Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, 1853

Theodor Fontane

Quelle

Theodor Fontane: "Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848", in: Sämtliche Werke. Bd. 21: Literarische Essays und Studien. Erster Teil, gesammelt u. hrsg. von Kurt Schreinert. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1963, S. 7-15.

Erstausgabe

"Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848", in: Deutsche Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit 1 (1853), S. 353-377.

Genre

Essay

Medium

Literatur

[7] Es gibt neunmalweise Leute in Deutschland, die mit dem letzten Goetheschen Papierschnitzel unsere Literatur für geschlossen erklären. Forscht man näher nach bei ihnen, so teilen sie einem vertraulich mit, daß sie eine neue Blüte derselben überhaupt für unwahrscheinlich halten, am wenigsten aber auch nur die kleinsten Keime dazu in den Hervorbringungen der letzten zwanzig Jahre gewahren könnten. Wir kennen dies Lied. Die goldenen Zeiten sind immer vergangene gewesen. Wollten jene Herren, die so grausam über alles Neue den Stab brechen, nach der eigensten Wurzel ihres absprechenden Urteils forschen, sie würden sie in selbstsüchtiger Bequemlichkeit und in nichts Besserm finden. Gerechtigkeit gegen Zeitgenossen ist immer eine schwere Tugend gewesen, aber sie ist doppelt schwer auf einem Gebiete, wo das wuchernde Unkraut dem flüchtigen Beschauer die echte Blüte verbirgt. Solche Blüten sind mühsam zu finden, aber sie sind da. Was uns angeht, die wir seit einem Dezennium nicht müde werden, auf dem dunklen Hintergrunde der Tagesliteratur den Lichtstreifen des Genius zu verfolgen, so bekennen wir unsere feste Überzeugung dahin, daß wir nicht rückwärts, sondern vorwärts schreiten und daß wir drauf und dran sind, einem Dichter die Wege zu bahnen, der um der Richtung willen, die unsere Zeit ihm vorzeichnet, berufen sein wird, eine neue Blüte unserer Literatur, vielleicht ihre höchste, herbeizuführen.

Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus. Die Ärzte verwerfen alle Schlüsse und Kombinationen, sie wollen Erfahrungen; die Politiker (aller Parteien) richten ihr Auge auf das wirkliche Bedürfnis und verschließen ihre Vortrefflichkeitsschablonen ins Pult; Militärs zucken die Achsel über unsere preußische Wehrverfassung und fordern „alte Grenadiere“ statt „junger Rekruten“; vor allem aber sind [8] es die materiellen Fragen, nebst jenen tausend Versuchen zur Lösung des sozialen Rätsels, welche so entschieden in den Vordergrund treten, daß kein Zweifel bleibt: die Welt ist des Spekulierens müde und verlangt nach jener „frischen grünen Weide“, die so nah lag und doch so fern.

Dieser Realismus unserer Zeit findet in der Kunst nicht nur sein entschiedenstes Echo, sondern äußert sich vielleicht auf keinem Gebiet unsers Lebens so augenscheinlich wie gerade in ihr. Die bildende Kunst, vor allem die Skulptur, ging hier mit gutem Beispiel voran. Als Gottfried Schadow die Kühnheit hatte, den Zopf in die Kunst einzuführen, nahm er ihr zugleich den Zopf. So wurde der „Alte Dessauer“, an dessen Dreimaster und Gamaschen wir jetzt gleichgültig vorübergehen, zu einer Tat von unberechenbarer Wirkung. Jener Statue zur Seite stehen Schwerin und Winterfeldt in antikem Kostüme, und wahrlich, wenn es Absicht gewesen wäre, das Ridiküle der einen Richtung und das Frische, Lebensfähige der andern zur Erscheinung zu bringen, die Zusammenstellung hätte nicht sprechender getroffen werden können. Seit fünfzig Jahren sind wir auf dem betretenen Wege fortgeschritten in Malerei, Skulptur und Dichtkunst, und es war ein Triumphtag für jene neue Richtung, von der wir uns eine höchste Blüte moderner Kunst versprechen, als die Hülle vom Standbild Friedrichs des Großen fiel und der „König mit dem Krückstocke“ auf ein jubelndes Volk herniederblickte. Dieser „Alte Fritz“ des genialen Rauch ist übrigens nicht das Höchste der neuen Kunst; er gehört jenem Entwicklungsstadium an, durch das wir notwendig hindurch müssen; es ist der nackte, prosaische Realismus, dem noch durchaus die poetische Verklärung fehlt.

