sich nur auf Hypothesen, und wären es die geistvollsten, stützt. Warum annehmen, daß wir rein geistige Begriffe von vornherein besitzen, wenn wir, um sie zu bilden, nur nötig haben, über unsere Sinnesempfindungen nachzudenken? Die folgenden Ausführungen werden zeigen, daß unsere Begriffe in der Tat gar keinen anderen Ursprung haben.

Das erste, was unsere Sinnesempfindungen uns lehren und was sogar unlöslich mit ihnen verbunden ist, ist unsere Existenz; (2) daraus folgt, daß unsere ersten verstandesmäßigen Vorstellungen sich auf uns selbst beziehen, das heißt auf jenes denkende Prinzip, das unsere Wesenheit ausmacht und in nichts von unserem Ich verschieden ist. Die zweite Erkenntnis, die wir unseren Sinnesempfindungen verdanken, ist die Existenz der Dinge der Außenwelt, (3) worin unser eigener Körper mit einbegriffen ist, da er von uns sozusagen als etwas Äußeres empfunden wird, bevor wir noch die Natur des denkenden Prinzips in uns entdecken. Die unzähligen Außendinge üben eine so mächtige und beständige Wirkung auf uns aus und verknüpfen uns so innig mit ihnen, daß, wenn uns auch die Vorstellungen unseres Denkens im ersten Augenblick in unser eigenes Ich zurückführen, wir durch die uns von allen Seiten bestürmenden Sinneseindrücke alsbald gezwungen werden, wieder aus uns herauszugehen und uns so der Vereinsamung entreißen zu lassen, in der wir ohne sie verharren würden. Die Vielheit dieser Sinneseindrücke, die Übereinstimmung, die wir in ihren Äußerungen bemerken, die Abtönungen, die wir dabei beobachten, die unfreiwilligen Einwirkungen, die wir durch sie erfahren, im Gegensatz zu der freien Willensbestimmung, die unsere verstandesmäßigen Vorstellungen beherrscht, sobald sie das Material unserer Sinnesempfindungen verarbeiten: alles das erzeugt in uns den unwiderstehlichen Drang, die Existenz der Dinge, auf die uns diese Sinnesempfindungen als deren [6] scheinbare Ursache hinweisen, als zweifellos gewiß anzunehmen. Ja, viele Philosophen haben diesen inneren Drang als das Werk eines höheren Wesens angesehen und halten ihn allein schon für den überzeugendsten Beweis für die Existenz der Außendinge2.

Da es tatsächlich keine Ähnlichkeit gibt zwischen irgendeiner Sinnesempfindung und dem Gegenstande, der sie veranlaßt oder auf den wir sie wenigstens zurückführen, so scheint es wirklich keine Möglichkeit zu geben, mit Hilfe der Vernunft eine Brücke von der einen zum anderen zu schlagen; es gibt nur eine Art Instinkt, der, selbstgewisser als die Vernunft, uns zwingen kann, eine so große Kluft zu überspringen. Und dieser Instinkt ist in uns so lebhaft, daß, wenn man für einen Augenblick nur annehmen könnte, daß er auch weiter bestände, während die Dinge der Außenwelt verschwunden wären, ihre plötzliche Wiederkehr seine Stärke nicht zu steigern vermöchte. Behaupten wir also ohne Zögern, daß unsere Sinnesempfindungen wirklich außerhalb unser die Ursache haben, die wir für sie voraussetzen, da die Wirkung, die aus der tatsächlichen Existenz dieser Ursache sich ergeben muß, in keiner Weise von den Eindrücken abweichen könnte, die wir erfahren. Denn wir wollen nicht jene Philosophen nachahmen, von denen Montaigne (4) erzählt, daß sie, wenn man sie nach dem Prinzip der menschlichen Handlungen fragt, erst noch untersuchen, ob es überhaupt Menschen gibt. Weit entfernt davon, durch Hypothesen eine Wahrheit verdunkeln zu wollen, die selbst. von Skeptikern, wenn sie nicht gerade streitsüchtig sind, anerkannt wird, wollen wir den erleuchteten Metaphysikern die Sorge überlassen, das Prinzip dieser Wahrheit weiter aufzuklären. Sie mögen, wenn sie es können, bestimmen, welchen Stufengang unsere Seele bei diesem ersten Schritte in die Außenwelt einhält, bei dem sie sozusagen vorwärtsgetrieben und gleich[7]zeitig zurückgehalten wird von einer Menge von Wahrnehmungen, die sie einerseits zu den äußeren Dingen hindrängen, und andererseits, weil sie eigentlich der Seele allein zugehören, in einen engen Spielraum einzudämmen scheinen, dessen Überschreitung sie ihr nicht gestatten.

