Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Assemblage, Environements & Happenings, 1965

Allan Kaprow

Quelle

Allan Kaprow: "Assemblage, Environements & Happenings", in: Charles Harrison/Paul Wood (Hrsg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Für die deutsche Ausgabe ergänzt von Sebastian Zeidler. Bd. II. 1940 – 1991. Übersetzt von Jürgen Blasius u.a. Ostfildern-Ruit: Verlag Gerd Hatje 1998, S. 862-869. ISBN 3-7757-0739-5.

Erstausgabe

Assemblage, Environments & Happenings: with a selection of scenarios by: 9 Japanese of the Gutai Group, hrsg. von Allan Kaprow. Jean-Jacques Lebel, Wolf Vostell, George Brecht, Kenneth Dewey, Milan Knížák, Allan Kaprow New York: Harry M. Abrams 1965, S. 151-55, 183-84, 187-196, 207-208.

Genre

Essay

Medium

Kunst

[862] […] Kunst und Architektur

In einem Hauptgebiet der Avantgardeaktivitäten ist heute ein entscheidender Wendepunkt erreicht worden, der sich zwar meiner Ansicht nach voll und ganz zum Guten auswirken wird, uns aber auch vor die möglicherweise unangenehme Aufgabe stellt, einige stets hochgeschätzte Annahmen über die Natur der bildenden Kunst zu revidieren.

[863] Bestimmte avancierte Arbeiten, die in diesem Augenblick entstehen, verlieren rasch an Identität im herkömmlichen Sinne; sie wird durch etwas anderes mit ziemlich weitreichenden Konsequenzen ersetzt.

Betrachten wir das gesamte Spektrum der jüngsten modernen Kunst im Überblick, fällt auf, daß die Unterschiede zwischen der graphischen Kunst und der Malerei, die früher einmal so deutlich waren, praktisch verschwunden sind, genauso wie die Unterschiede zwischen Malerei und Collage, zwischen Collage und Konstruktion, zwischen Konstruktion und Skulptur und zwischen manchen großformatigen Konstruktionen und einer Art Quasiarchitektur. […]

[…] Diese Kontinuität ist bedeutsam, sie ist der entscheidende Punkt. Denn Zeichnen und Malen und in großem Maße auch die Bildhauerei und die sogenannten zweitrangigen Gattungen waren bis heute vollkommen von den Bedingungen abhängig, die von der Struktur des Hauses vorgegeben werden: Man braucht sich nur ein Tafelbild ohne flache Wand und ohne den kubischen Rahmen des Zimmers oder einen Stuhl auf einem unregelmäßigen Fußboden vorzustellen... Die Künstler haben mindestens ein Jahrhundert lang so gearbeitet, als wäre das Werk vor ihrer Nase das einzig Wichtige, als wäre es eine Welt für sich. […] Ich dagegen bin der Meinung, daß man sich unbedingt darüber klar werden muß, wie stark die bildenden Künste auf einer sehr grundlegenden Ebene miteinander verflochten sind. Wenn man die Bedingungen der einen ändert, hat das einen Konflikt in einer anderen zur Folge (zumindest einen Kontrast, der ausreicht, auf diese Veränderung aufmerksam zu machen). Und diese Bedingungen ändern sich heute ganz zweifellos.

* * *

[…] Kurzum, die zeitgenössische Kunst hat ihre traditionellen Grenzen überschritten. Die Malerei, die gewiß die höchstentwickelte und experimentierfreudigste unter den bildenden Künsten gewesen ist, hat immer wieder die Frage aufgeworfen: „Muß das Format oder Bildfeld immer das abgeschlossene, flache Rechteck sein?“, indem sie durch Gesten, Gekritzel oder rahmenlose Großformate dem Betrachter andeutete, daß sich die physische wie die metaphysische Werksubstanz nach allen Richtungen über die Leinwand hinaus unendlich ausdehnte. […]

In jüngster Zeit hat eine ganze Reihe unterschiedlicher Kompositionen, die man als Combines (so nennt Robert Rauschenberg seine Arbeiten), Neo-Dada oder Assemblagen bezeichnet, eine Vielfalt von Materialien und Objekten in einer ebensolchen Vielfalt von Formaten verwendet und sich dabei vollständig von den akzeptierten Normen der „Malerei“ gelöst, wie wir sie kannten. Dadurch wurde aber zugleich deutlich, daß auch der Raum schon immer ein Rahmen oder ein Format gewesen ist und daß diese Form sich mit den Formen und dem Ausdruck der betreffenden Arbeiten nicht vereinbaren läßt.