Wir haben bei der Skulptur (in der Malerei würden wir als besonders charakteristisch Adolf Menzel und den Amerikaner Emanuel Leutze zu nennen haben) mit vollem Vorbedacht so lange verweilt, einmal um an bekannten Beispielen darzutun, wie bedeutsam und in die Augen springend das Grundstreben unserer Zeit sich bereits auf einzelnen Kunstgebieten geltend gemacht hat, andererseits um verstanden zu werden, wenn wir in bezug auf die Dichtkunst ausrufen: Was uns zunächst nottut, ist ein Meister Rauch unter den Poeten. Er, als der ent[9]schiedenste, wennschon nicht höchste Ausdruck einer neuen Kunstrichtung, fehlt uns noch, aber es fehlt uns nicht die Richtung überhaupt. Die moderne Kunst ist auf allen Gebieten dieselbe, und ihre Unterschiede sind nur quantitativer Natur, wie sie durch ein verschiedenes Maß von Kraft und Talent bedingt werden. Wir haben im Roman einen Jeremias Gotthelf, im Drama einen Hebbel, in der Lyrik einen Freiligrath. Bevor wir indes dazu übergehen, diesen Realismus teils an den einzelnen Erscheinungen unserer modernen Literatur nachzuweisen, teils darzutun, was wir auf diesem Gebiete unter Realismus verstehen, sei uns noch gestattet, ein Art Genesis desselben zu geben.

Der Realismus in der Kunst ist so alt als die Kunst selbst, ja, noch mehr: er ist die Kunst. Unsere moderne Richtung ist nichts als eine Rückkehr auf den einzig richtigen Weg, die Wiedergenesung eines Kranken, die nicht ausbleiben konnte, solange sein Organismus noch überhaupt ein lebensfähiger war. Der unnatürlichen Geschraubtheit Gottscheds mußte, nach einem ewigen Gesetz, der schöne, noch unerreicht gebliebene Realismus Lessings folgen, und der blühende Unsinn, der während der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts sich aus verlogener Sentimentalität und gedankenlosem Bilderwust entwickelt hatte, mußte als notwendige Reaktion eine Periode ehrlichen Gefühls und gesunden Menschenverstandes nach sich ziehen, von der wir kühn behaupten: sie ist da. Aus dem Gesagten ergibt sich von selbst eine nahe Verwandtschaft zwischen der Kunstrichtung unserer Zeit und jener vor beinahe hundert Jahren, und, in der Tat, die Ähnlichkeiten sind überraschend. Das Frontmachen gegen die Unnatur, sie sei nun Lüge oder Steifheit, die Shakespeare-Bewunderung, das Aufhorchen auf die Klänge des Volksliedes – unsere Zeit teilt diese charakteristischen Züge mit den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, und es sollte uns nicht schwerfallen, die Persönlichkeiten zu bezeichnen, welche die Herder und Bürger unserer Tage sind oder zu werden versprechen. Das klingt wie Blasphemie und ist es doch keineswegs. Man warte ab, was sich aus unsern jungen Kräften entwickelt, und überlasse es dem Jahre 1900, zwischen uns und jenen zu entschei[10]den. Aber, gesetzt auch, daß die poetische Kraft und Fülle derer, die wir für berufen erachten, das angefangene und wieder unterbrochene Werk der hervorragenden Geister des vorigen Jahrhunderts fortzusetzen, sich als zu schwach für solche Aufgabe erweisen sollte, so sind wir doch entschieden der Meinung, daß unser Irrtum sich lediglich auf die Personen beschränken wird und daß neben diesen notwendig sich Talente entwickeln müssen, die bei gleicher dichterischer Begabung den Göttinger Dichterbund und selbst die Heroen der Sturm- und Drangperiode um soweit überflügeln werden, als sie ihnen an klarer Erkenntnis dessen, worauf es ankommt, voraus sind. Es ist töricht, Autoritäten im Glanze unfehlbarer Götter zu erblicken. Dem Guten folgt eben das Bessere. Unsere Zeit weiß mehr von Shakespeare, als man vor hundert Jahren von ihm wußte, und selbst Tieck und Schlegel werden sich nächstens Verbesserungen gefallen lassen müssen. Der alte Isegrim Wolf stach den Voß aus, und es ist keine Frage, daß man sich auf englische und spanische Volksgesänge heutzutage besser versteht als zu den Zeiten Bürgers und Herders. Man weiß mehr von den Sachen, und mit dem Wissen ist größere Klarheit und Erkenntnis gekommen; einem kommenden Genius ist vorgearbeitet; er wird sich nicht zersplittern, nicht rechts und links umherzutappen haben; er wird seine Stelle finden, wie sie Shakespeare fand. Das ist der Unterschied zwischen dem Realismus unserer Zeit und dem des vorigen Jahrhunderts, daß der letztere ein bloßer Versuch (wir sprechen von der Periode nach Lessing), ein Zufall, im günstigsten Falle ein unbestimmter Drang war, während dem unserigen ein fester Glaube an seine ausschließliche Berechtigung zur Seite steht.