Von allen Dingen, die uns durch ihre Gegenwart affizieren, empfinden wir die Existenz unseres eigenen Körpers deshalb am meisten, weil er am innigsten zu uns gehört. Aber kaum merken wir die Existenz unseres Leibes, so werden wir uns auch sofort bewußt, welche Aufmerksamkeit erforderlich ist, um die ihn umgebenden Gefahren von ihm abzuwenden. Da er tausend Bedürfnissen unterworfen und für die Einwirkung der Außendinge im höchsten Grade empfindlich ist, so würde er bald zerstört werden, wenn uns die Sorge um seine Erhaltung nicht erfüllte. Nicht als ob alle Dinge der Außenwelt uns nur unangenehme Gefühle verursachten; einige scheinen uns sogar durch das Vergnügen, das sie uns durch ihre Einwirkung bereiten, schadlos zu halten. Aber wir Menschen haben nun einmal die unglückselige Beschaffenheit, daß der Schmerz das lebhafteste Gefühl in uns zurückläßt; daß die Lust uns weniger berührt und fast nie ausreicht, um uns über den Schmerz hinwegzutrösten. Vergebens behaupteten einige Philosophen, indem sie die Klagerufe in ihren Leiden unter, drückten, daß der Schmerz gar kein Übel sei; vergebens erklärten wiederum andere die Wollust für das höchste Glück, obgleich sie sich ihr aus Furcht vor ihren Folgen unablässig versagten. Sie alle würden für unsere Natur besseres Verständnis gezeigt haben, wenn sie sich damit begnügt hätten, das höchste Gut des diesseitigen Lebens auf die Befreiung vom Schmerz zu beschränken und zugleich einzugestehen, daß wir dieses höchste Gut nie ganz zu erreichen, sondern uns ihm nur nach Maßgabe unserer Sorgfalt und Wachsamkeit mehr oder minder zu nähern vermögen. Zu diesen natürlichen Überlegungen würde unfehlbar jeder Mensch gelangen, der sich seinen eigenen Gedanken überließe und die Vorurteile der Erziehung und Schule von sich fernhielte; denn sie bilden das erste Ergeb[8]nis des Eindruckes, den er von den Dingen empfängt, und man kann sie zu den ursprünglichen Erregungen der Seele zählen, die von den wahren Weisen für wertvoll und beachtenswert gehalten, aber von der Schulphilosophie nicht berücksichtigt oder gar verworfen werden, weil sie deren Voraussetzungen meist Lügen strafen.(5) —

Die Notwendigkeit, unseren Leib vor Schmerz und Vernichtung zu schützen, veranlaßt uns zu prüfen, welche Dinge der Außenwelt für uns nützlich oder schädlich sein können, um die einen zu suchen, die anderen zu meiden. Aber kaum beginnen wir, diese Dinge zu mustern, so entdecken wir unter ihnen eine große Anzahl von Wesen, die uns ganz ähnlich sehen, d. h. deren Gestalt der unseren völlig gleich ist, und die, soweit wir es beim ersten Anblick beurteilen können, dieselben Wahrnehmungen wie , wir zu haben scheinen. Das alles bringt uns auf den Gedanken, daß sie auch dieselben Bedürfnisse, wie wir, verspüren und folglich dasselbe Interesse an ihrer Befriedigung haben. Demnach müßte sich ja ein großer Vorteil für uns daraus ergeben, daß wir uns mit ihnen zu dem Zwecke vereinigen, um in der Natur zu erforschen, was zu unserer Erhaltung beitragen oder uns schädlich sein kann. Der Austausch der Ideen bildet den Anfang und die Stütze dieser Vereinigung und macht die Erfindung von Zeichen zur Notwendigkeit. Und damit haben wir den Ursprung der Gesellschaftsbildung und die durch sie bedingte Entstehung der Sprachen. (6) […]

1 [S. 3] d. h. durch das Denken erworbene. E.H.

2 E. H.

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