Natürlich entdecken manche Künstler in diesem Widerspruch etwas Positives und nutzen ihn für ihre Zwecke, so wie eine andere Generation (Pollocks zum Beispiel) die Leinwand als einzige Begrenzung einer wesentlich grenzenlosen Form nutzte. Das gleiche gilt weitgehend auch für den Jazz, dessen Beat die Konstante ist, die den in der Improvisation erreichten Freiheitsgrad definiert. Diese relativ unveränderlichen Faktoren werden als eine Art Operationsbasis empfunden. Doch das mag nur eine vorübergehende Erscheinung sein, ein nur heute gültiger Übergangswert, denn eine Reihe jüngerer Künstler findet eine solche Vorgehensweise inzwischen nicht mehr akzeptabel; sie hal[864]ten sie zumindest für überflüssigen Ballast, der oft zu unnötigen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit führt, aus der diese Verfahren stammen. Wenn es in der Kunst Maßstäbe und Grenzen geben muß, dann sollten sie neuer Art sein. Statt gegen die Grenzen des typischen Innenraums zu kämpfen, überlegen viele Leute eher, gleich im Freien zu arbeiten. Auf die neue Architektur können sie nicht warten.

Aus dem Gesagten sollte klar geworden sein, daß sich hier so etwas wie eine Krise abzeichnet. Ganz abgesehen von der ästhetischen Neubewertung, zu der sie uns zwingt, hat sie den unmittelbaren praktischen Effekt, die übliche Galeriesituation obsolet werden zu lassen.

* * *

Neue Formen, neues Material, neue Haltungen

* * *

Die Entwicklung dieser Kunst verändert unsere Vorstellung davon, was überhaupt Kunst ist, ganz wesentlich. Mit der Entstehung von Galerie und Museum in den letzten beiden Jahrhunderten als direkte Folge der Trennung von Kunst und Gesellschaft wurde die Kunst zu einer Traumwelt, die vom wirklichen Leben abgeschnitten und nur eines indirekten Bezugs zur Daseinserfahrung der Mehrheit fähig war. Galerie und Museum haben dieser Vorstellung durch ihre Atmosphäre des „Pst! – Nicht berühren!“ konkrete Gestalt verliehen. Herkömmlicherweise geht man davon aus, daß Kunst zur Gänze im Herzen oder im Kopf geboren und dann, herausgeputzt und aufpoliert, in den Ausstellungsraum verbracht wird. In diesem Sinne aber versteht man sie heute immer weniger; jetzt nämlich bezieht sie statt dessen ihre Substanz, ihre Erscheinung und ihre Interessen aus der uns vertrauten Alltagswelt; und das belegt ja wohl zweifellos, wie stark die Galerie-/ Museumssituation mittlerweile verkümmert ist. Bei einer Form wie dem Environment ist es ganz offenkundig absurd, sie erst im Atelier zu entwerfen und dann zu versuchen, sie in einen Ausstellungsraum einzupassen. Und es ist sogar noch absurder zu glauben, daß das Atelier, wo die Arbeit besser aussieht, weil sie ja dort schließlich auch entworfen wurde, deswegen auch ihr bester und einzig angemessener Ort sei. Die Romantik des Ateliers wird wahrscheinlich mit der Zeit ebenso verschwinden wie die von Galerie und Museum. Bis dahin aber steht der Rest der Welt in seiner ganzen Endlosigkeit schon zur Verfügung.

Das Ereignis

Environments sind im allgemeinen stumme Situationen, die darauf angelegt wurden, daß eine oder mehrere Personen sie betreten oder in sie hineinkriechen, sich in ihnen niederlegen oder setzen. Man schaut, manchmal lauscht man auch, man ißt, trinkt oder arrangiert die Elemente um, als ob man mit Haushaltsgegenständen hantiert. Andere Environments verlangen, daß der Besucher-Teilnehmer die immanenten Prozesse der Arbeit nachschöpft oder weiterführt. Zumindest für menschliche Wesen gilt, daß all diese Eigenschaften eher eine überlegte, meditative Zugangsweise nahelegen.

