Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Reflexionen über die Brecht-Lukács-Debatte, 1977

Fredric Jameson

Quelle

Fredric Jameson: "Reflexionen über die Brecht-Lukács-Debatte", in: Charles Harrison/Paul Wood (Hrsg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Für die deutsche Ausgabe ergänzt von Sebastian Zeidler. Bd. II. 1940 – 1991. Übersetzt von Jürgen Blasius u.a. Ostfildern-Ruit: Verlag Gerd Hatje 1998, S. 1210-1212. ISBN 3-7757-0739-5.

Erstausgabe

"Reflections in Conclusion", in: Ronald Taylor (ed.): Aesthetics and Politics. With an Afterword by Fredric Jameson. London: New Left Books 1977, S. 196-213.

Genre

Essay

Medium

Kunst

[1210] […] In politischer Hinsicht kann die klassische marxistische Idee von der Notwendigkeit einer „Diktatur des Proletariats“ in der Übergangsphase zum Sozialismus – also die Entmachtung derjenigen, die ein maßgebliches Interesse an der Wiederherstellung der alten Ordnung haben – wohl kaum als überholt gelten. Sie dürfte allerdings eine begriffliche Veränderung erfahren, wenn wir sie mit der Notwendigkeit einer Kulturrevolution, einschließlich einer kollektiven Umerziehung aller Klassen, zusammendenken. In dieser Hinsicht erscheint Lukács‘ Wertschätzung der großen bürgerlichen Romanciers der anstehenden Aufgabe am ehesten angemessen; die antibürgerliche Stoßrichtung der großen modernistischen Autoren dagegen wirkt hier weniger geeignet. Zu diesem Zeitpunkt, wenn der Konflikt zwischen Realismus und Modernismus hinter uns entschwindet, werden Blochs Überlegungen zum „Erbe“, zur unterdrückten kulturellen Differenz der Vergangenheit und zum utopischen Prinzip der Erfindung einer radikal differenten Zukunft erstmals zu ihrer vollen Geltung kommen.

Doch im Westen, und vielleicht auch überall sonst, liegt dieser Zeitpunkt eindeutig noch in weiter Ferne. In unserer gegenwärtigen Situation scheinen uns jedenfalls beide Alternativen, Realismus wie Modernismus, unerträglich: der Realismus, weil seine Formen auf ältere Erfahrungen einer gesellschaftlichen Lebensweise zurückgreifen (die klassische Innenstadt, der traditionelle Stadt-Land-Gegensatz), die uns heute, in der schon im Verfall begriffenen Zukunft der Konsumgesellschaft, nicht mehr verfügbar sind; der Modernismus, weil seine Widersprüche sich in der Praxis als noch krasser erwiesen haben als die des Realismus. Eine Ästhetik des Neuen – die herrschende kritische und formale Ideologie der Gegenwart – muß heute zwangsläufig bemüht sein, sich um jeden Preis permanent zu erneuern, indem sie sich immer schneller um ihre eigene Achse dreht: der Modernismus versucht, zum Postmodernismus zu werden und gleichzeitig modern zu bleiben. Wie zu erwarten war, erleben wir deshalb heute, nachdem die Abstraktion eine ermüdende Konvention geworden ist, das Spektakel der Rückkehr zur figurativen Kunst, einer figurativen Kunst freilich – als sogenannter Hyper- oder Fotorealismus –, die keine Repräsentation der Dinge selbst, sondern von Fotografien der [1211] Dinge ist: eine gegenständliche Kunst, die in Wahrheit „von“ Kunst selbst handelt! Und in der Literatur, wo man der plotlosen und poetischen Fiktion überdrüssig ist, findet eine Rückkehr zur Erzählhandlung statt, allerdings nicht im Sinne einer echten Wiederentdeckung, sondern als Pastiche älterer Erzählungen und als entpersönlichte Nachahmung traditioneller Stimmen, Strawinskys Pastiche der Klassiker vergleichbar, den Adorno in seiner Philosophie der neuen Musik kritisierte.