Es dürfte vielleicht eben hier an der Stelle sein, mit wenigen Worten auf das Verhältnis hinzuweisen, das die beiden Träger unserer sogenannten klassischen Periode jener Richtung gegenüber einnehmen, die wir in Vorstehendem nicht Anstand genommen haben entschieden als die unserige zu bezeichnen. Beide, Goethe wie Schiller, waren entschiedene Vertreter des Realismus, solange sie, „unangekränkelt von der Blässe des Gedankens“, lediglich aus einem vollen Dichterherzen heraus ihre Werke schufen. „Werther“, „Götz von Berlichingen“ und [11] die wunderbar-schönen, im Volkstone gehaltenen Lieder der Goetheschen Jugendperiode, soviele ihrer sind, sind ebenso viele Beispiele für unsere Behauptung, und Schiller nicht minder (dessen Lyrik freilich den Mund zu voll zu nehmen pflegte) stand mit seinen ersten Dramen völlig auf jenem Felde, auf dem auch wir wieder, sei's über kurz oder lang, einer neuen reichen Ernte entgegensehen. Die jetzt nach Modebrauch (und auf Kosten des ganzen übrigen Mannes) über alle Gebühr verherrlichten „Räuber“ gehören dieser Richtung weniger an als „Fiesko“ und „Kabale und Liebe“; denn der Realismus ist der geschworene Feind aller Phrase und Überschwenglichkeit; keine glückliche, ihm selber angehörige Wahl des Stoffs kann ihn aussöhnen mit solchen Mängeln in der Form, die seiner Natur zuwider sind. – Im übrigen blieben ihm unsere großen Männer nicht treu fürs Leben; Schiller brach in seinen letzten Arbeiten vollständig mit ihm, und Goethe (der in der Form ihn immer hatte und immer bewahrte) verdünnte den Realismus seiner Jugend zu der gepriesenen Objektivität seines Mannesalters. Diese Objektivität ist dem Realismus nahe verwandt, in gewissen Fällen ist sie dasselbe; sie unterscheiden sich nicht im Wie, sondern im Was, jene ist das Allgemeine, dieser das Besondere; die „Braut von Korinth“ hat Objektivität, das jede Herzensfaser erschütternde „Ach neige, du Schmerzensreiche“ hat Realismus. Wir werden bald Gelegenheit finden, uns des weitern hierüber auszulassen. An dieser Stelle nur noch die Beantwortung der Frage: war der „Torquato Tasso“ (die Vollendung der Dichtung in ihrem Genre wird niemand bekämpfen) oder gar die „Jungfrau von Orleans“ ein Fortschritt oder nicht? Wir beantworten diese Frage mit einem bloßen Hinweis auf Lessing oder auf Shakespeare, der übrigens (weil er als Poet und nicht als Kritiker dichtete) das Prinzip, um das es sich hier handelt, in minder ausschließlicher Reinheit vertritt. Der „Nathan“, diese reifste Frucht eines erleuchteten Geistes, der – gleichviel ob Dichter oder nicht – wie keiner, weder vor ihm noch nach ihm, wußte, worauf es ankommt, liefert uns den sprechenden Beweis, daß dreißig Jahre voll eifervollen Studiums, voll Nachdenkens und Erfahrung außerstande gewesen waren, die Anschauun[12]gen von einer ausschließlichen Berechtigung des Realismus innerhalb der Kunst im Herzen unserer großen kritischen Autorität zu erschüttern, und, wenn es irgendwo gestattet ist, auf Autoritäten zu schwören, so dürfte hier die Stelle sein. Wir wiederholen, auch der „Nathan“ ist auf dem Boden des Realismus gewachsen, und, weil wir nicht eben überrascht sein würden, diese unsere Behauptung selbst von halben Richtungsgenossen angezweifelt zu sehen, zögern wir nunmehr nicht länger, unsere Ansicht darüber auszusprechen, was wir überhaupt unter Realismus verstehen.

Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. Traurig genug, daß es nötig ist, derlei sich von selbst verstehende Dinge noch erst versichern zu müssen. Aber es ist noch nicht allzu lange her, daß man (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder gar bei Produktionen jener sogenannten Tendenzbilder (schlesische Weber, das Jagdrecht u. dgl. m.) sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben. Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt. Wohl ist das Motto des Realismus der Goethesche Zuruf:

Greif nur hinein ins volle Menschenleben,

Wo du es packst, da ist's interessant,

aber freilich, die Hand, die diesen Griff tut, muß eine künstlerische sein. Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken. Der Block an sich, nur herausgerissen aus einem größern Ganzen, ist noch kein Kunstwerk, und dennoch haben wir die Erkenntnis als einen unbedingten Fortschritt zu begrüßen, daß es zunächst des Stoffes, oder sagen wir lieber des Wirklichen, zu allem künstlerischen Schaffen bedarf. Diese Erkenntnis, sonst nur im einzelnen mehr oder minder lebendig, ist in einem Jahrzehnt [13] zu fast universeller Herrschaft in den Anschauungen und Produktionen unserer Dichter gelangt und bezeichnet einen abermaligen Wendepunkt in unserer Literatur. Ein Gedicht wie die in ihrer Zeit mit Bewunderung gelesene „Bezauberte Rose“ könnte in diesem Augenblicke kaum noch geschrieben, keinesfalls aber von Preisrichtern gekrönt werden; der „Weltschmerz“ ist unter Hohn und Spott längst zu Grabe getragen; jene Tollheit, die „dem Felde kein golden Korn wünschte, bevor nicht Freiheit im Lande herrsche“, hat ihren Urteilsspruch gefunden, und jene Bildersprache voll hohlen Geklingels, die, anstatt dem Gedanken Fleisch und Blut zu geben, zehn Jahre lang und länger nur der bunte Fetzen war, um die Gedankenblöße zu bergen, ist erkannt worden als das, was sie war. Diese ganze Richtung, ein Wechselbalg aus bewußter Lüge, eitler Beschränktheit und blümerantem Pathos, ist verkommen „in ihres Nichts durchbohrendem Gefühle“, und der Realismus ist eingezogen wie der Frühling, frisch, lachend und voller Kraft, ein Sieger ohne Kampf.

Wenn wir in Vorstehendem – mit Ausnahme eines einzigen Kernspruchs – uns lediglich negativ verhalten und überwiegend hervorgehoben haben, was der Realismus nicht ist, so geben wir nunmehr unsere Ansicht über das, was er ist, mit kurzen Worten dahin ab: Er ist die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst; er ist, wenn man uns diese scherzhafte Wendung verzeiht, eine „Interessenvertretung“ auf seine Art. Er umfängt das ganze reiche Leben, das Größte wie das Kleinste: den Kolumbus, der der Welt eine neue zum Geschenk machte, und das Wassertierchen, dessen Weltall der Tropfen ist; den höchsten Gedanken, die tiefste Empfindung zieht er in sein [sic] Bereich, und die Grübeleien eines Goethe wie Lust und Leid eines Gretchen sind sein Stoff. Denn alles das ist wirklich. Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre. Er schließt nichts aus als die Lüge, das Forcierte, das Nebelhafte, das Abgestorbene – vier Dinge, mit denen wir glauben, eine ganze Literaturepoche bezeichnet zu haben. […]

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