Obwohl die Environments in der Wahl ihrer Medien und ihrer Weisen der Sinnesreizung frei sind, lagen die Hauptakzente bis heute im visuellen, taktilen und manipulativen [865] Bereich. Zeit (im Gegensatz zum Raum), Klang (im Gegensatz zu greifbaren Objekten) und die physische Präsenz von Menschen (im Gegensatz zur physischen Umgebung) sind eher untergeordnete Elemente. Was aber, wenn man die Potentialität dieser Nebensachen erhöhen wollte? Das Ziel wäre ein einheitliches Feld von Komponenten, die theoretisch alle gleichwertig und manchmal auch exakt gleich wären. Dazu müßte man die Komponenten gewissenhafter ins Werk einarbeiten, wodurch den Menschen größere Verantwortung übertragen würde und die Rolle der unbelebten Teile besser mit dem Ganzen vereinbar wäre. Die Zeit könnte gewichtet, komprimiert oder gedehnt werden, Klänge würden unvermittelt ertönen, Dinge wären in stärkere Bewegung zu versetzen. Für das Ereignis, das dies geleistet hat, bürgert sich immer mehr der Name „Happening“ ein.

Grundsätzlich sind Environments und Happenings einander ähnlich. Sie sind die passive und aktive Seite einer einzigen Medaille, deren Währung die Ausdehnung ist. Daher ist ein Environment auch nicht weniger als ein Happening. Es ist kein fertiges Filmset, wo bloß noch keine Action stattgefunden hat (wie die blanke Leinwand also, die Arena des „Action-Painters“). In seiner stummeren Form ist es völlig hinreichend und keiner Ergänzung bedürftig, auch wenn entwicklungsgeschichtlich das Happening aus ihm hervorgegangen ist.

* * *

Obwohl der Freistil der Assemblagen und Environments unmittelbar in die Happenings übernommen wurde, drohte die Verwendung gängiger Aufführungskonventionen von Anfang an, die Implikationen dieser Kunst zu verkürzen. Die Happenings wurden einem kleinen, intimen Personenkreis in Lofts, Klassenzimmern, Turnhallen und einigen Offbeat-Galerien vorgeführt. Zunächst mußte man Platz für die Aktivitäten schaffen. Die Zuschauer saßen sehr nah am Geschehen, bei dem die Künstler und ihre Freunde mit assemblierten Environment-Konstruktionen agierten. Das Publikum wechselte gelegentlich die Sitzplätze wie bei der Reise nach Jerusalem, drehte sich um, um etwas zu sehen, was hinter ihm ablief, oder stand in dichtgedrängten, aber zwanglosen Gruppen herum. Manchmal bewegte sich das Ereignis auch in die Menge hinein oder fand mittendrin statt, was wiederum die Menge in Bewegung setzte. Aber wie flexibel diese Techniken auch in der Praxis waren: stets gab es da den (gewöhnlich statischen) Raum des Publikums und den anderen, in dem die Vorführung lief.

Das war meiner Ansicht nach ein ernsthafter Nachteil für die gestalterische Morphologie der Arbeiten […] .

Unglücklicherweise scheint die harte Nuß, die da zu knacken war, nur wenigen Happeningkünstlern überhaupt bewußt gewesen zu sein. Selbst heute tritt die Mehrheit von ihnen für eine Kunst der „acts“ ein, die oft ziemlich gut gemacht ist, aber weder ihre eigenen Implikationen voll auslotet noch auf unbekanntes Terrain vorstößt.

Aber denjenigen, die fühlten, um was es ging, wurden die entscheidenden Punkte bald klar. Es dauerte einige Jahre, um sie durch Versuch und Irrtum herauszuarbeiten, denn manchmal, wenn auch nicht immer, klafft zwischen Theorie und Produktion eine große Lücke. Aber allmählich schälte sich eine Reihe von Faustregeln heraus:

(A) Die Trennlinie zwischen Kunst und Leben sollte so fließend und vielleicht auch so undeutlich wie möglich gehalten werden. Die Reziprozität von Menschenwerk und gebrauchsfertig Vorliegendem wird auf diese Weise ihr maximales Potential ausschöpfen. Irgend etwas wird an dieser Schnittstelle immer geschehen, die vielleicht keine [866] Offenbarung, deswegen aber auch nicht bloß schlechte Kunst ist – denn niemand kann sie ohne weiteres mit diesem oder jenem akzeptierten Meisterwerk vergleichen. Ich halte das für eine Basis, von der aus man dann die spezifischen Kriterien der Happenings […] formulieren kann.