Unter diesen Umständen stellt sich allerdings die Frage, ob die ultimative Erneuerung des Modernismus, die letzte dialektische Subversion der mittlerweile verselbständigten Konventionen einer Ästhetik der Wahrnehmungsrevolution nicht einfach... der Realismus höchstselbst ist! Denn wenn der Modernismus und seine Techniken der „Verfremdung“ zum herrschenden Stil geworden sind, der den Konsumenten mit dem Kapitalismus aussöhnt, dann muß die Gewohnheit der Fragmentierung ihrerseits durch eine totalisierendere Wahrnehmung der Phänomene „verfremdet“ und korrigiert werden. Eine unerwartete Wendung: Für uns heute könnte es Lukács sein – auch wenn er in den dreißiger Jahren vielleicht falsch gelegen hat –, der vorläufig das letzte Wort behält. Allerdings wäre dies ein Lukács, wenn er denn denkbar ist, der den Begriff des Realismus im Sinne der Kategorien von Geschichte und Klassenbewußtsein umdefiniert hätte, vor allem der Kategorien von Verdinglichung und Totalität. Im Gegensatz zum besser bekannten Begriff der Entfremdung, eines Prozesses, der menschliches Handeln und insbesondere die Arbeit betrifft (Isolation des Arbeiters von seiner Arbeit, von seinem Produkt, von anderen Arbeitern und schließlich von seinem „Menschsein“), meint Verdinglichung einen Prozeß, der sich auf unser kognitives Verhältnis zur gesellschaftlichen Totalität auswirkt. Sie ist eine Erkrankung jener Orientierungsfunktion [mapping function], vermöge derer das Einzelsubjekt seine Eingliederung in die Kollektivität projiziert und modelliert. Durch die spätkapitalistische Verdinglichung – die Transformation der Beziehungen zwischen Menschen in scheinhafte Beziehungen zwischen Dingen – wird die Gesellschaft opak: Verdinglichung ist die gelebte Quelle der Mystifikationen, auf denen die Ideologie beruht und durch die Herrschaft und Ausbeutung legitimiert werden. Da die fundamentale Struktur der gesellschaftlichen „Totalität“ aus Beziehungen zwischen Klassen besteht – eine antagonistische Struktur, in der die einzelnen Klassen sich durch diesen Antagonismus und in ihrem Gegensatz zu den anderen Klassen definieren –, verdeckt die Verdinglichung notwendigerweise den Klassencharakter dieser Struktur und wird nicht nur von Anomie begleitet, sondern auch von jener zunehmenden Verwirrung bezüglich des Wesens und sogar der bloßen Existenz gesellschaftlicher Klassen, die heute in allen „fortgeschrittenen“ kapitalistischen Ländern überdeutlich beobachtet werden kann. Wenn diese Diagnose stimmt, dürfte die Schärfung des Klassenbewußtseins weniger durch die populistische oder ouvrieristische Aufwertung einer einzelnen Klasse gelingen als durch die gewaltsame Wiederverfügbarmachung einer Wahrnehmung der Gesellschaft als Totalität und die neuerliche Erfindung kognitiver und perzeptiver Möglichkeiten, um die sozialen Phänomene wieder als Momente des Kampfes zwischen Klassen transparent werden zu lassen.

Unter diesen Umständen ist die künftige Funktion eines neuen Realismus klar: sich der Macht der Verdinglichung in der Konsumgesellschaft zu widersetzen und die durch die existentielle Fragmentierung aller Bereiche des Lebens und der gesellschaftlichen Organisation systematisch unterminierte Kategorie der Totalität wiedereinzuführen, die allein in der Lage ist, die strukturellen Klassenbeziehungen und die Klassenkämpfe in anderen Ländern in einem zusehends globalen System sichtbar zu machen. Ein derartiger [1212] Realismusbegriff könnte in sich aufnehmen, was schon immer das konkreteste Moment im dialektischen Gegenbegriff des Modernismus gewesen ist – das Insistieren auf der radikalen Erneuerung der Wahrnehmung in einer Welt, in der Erfahrung zu Gewohnheiten und Automatismen erstarrt ist. Doch die Gewöhnung, die aufzubrechen die Funktion der neuen Ästhetik sein wird, wäre nicht mehr mit den konventionellen modernistischen Begriffen der entheiligten oder entmenschlichenden Vernunft, der Massengesellschaft, der industrialisierten Stadt und der Technik-im-allgemeinen faßbar, sondern als Funktion des Warensystems und der verdinglichenden Struktur des Spätkapitalismus.

Andere Realismusbegriffe, andere Formen politischer Ästhetik bleiben selbstverständlich denkbar. Die Debatte über Realismus und Moderne lehrt uns die Notwendigkeit, solche Begriffe im Blick auf die historische und gesellschaftliche Konjunktur zu beurteilen, in der sie je ihre Wirkung entfalten sollten. Eine parteiliche Einstellung zu zentralen Konflikten der Vergangenheit bedeutet nicht, sich für eine Seite entscheiden oder versuchen zu müssen, unversöhnliche Gegensätze auszugleichen. Der Grundwiderspruch in solchen vergangenen, aber immer noch virulenten intellektuellen Auseinandersetzungen ist der zwischen der Geschichte auf der einen Seite und dem begrifflichen Apparat auf der anderen, der bemüht ist, die historischen Realitäten zu begreifen, letztendlich aber nur in sich selbst ihren Widerstreit reproduzieren kann: in Gestalt eines Rätsels, einer Aporie. An dieser Aporie müssen wir festhalten, denn ihre Struktur birgt die Crux einer Geschichte, über die wir noch nicht hinaus sind. Natürlich kann sie uns nicht erklären, wie unser Realismusbegriff auszusehen hat; doch ihr Studium zwingt uns immerhin zu der Erkenntnis, daß seine Wiedererfindung dringend geboten ist.

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Fredric Jameson: Reflexionen über die Brecht-Lukács-Debatte, 1977

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