Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Die Grundlage der konkreten Malerei, 1930

Theo van Doesburg

Quelle

Theo van Doesburg: "Die Grundlage der konkreten Malerei", in: Konkrete Kunst. Manifeste und Künstlertexte. Sind auf einer Leinwand eine Frau, ein Baum oder eine Kuh etwa konkrete Elemente? Nein. Anläßlich der Eröffnung von Haus Konstruktiv, Zürich, September 2001. Zusammengestellt und herausgegeben von Margit Weinberg Staber. Zürich: Stiftung für Konstruktive und Konkrete Kunst 2001. (= Studienbuch 1 der Stiftung für konstruktive und konkrete Kunst Zürich.), S. 25-28. ISBN: 3-9521777-3-3.

Erstausgabe

"Base de la peinture concrète", "Commentaires sur la base de la peinture concrète", in: Art Concret (1930).

Genre

Manifest

Medium

Malerei

[25] Unterzeichnet von Otto Gustav Carlsund, Theo van Doesburg, Jean Hélion, Léon Arthur Tutundjian and Marcel Wantz

Wir sagen:

1. Kunst ist universell.

2. Das Kunstwerk muss vor seiner Ausführung vollständig im Geist entworfen und ausgestaltet worden sein. Von der Natur, von Sinnlichkeit oder Gefühl vorgegebene Formen darf es nicht enthalten.

Lyrik, Dramatik, Symbolismus usw. sind zu vermeiden.

3. Das Gemälde muss ausschliesslich aus rein bildnerischen Elementen konstruiert werden, d. h. aus Flächen und Farben. Ein Bildelement bedeutet nichts anderes als „sich selbst“, folglich bedeutet auch das Gemälde nichts anderes als „sich selbst“.

4. Die Konstruktion des Gemäldes und seiner Elemente muss einfach und visuell überprüfbar sein.

5. Die Technik muss mechanisch sein, d.h. exakt, anti-impressionistisch.

6. Streben nach absoluter Klarheit.

Carlsund, Doesburg, Hélion, Tutundjian, Wantz

[…] *

[26] Kommentare zur Grundlage der konkreten Malerei

1. Konkrete Malerei, nicht abstrakte, weil wir die Zeit des Suchens und der spekulativen Experimente hinter uns gelassen haben.

Auf der Suche nach Reinheit waren die Künstler gezwungen, die natürlichen Formen, die die bildnerischen Elemente verdeckten, zu abstrahieren, die Naturformen zu zerstören und sie durch Kunstformen zu ersetzen.

Heute ist die Idee der Kunstform ebenso überholt wie die der Naturform.

Mit unserer Konstruktion der geistigen Form hebt die Epoche der reinen Malerei an.

Sie ist die Konkretisierung des schöpferischen Geistes.

Konkrete Malerei, nicht abstrakte, weil nichts konkreter, nichts wirklicher ist als eine Linie, eine Farbe, eine Fläche.

Sind auf einer Leinwand eine Frau, ein Baum oder eine Kuh etwa konkrete Elemente? Nein.

Eine Frau, ein Baum, eine Kuh sind konkret in der Natur, aber in der Malerei sind sie abstrakt, illusorisch, vage, spekulativ; eine Fläche hingegen ist eine Fläche, eine Linie eine Linie, nicht mehr und nicht weniger.

Konkrete Malerei. – Der Geist hat den Zustand der Reife erreicht. Er benötigt klare, intellektuelle Mittel, um sich in konkreter Weise zu manifestieren.

Die Vorherrschaft des Individualismus und des örtlich beschränkten Geistes waren stets die grossen Hindernisse auf dem Weg zu einer universellen Kunst.

Sobald die Ausdrucksmittel von allen Besonderheiten befreit worden sind, haben sie die Übereinstimmung mit dem eigentlichen Ziel der Kunst erreicht:

Eine universelle Sprache hervorzubringen.

[…] *

[27] 2. Das Kunstwerk wird weder mit den Fingern noch mit den Nerven erschaffen. Die Erregung, das Gefühl, die sinnliche Empfindsamkeit haben die Vervollkommnung der Kunst niemals befördert. Nur der Verstand (Intellekt), dessen Geschwindigkeit noch höher ist als die des Lichts, erschafft.

Lyrik, Dramatik, Symbolismus, Empfindsamkeit, Unbewusstes, Traum, Inspiration usw. sind nur ein minderwertiger Ersatz für das schöpferische Denken.

In allen Bereichen menschlichen Handelns hat immer nur der Intellekt gezählt.

Die Entwicklung der Malerei ist nichts anderes als die intellektuelle Suche nach der Wahrheit durch die Kultur des Visuellen.

Jenseits dessen, was der Verstand erschafft, gibt es nur Barock, Fauvismus, Animalismus, Sensualismus, Sentimentalismus und jenes hyperbarocke Eingeständnis der Schwäche: Phantasie.

Das anbrechende Zeitalter ist hingegen das Zeitalter der Gewissheit und daher der Perfektion.

Alles ist messbar, selbst der Geist mit seinen 199 Dimensionen.

Wir sind Maler, die denken und messen.

3. In der Malerei ist nichts wahr ausser der Farbe. Die Farbe ist eine konstante Energie, sie bestimmt sich durch den Gegensatz zu einer anderen Farbe. Die Farbe ist die Grundsubstanz der Malerei; sie bedeutet nichts als sich selbst.

Die Malerei ist ein Mittel, um Gedanken visuell zu verwirklichen: Jedes Bild ist ein Farbgedanke.

4. Die Konstruktion, die in Beziehung zur eigentlichen Bildfläche oder zu dem von den Farben geschaffenen Raum steht, kann vom Auge kontrolliert werden.

Die Konstruktion unterscheidet sich grundsätzlich vom Arrangement (Dekoration) und von der geschmacksmässigen Komposition.

Die meisten Maler arbeiten wie Zuckerbäcker oder Putzmacher. Wir dagegen arbeiten auf der Grundlage von (euklidischer und nichteuklidischer) Mathematik und Wissenschaft, d. h. mit intellektuellen Mitteln.

[…] *

[28] 5. Vor seiner materialen Verwirklichung existiert das Kunstwerk bereits vollständig im Geist. Folglich muss sie eine technische Perfektion aufweisen, die der Perfektion des geistigen Entwurfs entspricht. Sie darf keine Spur menschlicher Schwäche zeigen: kein Zittern, keine Ungenauigkeit, keine Unschlüssigkeit, keine unvollendeten Partien usw. usw. Mit dem Humanismus sind in der Kunst zahllose Dummheiten gerechtfertigt worden.

Wenn man eine gerade Linie nicht mit der Hand zeichnen kann, nimmt man dazu ein Lineal.

Schreibmaschinenschrift ist klarer, lesbarer und schöner als Handschrift. Wir wollen keine künstlerische Handschrift.

Wenn man einen Kreis nicht mit der Hand zeichnen kann, nimmt man dazu einen Zirkel. Alle vom Intellekt zum Zwecke der Perfektion erfundenen Hilfsmittel werden empfohlen.

6. Das so konzipierte Kunstwerk verwirklicht die Klarheit, die die Grundlage einer neuen Kultur sein wird.

[…] *

*Es wurden ausschließlich die Kommentare der Herausgeberin und keine Textteile des Doesburgschen Manifestes entfernt.

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