(B) Die Quellen der Themen, Materialien, Aktionen und die Beziehungen zwischen ihnen sind also aus jedem Ort und jeder Epoche zu beziehen, ausgenommen die Kunst, ihre Derivate und ihr Milieu. Wo Innovationen stattfinden, wird es oft notwendig, daß die Beteiligten an ihre Aufgaben mit beträchtlicher Strenge herangehen. Um die Aufmerksamkeit auf das entscheidende Problem konzentriert zu halten, werden sie bestimmte Verbote aufstellen, die sie dann, da es sich um selbstgegebene Regeln handelt, eisern befolgen. […] Künstlerische Verbotstafeln dienen noch immer sehr häufig als Schaufensterdekorationen; unbewußt klammert man sich an sie, um eine Kunst zu rechtfertigen, die ansonsten vielleicht nicht anerkannt würde.

Es liegt daher nicht daran, daß die bekannten Kunstformen „schlecht“ wären, wenn ich sage: „Bleibt weg von ihnen!“ Sondern es geht darum, daß sie einige sehr ausgeklügelte Gewohnheiten enthalten. Wenn man künstlerische Modi vermeidet, stehen die Chancen gut, daß sich eine neue Sprache entwickelt, die ihre eigenen Maßstäbe besitzt. Auch das Happening wird als eine Kunst begriffen, gewiß; aber nur, weil uns ein besseres Wort fehlt oder eines, das nicht zu endlosen Diskussionen führen würde. Von mir aus könnte man es auch einen Sport nennen. Aber wenn man es schon im Kontext von Kunst und Künstlertum beurteilen will, dann wenigstens als Kunst ganz eigener Art, die ihren Weg in die Kunstkategorie findet, indem sie sich außerhalb der „Kultur“ realisiert. Ein Handbuch des United States Marine Corps über Dschungelkriegtaktik [sic], ein Rundgang durch ein Labor, in dem Nieren aus Polyäthylen hergestellt werden, oder der tägliche Verkehrsstau auf dem Long Island Expressway sind nützlicher als Beethoven, Racine oder Michelangelo.

(C) Ein Happening sollte an verschiedenen weit voneinander entfernten, manchmal auch beweglichen und sich verändernden Schauplätzen stattfinden. Ein einziger Aufführungsraum tendiert zum Statischen und, was noch wichtiger ist, er ähnelt der konventionellen Theaterpraxis. Das wäre so, als wollte man aus Sicherheitsgründen nur in der Mitte der Leinwand malen. Später, wenn wir an einen fließenden Raum gewöhnt sind, den die Malerei schon seit fast hundert Jahren kennt, können wir zu konzentrierten Schauplätzen zurückkehren, denn dann werden sie nicht mehr als die einzig möglichen gelten. Gegenwärtig ist es von Vorteil, zu experimentieren, und zwar indem man nach und nach die Entfernungen zwischen den Ereignissen innerhalb eines Happenings vergrößert. Zunächst an verschiedenen Punkten entlang einer verkehrsreichen Straße; dann in verschiedenen Räumen und Stockwerken eines Apartmenthauses, wo einige der Aktivitäten untereinander nicht in räumlicher Verbindung stehen; dann in verschiedenen Straßen; dann in verschiedenen, aber benachbarten Städten; dann um den ganzen Erdball herum verteilt. Dies wird zum einen die Spannung zwischen den Teilen erhöhen, so wie ein Dichter einen Reim von zwei Zeilen auf zehn ausdehnt. Zum anderen wird damit den Teilen je für sich mehr Eigenständigkeit eingeräumt, ohne daß eine intensive Koordinierung notwendig wäre. Bei allem menschlichen Handeln werden zwangsläufig Beziehungen entstehen und wahrgenommen; und in diesem Fall könnten es neuartige Beziehungen sein, jedenfalls wenn man die bisher bewährten Methoden aufgibt.

[867] Noch größere Flexibilität läßt sich erreichen, indem man den Schauplatz selbst bewegt. […]

(D) Die Zeit , deren Behandlung eng an die Überlegungen zum Raum anschließt, muß variabel und diskontinuierlich sein. Wenn es multiple Räume gibt, in denen Ereignisse in einer bestimmten oder vielleicht sogar zufälligen Reihenfolge vorgesehen sind, dann ist es nur natürlich, daß die Zeit oder das „Tempo“ eine Ordnung erhält, die eher durch den Charakter der Bewegungen innerhalb der jeweiligen Umgebung bestimmt ist als durch ein festgeschriebenes Konzept eines regelmäßigen Ablaufs samt Schlußteil. Es braucht keine rhythmische Koordinierung zwischen den verschiedenen Teilen eines Happenings zu herrschen, es sei denn, das Ereignis selbst legt dies nahe, etwa wenn zwei Personen sich in einem Bahnhof rechtzeitig vor der Abfahrt eines Zuges um 17.47 Uhr treffen sollen.

Vor allem geht es hier im Unterschied zur bloß begrifflichen Zeit um „wirkliche“ oder „erlebte“ Zeit. Wenn sie sich wie in unserem Beispiel nach einer beim Happening benutzten Uhr richtet, dann ist das legitim; wenn das aber nicht der Fall ist, weil gar keine Uhr gebraucht wird, dann ist das genauso legitim. Wir alle wissen, daß die Zeit schneller läuft, wenn wir es eilig haben, und wie sie sich, wenn wir uns langweilen, hingegen so langsam dahinschleppt, daß sie fast stillzustehen scheint. Wirkliche Zeit ist stets mit einer Handlung verbunden, mit einem Ereignis irgendwelcher Art, und daher auch mit Dingen und Räumen. […]

Warum sollte ein Künstler also nicht ein Happening ansetzen, das sich über mehrere Tage, Monate oder Jahre erstreckt und ständig in das Alltagsleben der Vorführenden hinein- und wieder herausschlüpft? An diesem Vorschlag ist nichts Esoterisches, und er könnte den wichtigen Vorteil haben, daß auf diese Weise jene Tätigkeiten ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, die man für gewöhnlich jeden Tag verrichtet, ohne besonders darauf zu achten – Zähneputzen zum Beispiel.

Kümmert man sich nicht um Geschmack und persönliche Vorlieben und verläßt sich allein auf zufällige Operationen, könnte andererseits ein vollkommen unvorhergesehener Ereignisablauf eintreten, und zwar nicht nur in der Vorbereitung des Happenings, sondern in seiner tatsächlichen Durchführung; oder ein einziger Moment wird aufgeführt, der im Augenblick auch schon vorüber ist; oder es passiert gar nichts. (Im letzten Fall würde dann in Abwesenheit des Happenings der Akt der Erkenntnis dieses Sachverhalts seinerseits zum „Happening“.)

Aber man könnte sich auch für eine endlose Aktivität entscheiden, die die erlebbare Zeit anscheinend transzendiert – zum Beispiel das langsame Abtragen eines Berges aus Sandstein... Manche Künstler verfolgen ernsthaft die Idee eines lebenslangen Happenings in diesem Sinne […] .

Diese Alternativen haben allesamt die Funktion, den Künstler von der konventionellen Vorstellung eines abgesonderten, geschlossenen raumzeitlichen Arrangements zu erlösen. So großartig sie auf ihre Weise auch sein mögen: Bilder, Musikstücke, Gedichte oder Schauspiele, die alle jeweils durch den Bildrahmen oder eine fixe Anzahl von Takten, Strophen oder Aufzügen begrenzt werden, gestatten einfach nicht, die Barriere zwischen Kunst und Leben zu durchbrechen. Und eben das ist das Ziel.

[868] (E) Happenings sollten nur einmal durchgeführt werden. Diese Einschränkung bedarf wenigstens im Augenblick keiner besonderen Betonung, weil es in den meisten Fällen gar nicht anders möglich ist. Die zufallsbedingten Umstände der Durchführung, die Lebensdauer der Materialien (besonders der leichtverderblichen), die Veränderlichkeit der Ereignisse machen es sehr unwahrscheinlich, daß ein Happening von der Art, die ich hier skizziere, jemals wiederholt werden könnte. Und doch sind viele Happenings tatsächlich vier- oder fünfmal gegeben worden, angeblich um ein größeres Publikum zu erreichen; meiner Ansicht nach aber wohl eher als Rationalisierung des Wunsches, an überkommenen Theatergewohnheiten festzuhalten. Ich selbst hielt diese Praxis für unbrauchbar, denn ich war in solchen Fällen stets gezwungen, das zu tun, was wiederholt werden konnte, und mußte zahllose Situationen verwerfen, die ich für wunderbar hielt, die sich aber nur ein einziges Mal gestalten ließen. Davon abgesehen, daß Wiederholungen eine Generation langweilen, die mit den Ideen der Spontaneität und Originalität großgeworden ist, bedeutet die Wiederholung eines Happenings heute auch, daß man in einer weitaus schwerwiegenderen Sache Zugeständnisse macht: Man unterminiert damit das ganze Konzept der Veränderung. Wenn die praktischen Erfordernisse einer Situation nur das zerstören, was ein Künstler eigentlich tun wollte, dann handelt es sich nicht mehr um ein praktisches Problem; dann wäre in praktischer Hinsicht vielmehr angezeigt, die Sache ganz zu verwerfen und sich einer anderen zuzuwenden, die einem mehr Freiheiten läßt. […]

In der nächsten Zukunft werden vielleicht Pläne entwickelt, die sich an Spielen und Sportwettkämpfen orientieren, wo die Regeln eine Vielfalt von Bewegungen erlauben, deren Ergebnis stets ungewiß ist. Denkbar wäre eine Partitur, die in ihren Anweisungen so allgemein gehalten ist, daß man sie an Standardgeländeformationen wie Meer, Wald, Stadt oder Farmland anpassen könnte, an Standardperformer wie Teenager, alte Leute, Kinder, Matronen und so weiter, nicht zu vergessen Insekten, Tiere und das Wetter. Diese Partitur könnte man drucken lassen und jedem per Mail Order zusenden, der sie haben will. […]

(F) Daraus folgt, daß das Publikum ganz eliminiert werden sollte. Alle Elemente – Menschen, Raum, die besonderen Materialien und der Charakter der Umgebung, Zeit – können auf diese Weise integriert werden. […]

* * *

Diese kurze Abhandlung war einerseits die Beschreibung einer Avantgarde. Sie war aber auch die Analyse einer Weltanschauung. Sie ging von der Annahme aus, daß alle Avantgardekunst derzeit in erster Linie eine philosophische Suche und Entdeckung von Wahrheiten ist und keine rein ästhetische Aktivität; denn diese wäre, wenn überhaupt, nur in einem relativ stabilen Zeitalter möglich, in dem sich die meisten Menschen auf gewisse Grundvorstellungen zur Natur des Universums einigen können. Daß unsere Zeit eine Zeit außerordentlichen, raschen Wandels ist, mit allen Überraschungen und Leiden, die er so mit sich bringt, mag eine Binsenwahrheit sein; aber wahr bleibt jedenfalls auch, daß es in einer solchen Zeit allem ernsthaften Denken (diskursiver oder anderer Art) darum gehen muß, in diesem Wandel ein Sinnmuster zu entdecken. Auf ihre eigene Weise tut eine wahrhaft moderne Kunst genau das.

Daher ist für uns heute die Idee eines „vollkommenen Kunstwerks“ nicht nur deshalb irrelevant, weil wir nicht wissen, was die Bedingungen für ein solches Phantom sind, [869] sondern weil diese Wunschvorstellung vermessen und unwirklich ist. Gewiß sind große Werke möglich, und man darf auch erwarten, daß es sie geben wird, aber als Augenblicke tiefer Einsicht in das Funktionieren der Dinge, als Nachahmungen des Lebens sozusagen, und nicht als künstlerische Tour de force, d. h. als bloße Kosmetik.

Ich habe mich auf diesen Begriff des des Realen konzentriert und eine Vorgehensweise für die Kunst vorgeschlagen, die auf unsere heutige Erfahrung statt auf die Gewohnheiten der Vergangenheit bezogen ist. Ich habe jene Aspekte der Kunst für wichtig gehalten, die bewußt beabsichtigen, Gewöhnung durch Forschergeist und Experimentierfreude zu ersetzen. Wenn manches Vergangene heute noch Bedeutung hat, was gewiß der Fall ist, dann sind die Qualitäten, die es in den gegenwärtigen Arbeiten zu bewahren gilt, nicht die leicht erkennbaren und daher leicht zu lobenden archaischen Manierismen, sondern jene Qualitäten der persönlichen Würde und Freiheit, für die man in der westlichen Welt schon immer eingetreten ist. In ihrer Anerkennung dieser Qualitäten sind die Ideen dieses Buches zutiefst traditionell.

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Allan Kaprow: Assemblage, Environements & Happenings, 1965

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